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Achtung! Der Chauffeur lenkt ein wenig zur Seite. Ein kleiner Wagen fährt da vorne.
– »Tu – tu-u-u – Tuh!« –
Hallo? Es sieht ja beinahe aus, als bewegte sich das Wägelchen auf einmal rückwärts auf das Tuten der Autohupe hin. Es sieht zu komisch aus!
Die drei Damen im Automobil lachen, drehen sich um und schwenken grüssend die Arme. Ein paar bunte Autoschleier flattern fröhlich, und das arme Wägelchen verschwindet ganz in einer hässlichen Wolke von Staub. Immer weiter bleibt es zurück, von einem dürren Klepper in unlustigem Trott gezogen, und mit ihm fliehen zurück Häuser, Bäume, Passanten dann und wann, bis es schliesslich ganz verschwindet auf der endlosen Landstrasse. Es verschwindet? Aber nein doch! Das Auto ist verschwunden. Das Wägelchen aber ist noch da, immer noch fährt es dahin, ganz gemächlich, im Hundetrab des dürren Pferdchens. Und mit ihm scheint die Landstrasse selber dahinzuziehen, ganz gemächlich.
Die drei Damen im Auto sind Schauspielerinnen der »Kosmograph«. Jawohl, sie haben dem Wägelchen fröhlich zugewinkt, als sie es mit ihrem Kraftwagen hinter sich liessen, aber nicht, weil sich ein guter Freund von ihnen im Kütschchen befand, sondern nur aus dem Rausche und Übermut der sausenden Autofahrt heraus. Gratis und franko steht ihnen das Auto zur Verfügung; die »Kosmograph« bezahlt alles. In dem Wägelchen aber, da sitze ich. So ist meine Art zu reisen, höchst gemächlich, das gebe ich zu. Aber, bitte, was habt ihr andern denn gesehen? Einen kleinen Wagen, der euch aus den Augen glitt wie an einer Schnur gezogen, und die Chaussee, wie einen endlosen Streifen, der das Auge unsicher macht. Ich dagegen komme nur langsam vom Fleck, aber des weiss ich mich zu getrösten: beruhigten Gemütes staune ich diese grossen, grünen Platanen am Wegrand an, eine nach der andern. Unberührt von eurer Hetzjagd stehen sie fest gewachsen da und tragen im leichten Winde, im Golde des Sonnenlichtes, ein Bild voll dunkeln Schattens zwischen den grauen Zweigen. Riesen der Strasse sind sie, aufgestellt in langer Reihe, und spannen und tragen mit kräftigen Armen die gewaltigen, schwankenden Wipfel gen Himmel.
Ja, Kutscher, treib deinen Gaul nur an, aber nicht zu kräftig! Er ist ja schon so müde, dein alter Klepper. Alle überholen sie ihn: die Autos, die Fahrräder, die Trambahnwagen. Das ist eine wilde Hetzjagd auf den Strassen, und sie reisst auch ihn mit, wider seinen Willen. Er kann nicht anders, er muss sich weiter schleppen auf seinen alten, lahmen Beinen, da- und dorthin in der grossen Stadt, mitten durchs Gewühl rastloser Menschen. Not hetzt sie umher, Arbeit, Ehrgeiz – er aber trabt in ihrer Mitte und weiss nichts von ihrem Tun. Tiefer und tiefer lässt er den Kopf sinken, und er richtet ihn nicht mehr auf, auch wenn du ihn bis aufs Blut schlägst, Kutscher.
»Halt, rechts jetzt! Rechts herum!«
Da liegt die »Kosmograph«, in dieser Querstrasse dort, weit ausserhalb der Stadt.
Die Strasse ist unwegsam und staubig, eben erst notdürftig angelegt. Misslaunig sieht sie aus, wie jemand, der seine Ruhe hatte haben wollen und nun im Gegenteil in einem fort belästigt wird.
Hier müsste es doch von Rechts wegen grüne Rasenplätze geben. All die feinen Geräusche müssten hier umgehen, aus denen in der Einsamkeit jenes friedvolle Schweigen und Weben aufsteigt. Laubfrösche müssten quaken, wenn es regnet, und in den Pfützen müssten sich nachts die Sterne spiegeln. Die ganze offene und wilde Natur, wo soll man sie denn finden, wenn nicht hier, auf einer Landstrasse, ein paar Kilometer von der Stadt?
