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Das fünfte Heft
der
Aufzeichnungen des Filmoperateurs
Serafin Gubbio

 

§ 1

Ich verlasse Aldo Nutis Zimmer. Es ist fast ein Uhr nachts.

Das Haus – es ist die erste Nacht, die ich darin verbringe – liegt nun in tiefem Schlummer. Mir ist, als atme es einen fremdartigen Hauch aus, den ich noch nicht recht einzuatmen vermag. Viel Vorahnung trägt er in sich und tausend seltsame Besonderheiten des Alltags dieser Menschen, den ganzen Geruch ihres Lebens.

Kaum war ich aus Nutis Zimmer in den Gang getreten, als ich – ein brennendes Streichholz in der Hand – ganz dicht vor mir meinen eigenen riesigen Schatten auf der gegenüberliegenden Wand gewahrte. Und da war es mir, als schrumpfte in dem Schweigen des Hauses meine Seele winzig zusammen, und als wüchse der Schatten an der Mauer, immer grösser, zum Bild meiner eigenen Angst auf.

Am anderen Ende des Korridors war eine Tür. Dicht davor auf einer Matte standen ein Paar zierliche Schuhchen: Fräulein Luisettas Schuhe. Einen Augenblick blieb ich stehen und sah, wie mein unförmiger Schatten gegen die Tür hin sich verlängerte, und da schien es mir, als wollten die Schuhe die Tür gegen ihn verteidigen. Dann ertönte plötzlich Piccinìs dünnes, heiseres Kläffen aus dem Zimmer. Das Hündchen war gewiss schon beim Geräusch des Türschliessens erwacht, hatte sich aber ruhig verhalten, mit gespitzten Öhrchen. Nun erst, da es hörte, wie ich stehen blieb, und spürte, wie meine Gedanken in das Zimmer seiner Herrin dringen wollten, schlug es an. Dann betrete ich mein neues Zimmer. Es ist eigentlich nicht das für mich bestimmte. Cavalena hatte mir ursprünglich ein besseres zugedacht, denn erstens wollte er mir wohl, und zweitens hoffte er wohl auch durch mich in die »Kosmograph« hineinzukommen. Er und Frau Nene hatten sicherlich nicht gern mein Zimmer mit einem schlechteren vertauscht; Fräulein Luisetta musste dahinterstecken. Wie hatte sie doch so angespannt heute morgen auf der Heimfahrt meinem Bericht von Nutis Lebenslauf gelauscht. Ja, es war klar, sie war es, und mir schien, als ob die kleinen Schuhe vor ihrer Tür es mir bestätigen wollten.

Ich muss gestehen, das kränkte mich ein wenig. Freilich, hätte ich selbst gewählt, ich hätte immer das schlechtere für mich genommen und Nuti das bessere gelassen. Aber dass Fräulein Luisetta meinen freundlichen Absichten so vorgegriffen und einfach stillschweigend meine Sachen aus dem grösseren in das kleinere Zimmer geräumt hatte, das verletzte mich denn doch etwas.

Ja, Männertränen, was für eine wunderbare Wirkung üben sie doch auf die Frauen aus, erst gar, wenn es Tränen der Liebe sind! Aber ich will gerecht sein: Auch ich selbst stehe noch unter dem Eindruck jener Szene.

Fast vier Stunden hielt er mich fest und wollte nicht aufhören zu weinen. Ich redete ihm gut zu, denn ich habe selten zwei Augen so leiden sehen. Es schien, als brächen die Tränen von selber hervor und müssten ihm Augen und Wangen verbrennen; als wäre es nicht sein Leid, sondern als sässe das Leid in diesen wilden Tränen selbst.

Ich höre durch die Wand hindurch den Klang seiner Schritte. Ich hatte ihm geraten, zu Bett zu gehen und zu schlafen. Er sagte, das könne er nicht; schon seit langem fliehe ihn der Schlaf. Weswegen wohl? Aus Reue gewisslich nicht, wenn man seinen Worten glauben soll.

Die Deutung, die Aldo Nuti den Geschehnissen gibt, von denen er mitgerissen war, zielt auch – fast klingt es unglaublich! – vor allem darauf hin, Bild und Ausdruck seiner männlichen Eitelkeit zu retten. In wie elendem Zustand er sich auch vor mir zeigen musste, das wollte er doch nicht eingestehen, dass er nur ein Spielzeug in den Händen einer Frau gewesen sei: ein Spielzeug, ein kleiner Hampelmann, mit dem die Nestoroff gespielt hat. Sie zog am Fädchen, und flehend öffnete und schloss er die Arme. Und als sie das Spielzeug nicht mehr mochte, zerbrach sie's und warf es in die Ecke.

Nun hatte sich das zerbrochene Hampelmännchen wieder aufgerichtet, ein Bild des Jammers; die Nase war abgebrochen und die Fingerchen von den Händen, das rote Wämslein war zerfetzt und heraus schauten alle Federn und Gelenke, an denen das Männlein tanzte. Und doch! Immer noch schreit es, es sei nicht wahr, dass jene Frau es nach ihrer Laune die Arme habe öffnen und schliessen lassen und es dann ausgelacht und zerbrochen habe. Es sei nicht wahr!

Er habe damals im Einverständnis mit Nonna Rosa und Duccella, die beiden Verlobten aus Sorrent, nach Neapel begleitet, um dem armen Giorgio, der blind dem Zauber dieser Frau erlegen sei, die Augen zu öffnen. Er hätte leichtes Spiel gehabt! Man braucht ihm nur zu demonstrieren, dass jene Frau ihm auch ohne Standesamt gehören könne, so wie sie vielen andern vor ihm gehört hätte. Das wollte er ihm vorführen, und das hatte der arme Giorgio für unmöglich gehalten, weil die Nestoroff ihm selbst nie die geringste Gunst gewährt und in Capri sich ostentativ von allem zurückgezogen hatte. So geschah es, und eigentlich war es ein Verrat, ein furchtbarer Verrat, nicht von ihm selbst, sondern von dem armen Giorgio Mirelli. Der hatte versprochen, wenn die Probe gelänge, werde er sogleich die Frau verlassen – statt dessen tötete er sich!

So die Deutung, die Aldo Nuti dem Drama geben will. Er selbst also, der Hampelmann, er will mit den andern gespielt haben? Und warum ist er denn dabei so elend verunglückt? Warum sind dem Männlein Finger und Nase zerbrochen und das Wams zerschlissen, dass alle Federn und Gelenke herausgucken? Lassen wir ihn nur lügen, wenn es ihm zum Weinen hilft!

Zwar sind es keine guten Tränen, denn ich glaube, er will nicht seinen Schmerz in ihnen fühlen. Er hat ganz anderes im Sinn, und man muss gut auf ihn aufpassen. Warum ist er wohl hergekommen? Er hat sich doch an niemanden zu rächen, wenn wirklich der arme Giorgio der Verräter gewesen ist. Das habe ich ihm auch gesagt.

»Das weiss ich,« erwiderte er. »Aber auch die Frau ist schuld an allem. Wenn sie nicht gekommen wäre, Giorgios Jugend zu zerstören und ihn mit allen Künsten der Verführung an sich zu ziehen, so wäre dies alles nicht geschehen – so wäre ich auch jetzt nicht hier. Hat sie nicht sogleich den Feind in mir erkannt? Und sie wollte mich heimlich beissen wie die Schlange mit ihrem Giftzahn. Ich liess es zu, um ihr den Zahn auszubrechen, und das ist mir gelungen. Aber Giorgio – Giorgio war vergiftet für immer! Er hätte wissen müssen, wie sinnlos es war, der Schlange den Giftzahn ausbrechen zu wollen –«

»Aber warum denn Schlange, erlauben Sie!« konnte ich mich nicht enthalten zu bemerken. »Für eine Schlange war sie doch eigentlich zu naiv, wenn sie sich so leicht, so rasch die Zähne ausbrechen liess – es sei denn, sie hat es getan, weil sie Giorgio Mirellis Tod gewünscht hat.«

»Vielleicht.«

»Und warum wohl, wenn sie doch ihr Ziel, geheiratet zu werden, schon fast erreicht hatte? Warum hat sie dann ihr eigenes Spiel gestört und sich vorher noch die Zähne ausbrechen lassen?«

»Aber das hat sie doch nicht ahnen können.«

»Was denn, eine Schlange, die nicht ahnen kann? Sie hätte wohl erst später gebissen, eine Schlange, und nicht so früh schon. Wenn sie vorher biss, so bedeutet das, dass sie entweder keine Schlange war, oder für Giorgio gern ihren Giftzahn aufgeben wollte. Sehen Sie – nehmen Sie's mir nicht übel, ich sage Ihnen dies nur, weil ich es doch etwas anders sehe als Sie. Sie hat sich in Giorgio rächen wollen, aber nur zu Anfang, später nicht mehr. Das glaube ich, das habe ich immer geglaubt.«

