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Das siebente Heft
Der
Aufzeichnungen des Filmoperateurs
Serafin Gubbio

 

§ 1

Jetzt endlich habe ich begriffen.

Soll ich mich nun etwa aufregen? Aber nein – weshalb denn auch? Soviel Leben ist schon dahingeglitten, und tot liegt irgendwo in der Ferne alles Vergangene. Und dafür ist ein neues Leben von heute da, ein ganz verändertes Leben. Höfe und offene Plätze umgeben mich rings und die abgelegenen Gebäude einer Filmgesellschaft, irgendwo draussen, fast schon auf dem freien Lande, wo Grün und blauer Himmel ist. Und sie ... ja, sie ist jetzt also Schauspielerin ... Schauspieler, das war doch auch er gewesen? Aha, so sind die beiden also Kollegen – das ist ja famos!

Alles geht gut, alles läuft glatt wie Öl. Ja, so sieht das Leben aus: Ein leises Rascheln seidner Röcke, ein aparter weisser Spitzenüberwurf und dann diese Flügelhütchen, anzusehen wie Merkurs Helm, über kupferrotem Haar ... Ja, so sieht das Leben aus: die Spitze eines Sonnenschirms schreibt in den Kies – und dann ein kurzes Schweigen – und Augen, die sich auf die Schirmspitze richten, wie sie den Sand leise beiseitekehrt.

Gestern muss sich unbedingt während meiner Abwesenheit folgendes ereignet haben: mit ihren unruhigen, seltsam aufgerissenen Augen muss die Nestoroff zur Kosmograph gegangen sein, mit dem ausdrücklichen Zweck, dort mit ihm zusammenzutreffen. Dann hat sie sich wohl vor ihn hingestellt, mit einer Miene, als ob nichts wäre, wie man auf einen Freund zutritt, auf einen Bekannten, den man zufällig wieder trifft nach so und so vielen Jahren. Und richtig: ohne sich des Netzes zu versehen, kam ihr der Falter entgegengeflattert, voller Frohlocke.

Aber wie hat Fräulein Luisetta nur so ganz und gar nichts merken können?

Nun: diese eine Genugtuung wird Frau Nestoroff ja nun wohl nicht zuteil werden. Fräulein Luisetta musste gestern die Rückkehr ihres Vaters feiern – er ist wieder nach Hause gekommen – und konnte deshalb nicht mit Herrn Nuti auf die Kosmograph gehen. Frau Nestoroff hat also nicht das Vergnügen gehabt, dem hochnäsigen kleinen Fräulein, das tags vorher sich nicht einmal hatte einladen lassen wollen, ihre Macht zu beweisen. Wie gerne hätte sie ihr das gezeigt: dass sie nur zu wollen brauchte und sofort liessen die jungen Herren mit dem tragischen Getue ihre hergelaufenen kleinen Damen im Stich und lägen ihr wieder zu Füssen. Pst! brauchte sie nur zu machen, so – mit einem Finger zu winken brauchte sie nur, und schon frässen sie ihr wieder aus der Hand und wären trunken vor Liebe bei jedem Rascheln ihres Seidenrockes und dem verstohlenen Spiel ihres Sonnenschirms im Sande. Ja, es ist wirklich sehr, sehr ärgerlich, dass daraus nun nichts geworden ist; der Nestoroff hätte viel daran gelegen!

Ohne Böses zu ahnen, sah Fräulein Luisetta den jungen Nuti am Abend wie umgewandelt nach Hause kommen, strahlend und ganz verklärt. Wie sollte sie darauf kommen, dass diese freudige Verwandlung einer Begegnung mit der Nestoroff zuzuschreiben sei? Sie selber kann ja nur mit Entsetzen an eine solche Begegnung denken. Oder war er vielleicht deshalb so verwandelt und vergnügt, weil auch der Papa wieder im Hause war? Nun ja: Fräulein Luisetta bildet sich natürlich nicht ein, dass ihm viel an der Heimkehr ihres Vaters liegen könne – das nicht! Aber warum sollte er sich nicht ein wenig mitfreuen mit den andern, nicht wahr? Wie soll man sich denn sonst seine gute Laune erklären? Dankbar muss man dafür sein und froh von ganzem Herzen; denn zum mindesten beweist sein vergnügtes Wesen doch, dass sein Gemüt wieder unbeschwerter ist und offener, so dass er Sinn hat für die Freude seiner Mitmenschen ...

Sicher hat Fräulein Luisetta etwas Ähnliches gedacht. Gestern! – heute nicht!

Heute habe ich sie zur Kosmograph begleitet. Ihr Gesicht war düster. Zu ihrer grössten Überraschung hatte sich herausgestellt, dass Nuti schon in aller Frühe das Haus verlassen hatte, vor Tagesanbruch schon. Sie bemühte sich unterwegs, mich ihre schlechte Laune und ihre Verwirrung nicht merken zu lassen, nachdem sie gestern abend ihre ganze Freude vor meinen Augen ausgelassen hatte. Sie richtete kleine Fragen an mich; wo ich gestern gewesen sei, was ich angefangen hätte? – »Ich? Einen kleinen Ausflug.« Und ob ich mich gut unterhalten hätte? »Oh, sehr! Anfangs wenigstens! Später ...« später kommen dann immer so Geschichten nach ... Wir haben alles ausgezeichnet vorbereitet für den Ausflug, wir glauben an alles gedacht und für alles gesorgt zu haben, damit es eine vergnügte Partie wird, ohne störende Zwischenfälle – Aber leider, leider: kommt doch immer wieder etwas dazwischen, woran wir nicht gedacht haben ... Stellen Sie sich zum Beispiel vor, eine Familie mit vielen Kindern möchte auf dem Lande ein Picknick machen, weil es so ein schöner Tag ist. Nun, und das zweitälteste Kind hat im Schuh einen Nagel, es hat nichts zu bedeuten, einen winzigen Nagel am Absatz, der durch die Sohle gedrungen ist – man müsste ihn nur ein wenig plattschlagen. Die Mutter hat auch daran gedacht, gleich nach dem Aufstehen. Aber dann, wie das eben so geht, hat sie's vergessen unter den vielen Vorbereitungen für die Landpartie. Das Paar Schuhe aber steht da mit hochgeschlagenen Zungen, wie ein pfiffiges Kaninchen, das die Ohren spitzt – steht da, stramm in einer Reihe mit den andern Paaren, blankgewichst, wie es sich gehört, und wartet nur darauf, dass es angezogen wird. Ruhig steht es da und scheint sich schon darauf zu freuen, dass es der Mutter solchen Verdruss bereiten wird dafür, dass sie es vergessen hat. Jetzt ist's überdies schon höchste Zeit, und sie hat noch mehr zu tun als je und ist in grösster Konfusion, weil der Papa schon drunten auf der Treppe steht und ihr zuruft, sie solle sich sputen. Und die ganze Kinderschar steht um sie herum und schreit auch: mach schnell, mach schnell. Während die Mutter nun in aller Eile dem Kindchen aufgeregt die Schuhe anzieht, grinsen die schon wacker vor sich hin:

»Ei ja, gute Mutter, aber an uns, weisst du, hast du eben doch nicht gedacht. Kannst dich drauf verlassen, wir werden dir alles verderben! Mitten auf der Strasse werden wir anfangen, mit dem Nagel deinen Kleinen in den Fuss zu stechen, und dann wird er weinen und hinken müssen.« –

Nun, mir ist etwas Ähnliches passiert. Nein, kein Nagel im Schuh, den man plattschlagen könnte. Etwas anderes war mir entgangen ... Was denn? – Ach nichts, etwas anderes eben! Ich möchte es Ihnen nicht gerne sagen, Fräulein Luisetta – vielleicht sitzt es schon seit langer Zeit in mir und ist immer schlimmer geworden.