Statt dessen aber: Automobile, Wagen, Fuhrwerke, Fahrräder, und den ganzen Tag über ein ununterbrochenes Hin und Her von Schauspielern, Operateuren, Maschinisten, Arbeitern, Komparsen und Boten. Dazu der Lärm von Hämmern, Hobeln, Sägen, und dicker Staub überall und Benzingestank.
Hohe und niedrige Gebäude, die grossen Filmgesellschaften gehören, erheben sich rechts und links von der Strasse. Ein paar andere stehen regellos auf das weite Terrain verteilt, das tief ins Land vordringt. Eines der Gebäude, höher als die übrigen, ist von einem Glasdom überdacht, dessen Milchglasscheiben in der Sonne blitzen. Die Strassenfront des Gebäudes trägt auf blendend weissgetünchtem Grunde in schwarzen Riesenbuchstaben die Inschrift:
»Kosmograph«.
Der Eingang ist linkerhand, durch ein kleines Gattertürchen, das sich nur selten öffnet. Gegenüber ist eine Kantine mit dem hochtrabenden Namen »Restaurant Kosmograph«. Eine hübsche gedeckte Laube ist angebaut, die auch den sogenannten Garten einschliesst und einem ein wenig Grün zu sehen gibt. Fünf oder sechs rohe Tische stehen darin, recht wacklig auf ihren vier Beinen, ausserdem ein paar Stühle und Bänke. Einige Schauspieler in seltsamen Masken und Kostümen sitzen herum und unterhalten sich. Einer überschreit alle andern und schlägt sich aufgeregt auf die Schenkel:
»– – – und ich sage euch: hier muss man ihn treffen, seht ihr, hier – –!«
Immer noch schlägt er sich mit der Hand auf die Hosen, als wolle er angeben, wohin man schiessen müsse.
Sicherlich sprechen sie von dem Tiger, den die »Kosmograph« kürzlich erworben hat, wie man ihn töten müsse, an welcher Stelle er zu treffen sei. Wie an einer fixen Idee bleiben sie an diesem Thema hängen. Wenn man sie hört, möchte man meinen, sie seien alle Raubtierjäger von Beruf.
Draussen vor dem Eingang drängen sich viele Menschen zusammen und hören lachend zu: die Chauffeure der staubbedeckten, mitgenommenen Autodroschken, die Kutscher, deren Wagen draussen warten und andere arme Leute. Die Ärmsten der Armen sind darunter, aber sie sind immerhin mit einem gewissen Anstand gekleidet. Es sind (ich bitte um Entschuldigung, aber in unserer Branche hat alles einen französischen oder englischen Namen), es sind die sogenannten Gelegenheits-»Cachets«, Leute, die sich für Statistenrollen zur Verfügung stellen. Ihre Aufdringlichkeit ist unerträglich – Bettler sind nichts dagegen. Denn was hier an Armen und Elenden zusammenkommt, das möchte nicht ein kleines Almosen haben, sondern es will fünf Lire verdienen und sich dafür auf groteske Weise verkleiden. Man muss nur einmal gesehen haben, welches Gedränge an manchen Tagen vor dem Kostümmagazin herrscht. In aller Eile greifen sie nach ein paar dunklen Fetzen und werfen sie um, und dann sieht man sie mit einer wichtigen Miene überall herumstolzieren, denn sie wissen wohl: haben sie sich einmal glücklich kostümiert, dann bekommen sie die halbe Löhnung, auch wenn sie gar nicht zum Statieren kommen.
Ein paar Schauspieler kommen aus der Kantine herüber; mühsam bahnen sie sich ihren Weg durch die Menge. Sie tragen safranfarbene Westen, haben Gesicht und Arme dick mit schmutziggelber Schminke bedeckt, und auf dem Kopfe tragen sie eine Art Kamm aus farbigen Federn. Indianer also wohl! Sie begrüssen mich:
»Morgen, Gubbio!«
»Morgen, Herr Kurbeln!«
»Kurbeln«, das ist mein Spitzname, muss man wissen.
Denn wir sind alle gezeichnet, der eine mehr, der andere weniger, nur merken wir nichts davon. Das Leben zeichnet uns; dem einen hängt es ein liebliches Lärvchen vor, dem andern eine abscheuliche Fratze.