»Rächen? Weswegen denn?«

»Vielleicht wegen einer Beleidigung, die keine Frau so leicht verträgt.«

»Was für eine Beleidigung? Ich verstehe Sie nicht.«

»Sehen Sie: Giorgio war damals ganz gefangen von seiner Kunst, nicht wahr?«

»Ja.«

»Da fand er in Capri diese Frau, die sich bereit fand, ihm Modell zu stehen.«

»Ja – allerdings –«

»Und er sah nichts anderes in ihr, als ihren Leib, aber nur, um ihn auf der Leinwand mit Pinseln zu liebkosen, mit dem Spiel der Lichter und der Farben. Sie fühlte sich beleidigt und verschmäht, und, um sich zu rächen, verführte sie ihn. Und dann kam es, wie Sie sagten. Als sie ihn verführt hatte, wollte sie sich weiter rächen, ihn ganz in ihre Gewalt bekommen und versagte sich ihm, bis er, blind vor Begierde, ihr die Heirat antrug und sie nach Sorrent zu Grossmutter und Schwester brachte.«

»Nein, sie hat es gewollt, sie hat es ihm suggeriert.«

»Jawohl, und man könnte sagen: Beleidigung um Beleidigung. Aber wenn ich so recht bedenke, was Sie vorhin gesagt haben, Herr Nuti, so meine ich, dass sie vielleicht nur deswegen von Giorgio verlangt hat, in das Haus der Grossmutter eingeführt zu werden, weil sie erwartete, Giorgio würde sich dagegen sträuben, und weil sie daraus einen Vorwand hätte schaffen können, ihr Verlöbnis zu lösen.«

»Zu lösen? Weswegen denn?«

»Nun, weil sie ihr Ziel schon erreicht hatte, und weil ihre Rache schon vollkommen war: Giorgio lag in ihren Banden und war bereit, sie zu heiraten. Mehr wollte sie ja nicht. Alles Übrige, die Heirat selbst, das Zusammenleben mit ihm, wäre doch für beide nur eine Kette von Qualen geworden. Und vielleicht hat sie nicht nur an sich gedacht, sondern auch an ihn.«

»Sie glauben also?«

»Ja, Sie sind schuld, dass ich es glaube, denn Sie nannten sie ja eine Schlange. Und eine Schlange hätte logischerweise nicht so gehandelt, wie diese Frau gehandelt hat. Eine Heirat zu wünschen und dann kurz vorher sich einem anderen – Ihnen – so leicht hinzugeben – – –«

»Sich mir hinzugeben?« rief Aldo Nuti in diesem Augenblick. »Wer hat Ihnen denn gesagt, dass sie sich mir hingegeben hätte? Niemals! Auch nicht im Traum habe ich daran gedacht. Es galt ja nur den Beweis für Giorgio zu erbringen.«

Starr vor Staunen sah ich ihn einen Augenblick an. »Und diesen Beweis hat sie Ihnen gleich gegeben? So leicht – so leicht konnten sie ihn erbringen? Ja, aber dann, erlauben Sie einmal – –«

Nun glaubte ich endlich, mit meiner Logik am Ziel zu sein und ihn geschlagen zu haben. Aber ich hatte vergessen, dass die Logik nicht mit der Leidenschaft kämpfen kann. Im letzten Augenblick lehnt diese sich auf und tritt alles mit Füssen und schleudert von sich, was man ihr aufzwingen will. Ja, wenn dieser Unglückliche aus einem Grunde, den ich zu erraten glaube, die Frau nicht einmal hat besitzen dürfen und nach all seinen Leiden ihm auch noch dieser Wahnsinn im Blute steckt – was sollte man da noch mit ihm räsonnieren? Ihn gar zur Abreise bewegen, ihm klarmachen wollen, dass er kein Recht hat, das Leben eines anderen Mannes zu stören und eine Frau zu belästigen, die nichts von ihm wissen will?

Trotzdem versuchte ich, ihn zum Fortgehen zu überreden; fragte ihn, was er denn nur von dieser Frau wolle und erhoffe.

»Ich weiss es nicht,« schrie er mich an. »Sie gehört zu mir, sie muss mit mir leiden. Ich kann nicht mehr anders, ich kann nicht mehr allein bleiben. Ich habe ja alles versucht, um Duccella zu überreden; habe so viele Freunde zu ihr geschickt. Aber es ist umsonst. Sie glaubt nicht an meine Verzweiflung. Und jetzt muss ich mich an einen Menschen klammern, um nicht allein zu sein. Verstehen Sie das – ich werde rasend. Ich weiss, dass diese Frau nichts wert ist; für mich aber ist sie gerade soviel wert, als ich um sie gelitten habe, früher und jetzt. Nicht Liebe ist es, sondern Hass – es ist das Blut, das um sie geflossen ist. Und weil mein Leben in diesem Blute ertrinken sollte, muss ich mich jetzt an sie klammern, damit wir beide zusammen darin untergehen; sie und ich, nicht ich allein! Ich kann ja nicht mehr allein sein.«

Ich verliess sein Zimmer, ohne dass ich ihm auch nur einen Schimmer von Hoffnung oder Erleichterung hätte geben können. Und nun stehe ich am offenen Fenster und schaue nach den Sternen, während er drinnen die Hände ringt und weint, von Reue und Raserei zerfressen. Wenn ich wieder hinüberginge und zu ihm sagte: »Herr Nuti, sehen Sie, dort oben sind ja die Sterne! Daran haben Sie gewiss nicht gedacht, aber sie sind da, die Sterne.« Was würde dann geschehen? Wieviele Menschen, denen die Leidenschaft an der Kehle sitzt, die von Leid und Elend zerdrückt werden, würde es gut tun, daran zu denken, dass über dem Dach ihres Hauses der Himmel sich wölbt, und dass am Himmel die Sterne stehen. Ihr Anblick weitet unser kleinliches Leid und saugt es in die Unendlichkeit des Weltenraumes. Aber man muss die Möglichkeit in sich haben, im Augenblick der Leidenschaft an die Sterne denken zu können. Einer wie ich, der kann es wohl – einer, der sich selbst und alle andern wie aus der Ferne beobachtet. Aber wenn ich hineinginge und Herrn Nuti sagen wollte, dass die Sterne am Himmel sind, so würde er mich vielleicht anschreien, ich sollte sie schön grüssen von ihm, und würde mich hinausjagen.

Kann ich denn wirklich seinen Wächter spielen, so wie Polacco sich das gedacht hat? Wie wird Carlo Ferro mich ansehen, wenn ich nun mit ihm zusammen in die »Kosmograph« komme. Gott weiss, dass ich keinen Grund habe, dem einen mehr Freund zu sein, als dem andern.

Nein, ich will ganz unbewegt, wie bisher, den Operateur spielen, den Mann an der Kurbel. Und will nicht mehr ans Fenster treten. Ach Gott, seitdem der verfluchte Senator Zeme in der »Kosmograph« gewesen ist, scheint mir auch der Himmel nichts anderes mehr zu sein als ein »Himmelswunder« für den Film.

 

§ 2

»Das ist also eine ganz ernste Geschichte?« fragte mich Cavalena geheimnistuerisch, als er heute morgen in mein Zimmer kam.

Drei Taschentücher hielt er in der Hand, der arme Kerl. Eine Zeitlang erging er sich in Ausdrücken des Mitleids mit dem »lieben Herrn Baron« – damit war Nuti gemeint – und in Betrachtungen darüber, wieviel Unheil die Menschheit noch auszustehen habe. Dann – als gedenke er mir dies Unheil zu demonstrieren – schwenkte er die drei Taschentücher vor meinem Gesicht herum, eins nach dem anderen, und rief dazu:

»Sehen Sie?«

Alle drei hatten Löcher, als wären die Mäuse darüber gekommen.

Ich sah mir die Bescherung erstaunt an, dann Herrn Cavalena selbst. An meinem Blick konnte er deutlich erkennen, dass ich kein Wort verstanden hatte. Er nieste – oder nein, es schien nur so: er hatte gerufen: »Piccinì.« –

Als er meine verständnislose Miene bemerkte, zeigte er mir abermals die Taschentücher und sagte:

»Piccinì.« –

»Das Hündchen war's?« –

Er schloss halb die Augen und nickte mit tragischer Miene.

»Er leistet ganze Arbeit, allem Anschein nach,« sagte ich.