Dass Fräulein Luisetta mir grosse Aufmerksamkeit geschenkt hätte, kann ich nicht gerade behaupten. Während wir so dahinmarschierten und ich meiner Zunge freien Lauf liess, musste ich denken: »Ach, armer Wurm, das interessiert dich auch nicht sehr, was ich dir da erzähle! Es lässt dich also gleichgültig, was mir da Fatales passiert ist? Aber du sollst sehen, wie ich dir das heimzahlen werde mit gleicher Münze: mit der gleichgültigsten Miene von der Welt will ich zusehen, wenn es dir jetzt dann übel ergeht, bald schon, gleich beim Eintritt in die Kosmograph – pass du nur auf!«

Und wirklich: wir waren noch keine fünf Schritte auf dem Platz mit den Bäumen vor dem Hauptgebäude der Kosmograph gegangen, – wer kommt uns da entgegen? Herr Nuti und Frau Nestoroff, anzusehen wie die besten Freunde von der Welt! Sie trug den offenen Sonnenschirm über der Schulter und liess ihn vergnügt rundum wirbeln.

Ja, da machte Fräulein Luisetta Augen und wandte sich heftig nach mir um. Aber ich sagte nur:

»Sehen Sie? Da gehen sie ja in aller Ruhe spazieren! Und sie dreht sogar ihren Sonnenschirm – schauen Sie!«

So blass war sie mir aber geworden, die arme Kleine, so blass – dass ich Angst bekam, sie könne mir ohnmächtig zu Boden fallen. Ganz instinktiv streckte ich die Hand aus, um sie am Arme zu stützen. Aber schon zog sie den Arm zornig zurück und sah mir fest in die Augen. Sicher kam ihr der Verdacht, dies alles sei mein Werk, mein Manöver (im Bunde mit Polacco vielleicht – wer weiss?). Dass Nuti und die Nestoroff nun so schön und freundlich versöhnt waren, das hielt sie sicher für eine Frucht des Besuchs, den ich der Nestoroff vor zwei Tagen gemacht hatte, – ja, vielleicht dachte sie sogar an meine unerklärliche Abwesenheit gestern. Sie musste sich schändlich betrogen vorkommen durch all diese heimlichen Kabalen, die sie sich im Nu ausgemalt hatte. Da hatte man ihr seit langer Zeit vorgemacht, es werde eine schreckliche Tragödie entstehen, wenn die beiden zusammenkämen; man hatte ihr solchen Schrecken eingejagt, und unter Qualen hatte sie sich im Interesse des Kranken zu einer frommen Täuschung hergegeben. Und weshalb? Zum Lohne bekam sie nun zuguterletzt dies köstliche Idyll zu sehen, diesen friedlichen Spaziergang der beiden unter den Bäumen. Wie erbärmlich das alles war! Nur um sich über ein armes Mädchen lustig zu machen, das alles ernst genommen hatte? Gehetzt und verfolgt kam sie sich vor inmitten dieser niederträchtigen Intrige. Sie erwartete ja nicht viel Gutes von ihrem Leben, durch und durch lächerlich und trostlos, wie es war. Aber warum musste auch das noch sein, warum musste sie auch noch verhöhnt werden? Das war gemein!

Das sagten mir die Blicke der armen Kleinen. Konnte ich ihr denn nun vom Fleck weg beweisen, dass ihr Verdacht ungerecht sei. Hätte ich ihr sagen sollen, das Leben sei nun einmal so, heute mehr als je, einzig dazu angetan, dergleichen Schauspiele zu geben? Sollte ich ihr erklären, dass ich keine Schuld hatte?

Aber ich war hart geworden. Es bereitete mir Genugtuung, dass sie gestraft wurde für ihren ungerechten Argwohn, dass sie zu leiden hatte beim Anblick dieser beiden, denen wir, sie und ich, ungebeten ein Stück unseres Wesens hingegeben hatten. Jetzt hiess es leiden und Kränkungen durchmachen; aber wir hatten es ja verdient! Ja, es bereitete mir Freude zu denken, dass sie in diesem Augenblick meine Genossin war, während die beiden andern da einherspazierten, ohne uns auch nur zu sehen. – »Nur immer hübsch gleichgültig, Fräulein Luisetta! Mit Verlaub – das wollte ich Ihnen nur eben sagen – Ich hole schnell meinen Apparat, und dann will ich mich gleich ganz indifferent hinstellen, wie es meine Pflicht verlangt!« –

Während ich das sagte, hielt ich den Blick auf das Portal der Kosmograph gerichtet, aus dem uns eben Polacco, Bertini und Fantappié entgegenkamen. Plötzlich aber kam noch jemand dazu; es kam der Mensch, auf den wir vor allen Dingen hätten rechnen müssen, und nun allerdings hatte Fräulein Luisetta Grund zu zittern, nun allerdings durfte ich nicht länger in meiner Gleichgültigkeit verharren. Da drohte eine grosse Gefahr; blitzschnell erkannte ich das, zuerst an Polaccos Gesicht. Er ging mit Bertini und Fantappié, und sie unterhielten sich sicher über die beiden, die immer weiter unter den Bäumen spazierten. Fantappié musste eben einen Witz gemacht haben: sie lachten alle drei. Mit einem Male aber blieben sie kurz stehen, mit blassgewordenen Gesichtern und aufgerissenen Augen. Polaccos Gesicht vor allem stand voller Entsetzen. Ich wandte mich um: – Carlo Ferro!

Von hinten trat er an uns heran, eine Reisemütze noch auf dem Kopfe, als sei er eben aus dem Zuge gestiegen. Das Paar dort drüben aber wusste von nichts; ruhig gingen sie weiter dahin unter den Bäumen. Sah er sie wohl? Ich weiss es nicht. Fantappié hatte die Geistesgegenwart, laut zu rufen:

»Oho, Carlo Ferro!« –

Die Nestoroff drehte sich um, liess ihren Begleiter stehen – und nun bekamen wir gratis das hinreissende Schauspiel zu sehen, wie eine Dompteuse vor entsetzenstarrem Publikum einem gereizten wilden Tiere entgegengeht. In aller Ruhe kam sie näher, ohne sich zu übereilen, den Sonnenschirm hatte sie immer noch offen über der Schulter. Und ein Lächeln spielte um ihre Lippen und sprach zu uns, ohne dass sie uns doch eines Blicks gewürdigt hätte: »Was, Angst habt ihr, ihr Dummköpfe,« sagte dies Lächeln. »Ich bin doch da!« Den Blick ihrer Augen werde ich niemals vergessen können; wer so schaut, wer so einherschreitet, von dem weiss man, dass keine Furcht in seiner Seele wohnt. Es war wunderbar zu sehen, wie der Blick der Nestoroff auf Carlo Ferro wirkte, auf sein wutverzerrtes Gesicht, seinen haltungslosen Körper, seinen unsicheren Gang. Sein Gesicht konnten wir nicht mehr sehen, aber das sahen wir, wie sein Körper gleichsam zusammenfiel und seine Schritte immer langsamer wurden, je näher er jenem zauberhaften Blick kam. Sie jedoch schien ganz unerregt, bis auf ein einziges Zeichen: sie begann französisch mit ihm zu sprechen.

Keiner von uns sah zu der Baumgruppe hinüber, wo Aldo Nuti allein stehengeblieben war, wie festgewurzelt. Mit einem Male aber bemerkte ich, dass doch jemand von uns dorthin blickte, Fräulein Luisetta! Sie allein schaute dorthin, schaute Nuti an, immer nur ihn, als fände sie nur dort Schreckliches zu sehen und nicht bei den zwei Menschen, denen wir andern gespannt und voll Schrecken mit den Blicken folgten.

Es geschah jedoch nichts weiter fürs erste. Der Sturm ward gebrochen: denn wie ein Donnerschlag aus der Hand der Vorsehung platzte der Direktor Borgalli mit ein paar Aktionären und Beamten dazwischen. Er hatte es auf Bertini und Polacco abgesehen, die noch bei uns standen, doch bezogen sich seine heftigen Tiraden auch auf die beiden abwesenden Regisseure. – Man sei ja ganz ins Hintertreffen gekommen mit den Arbeiten. Nirgends sei was von einer leitenden Idee zu merken; dafür Konfusion überall – da gebe es keine andere Bezeichnung als: babylonisch. Fünfzehn – zwanzig angefangene Films – ja, da lägen sie nun! Die Schauspieler da und dort verstreut, während doch schon, wer weiss wie lange, alles für den Tigerfilm zusammengetrommelt worden sei – er habe ohnehin schon Tausende gekostet. Die einen sässen im Gebirge, die andern am Meer – das sei ja ein Schlaraffenleben ohnegleichen! Warum hielte man überhaupt noch diesen Tiger da? Die Rolle des Tigerjägers sei auch noch nicht einmal besetzt! Wo sei er denn, der Schauspieler? Was, eben angekommen? Soso, ja – und wo sei er geblieben?