Nein? Aber entschuldigt, ihr besonders, die ihr nein sagt! Gebt acht: da haben wir das Wort »fabelhaft«. Kommt es nicht in allen euren Redewendungen beständig vor, dieses Wort »fabelhaft«?
Einen Augenblick Geduld! Noch hat sich keiner gefunden, der euch Herrn »Fabelhaft« nennt. Mir aber, dem Serafin Gubbio (alias »Kurbeln«) ist es schlimmer ergangen. Es mag mir vorgekommen sein, dass ich unwillkürlich mehrere Male hintereinander das geheiligte Wort des Regisseurs wiederholte: »– Kurbeln! –« – – wahrscheinlich habe ich dazu mein bewusst ernsthaftes Gesicht gemacht, jene eigentümlich teilnahmslose Miene, die mit meinem Beruf zusammenhängt – – und das habe ich nun davon: alle nennen sie mich nun so; Fantappié ist es zuerst eingefallen: »Kurbeln« nennen sie mich ...
In ganz Italien kennt man Fantappié, den Komiker der »Kosmograph«. Seine Spezialität sind Militärgrotesken: »Fantappié muss in die Kaserne« und »Fantappié auf dem Schiessplatz«, »Fantappié bei den grossen Manövern« und »Fantappié als Flieger«, »Fantappié als Schildwache« und »Fantappié wird Soldat in den Kolonien« ...
Er natürlich hat ihn sich selbst beigelegt, seinen Spitznamen, und er passt ja auch ausgezeichnet zu seinem Rollenfach. Im bürgerlichen Leben heisst er Roberto Chismico.
»Höre, Alter, hast du mir's eigentlich übel genommen, dass ich dir den Namen ›Kurbeln‹ angehängt habe« – hat er mich neulich gefragt.
»Aber nein – –« gab ich lächelnd zur Antwort. »Fein hast du mich abgestempelt.«
»Na, siehst du – – und mich selber genau so!«
»Ja, abgestempelt sind wir alle. Und am meisten die, die am wenigsten davon wissen, mein lieber Fantappié.«
Ich trete ins Vestibül linker Hand. Dann komme ich auf einen schmalen kiesbestreuten Gang, der zwischen den Gebäuden der Abteilung II hindurchführt. Dort befindet sich die photographische Abteilung.
Als Operateur habe ich das Vorrecht, diese Abteilung betreten zu dürfen und ebenso die andere, die »Künstlerische Abteilung«. Jawohl, alle Wunder unserer komplizierten Industrie, unserer sogenannten Kunst, sind mir vertraut.
Hier vollendet sich geheimnisvoll das Werk der Apparate.
Immerfort haben sie Leben verschlungen, diese Apparate, mit der Gefrässigkeit von Tieren, die ein Bandwurm plagt. Hier aber geben sie es wieder von sich, in diesen weitläufigen, unterirdischen Räumen. Rötliche Laternen hängen da und werfen einen düsteren, blutigroten Schein auf die riesigen Fixierwannen.
Alles Leben, das die Apparate verschlungen haben, hier liegt es, da in diesen Bandwürmern, will sagen Films, die schon zum Trocknen über Rahmen gespannt sind.
Aber da es kein richtiges Leben mehr ist, so muss man es erst fixieren, und dann verleihen ihm andere Apparate für einige Augenblicke neue Bewegung.
Es ist, als läge man in einem Bauche, in dem schiebend und formend eine ungeheure Schwangerschaft vor sich geht, eine Schwangerschaft der Maschinen.
Und wie viele Hände arbeiten doch hier im Dunkel! Es ist ein ganzes Heer von Männern und Frauen: Operateure, Aufseher, Techniker und Maschinisten aller Art: trocknen muss man die Films, waschen, wenden, kolorieren, perforieren und zum Schluss noch kleben!
Genug, genug: ich trete hier ein. Rings herrscht Dunkel, das verpestet ist vom Hauch der Apparate, vom Dunst der Chemikalien – mir stockt der Atem hier.