»Und darüber darf ich kein Wort verlieren!« rief Cavalena. »Denn er ist das einzige Wesen hier im Hause, an dessen Liebe meine Frau glaubt, und von dem sie nichts Böses erwartet. Nun stellen Sie sich das Malheur vor: eine Frau haben, die sich einzig und allein von ihrem Hunde geliebt glaubt. Und dabei hat's nicht einmal seine Richtigkeit damit; die Bestie liebt keinen Menschen! Umgekehrt: meine Frau ist verliebt in den Hund! Und weshalb? Weil sie sich dabei einbilden kann, sie habe ein Herz in der Brust, strotzend von Gefühl und Güte. Sonst tyrannisiert sie alle Welt, diese Frau, und dann wird sie zur Sklavin eines alten, schmutzigen Tiers – haben Sie es einmal angesehen? – schmutzig, mit krummen Beinen – Triefaugen hat es auch ... Und sie liebt es um so mehr, als sie merkt, dass sich zwischen ihm und mir allmählich eine unüberwindliche Abneigung herausgebildet hat. Dabei weiss das Vieh, dass es vor mir sicher ist. Die Herrin nimmt es ja in Schutz, und da werde ich nicht wagen, es mit Fusstritten zu traktieren; denn sonst würde ich es ja zertreten – ich schwöre Ihnen, Herr Gubbio – zu Brei würde ich es zertreten. Mit einer geradezu aufreizenden Ruhe tut es mir alles nur Erdenkliche zum Schimpf und Ärger an. Absichtlich verrichtet es seine Geschäfte nicht auf der Strasse, sondern begibt sich zu diesem Behuf ausgerechnet auf den Teppich in meinem Arbeitszimmer – und zwar alle seine Geschäfte, verstehen Sie, grosse und kleine. – Es wälzt sich auf allen Stühlen und auf meinem Kanapee. Was man ihm zu fressen gibt, lässt es stehen und frisst mir dafür alle Kleider an. Sehen Sie: allein drei Taschentücher gestern, dazu Hemden, Servietten, Handtücher! Und dann soll ich das Vieh noch anstaunen und danke schön sagen, weil diese Nagewut für meine Frau – denken Sie nur – was bedeutet? Zuneigung! Das kommt daher, sagt sie, dass das Tierchen das Herrchen schon am Gerüche erkennt. – ›Nanu – und was es dabei auffrisst?‹ sage ich. – ›Aber es weiss ja nicht, was es tut,‹ würde meine Frau dann antworten. Nun hat uns der Hund glücklich schon die halbe Einrichtung aufgefressen. Aber ich muss ruhig sein und weiterschuften, denn sonst hat meine Frau im Handumdrehen wieder einen Vorwand, mir zum xten Male meine Brutalität vorzuwerfen. Ja, so steht's! Es ist nur ein Glück, Herr Gubbio, das sage ich immer, ein Glück, dass ich Arzt bin. Als Arzt muss ich natürlich einsehen, dass auch diese Affenliebe zu einem Tiere nur ein Krankheitssymptom mehr ist. Es ist sogar ausserordentlich typisch, nicht wahr?«

Er sah mich einen Augenblick lang unsicher an, dann zeigte er auf einen Stuhl und fragte: »Gestatten Sie?«

»Aber selbstverständlich!« sagte ich.

Er nahm Platz und sah sich kopfschüttelnd eins seiner Taschentücher an. Dann fragte er mit einem kümmerlichen Lächeln, beinahe unterwürfig:

»Langweile und störe ich Sie auch nicht sehr?«

Ich versicherte ihm mit warmen Worten, dies sei durchaus nicht der Fall.

»Ja, ja, ich weiss: Sie haben ein gutes Herz ... nein, lassen Sie mich reden: Sie sind eine ruhige Natur, aber Sie können einen verstehen und bemitleiden. Und ich ...«

Plötzlich unterbrach er sich erschrocken, lauschte aufmerksam und sprang hastig auf.

»Ich glaube, Luisetta hat nach mir gerufen ...«

Auch ich strengte mein Gehör an:

»Nein,« sagte ich, »ich glaube nicht ...«

Mit einer schmerzlichen Gebärde führte er die Hände an die Perücke und drückte sie fest gegen den Kopf.

»Wissen Sie, was mir Luisetta gestern abend gesagt hat? Papa, du musst nicht wieder anfangen, hat sie gesagt. Sehen Sie, Herr Gubbio, ich bin ein verbitterter Mensch. Eingesperrt bin ich hier von früh bis spät, sehe keine Menschenseele, vom Leben bin ich ganz abgeschnitten, und nie kann ich mir Luft machen und es macht mich doch oft rasend, dieses ungerechte Los! Aber Luisetta meint, ich brächte alle Mieter damit zum Davonlaufen!«

»Oh, was mich betrifft ...,« protestierte ich.

»Nein, nein, es ist schon richtig!« unterbrach mich Cavalena. »Und Sie, wollen Sie so lieb und freundlich sein und mir versprechen, dass Sie mich bei den Schultern packen und zur Tür hinauswerfen, sowie ich Ihnen auf die Nerven gehe und Sie langweile? Versprechen Sie es mir, ich bitte Sie! Da – Sie müssen mir die Hand darauf geben!«

Lächelnd gab ich ihm die Hand.

»Hier – wie Sie wollen – wenn es Sie beruhigt ...«

»Danke! Jetzt bin ich schon viel ruhiger! Ich bin mir ganz bewusst, Herr Gubbio, – ja, was wollte ich nur sagen? Ich bin mir bewusst, dass ich nicht mehr ich selber bin! Wenn es so weit mit einem kommt, ich meine, wenn man aufhört, sich seines Unglücks zu schämen, dann ist es aus mit dem Menschen! Und dabei war ich so eifersüchtig bedacht, meine Würde zu bewahren. Dass ich sie verloren habe, daran ist diese Frau schuld, diese brutale Wahnsinnige. Jedermann kennt ja jetzt mein Unglück, jedermann! Es ist ja ekelhaft, ekelhaft, ekelhaft!«

»Aber nein! Weshalb denn? –«

»Ekelhaft!« rief Cavalena. »Wollen Sie selbst sehn? Da sehen Sie her!« –

Mit diesen Worten griff er sich heftig mit zwei Fingern in die Perücke und riss sie sich vom Kopf. Entsetzt sah ich den kahlen, bleichen Schädel, der an den Kopf eines alten Ziegenbocks erinnerte. Cavalena aber fuhr fort, Tränen in den Augen:

»Es ist doch ekelhaft, nicht wahr? wenn ein Mensch so ärmlich aussieht wie ich, und wenn seine Frau immer noch eifersüchtig ist!«

»Aber Sie sind doch Arzt! Sie wissen doch, das alles ist krankhaft,« beeilte ich mich zu sagen. Unwillkürlich hob ich die Hände, als wollte ich ihm helfen, die Perücke wieder aufzusetzen.

Er kam aber selbst damit zustande und sagte:

»Aber das ist es ja eben, dass ich Arzt bin, Herr Gubbio! Das ist ja gerade das Schlimme, dass ich Arzt bin! Wenn ich nicht wüsste: das alles tut sie im Irrsinn, dann könnte ich sie aus dem Hause werfen, dann könnte ich mich von ihr trennen, dann würde ich um jeden Preis meine Menschenwürde verteidigen. Aber ich bin ja Arzt! Ich weiss, sie ist wahnsinnig! Ich weiss, dass es an mir liegt, Vernunft zu bewahren, Vernunft für zwei Menschen, für mich und für sie, die keine mehr hat! Aber vernünftig sein für eine Irre, deren Wahnsinn so lächerlich ist, Herr Gubbio, wissen Sie, was das bedeutet? Es bedeutet, sich mit Gewalt lächerlich machen; es bedeutet stillehalten, wenn sie in ihrem Wahnsinn meine Würde mit Füssen tritt, vor meiner Tochter, vor den Mädchen, vor jedermann! Sehen Sie, da muss einer doch alle Scham verlieren!«

»Papa!«

Ja – dieses Mal war es wirklich Fräulein Luisetta, die rief.

Cavalena hatte sich sofort wieder in der Hand. Er brachte die Perücke auf seinem Kopfe in Ordnung, räusperte sich und antwortete auch wirklich mit klarer, zärtlicher und heiterer Stimme:

»Ja – hier bin ich, Sesè.«

Dann machte er mir mit dem Finger ein Zeichen, ich solle schweigen, und eilte fort.

Bald darauf verliess auch ich mein Zimmer, um mich nach Nuti umzusehen. Einen Augenblick lauschte ich an der Türe. Drin herrschte Stille. Vielleicht war er eingeschlafen. Eine Zeitlang stand ich ratlos vor der Tür und sah auf meine Uhr. Es war schon an der Zeit, auf die »Kosmograph« zu gehen. Doch wollte ich ihn nicht gerne allein lassen, um so mehr als Polacco mir ausdrücklich anempfohlen hatte, mich immer in seiner Nähe zu halten. Plötzlich glaubte ich, ein schweres Seufzen zu hören. Ich klopfte an.