Schauspieler, Statisten, Dekorateure, die ganze Gesellschaft war von allen Seiten zusammengelaufen auf Direktor Borgallis Geschrei hin. Er genoss es recht, dass er so viel Autorität besass, und dass man Angst und Respekt vor ihm hatte, nach dem Schweigen all dieser Leute zu schliessen. Wahrhaftig, alles lief fügsam auseinander, als er seine Rede mit einem Kommando beschloss:

»An die Arbeit – marsch, marsch – an die Arbeit!«

Jede Spur der – nun sagen wir: der dramatischen Situation von vorhin war verschwunden, als hätte die Menschenflut sie überschwemmt und beim Zurückströmen mit sich fortgetragen. Die Nestoroff dort und Ferro – sie waren weg, und Nuti, der allein unter den Bäumen gestanden hatte. Der Platz lag leer vor uns. Ich hörte Fräulein Luisetta, die neben mir stand, aufseufzend sagen:

»Oh, mein Gott, was nun? Was wird denn jetzt geschehen?«

Ärgerlich sah ich sie an, aber ich versuchte sie doch zu trösten:

»Aber was soll denn schon geschehen? Bleiben Sie nur ganz ruhig! Haben Sie nicht gesehen ... alles schon in bester Ordnung ... Ich habe wenigstens den Eindruck ... Aber, so seien Sie doch ruhig. Dass der Ferro da so überraschend zurückgekommen ist – ich wette, sie hat es gewusst. Womöglich hat sie selber ihm gestern telegraphiert, zu kommen – ausgerechnet, um sich bei ihrer freundschaftlichen Unterhaltung mit dem andern, mit Nuti, von ihm überraschen zu lassen. Glauben Sie mir nur, es verhält sich sicher so!«

»Aber er? Er?«

»Wer er? Nuti?«

»Wenn das alles nur ein Spiel der beiden ist ...«

»Sie fürchten wohl, dass er das merken wird ...?«

»Ja – allerdings!«

Damit rang sie wieder die Hände, die arme Kleine.

»Na gut, und selbst wenn er es merkt?« sagte ich. »Seien Sie ganz unbesorgt, er wird keine Dummheiten machen. Glauben Sie mir, auch das ist schon voraus kalkuliert.«

»Von wem denn? Von ihr? Von dieser Frau?«

»Ja, von dieser Frau. Sie wird sich schon vergewissert haben, während sie sich mit ihm unterhielt, dass der andere rechtzeitig dazwischen kommen werde, ohne dass etwas passierte. Sonst wäre Ferro sicherlich nicht hereingeplatzt.«

Das war eine richtige Erpressung. Meine Erklärung enthielt ein äusserst geringschätziges Urteil über Nuti. Doch wenn Fräulein Luisetta sich wirklich beruhigen wollte, musste sie es wohl oder übel annehmen. Sie hatte ja keinen sehnlicheren Wunsch, als den, ruhig sein zu können; um diesen Preis aber, nein, um diesen Preis wollte sie es nicht. Energisch schüttelte sie den Kopf: nein – nein!

Na schön, denn nicht! Wenn ich ehrlich sein wollte, musste ich übrigens zugeben: so viel Vertrauen ich auch zu der Kaltblütigkeit und Willenskraft der Nestoroff hatte – bei der Erinnerung an Nutis verzweifelte Wutanfälle fühlte ich mich doch meiner Sache nicht so ganz sicher. Musste man sich nicht auch über ihn einige Gedanken machen? Auch fiel mir ein, in welch drohendem und hochmütigem Tone die Nestoroff erklärt hatte, dass sie nichts fürchte, von wem es auch kommen möge. Jedes neue Leid, hatte sie gesagt – Verbrechen, Gefängnis, selbst der Tod – werde ihr nichts bedeuten nach allem, was sie im Verborgenen gelitten habe. Sollte sie es nun plötzlich doch müde geworden sein, zu dulden? Vielleicht hing es gar damit zusammen, dass sie gestern, während meiner Abwesenheit, sich plötzlich entschlossen hatte, Nuti entgegenzukommen? Es stand so ganz im Widerspruch zu dem, was sie mir tags vorher erklärt hatte. –

»Mitleid gibt es nicht,« hatte sie da gesagt, »weder für ihn, noch für mich!«

Und nun hat sie vielleicht doch über Nacht Mitleid mit sich selber bekommen. Mitleid mit ihm? – oh, das sicher nicht! Mitleid mit sich selbst: das heisst, dass sie irgendwie, und sei's um den Preis eines Verbrechens, loskommen möchte von der selbstverschuldeten Plage des Zusammenlebens mit Carlo Ferro. Mit aller Energie eines neuen Entschlusses hat sie sich dann mit Nuti eingelassen und Carlo Ferro dazukommen lassen.

Aber was bezweckt sie damit? Was wird geschehen?

Schon ist inzwischen etwas geschehen, heute mittag, in der Laube der Kantine. Eine Menge Schauspieler hatten sich dort zusammengefunden, teils als Inder, teils als englische Touristen kostümiert. Sie waren alle mehr oder weniger ernstlich aufgebracht über Direktor Borgallis Strafpredigt von heute morgen und fielen schon eine ganze Weile über Carlo Ferro her, den sie mit aller Deutlichkeit dafür verantwortlich machten. Da habe er zunächst die tollsten Bedingungen gestellt, Lebensversicherung über hunderttausend Lire und alle möglichen Klauseln, und dann habe er gar noch versucht, sich seiner Rolle im Tigerfilm zu entziehen und sei weggereist, als wenn da schon viel Gefahr dabei wäre, ein Tier umzubringen, das durch monatelange Gefangenschaft ganz heruntergekommen sei. Carlo Ferro sass mit der Nestoroff etwas abseits an einem Tisch. Er war ganz gelb im Gesicht; offensichtlich hielt er nur mit aller Mühe an sich; wir warteten alle nur darauf, dass er plötzlich aufschnellte und seine Wut losbrechen liesse. Deshalb waren wir aufs äusserste überrascht, als nicht etwa er, sondern ein anderer, um den sich niemand gekümmert hatte, aufsprang und sich vor dem Tisch der beiden in Positur stellte. Ja, das war er, Nuti war's, totenblass. In die angestrengte, erwartungsvolle Stille hinein brach ein kleiner Schrei des Entsetzens. Aber gleich ward es wieder still; mit einer herrischen Geste hatte Varia Nestoroff geantwortet, die Hand auf Carlo Ferros Arm.

Nuti starrte Ferro gerade ins Gesicht. »Wollen Sie mir nicht Ihre Stellung und Ihre Rolle abtreten?« sagte er. »Ich verpflichte mich vor allen Anwesenden, sie ohne jede Bedingung zu übernehmen.«

Nein, Carlo Ferro sprang nicht auf; nein, er stürzte sich nicht auf den Gegner. Wir alle waren starr: er machte eine kleine Verbeugung und setzte sich recht breit auf seinem Stuhl zurecht. Dann legte er den Kopf auf die Seite, als wollte er Nuti von unten herauf betrachten und hob ein wenig den Arm, auf dem die Hand der Nestoroff lastete. »Darf ich bitten –,« sagte er, zu ihr gewandt.

Dann richtete er an Nuti das Wort:

»Sie? Meine Rolle? Aber brennend gern, lieber Herr! Ich bin doch so ein grosser Feigling! ... Sie können sich gar nicht vorstellen, was ich für eine Angst habe. Aber wirklich riesig gern, lieber Herr.«

Damit fing er zu lachen an, wie ich noch nie einen Menschen habe lachen sehen.