Hände sehe ich, nichts als Hände in diesen Dunkelkammern. Hände machen sich an den Fixierbädern zu schaffen, Hände, gespenstig anzuschauen im düstern Schimmer der roten Laternen. Mir ist's, als gehörten sie nicht länger einem Menschen an, als dürften sie nur noch Hände sein, Hände, Werkzeuge. Steht denn noch ein Herz hinter ihnen? Ein Herz – wozu denn gar ein Herz? Es wäre ja auch nur als Werkzeug zu brauchen, als Maschine, als Motor dieser Hände! Und der Kopf auch: er denkt nur im Dienste der Hände. Entsetzen überflutet mich mehr und mehr; auch ich werde mich ja verwandeln müssen, auch ich werde eine Hand nur sein, eine tote Hand.
Ich gehe zum Magazinverwalter und lasse mir frisches Filmband geben; damit füttere ich meinen Apparat.
Kaum habe ich ihn in der Hand, so wird mein Gesicht zur teilnahmslosen Maske. Nun bin ich verwandelt: nun lebe ich nicht mehr. Nur der Apparat lebt noch: er wandert dahin auf meinen Beinen; ihm gehöre ich vom Kopf bis zu den Füssen, ich bin nichts weiter als ein Stück von ihm. Mein Kopf, da steckt er in meinem Apparat – – ja, ich trage ihn selber in der Hand.
Draussen auf dem hellen, weiten Filmgelände, herrscht vergnügtes, hastiges Leben. Ja, so geht es zu bei einem Unternehmen wie dem unsern: es floriert, es honoriert prompt und reichlich jede geleistete Arbeit. Alles geht flott von statten bei uns; man weiss: Hindernisse gibt es nicht. Eine reiche Gesellschaft wie wir, räumt alle Schwierigkeiten mit leichter Mühe aus dem Weg.
Was gibt es hier nicht alles: Dekorateure, Maschinisten, Zimmerleute, Tischler, Maurer, Elektrotechniker, Schneider und Schneiderinnen, Modistinnen, auch Blumenverkäufer und Gott weiss wieviele Arbeiter aus dem Schuh- und Hutlager, aus der Waffenkammer, den Möbelmagazinen, der Garderobe. Sie alle sind fiebernd beschäftigt, aber nicht im Ernst – – – und doch auch wieder nicht im Spiel.
Nur Kinder haben die himmlische Gabe, dass sie ihre Spiele ernst nehmen können. Sie tragen das Wunderland in sich und breiten es über alle Dinge, mit denen sie spielen, um sich einer holden Täuschung hinzugeben. Es ist kein Spiel mehr, es ist Wirklichkeit voll Wunder.
Hier bei uns ist es aber gerade umgekehrt.
Man arbeitet nicht zum Spiel, denn keiner möchte ja spielen. Aber wie soll man denn eine Arbeit ernst nehmen, die kein anderes Ziel hat als Täuschung, nicht gerade Selbsttäuschung, aber Täuschung der andern? Ein entsetzlich albernes Lügenwerk spielt sich ab, und ihm muss der Apparat zu seiner wunderbaren Realität helfen.
Was dabei herauskommt, wirkt erzwungen und kann niemanden überzeugen und in Bann schlagen, denn es ist ein zwiespältiges Ding. Zwiespältig deshalb, weil die Albernheit der Einfälle nur noch deutlicher gemacht wird durch Verwendung der photographischen Reproduktion, einer Technik also, die zur Vorspiegelung und Täuschung denkbar ungeeignet ist. Versteht man denn nicht, dass es nur einen Weg gibt, um aus dem Phantastischen eine Wirklichkeit zu schaffen? Weiss man denn nicht, dass nur die Kunst dies vermag? Aber wir sind auf Apparate angewiesen, und wie sollten die Leben und Kunst vermitteln können? Wir können ebensogut eines von den bekannten Wachsfigurenkabinetts aufsuchen, wo man lebende Bilder sieht, Figuren mit Kleidern und blühenden Farben. Der einzige Unterschied, überraschend, aber im Grunde schauerlich, ist die Bewegung. Aber auch sie kann uns nicht die Illusion geben, dass wir körperliche Wirklichkeit vor uns sehen.
Und es glaubt ja auch niemand im Ernst daran, jemals diese Illusion erwecken zu können. Man tut, was man kann: man sucht sogenannte gute Aufnahmeobjekte zu finden, Hafenszenen, eine Theateraufführung, Bilder auf dem Bahnsteig, der Zug fährt eben ab. Das Publikum und der Apparat nehmen ja alles auf, Haufenweise wirft man das Geld hinaus und lässt sich's gerne Tausende von Lire kosten, um eine Szene aufzubauen, die auf der Leinwand noch keine zwei Minuten dauert.