»Herein,« antwortete Nuti aus dem Bett.

Ich trat ein. Das Zimmer war dunkel. Ich trat ans Bett. Nuti sagte:

»Ich glaube ... ich glaube, ich habe Fieber ...«

Ich beugte mich über ihn und fasste seine Hand. Sie war glühend heiss.

»Wahrhaftig!« rief ich. – »Sie haben Fieber, hohes sogar! Warten Sie. Ich rufe Herrn Cavalena. Er ist Arzt, unser Hausherr!«

»Nein, lassen Sie – es geht schon vorüber,« sagte Nuti. »Es ist nur die Anstrengung.«

»Sicher,« erwiderte ich. – »Aber warum soll ich Cavalena denn nicht rufen? Dann geht es noch schneller vorbei. Erlauben Sie, dass ich die Läden ein wenig aufmache?«

Ich sah ihn nun bei Lichte an. Sein Aussehen erschreckte mich. Sein Gesicht war bald rot, bald blass. Das Weisse der Augen, gestern noch gerötet, war nun fast schwarz unter den dicken Lidern. Sein Schnurrbart hing unordentlich über die trockenen, geschwollenen, offenstehenden Lippen herab.

»Sie müssen wirklich krank sein ...«

»Ja, krank ... mein Kopf ...,« sagte er.

Dabei hob er die Hand von der Bettdecke und presste sie, zur Faust geballt, gegen seine Stirn.

Ich ging hinaus, um Cavalena zu rufen, der noch im Hintergrunde des Korridors mit seiner Tochter sprach. Fräulein Luisetta empfing mich mit abweisendem, kühlem Gesicht.

Sicherlich ahnt sie schon, dass ihr Vater mir sein Herz ausgeschüttet hat; und ich soll nun also für sein übergrosses Vertrauen büssen.

Ja, sie ist nun auch schon meine Feindin, unser Fräulein Luisetta. Und das nicht nur, weil ihr Vater mich ins Vertrauen zieht, sondern auch des andern Mieters wegen. Vom ersten Augenblick an hat ihr der solch starken Eindruck gemacht, dass daneben keinerlei Freundschaft mit mir mehr bestehen kann. Ich habe es sofort erkannt, und es ist zwecklos, wenn ich lange davon spreche. Man kennt ja diese geheimen Regungen, nach denen sich unsere Gefühlswelt bestimmt, sodass von einem Augenblick zum andern ohne ersichtlichen Grund die Beziehungen zwischen zwei Menschen völlig andere werden. Und sicher wird Fräulein Luisettas Abneigung nur noch wachsen auf den Tonfall hin, mit dem ich, eigentlich ohne es zu wollen, meine Mitteilung machte: dass Aldo Nuti Fieber habe und das Bett hüten müsse. Sie wurde totenblass und dann mit einem Schlag über und über rot. Vielleicht ist sie sich in diesem selben Augenblick erst darüber klar geworden, dass sie mich nicht leiden mag.

Cavalena eilte sofort in Nutis Zimmer. Luisetta aber blieb vor der Tür stehen, als wollte sie mir den Zugang verwehren. Zuguterletzt sah ich mich genötigt zu sagen:

»Gestatten Sie – bitte!«

Gleich darauf aber – das heisst: ihr Vater hatte sie das Fieberthermometer holen lassen – trat sie auch ein. Ich wandte keinen Blick von ihrem Gesicht. Sie fühlte sich deutlich beobachtet, und ich sah, wie sie sich unter meinem Blick anstrengte, ihr Mitleid und nicht minder ihren Schrecken bei Nutis Anblick zu verheimlichen.

Die Untersuchung dauerte lange. Doch konnte Cavalena ausser der abnorm hohen Temperatur und den Kopfschmerzen nichts feststellen. Wir verliessen deshalb das Zimmer, nachdem wir die Läden wieder geschlossen hatten, da der Kranke das Licht nicht vertragen konnte. Cavalena war ganz ausser sich. Er fürchtet, dass es sich um Gehirnentzündung handelt.

»Wir müssen gleich einen anderen Arzt rufen, Herr Gubbio! Ich, der ich zugleich Wirt hier bin, ich kann doch nicht die Verantwortung übernehmen, wenn die Krankheit mir so schlimm vorkommt.«

Er gab mir einen Zettel an einen andern Arzt mit, einen Freund von ihm, der in der nächsten Apotheke zu erreichen sei. Ich erledigte das und eilte dann, denn schon war ich zu spät dran, auf die Kosmograph.

Ich traf Polacco in grösster Verlegenheit. Er machte sich bittere Vorwürfe, Nuti bei seinem törichten Vorhaben Hilfe geleistet zu haben. Er erklärte mir, niemals hätte er erwartet, Nuti in einem solchen Zustande zu sehen. Seinen Briefen aus Russland, aus Deutschland und später aus der Schweiz nach hätte man so etwas nie von ihm erwarten können. Offenbar erzählte er mir das alles zu seiner Rechtfertigung. Dann aber vergass er plötzlich völlig seine Absicht; die Nachricht von Nutis Erkrankung schien ihn sogar fast vergnügt zu stimmen. Jedenfalls hatte ich den Eindruck, dass ihm für den Augenblick eine grosse Last von der Seele genommen sei.

»Gehirnentzündung? – Aber hör mal, Gubbio – wenn er nun stirbt – Lieber Gott, wenn ein Mensch sich so ins Elend stürzt, wenn er gefährlich wird für sich und die andern, dann ist der Tod ... fast ... Aber das wollen wir nicht hoffen, es ist hoffentlich eine Gesundungskrisis. Es tut mir so leid für dich, Gubbio, und auch für den armen Cavalena ... all die Mühe. Ich komme noch heute abend und sehe nach. Aber wird das wohl vernünftig sein, was meinst du? Bis jetzt hat ihn ausser dir noch niemand gesehen; niemand weiss, dass er da ist. Also, dass du mir niemandem etwas sagst! – Du hast doch gesagt, du hieltest es für richtig, dem Ferro die Rolle im Tigerfilm wegzunehmen?«

»Ja, aber ohne ihn merken zu lassen ...«

»Oh, du Kind! Du sprichst doch mit mir! Das habe ich mir alles schon überlegt. Nun pass auf: gestern abend, kaum wart ihr andern weg, kam die Nestoroff zu mir!«

»Wirklich? Hier?«

»Ja, sie muss geahnt haben, dass Nuti da ist. Ich sage dir, sie hat eine Todesangst – vor Ferro, nicht vor Nuti! Sie wollte mich fragen – so, als ob gar nichts dabei wäre – ob sie nun unbedingt noch länger auf die Kosmograph kommen und in Rim bleiben müsse, wo doch all unsere Gesellschaften mit dem Tigerfilm beschäftigt seien, in dem sie nichts zu tun habe. Verstehst du? Nun, ich habe sofort die Gelegenheit ergriffen. Der Direktor Borgalli, sagte ich ihr, habe angeordnet, dass zunächst ein paar Films fertig inszeniert würden, die wegen einiger Exterieurs mit längeren Reisen liegengeblieben waren. Da haben wir die ›Matrosen von Otranto‹, wozu Bertini das Buch geschrieben hat. – ›Ja, aber da spiele ich doch auch nicht mit‹, sagte die Nestoroff. Weiss ich, sage ich, aber Ferro, er hat sogar die Hauptrolle, und da wäre es vielleicht vorteilhafter, wir entbänden ihn von seiner Rolle im Tigerfilm und schickten ihn mit Bertini da hinunter. Aber das wird er vielleicht nicht wollen. Wie wär's denn, wenn Sie ihm gut zureden wollten, Frau Nestoroff? – Nun, sie sah mir eine Zeitlang ins Gesicht – du weisst ja, wie sie das macht – und dann sagte sie: ›Ja, das könnte ich ...‹ Sie besann sich noch ein wenig, und dann meinte sie: ›In diesem Fall würde er allein hinunterfahren. Statt dessen könnte ja ich hier bleiben und irgend etwas im Tigerfilm spielen, meinetwegen eine zweite Rolle!‹« ...

»Nein, dann geht es nicht!« konnte ich mich nicht enthalten, in diesem Augenblick dazwischenzurufen. »Allein reist er nicht dorthin, der Ferro, davon kannst du überzeugt sein!«

Polacco fing daraufhin einfach zu lachen an.