Ein Schauder überlief uns alle bei diesem Lachen. Auch Nuti musste das empfinden; wie ein Peitschenhieb traf es ihn. Alles wankte wohl in ihm; ungestüm hatte er sich auf den Nebenbuhler geworfen, und nun brach alle Kraft in ihm zusammen bei dieser plumpen und höhnischen Zurückweisung. Er schaute sich rings um, und unversehens müssten wir laut lachen beim Anblick dieses bleichen, verstörten Gesichts. Laut lachten wir ihn aus, keiner konnte an sich halten. Da und dort vernahm man spöttische Zurufe, sie waren wie feine Wasserstrahlen im grossen Schwall des Gelächters: »Schön hat er sich blamiert! – In die Falle gegangen! – Wie eine Maus.«

Nuti hätte klug daran getan, in das Lachen der andern mit einzustimmen. Aber er verfiel auf den allerunglücklichsten Ausweg: er blieb in seiner lächerlichen Rolle; angestrengt hielt er Ausschau nach jemandem, an den er sich klammern könnte, um nicht ganz unterzugehen in diesem Sturme der allgemeinen Ausgelassenheit. Mühselig begann er hervorzustammeln:

»Also – also – einverstanden? Ich spiele also – einverstanden?«

Aber selbst ich, so leid er mir tat, wandte rasch den Blick von ihm und sah die Nestoroff an. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Ein böses Licht lachte in ihrer Tiefe.

 

§ 2

In die Falle gegangen! Ja, das sagte alles. Dies und nichts anderes hat die Nestoroff erreichen wollen: Nuti sollte den Tigerkäfig betreten.

Wozu aber? Nun, es scheint mir leicht begreiflich, wenn man sich überlegt, wie sie alles inszeniert hat: zuerst hat sie Carlo Ferro überredet oder gezwungen, wegzufahren; dann brachte sie es so weit, dass jedermann auf Ferro schimpfte und sagte, es sei ja gar keine Gefahr dabei, den Käfig zu betreten. Um so lächerlicher musste es dann wirken, wenn Nuti sich prahlerisch erbot, in den Käfig zu gehen. Es würde ein allgemeines Gelächter geben; dann hatte sie Nuti fein säuberlich an der Nase geführt und gezwungen, sich in den Käfig zu wagen, und er wurde dazu noch von allen ausgelacht.

Und wie ist es mit Fräulein Luisetta? Ihrem Herzen habe ich nicht nahekommen können, aber immer noch verliere ich in ihrer Gegenwart meine Vernunft und meine fühllose Ruhe. Alle meine klugen Vorsätze verlassen mich, und es flieht von mir jenes oft gepriesene »unbeteiligte Stillschweigen«. Gerne möchte ich sie verachten, wenn ich sehe, wie sie sich so an diesen Narren verliert. Aber ich kann es nicht. Nun kann sie nicht mehr schlafen, das arme Kind, und jeden Morgen kommt sie zu mir auf mein Zimmer und klagt es mir vor. Ihre Augen wechseln dabei ständig ihre Farbe, bald sind sie leuchtend blau, bald blassgrün, während die Pupillen einmal schreckhaft gross sind und dann wieder sich zu einem Punkt zusammenziehen, in dem die bitterste Qual zu lauern scheint.

Ich frage sie: »Sie können nicht schlafen? Weshalb denn nicht?« – und dabei jagt mich die böse Begier, ihr wehe zu tun, und es hat keinen Zweck, wenn ich dagegen ankämpfe. »In Ihrem schönen Alter – da muss man doch weiss Gott schlafen können. Nein? Aber warum denn?« Wie taktvoll ich mich doch benehme: ich zwinge ihr das Geständnis ab, dass sie um seinetwillen nicht schlafen kann, dass sie für ihn fürchtet ... »Ach, wirklich!« sage ich, und dann rede ich ihr gut zu: sie könne getrost schlafen, alles werde gut gehen. Sie hätte es doch selbst gesehen, mit welchem Feuer er sich für die Rolle im Tigerfilm hergegeben habe. Das werde sicher ein Erfolg sein, denn schon in jungen Jahren, erzählte ich, habe er Schauspieler werden wollen, nur habe es sein Grossvater nicht zugelassen. Nun, damals habe er schon gewusst, was er wollte. Bei ihm käme eine ausgezeichnete Begabung mit einem wirklich vornehmen, eleganten Auftreten zusammen. Er sei wie geschaffen für den englischen Gentleman, der der treulosen Miss nach Indien nachreist. Sie müsse einmal sehen, mit welcher Höflichkeit und Einsichtigkeit er auf die Ratschläge der Berufsschauspieler und der Direktoren Bertini und Polacco höre und was er für eine Freude habe, wenn sie ihn lobten! Also Kopf hoch, Fräulein!

Nein? Fräulein Luisetta sagt nein, hartnäckig sagt sie nein und nochmals nein. Es kommt ihr alles unmöglich vor. Sie hat allen Glauben verloren. Sicher, meint sie, trage er irgendeinen gewalttätigen Plan mit sich herum, ohne etwas davon merken zu lassen.

Hat sich aber ein derartiger Argwohn erst einmal in einem Menschen festgesetzt, dann ist nichts leichter, als dass man in jeder kleinsten Kleinigkeit ein Zeichen der Bestätigung erblickt. Solcher Zeichen bemerkt Fräulein Luisetta eine ganze Menge. Und zu mir kommt sie jeden Morgen und erzählt mir: »... er schreibt ... er sieht böse aus, er sieht einen gar nicht an ... er hat vergessen mich zu grüssen ...!«

»Richtig, Fräulein – und heute hat er sich sogar die Nase mit der linken Hand geputzt statt mit der rechten!«

Doch Fräulein Luisetta lacht nicht. Sie sieht mich nur traurig an, um zu erkennen, ob ich im Ernst spreche. Dann geht sie beleidigt hinaus und schickt mir ihren Vater. Der Arme! ich sehe genau, wie er in meiner Gegenwart um jeden Preis seiner Bestürzung Herr zu werden sucht. Seine Tochter hat ihn nun glücklich auch schon angesteckt, aber er holt sich mühselig allerlei abstrakte Betrachtungen heran, um mich nichts merken zu lassen.

»Ja, die Frau!« sagt er und schüttelt mir die Hand. »Sie sind ihr ja zum Glücke bisher nicht begegnet auf Ihrem Lebenswege, der grossen Feindin! (Nun, und ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, dass dem immer so sein möge, Herr Gubbio!)

Ich gebe zur Antwort, ich sei vollkommen seiner Meinung.

»Meiner Meinung?« fragte Cavalena dann überrascht, will sich aber nichts anmerken lassen, denn er fürchtet, ich könnte ihm sonst hinter seine Schliche kommen. – »Ach was, meiner Meinung?«

Dabei schaut er mich ängstlich an. Es ist, als wolle er den günstigsten Augenblick erhaschen, um während unseres guten Einverständnisses vom Abstrakten zum Konkreten überzuleiten. Aber da nagle ich ihn auch schon fest.