Die Mitwirkenden aber, von den Arbeitern bis zu den Schauspielern, machen ein Gesicht, als könnten sie meinem Apparat da ein Schnippchen schlagen, und dabei gibt er doch erst allen ihren Possen den Anschein von Wirklichkeit.
Und ich vollends bedeute ihnen wohl gar nichts, ich, der ich mit vielem Ernst dabei stehe und die Kurbel drehe zu diesem ihrem albernen Spiel.
Ich bitte einen Augenblick um Entschuldigung. Ich muss mir rasch den Tiger ansehen. Keine Angst, ich erzähle schon weiter, ich erzähle noch lange weiter, ich nehme den Faden der Geschichte nachträglich wieder auf! Aber jetzt muss ich rasch nach dem Tiger sehen. Denn, seit die Gesellschaft ihn besitzt, habe ich ihn noch jeden Tag besucht, ehe ich an die Arbeit ging.
Wir haben hier auch schon andere wilde Tiere gehabt als traurige Gefangene: zwei Eisbären zum Beispiel, die den ganzen Tag auf den Hinterbeinen standen und sich an die Brust schlugen wie büssende Mönche. Drei junge Löwen, die frierend in einem Winkel des Käfigs aufeinanderlagen. Übrigens haben wir nicht nur ausgesprochene Raubtiere hier: einmal hatten wir zum Beispiel einen Strauss, ein armes Tier, das bei jedem Geräusch erschrak wie ein Küchlein und nie wusste, wohin es die Beine stellen sollte. Affen haben wir auch gehabt, eine ganze Menge, eine verrückte Gesellschaft. Die »Kosmograph« ist eben mit allem versehen, sogar mit einer Menagerie, nur leben die Insassen nicht lange.
Keins von den Tieren aber hat zu mir gesprochen, wie dieser Tiger.
Ehe er zu uns kam, war er im zoologischen Garten in Rom; irgendeine namhafte Persönlichkeit im Auslande hatte ihn dorthin geschenkt. Aber man konnte ihn nicht behalten, denn er war schlechterdings nicht zu zähmen. Ich wollte nichts sagen, wenn man ihn dazu hätte dressieren wollen, sich korrekt die Nase zu putzen. Aber er war nicht einmal dazu zu bringen, dass er die elementarsten Regeln des gesellschaftlichen Lebens respektierte. Drei- oder viermal drohte er, über den Graben zu springen, – vielmehr er versuchte es allen Ernstes und wollte sich auf die Menge stürzen, die ihn friedlich aus der Entfernung bewunderte.
Aber nun frage ich: ist es nicht ganz selbstverständlich, dass einem Tiger ein derartiger Einfall in den Sinn kommt (oder in die Beine fährt, wenn euch das besser gefällt!). Muss er sich nicht sagen: dieser Graben da, dieses tiefe, tiefe Loch ist nur dazu da, damit ich versuche zu springen! Und die Herrschaften stehen deshalb da vorne, damit ich sie auffressen kann, wenn ich glücklich hinüberspringe!
Sicherlich ist es ein Vorzug, wenn einer Scherz versteht. Aber wir wissen ja, nicht jeder besitzt diese Gabe. Manche können es gar nicht vertragen, wenn der andere glaubt, mit ihnen scherzen zu dürfen. Ich spreche da von Menschen, denn nur von ihnen können wir annehmen, dass es zuweilen erlaubt ist, Scherz mit ihnen zu treiben.
Einen Tiger, sagt ihr nun, stellt man nicht zum Scherz in den zoologischen Garten. Richtig! Aber ist es nicht doch eine scherzhafte, eine spassige Annahme, zu glauben, der Tiger werde sich darüber im klaren sein, dass er dort eingesperrt ist, um dem Volke einen »lebendigen Begriff« von der Naturgeschichte zu vermitteln?