»Oh du gutes Kind! Wenn sie wirklich darauf besteht, dann reist er sicher auch! In die Hölle wird er sogar fahren!«

»Das begreife ich nicht mehr. Warum will sie denn hier bleiben?«

»Aber das ist doch nicht wahr! Das sagt sie doch nur! Sie tut nur so, damit ich nicht sehe, wie sehr sie sich vor Nuti fürchtet. Sie wird auch mitfahren, du wirst schon sehen. Oh, vielleicht ... vielleicht ... wer weiss? Vielleicht will sie auch wirklich hier bleiben, um allein und ungezwungen mit Nuti zusammenzutreffen und ihm überhaupt all seine Absichten auszureden. Das eine und das andere ist ihr zuzutrauen, – alles ist ihr zuzutrauen! Ja, so hat man seine Sorgen! Aber, vorwärts marsch, an die Arbeit! Nur noch eins: Fräulein Luisetta? Sie muss unbedingt noch wegen der andern Szenen in dem Film zu uns kommen.«

Ich erzählte ihm, dass Frau Nene einen Wutanfall bekommen habe, und dass Cavalena tags vorher hier gewesen sei, um ihm, wiewohl schweren Herzens, Geld und Geschenke zurückzugeben. Polacco versicherte nochmals, er werde am Abend vorbeikommen und dann auch Cavalena und Frau Nene veranlassen, ihre Tochter auf die Kosmograph kommen zu lassen. Wir waren unterdessen schon zum Eingang der Photographischen Abteilung gelangt, hier war ich nicht mehr Gubbio, sondern wurde wieder die Hand an der Kurbel – der »Herr Kurbeln«!

 

§ 3

Einige Tage habe ich nun meine Aufzeichnungen unterbrochen.

Das waren Tage voll Angst und schlimmer Erwartung. Noch sind sie nicht ganz vorüber. Der Sturm zwar scheint sich nun allmählich beruhigen zu wollen, der so wütend in der Seele des armen Nuti gehaust hat. Voll Mitleid und Besorgnis sahen wir zu, um so mehr, als er uns ja fast fremd ist. Was man von ihm wusste aber, und sein Gesicht, in dem all sein Schicksal zu lesen war, das musste uns zum Mitgefühl stimmen und zur lebendigsten Teilnahme an seinem Leiden. Wenn sein Stilleliegen jetzt nur nicht eine vorübergehende Pause ist!

Es kann nicht ohne Wirkung bleiben, wenn man dem Toben einer Menschenseele zusieht; aus den tiefsten Tiefen schleudert sie zerfetzt und wirr Gedanken und Gefühle empor, die sonst niemals eingestanden werden, abenteuerliche Empfindungen, vor denen alles seinen altgewohnten Sinn verliert und unversehens eine andere ungeahnte Bedeutung annimmt, mit einer bedrängenden und verwirrenden Deutlichkeit und Wahrscheinlichkeit. Entsetzlich deutlich erkennen wir da, dass in jedem von uns der Wahnsinn nistet und brütet, und dass eine Kleinigkeit, ein Nichts ihn entfesseln kann. Es braucht nur ein kleiner Riss in dies dehnbare Netz zu kommen, das wir Bewusstsein nennen, und siehe da: Bilder, in langen Jahren angesammelt, werden zusammenhanglos mit einemmal. Stücke eines andern Lebens tauchen auf, das bisher im Dunkel lag, wir haben es bei Licht nicht sehen können, nicht sehen wollen. Zweideutige Ereignisse, beschämendes Lügenwerk, blasser Neid, Verbrecherisches, im Schatten unserer Seele ausgedacht bis in die Einzelheiten, vergessene Erinnerungen, uneingestandene Gier – das alles bricht im Chor auf uns ein, teuflisch tobend, mit tierischem Brüllen. Nur scheuen Blicks und mit Angst rühren wir jetzt einen Gegenstand in diesem Zimmer an, der vor kurzem noch uns umschimmert schien von finsterer neuer Bedeutung, da wir ihn ansahen, mit den irrenden Blicken des Kranken.

Ja, wir müssen, wir wollen erst zu uns kommen. und deshalb bewahren wir den Glauben an die Dauer dieser tiefen Ruhe, darin der Kranke liegt. Denn noch ist er ganz betäubt von der Heftigkeit der letzten Anfälle; ganz entkräftet und erschöpft liegt er da.

Wir lassen uns gerne täuschen, wenn ein leichtes Lächeln des Dankes ihm um Lippen und Augen spielt, sowie Fräulein Luisetta an sein Bett tritt.

Auch sie ist sehr angegriffen.

Denn es war eine Prüfung für sie, über die sie sich vielleicht noch gar nicht klar geworden ist, weil sie wohl noch ihr eigenes Herz kaum spüren kann. Sie hat es ihm gegeben, etwas, das nicht ihr gehört, so als dürfe er im Fieberwahn davon Besitz ergreifen zu Linderung und Trost.

Augenblick für Augenblick habe ich diese Prüfung mit angesehen. Ich habe nichts dagegen getan, konnte es wohl gar nicht.

Dies nämlich ist geschehen: im Fieber hat Nuti Fräulein Luisetta für Duccella gehalten. Er fuhr sie zuerst voller Wut an und schrie ihr ins Gesicht, dass sie ungerecht sei in ihrer Härte und Grausamkeit gegen ihn. Er habe ja keine Schuld am Tode ihres Bruders; nein, wie ein Narr habe jener sich umgebracht um der Frau willen. Kaum aber hatte sie den ersten Schrecken überwunden und sich ihm mitleidig genähert, da wollte er sie nicht mehr von sich lassen. Schluchzend zog er sie an sich und flüsterte ihr die glühendsten Liebesworte zu, streichelte sie und küsste ihr Hände, Haare und Stirn.

Und sie liess ihn gewähren, sie und auch die andern. Denn diese Worte, diese Liebkosungen und Küsse, sie galten ja nicht ihr, sie galten einem Trugbild, bei dem seine Fieberträume Ruhe fanden. Musste man ihn da nicht gewähren lassen? Eine Seele voller Mitleid und Liebe verschenkte Fräulein Luisetta an den Kranken, und zwar so, als wäre sie nicht ihr eigen, sondern als käme sie von der Duccella. Und während er diese Seele ganz in sich aufnahm, konnte und durfte sie das nicht: seine Worte, seine glühenden Küsse durfte sie nicht für sich behalten. Doch bebte sie mit allen Fibern ihres Leibes, die arme Kleine; denn während sie bestimmt war, Mitleid zu verschwenden an diesen Mann, litt er allein der andern Frau wegen.

Dies aber war das Ende von allem: dass er nun langsam sich wieder findet und düster in seinen Kummer verschliesst, indes sie zurückbleibt, schattenhaft und verirrt, ein Gespenst gleichsam, wie sie es in seinen Phantasien gewesen. Das Gespenst ist nun von ihm gewichen und damit all seine Liebe. Das arme Mädchen aber, das jenem Wahnbild Leben gab – mit ihrem Leib, ihrer Liebe, ihrem Mitleid – bleibt unbeachtet zurück. Kaum hat er ein Lächeln des Dankes für sie. Das Mittel hat gewirkt: die Halluzination ist vorüber. Also fort damit!

Mir hätte dies alles wohl nicht so weh getan, wenn nicht auch ich während all dieser Tage unter dem Zwange gestanden hätte, Mitleiden zu verschenken, da- und dorthin zu rennen, ein paar Nächte lang zu wachen, aber nicht aus einem starken und eigenen Gefühl für Nuti heraus. Wohl war es Mitgefühl, was mich so handeln liess, aber es war so voller Interessiertheit, dass mir falsch und hassenswert vorkommt, was ich für Nuti getan habe.

Aber ich, der ich weiss, dass sie, aus Mitleid lügend, ihm dies alles gegeben hat, – weshalb ergehe ich mich eigentlich darüber in spitzfindigen Grübeleien?

Gerade wie Aldo Nuti die Duccella für hart und grausam hält, so würde sie mich für hart halten und grausam, wenn ich diese fromme Lüge ihr entreissen wollte. Sie hat ja vorgegeben, Duccella zu sein, aus Liebe hat sie es vorgegeben. Sie weiss: die wirkliche Duccella hat nicht das Recht zu lieben; von Nuti selbst weiss sie es, denn nun, da die Fieberträume ihn verlassen haben, sieht er ihre Liebe nicht mehr und hat einen müden Dank nur für all ihr Mitleid.

Möglich freilich wäre es, dass sie, um den Preis grösseren Leidens, zurückfände zu sich. Aber da müsste erst Duccella selber von Mitleid erfasst werden, sie müsste erfahren, wie elend es um ihren früheren Verlobten steht, und sie müsste hierher eilen, hierher an sein Lager, um ihm wieder ihre Liebe zu schenken und ihn zu retten.

Aber Duccella wird nicht kommen. Und immer weiter, Tage und Wochen, wird Fräulein Luisetta des guten Glaubens sein, sie und alle anderen, dass sie an Duccellas Stelle diesen Aldo Nuti liebt.

 

§ 4

Oh, über die Toren, die unser Leben ein Mysterium nennen, diese Unseligen, die mit der Vernunft erklären möchten, was nicht erklärlich ist durch Vernunft!