»Gott im Himmel,« frage ich, »warum bilden Sie sich eigentlich so unentwegt ein, Frau Nestoroff müsse mit Herrn Nuti verfeindet sein?«

»Wie – was? Verzeihung? Glauben Sie nicht? Aber sicherlich – ganz bestimmt ist sie seine Feindin!« ruft Cavalena. »Darüber habe ich gar keinen Zweifel.«

»Und warum?« fragte ich wieder. »Mir ist im Gegenteil nur das eine klar: dass sie mit Nuti weder Freund noch Feind sein möchte!« –

»Aber grade deshalb!« beharrte Cavalena. »Pardon, Herr Gubbio, aber man darf das nicht tun: man darf eine Frau nicht für sich allein betrachten. Immer in Beziehung zum Mann – und je feindseliger sie da empfindet, desto gleichgültiger tut sie zuweilen! In unserem Falle: was soll diese Gleichgültigkeit, jetzt, nachdem sie ihm so viel Böses angetan hat? Genügt das denn noch nicht? Muss sie sich auch noch über ihn lustig machen? Nein, verzeihen Sie –«

Ich sah ihm einen Augenblick ins Gesicht; dann fing ich seufzend von neuem an:

»Gut denn! Aber weshalb glauben Sie denn so steif und fest, dass Nuti nun daraufhin vor Zorn und wüsten Racheplänen nicht mehr aus noch ein weiss? Wie motivieren Sie denn das? Er macht einen vollkommen ruhigen Eindruck und freut sich scheinbar schon sehr auf seine Rolle als englischer Gentleman ...«

»Ja, das ist nicht natürlich bei ihm,« protestiert Cavalena achselzuckend. »Meine Tochter hat ganz recht. Ich möchte ihn vor Zorn und Schmerz weinen und sich verzehren sehen, – amen, würde ich dann sagen, jetzt entscheidet er sich für die eine oder für die andere Möglichkeit ...«

Da mache ich ein Zeichen mit dem Finger, aber der arme Cavalena kann es zuerst gar nicht verstehen.

»Was wollen Sie sagen?« fragte er mich.

Ich wiederhole mein Zeichen, und dann erkläre ich es ihm in aller Sanftmut:

»Ein bisschen höher hinauf, wissen Sie, höher hinauf ...«

»Höher hinauf – was heisst das?«

»Eine Stufe weiter hinauf, Herr Fabrizio! Steigen Sie noch um eine Stufe hinauf über Ihre abstrakten Betrachtungen da, die Sie mir vorhin skizziert haben. Glauben Sie mir, als Trostmittel ist das einzigartig. Und es ist auch modern heutzutage.«

»Wie meinen Sie das?« fragte mich Cavalena; er ist ganz verwirrt.

Und darauf ich:

»Davonlaufen, Herr Fabrizio, davonlaufen! Entfliehen müssen Sie dem ganzen Drama! Das ist ausgezeichnet, sage ich Ihnen, und grundmodern dazu. Sie müssen sich in – wie sagt man da? – in lyrischen Ergüssen verlieren, jenseits aller brutalen Lebensnotwendigkeiten. Sie müssen, mit einem Wort, sein wie ein Vögelchen im Käfig, Herr Fabrizio. Hin und her hüpfen, nicht wahr, in den engen Löchern, und dann flattern sie plötzlich empor – das ist Prosa und Poesie – eine ganz moderne Auffassung. Sowie die Dinge schlecht gehen wollen, sowie zum Beispiel zweie mit Messern aufeinander losgehen, – nur rasch hinauf, hinauf in die Höhe geblickt und nachgesehen, wie das Wetter wird, wie die Schwalben fliegen oder die Fledermäuse allenfalls, und ob keine Wolken am Himmel aufziehen, ob der Mond schon recht voll ist und wie die Sterne ausschauen, golden oder silbern. Dann gilt man als Original und macht den Eindruck, dass man das Leben ganz anders erfasst als die andern.«

Cavalena sieht mich mit offenen Augen an. Vielleicht komme ich ihm verrückt vor.

»Tja,« sagt er schliesslich. »Das will auch gekonnt sein!«

»Aber es ist doch so einfach, Herr Fabrizio! Sobald die Dinge anfangen, vor Ihnen dramatisch zu werden, körperlich und drohend, dann kehren Sie den Narren in sich hervor, den verbitterten Dichter, bewaffnet mit einer kleinen Saugpumpe. Nun, und damit pumpen Sie aus der Prosa unserer hässlichen Wirklichkeit ein wenig säuerliche Poesie heraus – das ist die ganze Kunst!«

»Aber das Herz –«, fragt Cavalena da.

»Welches Herz?«

»Ja, lieber Gott, das Herz eben! Da dürfte man ja kein Herz haben!«

»Aber was heisst da Herz, Herr Fabrizio? Nichts! Das ist doch Unsinn! Was soll es denn für mein Herz bedeuten, ob Tizio weint, ob Cajo sich verheiratet, ob Sempronio den Filano totschlägt und so weiter? Nein, ich laufe ihm davon, dem Drama, ich will mich ausdehnen, ausdehnen will ich mich!«

Ausdehnen? – nun vorderhand dehnen sich nur die Augen des armen Cavalena aus, sie werden immer grösser und grösser. Ich aber stehe auf und sage abschliessend:

»Ja, und was Ihre Befürchtung da angeht, Herr Fabrizio – da möchte ich antworten: ich möchte nichts mehr davon zu hören bekommen. Ich habe mich grade genug damit gelangweilt; jetzt will ich nichts, gar nichts mehr damit zu tun haben! Sagen Sie Ihrer Tochter, Herr Fabrizio, dass ich Operateur sein will und nichts anderes.

Und damit mache ich mich auf den Weg zur Kosmograph.

 

§ 3

Wir sind – so Gott will – nun bald mit dem Film am Ende. Es fehlt nur noch die letzte Szene, die Tötung des Tigers.

Der Tiger; sein Schicksal mag das einzige sein, das mich bewegen kann. Und ich gehe getreulich, ihn vor seinem Käfig zu besuchen.

Das schöne Tier ist meinen Anblick schon gewohnt und rührt sich nicht von seinem Platz. Es zieht höchstens die Augen ein wenig zusammen. Aber es erträgt meinen Blick ebenso wie das Gesicht der schweren, schweigenden Sonne, deren Glut sich mit dem Geruch des Raubtierkäfigs mengt. Sie dringt durch die Stäbe ein, und das Tier schliesst die Augen, vielleicht um zu träumen, vielleicht auch, um nicht immer die schwarzen Schatten der Eisenstäbe sehen zu müssen. Wie überdrüssig muss es sein von all diesem, wie überdrüssig auch meines Mitleids. Ob es nicht doch zum Lohn dafür mich am liebsten mit Haut und Haaren auffrässe? Während es so vor mir in der Sonne ausgestreckt liegt, den mächtigen Kopf müde auf einer der Tatzen, sehe ich ein leichtes Staubwölkchen vor ihm von dem Boden des Käfigs aufwirbeln. Das kam wohl von einem Seufzer, den es ausstiess, weil man es so seines Rechtes beraubt hat, den Menschen da vor ihm, seinen natürlichen Feind, zu verschlingen.

»Morgen,« sage ich zu ihm, »morgen früh, mein Guter, hat dein Elend ein Ende. Es ist ja wahr, dies Elend ist wenigstens noch da, und wenn es zu Ende sein wird, dann wird nichts mehr da sein für dich. Aber zu wählen zwischen dem Elend und dem Nichts, vielleicht ist das Nichts das bessere! – Hörst du, wie sie den grossen Käfig vorbereiten? Du bist schon an die Hammerschläge gewöhnt und kümmerst dich nicht mehr darum. Siehst du, darin bist du glücklicher als der Mensch. Der denkt wohl, wenn er den Hammer schlagen hört: ›Ob das für mich ist? Die Schreiner, die mir den Sarg zimmern?‹ Aber du, du wirst schon im Sarg sein und es selbst noch nicht wissen: ein Käfig wird es sein, viel grösser als dieser hier; und ein bisschen Lokalkolorit wird dich auch trösten, ein kleines Stück Waldkulisse. Man wird den Käfig, in dem du jetzt liegst, hinübertragen und ganz dicht an den grossen heranstellen. Dann wird ein Maschinist auf das Dach deines Käfigs steigen und die Falltür hochziehen, und ebenso ein anderer die des grossen Käfigs. Und dann wirst du erstaunt und vorsichtig hinüberschleichen zwischen die Baumstämme. Plötzlich aber wirst du ein seltsames Ticken bemerken. Aber das hat nichts zu bedeuten! Das bin dann nur ich, der auf dem Dreifuss die kleine Maschine kurbelt. Ja, auch ich werde in dem Käfig sein bei dir; aber du darfst nicht auf mich achten. Denn dort, ein wenig vor mir – siehst du? – steht ein anderer, und der nimmt dich aufs Korn und – paff! da stürztest du auch schon mitten im Sprung dumpf zu Boden – Ich kann dann mit meinem Apparat ohne Gefahr näher herankommen, rasch noch dein letztes Zucken aufnehmen, und dann, leb wohl! – Das heisst, wenn es wirklich so ausgehen wird.