Nun gut; unser Tiger sollte also vorsichtshalber getötet werden. Das brachte unsere Gesellschaft rechtzeitig in Erfahrung und kaufte ihn. So ist er nun also hier, in einem Käfig in unserer Menagerie. Seit wir ihn haben, ist er ganz vernünftig geworden, und das lässt sich auch ganz gut erklären. Die Behandlung bei uns kommt ihm gewiss bei weitem logischer vor. Hier hat er gar nicht erst die Chance, solchen Graben überspringen zu können. Bei uns gibt es das nicht, dieses »Lokalkolorit«, das im Zoo so beliebt ist. Vor sich sieht er hier nur die Gitterstäbe des Käfigs, die in einem fort sagen: »Hier kommst du nicht heraus – eingesperrt bist du!« Also liegt er fast den ganzen Tag ruhig da, in sein Schicksal ergeben, und starrt verwundert durch die eisernen Stäbe.
Ach, das arme Tier! Es weiss ja nicht, dass man ihm hier bald ganz anders mitspielen wird, nicht so scherzhaft wie im Zoologischen Garten.
Schon ist alles für unser neues Stück vorbereitet, einen indischen Film, in dem der Tiger eine der Hauptrollen darstellen soll. Es wird ein Ausstattungsfilm werden, für den gewiss ein paarmal hunderttausend Lire draufgehen; dabei ist die Handlung so albern und vulgär wie möglich. Der Titel sagt schon genug: »Die Frau und der Tiger!« Das kennt man schon, nicht wahr: die Frau, die im Grunde mehr Tiger ist als das Tier. Wenn ich recht verstanden habe, kommt eine englische Miss vor, die mit einer Schar von Verehrern in Indien herumreist.
Indien? – Oh, das wird gestellt! Das Dschungel und die ganze Reise – das stellen wir alles und ebenso die Miss und die Verehrer. Nur eines wird nicht gestellt: der Tiger muss wirklich stehen. Versteht ihr, was das heisst? Und das Herz dreht sich euch nicht vor Zorn im Leibe herum?
Ein Tier aus Notwehr töten oder um jemand andern zu schützen, ja das mag hingehen. Aber dass man es so tötet, in einem gestellten Wald, auf einer fingierten Jagd, einem dummen Stück zuliebe – das ist wahrhaft verbrecherisch. Es kommt eine andere Stelle vor, wo einer von den Verehrern der Miss unversehens auf seinen Nebenbuhler schiesst. Man sieht den Rivalen taumeln und tot niederstürzen. Alles in bester Ordnung! Ist die Szene vorbei, so steht er vergnügt wieder auf und schüttelt sich den Staub von den Kleidern.
Das arme Tier aber, es wird nie wieder aufstehen nach dem tödlichen Schuss. Man wird den fingierten Wald wegräumen und zugleich den erschossenen Tiger, der mittendrin liegen geblieben ist. Alles wird Schein gewesen sein und Komödie, nur sein Tod nicht – der war echt.
Wäre es wenigstens ein Stück von schöner und edler Erfindung, das wir hier spielen! Das wäre doch eine kleine Rechtfertigung dafür, dass man das Tier hinschlachtet. Aber nein, albern ist es und läppisch! Der Schauspieler, der den Tiger erschiesst, hat sicher keine Ahnung, warum er es tut. Bei der Vorführung wird die ganze Szene eine Minute dauern, vielleicht auch zwei Minuten, und dabei wird sie nicht einmal einen nachhaltigen Eindruck auf die Zuschauer machen, schnell, wie sie vorüberzieht. Nein, beim Fortgehen werden sie vor sich hingähnen:
»Lieber Gott, – blödsinniges Stück!«
Das erwartet dich, mein schönes Tier! Du weisst nichts davon; du starrst nur durch die Gitterstäbe des Käfigs mit deinen merkwürdigen, schlimmen Augen, deren runde Pupille sich weitet und gleich darauf zu einem schmalen Schlitz zusammenzieht. Oh, ich glaube es fast zu spüren, wie aus deinem Leib deine Tierheit dünstet wie ein Gluthauch. Eingezeichnet als schwarze Streifen in dein Fell, sehe ich deine bebende Sprungkraft, deine unbändige Glut.
Wer dich ansieht von nah, der soll froh sein, dass ein Käfig dich einschliesst und dich trennt von ihm. Denn auch ihm, der sieht, rührt bei deinem Anblick sich das Blut, zügellos wild und tierisch.