Wenn einer das Leben als ein Studienobjekt vor sich hinstellt, so handelt er sinnlos, denn das Leben, so ins Licht gerückt, verliert zwangsläufig alle Greifbarkeit und wird zur Abstraktion ohne Sinn und Wert. Wie sollte man es denn überhaupt erklären können? Ihr habt es ja getötet; sezieren könnt ihr es noch – nicht mehr.

Das Leben – wir haben es nicht zu erklären – zu leben haben wir darin.

Alle Vernunft ist beim Leben, nicht abseits, nicht draussen, und so darf man das Leben nicht vor sich ausbreiten, in sich fühlen muss man es, leben muss man es! Wie oft doch tauchen wir auf aus einer Leidenschaft wie aus einem Traum und fragen uns:

»Das bin ich? Wie habe ich so sein können? Ich habe das getan?«

Aber wozu das – ausserhalb des Lebens ist das Nichts und dieses Nichts erfassen, mit seiner Vernunft, das freilich heisst auch leben, das Mysterium erfühlen: Religion. Da kann ich Trost finden und von neuem untertauchen in ein Leben des Jenseitigen, in jenes »Nichts«, denn jenes Nichts wird plötzlich dann zum All.

Wie klar mir all dies geworden ist in den wenigen Tagen, seit ich richtig zu fühlen verstehe! Ich meine, seit ich mich zu fühlen weiss, nicht nur die anderen um mich.

Aber freilich, jetzt gerade ist es bitter für mich, dies Erfühlen des eigenen Wesens.

Du trägst Schuld daran, Luisetta, du, mitleidsvolle Seele. Nie werde ich dir das sagen können, und nie würdest du es verstehen. Aber nein und abermals nein: Könnte ich doch allen klar machen, was dies mein Schweigen zu bedeuten hat, dass es nicht länger das Schweigen ist des Teilnahmslosen, des Gegenstands, sondern dass ich jetzt darunter leide, schrecklich leide!

Immer weiter aber nehme ich alle Menschen in mich auf, und ich fühle doch, wie sie mir weh tun, sie, die hier eintreten, sicher, gastlich empfangen zu werden. Immer enger möchte dies Schweigen sich um mich schliessen.

Da ist vor allem Cavalena: als wäre er zu Hause hier, so hat er bei mir Zuflucht gesucht. Bei jeder Gelegenheit kommt er zu mir und beginnt mit immer neuen nichtswürdigen Vorwänden von seinem Jammer zu erzählen. Er könne unmöglich, sagt er, bei seiner Frau durchsetzen, dass Nuti länger hier wohnen bleibe. Man müsse ihm eine andere Unterkunft suchen, so wie er gesund sei. Zwei Dramen im Hause! – – das könne kein Mensch aushalten. Um so mehr, als Nutis Drama doch ein Liebesdrama sei, eins mit Frauen ... Ohnehin müsse er jeden Abend die Schandtaten sämtlicher Männer ausbaden, soweit sie unter den Tagesneuigkeiten der Zeitungen verzeichnet seien. Als ob er Anstifter und Spiessgeselle wäre bei jeder Verführung und jedem Ehebruch!

»Siehst du?« schreit ihn seine Frau dann an und hat den Finger spitz auf der Zeitungsnotiz: »Siehst du, wozu ihr alles fähig seid?«

Eine grosse Freude ist es immer für mich, wenn er von Luisetta zu sprechen beginnt. Doch tue ich gerade deswegen nichts dazu, ihn auf dieses Thema zu bringen. Mir käme es minderwertig vor, wenn ich die Schwäche des Vaters ausnützte, um mich mit Hilfe seines Vertrauens in die Geheimnisse des »armen, lieben Seelchens« zu stehlen. Nein, nein! Manchmal möchte ich ihn sogar am Weitersprechen hindern.

Für Cavalena scheint es keinen zauberhafteren Gedanken zu geben als den, dass seine Sesè heiraten und ein Leben ferne der Höllenatmosphäre dieses Hauses führen könne. Die Mama jedoch schreit sie jeden Tag an:

»Dass du mir nicht heiratest, hörst du! Dass du mir nicht heiratest, dass du mir die Dummheit nicht begehst!«

»Und Sesè? Sesè selber?« möchte ich dann am liebsten fragen. Aber ich bleibe mir treu: ich schweige still.

Vielleicht weiss die arme Sesè selbst gar nicht recht, was sie eigentlich möchte. An manchen Tagen, ja, da wünscht sie wohl mit ihrem Vater, dass es morgen schon so weit wäre. Dann aber macht sie sich wieder die bittersten Vorwürfe und fürchtet, den Eltern irgendeine heimliche Andeutung gemacht zu haben. Es lässt sich ja denken, dass die unwürdigen Auftritte im Elternhause ihr alle Illusionen geraubt haben, eine nach der andern. All die Grausamkeit und Erbärmlichkeit des Ehelebens muss sie längst erkannt haben.

Dazu haben diese Eltern sie auch verhindert, sich auf andere Weise freizumachen, fortzugehen etwa auf eigene Faust. Da werden sie ihr gleich gesagt haben, das hätte sie nicht nötig, Gott sei Dank! Sie sei ja das einzige Kind und werde bald eine Menge von der Mama erben. Warum sich da gemein machen und Lehrerin werden oder sonst einen Beruf anstreben. Lektüre treiben solle sie, studieren, wozu sie Lust habe, Klavier spielen – Handarbeiten – häusliche Tätigkeit!

Kürzlich habe ich sie eines Abends auf ihrem kleinen Balkon gesehen. Es war schon ziemlich spät, wir hatten alle Nutis Zimmer verlassen, der eben eingeschlafen war. Wir wohnen im letzten Hause der Via Veneto, mit einem freien Blick auf die Villa Borghese. An einem anderen Balkonfenster sass Cavalena und schien ganz vertieft in die Betrachtung des Sternenhimmels.

Plötzlich hörte ich ihn mit einer Stimme, die ganz aus der Ferne kam, wie aus dem Himmel, und erstickt von unendlichem Gram, zu seiner Tochter sagen:

»Sesè, siehst du die Plejaden?«

Sie tat, als schaue sie eifrig aus. Vielleicht standen ihr die Augen gerade voller Tränen.

Und der Vater:

»Siehst du sie – – dort – – grade über deinem Kopf – das kleine Sternbild dort – siehst du?«

Sie nickte ihm bejahend zu.

»Schön, nicht, Sesè? Und siehst du dort die Capella, wie sie brennt?« –

Ja, die Sterne ... Armes Vaterherz! Eine schöne Zerstreuung das ... Mit einer Hand strich er dabei das Lockenhaar seiner Kunstperücke zurecht, während er mit der anderen ... was? ja, weiss Gott ... da hatte er Piccinì auf den Knien, seinen Erzfeind, und kraulte ihm den Kopf ... Armes Vaterherz! Offenbar erlebte er einen seiner tragischsten und pathetischsten Augenblicke!

Ein leichtes, leises Blätterrauschen wehte von der Villa Borghese herüber. Schritte klapperten über die Strasse und das eilige Rattern eines Wagens. Glocken läuteten, und das langgezogene Summen längs der Trambahngeleise schien die Strasse mit allen Häusern und Bäumen mit sich fortzureissen. Dann war alles still, und inmitten des dumpfen Schweigens hob plötzlich in der Ferne ein Klavier zu spielen an, wer weiss aus welchem Hause. Das war ein weicher Klang, wie verschleiert, schwermütig; die Seele flog ihm zu und ward von ihm festgehalten, als solle sie jetzt erst erfahren, wie tief die Trauer sei, die allseits schwebt.

»Ja, ja,« dachte Fräulein Luisetta vielleicht, »Heiraten ...« Vielleicht träumte sie sich vor, dass sie in einem fernen unbekannten Hause dieses Lied spiele, um viel traurige, quälende Erinnerungen einzuschläfern, die ihr Leben für immer verbittert haben.

Aber wird es ihr wohl gelingen, sich darüber hinwegzutäuschen? Was soll sie tun, damit nicht alle unschuldsvolle Anmut ihres Wesens tot hinsinkt wie verwelkte Blumen vor dem tödlichen Anhauch des Sturms!

Ich muss mit ansehn, wie sie ganz absichtlich ein falsches Wesen annimmt. Da spielt sie die Harte, die Unnahbare, nur um nicht weich und leichtgläubig zu erscheinen. Ich denke mir, sie möchte wohl froh sein und lebhaft, wenn ein Augenblick des Vergessens sie überkommt, des Morgens, wenn sie aufsteht und ihre Augen sie mahnend aus dem Spiegel ansehen, diese ihre Augen, die so gerne lachen möchten, leuchtend und klar, und die sie dazu verdammt, abwesend und empfindungslos dreinzusehen. Wie oft richtet sie sie nicht ins Leere unter gerunzelten Brauen, als wollte sie ihrer selbst nicht achten! Und wie sie ihr trübe werden, wie ihre Farbe wechselt, jedesmal wenn sie aufseufzt in der Verborgenheit.