Als ich heute abend aus der photographischen Abteilung kam, wo ich auf Borgallis Drängen hin auch beim Entwickeln und Zusammensetzen des riesig langen Films mit Hand angelegt hatte, trat Aldo Nuti auf mich zu und begleitete mich ungewohnterweise bis nach Hause. Ich spürte sofort, dass er irgendeine Frage auf dem Herzen hatte, wenn er sich auch anstrengte, es mich nicht merken zu lassen.

»Gehen Sie nach Haus?«

»Ja.«

»Ich auch.«

Plötzlich fragte er mich:

»Waren Sie heute im Vorführungsraum?

»Nein, ich habe unten auf der Abteilung gearbeitet.«

Kurzes Schweigen. Dann zwang er sich zu einem freundlichen Lächeln:

»Man prüfte heute meine Aufnahmen. Sie gefielen allgemein. Ich hätte nie gedacht, dass sie so gut ausfallen würden, besonders eine. Schade, dass Sie sie nicht gesehen haben.«

»Welche denn?«

»Die Grossaufnahme, wo ich so nachdenklich dastehe mit dem Finger am Mund. Vielleicht dauert sie ein wenig zu lange – vielleicht ist auch das Gesicht ein wenig zu sehr im Vordergrund, mit diesen Augen – man kann förmlich jede einzelne Wimper zählen. Es schien mir eine halbe Ewigkeit, bis das Bild von der Leinwand wieder verschwand.«

Ich wendete mich und sah ihn an. Aber er entzog sich mir mit einer etwas törichten Betrachtung:

»Ja, ein seltsamer Eindruck ist das,« meinte er, »wenn wir unser eigenes Bild zum erstenmal sehen, auch wenn es nur eine einfache Photographie ist. Wie kommt das nur?«

»Vielleicht,« erwiderte ich, »weil wir uns dort fixiert finden in einem Augenblick, der schon nicht mehr in uns ist, aber der dauert und uns darum allmählich immer ferner rückt.«

»Vielleicht,« seufzte er, »wir entfernen uns immer mehr –«

»Nein,« berichtigte ich, »auch das Bild entfernt sich von uns. Das Bild wird auch älter, gerade so, wie wir selbst allmählich altern. Es altert auch, wenn es dort in einem Augenblick festgehalten scheint, wenn wir jung waren! Dann altert das Junge, denn in uns und mit uns schreitet es von Jahr zu Jahr fort.«

»Ich verstehe nichts davon.«

»Und doch ist es so leicht zu verstehen, wenn man nur einen Augenblick darüber nachdenkt. Sehen Sie: die Zeit von damals, die Zeit jenes Bildes, rückt nicht vor, schreitet nicht wie wir selbst stündlich vorwärts, der Zukunft entgegen. Es hat den Anschein, als stünde sie still, aber auch sie verschiebt sich, nur in umgekehrter Richtung. Sie vertieft sich immer mehr in die Vergangenheit. Und so entfernt sich auch das Bild mit der Zeit immer mehr von uns in die Vergangenheit hinein. Und je jünger es gewesen, um so älter, um so ferner wird es uns.«

»Nun ja, auf die Art wohl,« sagte er, »das ist richtig. Aber es gibt noch etwas Traurigeres, ein Bild, das ins Leere hinein jung gealtert ist.«

»Wieso ins Leere hinein?«

»Das Bild eines Menschen, der jung gestorben ist.«

Wiederum wandte ich mich, um ihn anzusehen. Da gab er unversehens dem Gespräch eine andere Wendung, indem er fragte:

»Wie lange Lebensdauer mag wohl ein Film haben?«

Er fragte mich das plötzlich nicht mehr in freundlichem Konversationston, sondern wandte sich ganz sachlich an mich als Operateur, und seine ganze Haltung schien mir so verändert, dass ich in mir den stillen Ärger aufsteigen spürte, den ich schon seit einiger Zeit auf meine ganze Umgebung habe. Warum, zum Teufel, wollte er Auskunft von mir haben über die Lebensdauer eines Films? Hatte er mich deswegen begleitet, um mich darüber auszufragen, oder wollte er mir Angst machen, indem er durchscheinen liess, dass er am nächsten Tag irgendeine Dummheit begehen wolle, damit dieser Nachhauseweg mir ständig in trauriger und elender Erinnerung bliebe.

Ich fühlte mich versucht, stehen zu bleiben und ihm ins Gesicht zu schreien: Mensch, lass mich doch in Ruhe! Von mir aus kannst du machen, was du willst! Mir ist es ganz gleichgültig. Du kannst soviel Dummheiten und Verrücktheiten begehen, wie du willst, heute und morgen. Fragst du mich vielleicht deswegen nach der Lebensdauer eines Films, damit mir in den Sinn kommen soll, dass du uns von dir nur das Bild mit dem Finger am Mund zurücklässt? Meinst du vielleicht, du wirst alle Welt erschrecken mit jener Grossaufnahme, auf der man die Haare deiner Wimpern zählen kann, wie du sagst. Wie lange wird ein Film wohl Lebensdauer haben!

Ich zuckte die Achseln und antwortete ihm:

»Das kommt ganz darauf an, wie oft man ihn laufen lässt.«

Auch er schien an meinem veränderten Tonfall zu bemerken, dass meine Einstellung zu ihm eine andere geworden, und er sah mich auf eine so seltsame Art an, dass er mir leid tat.

Ja, jetzt war er noch hier auf der Welt, ein unbedeutendes Geschöpf; überflüssig, aber doch immerhin vorhanden, und ging neben mir her und litt. Wie wir alle, so litt auch er am Leben, wenn auch freilich aus unwürdigen Gründen. Aber was konnte er dafür, dass er mit so einer erbärmlichen Seele zur Welt gekommen? Für ihn war sein Leid gross, denn es war das Leid des Lebens. Jetzt war er noch hier, ging neben mir her an einem Juniabend, von dessen Süsse freilich er doch nichts spüren konnte. Morgen wird er vielleicht nicht mehr vorhanden sein; diese seine Beine werden sich nicht mehr zum Gehen bewegen können; diese Füsse werden nicht mehr die seidenen Socken und die schmalen, blitzenden Lackschuhe tragen, an denen er sich, trotz all seines Kummers, jeden Morgen vor dem Spiegel freute, ebenso wie an dem tadellosen Sitzen seines Anzugs und an seiner schlanken Figur, die ich in diesem Augenblick noch lebendig und greifbar zum Berühren neben mir spürte.

Bruder! –

Nein, ich sprach das Wort nicht aus. Man fühlt zuweilen gewisse Worte in einem flüchtigen Augenblick, aber man spricht sie nicht aus. Jesus konnte es aussprechen, aber er ging ja auch nicht gekleidet wie ich und war nicht Filmarbeiter. In einer Menschheit, die an Filmschauspielen Vergnügen hat und Berufe zulässt, wie den meinen, da müssen gewisse Worte und Gefühlsregungen lächerlich werden.

Wenn ich jetzt »Bruder« zu diesem Herrn Nuti sagte, dachte ich, so würde er einfach beleidigt sein. Es beliebt ihm zwar, ein wenig mit mir über das Altern von Bildern zu philosophieren, aber was bin ich sonst für ihn? Ein Arbeiter, eine Hand, die die Kurbel dreht.

Er aber ist ein »Signore«. Wenn auch ein wenig verrückt im Kopf und verzweifelt im Herzen, aber er bleibt immerhin ein reicher, adliger Signore und hat nicht vergessen, dass er mich einmal als kleines, armes Studentlein gekannt hat, als den unbedeutenden Hauslehrer Giorgio Mirellis in dem kleinen Landhaus bei Sorrent. Er hält auf die Distanz zwischen uns und zwingt auch mich dazu, sie wohl zu beachten, die Distanz, die die Zeit und mein Beruf zwischen uns herausgebildet haben. Zwischen ihm und mir steht trennend der Kurbelkasten.