Wonach starrst du, schönes, unschuldiges Tier? Ich sage dir doch, nichts anderes erwartet dich hier. Und ich auch, der ich dich liebe und bewundere, wenn sie dich töten, werde ich doch teilnahmslos die Kurbel drehen, hier an meinem kleinen, niedlichen Apparat, siehst du? Den hat man neuerdings erfunden. Er frisst alles, was man ihm vorsetzt, – es kann der grösste Blödsinn sein. Er wird auch dich fressen – ich sage dir ja, er frisst alles! Und ich, weisst du, muss ihn bedienen. Ich werde näher kommen und ihn vor dir aufstellen, wenn du zu Tode getroffen daliegst. Verlass dich darauf: er wird aus deinem Tode soviel Profit ziehen als nur möglich. Solch eine Speise wird ihm nicht alle Tage! Das mag dich trösten. Und etwas anderes noch, wenn du willst:
Nicht ich allein komme täglich an deinen Käfig. Noch jemand kommt, eine Frau. Sie beobachtet all deine Bewegungen, sie studiert den Ausdruck deiner Augen und wie du den Kopf wendest. Es ist die Nestoroff. Das macht dir keinen Eindruck? Sie hat dich zu ihrem Lehrer erwählt, verstehst du? Das widerfährt nicht jedem Tiger, musst du wissen!
Wie gewöhnlich nimmt sie's ernst mit ihrer Rolle. Aber ich habe sagen hören, dass sie die Rolle der Miss, »die schlimmer ist als der Tiger,« gar nicht bekommen soll. Sie weiss das wohl noch nicht. Sie kommt gar nicht auf eine solche Idee; nein, sie geht zu dir und studiert.
Man hat mir das als guten Spass erzählt. Aber schon am Tage darauf habe ich sie selbst getroffen und eine Weile dort mit ihr gesprochen.
Glaubt mir, es ist nicht ohne Gewinn, wenn man eine halbe Stunde daran wendet, einem Tier zuzusehen, einem Tiger. Denn bald erkennt man in ihm einen Ausdruck dieser unserer Erde, so wie sie wirklich ist jenseits von Gut und Böse, unvergleichlich schön und unschuldsvoll selbst in ihrer ungezähmten Kraft. Ob von dieser Urkraft auch uns etwas geblieben ist, darüber besinne ich mich lange und oft.
Eine Zeitlang sah ich Frau Nestoroff wortlos an und konnte mir nicht klar machen, was sie eigentlich zu mir sagte.
Wenn uns unvermutet jemand anspricht, mit dem wir nicht weiter bekannt sind, dann passiert es uns ja leicht, dass wir nur mit Mühe den Sinn und selbst den Klang der allergewöhnlichsten Worte auffassen. Dann fragen wir: »Verzeihung, wie meinten Sie?«
In den acht Monaten, die ich hier bin, habe ich ausser dem Gutentagsgruss kaum ein Wort mit ihr getauscht.
Nun aber trat sie auf mich zu und begann mit einem Male heftig auf mich einzureden. Nicht wahr, so reden wir, wenn man uns bei irgend etwas ertappt hat, bei einer Handlung oder einem Gedanken, von dem wir nichts wissen lassen möchten. Um abzulenken, fangen wir dann zu reden an. (Übrigens spricht die Nestoroff unsere Sprache äusserst gewandt und mit vorzüglichem Akzent, als lebte sie schon lange Jahre in Italien. Doch springt sie sofort ins Französische über, wenn sie sich auch nur einen Augenblick alteriert oder in Eifer redet.) Sie wollte von mir wissen, ob meiner Ansicht nach irgendein Tier (nicht nur bildlich gesprochen) imstande wäre, die Rolle eines Schauspielers, so wie sie heute ist, zu übernehmen.
»Wo?« fragte ich dagegen.
Das wollte sie erst nicht verstehen.
»Nun –« erklärte ich, »wenn Sie meinen: hier bei uns, wo es aufs Sprechen nicht ankommt, – warum sollte da nicht auch ein Tier dazu imstande sein?«
Da wurde ihr Gesicht finster, und sie sagte geheimnisvoll: »Gut denn – sei es drum!«
Zuerst dachte ich, sie wollte mit ihren Worten jenen Gelegenheitsschauspielern eins auswischen, die sich, nur aus Eitelkeit oder zum Vergnügen, von einer Gesellschaft engagieren lassen, ohne es nötig zu haben. Wir haben bei der »Kosmograph« ein paar solche Leute, richtige junge Herren zwischen zwanzig und dreissig, die durch irgendeine Protektion zu ihrer Stellung gekommen sind. Ab und zu übernehmen sie einmal in einem Film eine x-beliebige Rolle, die ihnen gerade behagt, ganz nonchalant und nur zum Vergnügen. Sie spielen sie herunter wie die Grandseigneurs, aber manchmal doch so, dass die Berufsschauspieler neidisch darauf sein dürften.