Wer weiss, wie oft sie beim Spazierengehen mit den Eltern schmerzhaft erschrocken ist an jedem lauten Lachen. Da mag sie manch seltsames Gefühl überkommen haben: Hing nicht dies hellblaue Kleidchen, Schweizer Seide, an ihr wie ein Sträflingskittel? Drückte nicht der Strohhut auf ihren Kopf? Kam ihr nicht die Versuchung, die hellblaue Seide zu zerfetzen, den Strohhut vom Kopf zu reissen, ihn mit beiden Händen zu zerknüllen und von sich zu schleudern – – Der Mutter ins Gesicht? Nein – – Oder etwa dem Papa ins Gesicht? Nein. Da, auf den Boden und mit den Füssen drauf getreten! Denn ist es nicht eine wahre Posse, ein schändliches Theater, einherzuspazieren im Sonntagsstaat, als junge Dame, die sich sehen lässt, und die etwa gar einem schönen Traum nachhängt, während doch zu Hause und auf der Strasse soviel Hässliches und Brutales geschieht, allein zwischen ihren Eltern, so dass sie ersticken müsste vor Trauer und vor Scham und Ekel.

Von einem Gedanken, glaube ich, ist sie nun ganz erfüllt: dass in dieser Welt ihrer Eltern, wo groteske Eifersucht lächerlich haust und das Leben ohne Ordnung ist, kein Platz sein kann, kein bisschen Luft und Licht für ihre Anmut. Wie könnte sie aufwachsen, Atem holen und sich beleben mit frohem Glanz inmitten all des Lächerlichen, das sie hier hemmt, erstickt und verdüstert?

Wie ein Schmetterling ist sie, den man grausam an einer Nadel aufgespiesst hat, obwohl er noch lebt, und der nun nicht wagt, mit den Flügeln zu schlagen, ohne Hoffnung, je frei zu werden, aus Angst aber, dass man ihn bemerken könnte in seinem Elend.

 

§ 5

Wie mir scheint, bin ich unversehens auf vulkanisches Gebiet geraten. Ausbrüche und Erdbeben ohne Ende! Da ist ein gewaltiger Vulkan, äusserlich mit Schnee bekleidet, innerlich aber kochend und brodelnd – das ist Frau Nene. Nun, über sie wusste man ja Bescheid; nun hat sich aber ganz unerwartet noch ein kleiner Vulkan aufgetan und sogar schon seine erste Eruption gehabt. Eine heimliche und drohende Glut glomm in seinem Schoss, obwohl sie erst seit ein paar Tagen dort geschwelt haben kann.

Ein Besuch Polaccos heute morgen hat den Ausbruch hervorgerufen. Er kam, um Nuti von neuem gut zuzureden, er möge Rom verlassen und sich in Neapel gründlich auskurieren. Später könne er ja sein Reiseleben wieder aufnehmen und sich seiner Zerstreuung und Erholung widmen. Aber Polacco musste die unangenehme Überraschung erleben, dass Nuti aufgestanden war, als er kam. Leichenblass, eben frisch rasiert, sass er da, als gedenke er so seinen festen Entschluss zu bezeugen, von heute an bei der Kosmograph zu spielen.

Er hat sich selbst sofort nach dem Aufstehen rasiert. Das war eine Überraschung für uns alle, denn gestern abend noch hatte der Arzt ihm unbedingte Ruhe empfohlen. Höchstens dürfe er vormittags für ein Stündchen aufstehen. Und Nuti hatte ihm auch wirklich versprochen, seinen Vorschriften gehorsam zu sein.

Mit offenem Munde sahen wir ihn an, wie er nun so vor uns stand, mit seinem Totenantlitz, noch ganz unsicher auf den Beinen, dabei höchst elegant gekleidet.

Er hatte sich beim Rasieren ein wenig am linken Mundwinkel geschnitten und die schwärzliche Blutkruste über der Wunde hob sich deutlich von der Blässe seines Gesichtes ab. Seine Augen schienen übermässig gross und wiesen das Weisse der Augäpfel in breitem Streifen unter dem Ring der Hornhaut. Unserem Schmerz und Erstaunen gegenüber nahmen diese Augen einen wilden Ausdruck an; Bosheit war in ihnen, Trotz und Hass.

»Was soll das denn heissen?« rief Polacco.

Nuti verzog drohend das Gesicht und erhob die Hände; alle Finger begannen ihm nervös zu zittern. Dann sagte er mit ganz leiser Stimme – ja, es klang, als spräche er ohne Stimme:

»So lass mich doch bitte!«

»Aber du kannst dich ja kaum auf den Füssen halten!« fuhr ihn Polacco an.

Mit einem schiefen Blick entgegnete Nuti:

»Doch. Das kann ich. Quäle mich nicht! Ich muss ... ich muss ausgehen ... ein wenig Luft schöpfen ...«

»Das ist aber vielleicht doch ein wenig zu früh,« redete Cavalena ihm zu. »Wenn Sie mir erlauben wollen ...«

»Aber, wenn ich Ihnen doch sage, dass mir danach zu Mut ist,« unterbrach ihn Nuti. Er gab sich kaum die Mühe, mit einer Art Lächeln den gereizten Ton seiner Stimme abzumildern.

Warum ist er nur so gereizt? Deshalb wohl, weil er sich gerne unserer Fürsorge entziehen möchte. Wir mögen alle (mich freilich ausgenommen) ein wenig den Eindruck bekommen haben, dass er jetzt in gewissem Sinne zu uns gehöre, dass er einer der unsern sei. Er seinerseits muss, so lästig es ihm ist, nun einige Rücksicht nehmen, da er uns zu Dank verpflichtet ist. Diese Fessel zu zerbrechen, sieht er nur einen Weg: er lässt uns deutlich merken, wie gleichgültig ihm seine Gesundheit ist. Dann, denkt er, wird es so weit kommen, dass es uns leid tut, uns seiner angenommen zu haben; wir werden einander entfremdet werden, und er wird seiner Dankesschuld ledig sein. Jemand, der so denkt, wagt einem nicht in die Augen zu sehen. Und wirklich: er hat heute morgen keinem von uns richtig ins Gesicht sehen können.

Da Nuti sich so fest entschlossen zeigt, hat Polacco keinen andern Ausweg mehr gefunden als den, dass er ihn scharf überwacht und ihm gegebenenfalls Schwierigkeiten macht, soweit uns das möglich ist. Vor allem muss ihm da Fräulein Luisetta helfen, denn sie hat sich Nutis angenommen, und ihr gegenüber muss er deshalb besonders rücksichtsvoll sein. Ehe er wegging, drang Polacco noch heftig in Cavalena, er möge ihn bald mit Fräulein Luisetta und mir zusammen auf der Kosmograph besuchen. Fräulein Luisetta, sagte er, könne unmöglich jenen Film halbfertig im Stiche lassen, in dem sie zufälligerweise mitgespielt habe. Es wäre auch ein wahres Verbrechen, meinte er, denn nach dem Urteil aller Beteiligten habe Luisetta in jener kleinen, aber nicht leichten Rolle erstaunliches Talent verraten. Er mache sich anheischig, ihr daraufhin ein Engagement bei der Kosmograph zu verschaffen; das werde ein leichter und sicherer Verdienst sein, überdies durchaus anständig, da Cavalena ja immer in der Nähe sein könne.

Ich sah, wie Cavalena diesen Vorschlag mit Begeisterung aufnahm. Ein paarmal war ich drauf und dran, ihn mahnend am Ärmel zu zupfen.

Nun, was ich gefürchtet hatte, trat wirklich ein.

Madame Nene dachte nicht anders, als dass dies alles nur eine Erfindung und ein Komplott ihres Gatten sei: Polaccos Morgenbesuch, Nutis unerwarteter Entschluss, das Engagementsangebot an ihre Tochter. All das, glaubte sie, habe Cavalena ausgeheckt, um sich auf der Kosmograph mit den jungen Schauspielerinnen herumtreiben zu können. Kaum waren Polacco und Nuti gegangen, da brach der Vulkan schrecklich los.

Zuerst versuchte Cavalena, seiner Frau die Stirn zu bieten, indem er sich auf Nuti hinausredete, der offensichtlich – lieber Gott, wie man das nur nicht begreifen könne! – Polacco auf den Gedanken mit dem Engagement gebracht habe. Was? Nuti sei ihr ganz gleichgültig? Ach was, Nuti, – Nuti sei auch ihm höchst einerlei! Nuti könne schliesslich hingehen und sich den Hals hundertmal brechen, wenn's mit einem Mal nicht genug sei! Aber Luisetta sei man es schuldig, dass man eine Chance, wie dies Angebot, nicht aus den Händen lasse. Kompromittiert sei sie? Wieso kompromittiert – unter den Augen des eigenen Vaters?