»Entschuldigen Sie,« fragte er mich, kurz ehe wir zu Hause ankamen, »wie werden Sie eigentlich morgen die Tötung des Tigers aufnehmen?«

»Das ist sehr einfach,« erwiderte ich, »ich werde hinter Ihnen stehen.«

»Aber werden Sie die Stäbe des Käfigs und die Zweige der Bäume nicht hindern?«

»Mich? – Nein. Ich werde mit Ihnen im Käfig sein.«

Er blieb stehen und sah mich überrascht an:

»Mit mir im Käfig?«

»Ja gewiss!« erwiderte ich ruhig.

»Und wenn – wenn mein Schuss danebengeht?«

»Ich weiss, dass Sie ein erprobter Schütze sind. Und übrigens wäre das weiter nicht schlimm. Alle Schauspieler werden der Szene beiwohnen und um den Käfig herumstehen. Einige werden gewiss bewaffnet sein, bereit, im Notfall auch zu schiessen ...«

Er blieb nachdenklich stehen, als wäre ihm diese Nachricht gar nicht recht.

»Sie werden doch nicht vor mir schiessen?« sagte er dann.

»Nein, gewiss nicht. Sie schiessen nur im Notfall.«

»Aber warum?« fragte er, »machte dann jener Herr Ferro soviel Aufhebens davon, wenn tatsächlich gar keine Gefahr besteht.«

»Weil, wenn Ferro es gespielt hätte, jene anderen ausserhalb des Käfigs vielleicht nicht bewaffnet gewesen wären.«

»Ach, sie sind es also nur meinetwegen? Diese elende Sicherheitsmassnahme hat man meinetwegen getroffen? Das ist ja lächerlich. Wer hat sie denn getroffen? Vielleicht gar Sie?«

»Ich nicht. Wie käme ich dazu!«

»Wieso wissen Sie aber dann davon?«

»Polacco sagt es.«

»Sagte er es zu Ihnen? Dann hat also Polacco sie getroffen. Nun, morgen früh wird er es von mir zu hören bekommen! Ich will das nicht, haben Sie verstanden, ich will das nicht!«

»Warum sagen Sie denn das zu mir?«

»Ja, auch Ihnen sage ich es.«

»Verehrter Herr, glauben Sie mir doch, dass es mir ganz gleichgültig ist, ob ihr Schuss trifft oder danebengeht; machen Sie nur in dem Käfig an Verrücktheiten, was Sie wollen. Mich soll es nicht rühren, das können Sie glauben. Was auch immer geschieht, ich werde teilnahmslos meinen Apparat weiterkurbeln. Merken Sie sich das wohl.«

 

§ 4

Kurbeln! Ja, ich habe gekurbelt. Ich habe Wort gehalten bis zuletzt. Aber die Rache, die ich nehmen wollte, für meinen Dienst – das Leben kehrte sie im höchsten Augenblick gegen mich selber um. Nun gut. Doch niemand wird leugnen können, dass ich in diesem Augenblick meine eigentliche Vollkommenheit erreicht habe.

Als Operateur bin ich jetzt in der Tat vollkommen.

Heute, etwa einen Monat nach dem furchtbaren Ereignis, das noch in aller Munde ist, beschliesse ich diese meine Aufzeichnungen.

Eine Feder und ein Blatt Papier – das sind die einzigen Verständigungsmittel mit der Umwelt, die mir geblieben sind. Ich habe die Sprache verloren. Ich bin stumm für immer. An einer Stelle meiner Aufzeichnungen stand geschrieben: »Ich leide darunter, dass alle Welt sich in meine Stille hineindrängt, wie in die Stätte einer sicheren Zuflucht. Ich wollte, dass diese Stille sich ganz und gar um mich schlösse.« Jetzt hat sie sich um mich geschlossen. Und besser hätte ich einer Maschine nicht dienen können, als ich es tat.

Der Auftritt spielte sich folgendermassen ab:

Der Unselige begab sich am nächsten Morgen zu Borgalli und erhob stolz Einspruch gegen die erwähnte Vorsichtsmassregel Polaccos, da dieser ihn seiner Ansicht nach nur lächerlich machen wollte. Er verlangte, dass sie unter allen Umständen aufgehoben würde. Er sei gern bereit, vorher vor allen eine Probe seiner Schiesskunst abzulegen. Polacco entschuldigte sich vor Borgalli; er hätte diese Massnahme nicht getroffen, weil er kein Zutrauen zu Nutis Tapferkeit oder Treffsicherheit habe, sondern nur aus Vorsicht, weil er wisse, wie nervös Nuti sei. Das gehe ja auch schon daraus hervor, dass dieser jetzt, anstatt ihm freundschaftlich zu danken, ihm so aufgeregte Vorwürfe mache.

»Und ausserdem,« fügte er unglücklicherweise hinzu, indem er auf mich zeigte, »ist auch noch der Gubbio im Käfig, Herr Direktor –«

Da sah mich der Unglückliche so wütend an, dass ich mich rasch an Polacco wandte:

»Nicht doch, mein Lieber! Meinetwegen tu es bitte nicht! Du weisst ganz gut, dass ich noch ganz ruhig weiterkurbeln werde und sollte ich diesen Herrn auch zwischen den Zähnen und Tatzen des Raubtiers sehen!«

Die umstehenden Schauspieler lachten. Polacco zuckte die Achseln und gab nach. Oder vielmehr er tat so, als gäbe er nach. Zu meinem Glück bat er, wie ich später erfuhr, Fantappié und noch einen andern darum, sich heimlich doch zu bewaffnen und für alle Fälle bereit zu halten. Nuti ging dann in seine Garderobe, um sich als Jäger zu kostümieren. Und ich ging auf die Abteilung, um meinen Apparat für seine Mahlzeit herzurichten. Es war ein Glück für die Gesellschaft, dass ich viel mehr Filmband einzog, als ich der Dauer der Szene nach schätzungsweise hätte nehmen müssen. Bei meiner Rückkehr auf den von einer Menschenmenge überfüllten Platz, in dessen Mitte man den grossen als Wald hergerichteten Käfig aufgestellt hatte, fand ich den andern Käfig mit dem Tiger bereits herangerückt. Man brauchte also nur noch die Gittertür des kleineren Käfigs hochzuziehen.

Zahlreiche Schauspieler der vier Kompagnien drängten sich dicht herum, um zwischen den Baumstämmen und Zweigen hindurch, die die Gitterstäbe verbargen, in das Innere zu sehen. Ich hoffte einen Augenblick, die Nestoroff würde, nachdem sie nun ihr Ziel erreicht hatte, wenigstens so vorsichtig sein und nicht kommen. Aber siehe da, da war sie schon! Leider!

Sie mischte sich nicht in das Gedränge, sondern stand mit Carlo Ferro abseits, in einem hellgrünen Kleid. Sie lächelte viel und erwiderte seine Worte ab und zu mit einem Kopfnicken, obwohl aus Ferros düsterer Miene deutlich hervorging, dass die Worte, die er sprach, eigentlich nicht mit einem Lächeln zu beantworten wären. Aber dieses Lächeln war für die andern bestimmt, die ringsum standen und sie anschauten. Auch für mich war es bestimmt, und sie lächelte lebhafter, als sie merkte, dass ich sie ansah. Sie wollte mir wohl damit noch einmal sagen, dass sie vor nichts Angst habe; denn ich wisse ja, was für sie das schlimmste sei: der Mann da neben ihr, Ferro! Er war ihre Strafe, und bis aufs Letzte wollte sie sie auskosten, immer lächelnd zu den rohen Worten, die er vielleicht jetzt gerade zu ihr sprach.

Ich wandte meinen Blick von ihr und suchte Nutis Auge. Sein Blick war trübe. Scheinbar hatte auch er die Nestoroff von weitem entdeckt, aber er wollte sich nichts anmerken lassen. Sein Gesicht schien ganz starr. Er zwang sich zu lächeln, aber er zuckte nur nervös mit den Lippen, wenn jemand ihn ansprach. Auf dem Kopf die schwarzsamtne Jagdmütze mit breitem Schirm, im roten Rock, ein blinkendes Jagdhorn umgehängt, die Beine in enganliegenden weissen Wildlederhosen mit hohen Sporenstiefeln, die Büchse in der Hand; so stand er bereit.