Frau Nene war indessen schnell genug mit ihren Vernunftgründen zu Ende und verlegte sich auf wüste Schmähreden. Die brachte sie so kränkend vor, dass Cavalena schliesslich ausser sich vor Empörung auf und davon rannte.

Ich lief ihm nach, die Treppe hinunter und auf die Strasse hinaus. Auf jede erdenkliche Art suchte ich ihn zurückzuhalten; wer weiss, wie oft ich ihm die gleichen Worte zurief:

»Aber Sie sind doch Arzt – Sie sind doch Arzt!«

Arzt hin, Arzt her! In diesem Augenblick war er ein wildes Tier, das davon läuft. Ich musste ihn schliesslich laufen lassen, denn ich hatte keine Lust, ihm auf der Strasse nachzuschreien.

Er wird schon wieder zurückkommen, wenn er sich müde gerannt hat und ihm sein tragikomisches Geschick wieder einmal wie ein Schatten über den Weg gelaufen ist. Mittlerweile kann er ja draussen ein wenig Luft schöpfen.

Als ich wieder ins Haus zurückkam, wartete meiner eine grosse und schmerzliche Überraschung: nun war auch noch ein kleiner Vulkan in Tätigkeit, und zwar gebärdete er sich so heftig, dass der grosse daneben einfach verschwand.

Nein, das war nicht mehr sie, das war nicht mehr Fräulein Luisetta! Jahrelang gesammelter Groll brach aus ihr hervor, den sie seit ihrer freudlosen Kindheit in sich getragen hatte. All das Schmachvolle, das sie hatte mitansehen müssen, wenn die Eltern sich zankten, warf sie jetzt der Mutter ins Gesicht, schrie sie hinter dem davonrennenden Vater her. Ah – jetzt ausgerechnet dachte die Mutter also daran, dass sie sich kompromittieren könne? Aber jahrelang hatte sie ihr schändlich das Leben verpfuscht! Fast hätte sie ersticken müssen in der entsetzlichen Atmosphäre dieses Hauses, dem niemand ohne Hohnlachen sich nähern konnte. Hiess das denn nicht einen Menschen kompromittieren, wenn man ihn in so schmachvolle Verhältnisse hineinzwang? Als ob sie das Gelächter nicht gehört hätte, wenn irgendwo von ihr die Rede war und vom Vater! Genug – dreimal genug! Nie mehr wolle sie die Qual dulden müssen, dies Gelächter zu hören. Abwerfen wolle sie die Schande, auf der Strasse fliehen, die sich ihr aufgetan habe ohne ihr Dazutun. Schlimmeres könne ihr da auch nicht zustossen. Nur fort, fort, fort!! –

Sie wandte sich an mich, ganz erhitzt und zitternd vor Erregung:

»Begleiten Sie mich, Herr Gubbio! Ich setze nur rasch noch meinen Hut auf, und dann gehen wir, dann gehen wir sofort!« –

Damit lief sie in ihr Zimmer. Ich wandte meinen Blick auf die Mutter. Wie vor den Kopf geschlagen stand sie der späten Empörung ihrer Tochter gegenüber. Vernichtende Worte hatte sie ihr zugerufen und dabei musste sie ihr noch recht geben, denn sie wusste ja: ihre angebliche Sorge um den Ruf der Tochter war im Grunde lediglich ein Vorwand, ihren Mann von seinen Besuchen bei der Kosmograph abzuhalten. So stand sie jetzt vor mir: den Kopf tief auf der Brust, die Hände über dem Busen gefaltet. Mit verzweifeltem Schluchzen rang sie nach Tränen in ihrer gequälten Seele.

Sie tat mir leid.

Plötzlich, ehe noch Luisetta wiederkam, hob sie die Hände gefaltet hoch wie zum Gebet, ohne doch Worte zu finden. Ihr ganzes Gesicht wartete, es stand voll Erwartung der Tränen, die immer noch nicht losbrechen wollten. Ja – da waren ihre Hände, und sie sagten mir, was ihr Mund mir sicher nicht verraten hätte. Dann schlug sie sie vor dem Gesicht zusammen und ging hinaus beim Zurückkommen ihrer Tochter.

Sie tat mir so leid in ihrem Schmerz, dass ich Fräulein Luisetta bedeutete, ihr nachzusehen. Aber sie fragte mich nur in drohendem Ton:

»Also soll ich allein weggehen?«

»Ich hätte gern, dass Sie sich vorher wenigstens ein bisschen beruhigen.«

»Ich werde mich unterwegs schon beruhigen,« sagte sie, »gehen wir schon – ja?«

Wir gingen die Via Veneto hinunter und bestiegen eine Droschke. »Sie werden sehen,« sagte Fräulein Luisetta, »sicher treffen wir den Papa auf der Kosmograph.

Warum musste sie das nun noch sagen? Wollte sie mir denn bedeuten, dass mir aus meinem Mitkommen keinerlei Verantwortung und Verpflichtung ihr gegenüber erwachsen solle? Sie fühlte sich also doch nicht so ganz sicher bei ihrem selbständigen Vorgehen. Wahrhaftig, sie fing schon wieder an:

»Was sagen Sie: ist das noch ein menschenwürdiges Leben?«

»Aber die Frau ist doch nicht normal!« redete ich ihr zu. »Ihr Vater sagt doch immer, dass es ein typischer Fall von Paranoia ist.«

»Ja, ja! Das weiss ich, aber das ist es ja eben! Kann man denn so weiter leben? Bei so schauderhaften Verhältnissen hört es doch auf mit Haushalt und Familienleben und allem! Es ist ein beständiger brutaler Kampf – verzweiflungsvoll, glauben Sie mir das! Da hört einfach alles auf, – was soll man tun, was soll man nicht tun? Man weiss ja nicht mehr, ob rechts, ob links. Und jedermann sieht zu – unser Haus steht einfach offen! Wir können nichts für uns behalten, wir sitzen mitten auf der Strasse! Es ist ja eine Schande! Schliesslich, wenn es hart auf hart kommt, wird sie vielleicht doch ihren Wahnsinn noch los – denn sonst werden wir ja alle noch verrückt. Oh, ich muss einfach irgend etwas tun – ich muss mich umsehen, ich muss mich rühren ... ich muss es auch los werden dieses Elend ...«

»Aber nun hast du es doch so viele Jahre ausgehalten,« hätte ich sie gerne gefragt, – »woher nur auf einmal so wild und aufgebracht?«

Wenn ihr Polacco damals, gleich nach den paar Aufnahmen im Bosco Sacro, ein Engagement bei der Kosmograph angeboten hätte, – sie würde sich geradezu mit Entsetzen zurückgezogen haben! Ja, das würde sie, obwohl doch bei ihr zu Hause genau dieselben Verhältnisse herrschten wie heute.

Jetzt aber fährt sie mit mir auf die Kosmograph. Aus Verzweiflung? Das wohl, aber nicht ihrer Mutter wegen, die sie nicht in Ruhe lässt.

Wie wurde sie blass, wie sank sie ganz zusammen, als dann am Eingang der Kosmograph ihr Vater uns wie ein Besessener entgegentrat und uns sagte, »er« sei nicht da, Aldo Nuti sei nicht da! Polacco habe bei der Direktion angerufen, er werde heute nicht kommen. Es bliebe also gar nichts anderes übrig, als wieder umzukehren.

»Für mich kommt das leider nicht in Frage,« sagte ich zu Cavalena. »Ich muss hier bleiben; ich bin sowieso viel zu spät dran. Sie müssen Ihr Fräulein Tochter nach Hause bringen.«

»Nein, nein!« schrie Cavalena hitzig. »Sie bleibt den Tag über bei mir. Und dann bringe ich sie hierher, und Sie werden mir die Freude machen, sie nach Hause zu begleiten, Herr Gubbio, oder sie muss eben alleine gehen. Ich denke ja nicht daran – ich setze keinen Fuss mehr in dieses Haus! Genug damit – übergenug!«

Er wandte sich zum Gehen. Mit Kopf und Händen machte er noch allerlei Gebärden, die wohl seine Worte bestätigen sollten. Fräulein Luisetta lief hinter ihm drein. In ihren Augen war deutlich zu sehen, dass sie nicht mehr überlegte, was sie tat. Eiskalt war die Hand, die sie mir reichte, abwesend ihr Blick und leer ihre Stimme, als sie sich zu mir wandte und mit kurzem Gruss sagte:

»Auf später ...«


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