Nun zog man das Fallgitter in die Höhe, so dass wir beide in den grossen Käfig klettern konnten; ein paar Arbeiter brachten uns dazu eine kleine Trittleiter herbei. Er stieg zuerst hinauf, dann ich. Während ich meinen Apparat, den man mir durch das Fallgitter heraufgereicht hatte, auf das Stativ schraubte, bemerkte ich, wie Nuti erst auf dem zum Hinterhalt gewählten Platz hinkniete und dann wieder aufstand, um an einer Stelle des Gitters die Zweige ein wenig auseinanderzubiegen, als wolle er ein Guckloch schaffen.

Ich allein hätte ihn fragen können: Weshalb?

Aber unsere Stellung zueinander liess nicht zu, dass wir hier auch nur ein Wort wechselten. Diese Handlung hätte ausserdem so manche Deutung zugelassen, die mich unsicher hätte machen können in einem Augenblick, in dem ich meine ganze Umsicht und Sicherheit brauchte. Und darum tat ich, als hätte Nuti sich überhaupt nicht bewegt. Ich dachte nicht mehr an diese Handlung, sondern es war mir, als hätte ich sie überhaupt nicht bemerkt.

Er nahm Stellung auf dem für ihn bestimmten Platz und legte das Gewehr an. Ich rief:

»Fertig!«

Man hörte das Fallgitter des anderen Käfigs in die Höhe rasseln. Polacco, der vermutlich beobachten konnte, wie das Raubtier sich auf die Gitteröffnung zubewegte, rief laut durch die Stille:

»Achtung! Kurbeln!«

Und ich begann die Kurbel zu drehen, die Augen gespannt auf die Baumstämme im Hintergrund gerichtet, zwischen denen schon der Kopf des Raubtiers auftauchte, ganz tief vorgestreckt und vorsichtig im Kreise umherspähend. Ich sah, wie der Kopf sich langsam wieder zurückzog, wie die beiden Vordertatzen dicht nebeneinander stehenblieben, während es die Hintertatzen ganz langsam heranzog und den Rücken im Bogen straffte, um sich zum Sprung vorzubereiten. Meine Hand gehorchte blindlings dem Tempo, das ich der Bewegung gab, erst rasch, dann langsamer, dann ganz langsam, und es schien, als sei meine ganze Energie, mein ganzes Bewusstsein in die eine Faust hinuntergestiegen und handelte nach eigenem Ermessen, klar und entschlossen, unter Ausschaltung aller Gedanken des Hirnes und aller Gefühle des Herzens. So kam es, dass die Hand immer weiter gehorchte, auch als ich zu meinem Entsetzen sah, dass Nuti die Büchse von dem Raubtier abwandte und ihre Mündung langsam auf das Guckloch richtete, das er vorhin zwischen den Zweigen zurecht gebogen hatte; als ich sah, wie er abdrückte und sich im nächsten Augenblick der Tiger auf ihn stürzte und dicht vor meinen Augen sich mit ihm in blutigem Knäuel am Boden wälzte. Lauter als die Schreie der Schauspieler, die alle auf die Nestoroff zustürzten, wie sie unter dem Schuss zusammenbrach, stärker als das Heulen Carlo Ferros, klang mir im Käfig das dumpfe Schnurren des Raubtiers und das grauenhafte Röcheln des Menschen unter seinen Pranken, dem es Hals und Brust zerfleischte. Ich horchte, ich horchte, immer auf dieses Schnurren, immer auf dieses Röcheln, und dabei ging das Ticken meines Apparates immer weiter. Meine Hand kurbelte ganz von selbst und mechanisch. Und ich wartete darauf, dass die Bestie jetzt den Nuti liegen liesse und sich auf mich stürzen würde. Die Augenblicke wurden mir zu Ewigkeiten und mir war, als sollte ich für alle Ewigkeit dort stehen und kurbeln, immer weiterkurbeln; als plötzlich eine Hand mit einem Revolver sich durch die Gitterstäbe schob und aus allernächster Nähe einen Schuss in das Ohr des Tigers feuerte, der den Nuti schon ganz zerfleischt hatte.

Man zog mich von rücklings aus dem Käfig. Meine Hand hielt die Kurbel des Apparates so fest umklammert, dass man sie zunächst nicht von ihr trennen konnte. Ich schrie nicht und ich stöhnte nicht. Ich hatte vor Schreck die Sprache verloren, für immer.

So ging alles vor sich. Der Gesellschaft habe ich einen Dienst geleistet, der ihr Reichtümer einbringen wird. Sobald ich konnte, gab ich den Leuten, die mich entsetzt umringten, durch Zeichen und später schriftlich zu verstehen, dass sie den Apparat, den man mir kaum aus der Hand winden konnte, gut bewachen sollten; trug er doch das Leben eines Menschen im Leibe, mit dem ich ihn bis zuletzt gespeist hatte, bis jener Arm erschienen war und den Tiger getötet hatte. Dieser Film wird eine Goldgrube werden, wenn man an die ungeheure Sensation denkt, die gewiss das schreckliche Drama der beiden Opfer überall erregen wird.

Ach, ich hätte nie geglaubt, dass ich tatsächlich das Leben eines Menschen einer jener zahllosen Maschinen, die der Mensch zu seiner eigenen Erbauung erfunden hat, zum Frasse vorwerfen würde. Freilich war dies Leben so, wie es dieser Zeit entsprach; ein Produkt, Stumpfsinn einerseits und Wahnsinn andererseits und in beiden Teilen von dem Stempel der Gemeinheit geprägt.

Ich aber ziehe mich einsam in meine Stille zurück, die mir eine solche Vollkommenheit, wie die Zeit sie verlangt, gegeben hat. Mein Freund, Simone Pau, will freilich nichts davon wissen. Er wohnt immer noch im Asyl für Obdachlose und verkündigt dabei das Evangelium des »Drüber-Hinaus«. Ich selbst bin schon recht wohlhabend vermöge der Belohnung, die die Gesellschaft mir für meinen Dienst ausgeschüttet hat und werde durch die Tantiemen, die der schreckliche Film bringen wird, bald zum reichen Mann werden. Ich werde zwar nicht wissen, was beginnen mit diesem Reichtum, aber das werde ich niemand merken lassen, am allerwenigsten den Simone Pau, der mich jeden Morgen besucht und heftig in mich hineinredet, um mich aus meinem jetzt vollkommenen Schweigen aufzurütteln. Dies Schweigen macht ihn ganz wild. Er möchte, dass ich wenigstens darüber weinte und meinen Zorn oder meine Trauer darüber mit den Augen äusserte. Er möchte, dass ich ihm durch Zeichen zu verstehen gäbe, dass auch ich an jenes wahre andere Leben glaubte, an jenes sein »Darüber-hinaus!« Ich aber zucke nicht mit der Wimper, sondern sehe ihn starr und unbewegt an, bis er zuletzt wütend davonläuft.

Der brave Cavalena studiert meinetwegen viele Bücher über Nervenkrankheiten, rät mir zu elektrischen Bädern und Massage und versucht mich ständig zu einer Stimmbandoperation zu überreden. Fräulein Luisetta aber, die voll Reue und Schmerz ist über mein Unglück, und die durchaus einen Helden aus mir machen will, gibt mir jetzt schüchtern zu verstehen, dass es ihr wohl lieb wäre, trüge ich für sie, wenn auch nicht auf den Lippen, so doch im Herzen ein leises Jawort.

Nein, ich danke. Ich danke euch allen, jetzt aber lasst mich in Ruhe. Ich will bleiben, der ich bin. So ist die Zeit, und so ist das Leben. Und in diesem Sinne, den ich meinem Berufe gebe, will ich fortfahren – einsam, stumm und unbewegt – der Mann an der Kurbel zu sein.

Ist alles zum Auftritt bereit?

»Achtung Kurbeln


Corrigenda: eingepflegt. Re. für Gutenberg

 


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