Dann aber fiel mir ein, wie geheimnisvoll sie gesprochen hatte, wie düster mit einem Male, als sie diese Worte hervorstiess: »Gut denn – sei es drum!« – – Vielleicht, überlegte ich, hatte sie erfahren, dass Aldo Nuti im Begriffe sei, ein Engagement bei uns zu suchen.
Der Gedanke beunruhigte mich nicht wenig.
Wie kommt sie dazu, dachte ich, gerade mich zu fragen, ob nicht jedes Tier einen Schauspieler ohne weiteres ersetzen könnte – wie kommt sie dazu, wenn sie dabei Aldo Nuti im Sinn hat? Sie weiss also von meiner Freundschaft mit Giorgio Mirelli?
Ich hatte damals, und bis auf den heutigen Tag, keinen Grund zu dieser Annahme. Natürlich richtete ich ein paar versteckte Fragen an die Nestoroff, um mir darüber klar zu werden. Aber aus ihren Antworten war nichts Sicheres zu entnehmen.
Ich kann nicht sagen, weshalb – – aber es wäre mir peinlich, wenn sie wüsste, dass ich mit Giorgio Mirelli schon in seinen ersten Jahren befreundet gewesen bin, und dass ich das Landhäuschen bei Sorrent kenne, über das sie Tod und Verwirrung gebracht hat.
Ich könnte nicht sagen, weshalb – –? Aber das ist ja gar nicht wahr! Ich weiss es sogar sehr gut, und ich habe auch schon ein wenig darauf angespielt. Noch einmal, ich liebe sie nicht, diese Frau, ich könnte sie niemals lieben. Aber auch hassen kann ich sie nicht. Hier aber hassen sie alle; und dies allein wäre für mich schon Grund genug, es nicht zu tun.
Würde die Nestoroff jetzt erfahren, ich sei ein guter Freund von Giorgio Mirelli, so stiege vielleicht in ihr der Argwohn auf, ich könnte sie hassen, und dieser Argwohn allein würde genügen, sie mir gegenüber zu einem andern Menschen zu machen, obwohl ich gegen sie doch ganz unverändert wäre. Unversehens würde sie mir eine neue Seite ihres Wesens zukehren, andere Züge würden zurücktreten, und ich könnte sie nicht mehr studieren, so wie ich es jetzt tue, so durch und durch.
Ich unterhielt mich mit ihr über den Tiger und über den starken Eindruck, den er auf mich gemacht hatte, so gefangen und zum Tode bestimmt. Plötzlich aber ward mir klar, dass sie wohl gar nicht imstande sei, meine Gefühle zu begreifen, nicht etwa aus Mangel an Gemüt, sondern weil sie ja ihre ganz bestimmte Einstellung zu diesem Tiere hatte. Da war kein Gedanke an Mitleid mit dem Tier, auch keine Abscheu vor dem, was mit ihm geschehen sollte.
Ihre Worte klangen kampflustig genug:
»Eine Komödie das alles? Eine dumme Komödie sogar, zugegeben! Aber wenn man nun die Tür des Käfigs hochzieht und das Tier in einen grösseren Käfig treibt, der ein Stück Wald vorstellt – die Eisenstäbe könnte man ja mit Laub kaschieren. Freilich, der Wald ist dann nur angedeutet, aber der Jäger hat immerhin das Recht, meine ich, sich gegen das Tier zu verteidigen, gerade weil es ein richtiges und lebendiges Tier ist, wie Sie immerfort sagen!«
»Aber das ist ja gerade das Unrecht!« rief ich, »dass man ein lebendiges Tier hernimmt, während alles andere gestellt ist.«
»Wer sagt denn das?« – versetzte sie schlagfertig. – »Gestellt wird nur die Rolle des Jägers. Aber wenn er diesem lebendigen Tier gegenübersteht, wird er auch nichts weiter sein, als ein lebendiger Mensch! Sie können mir glauben, wenn er den Tiger nicht mit dem ersten Schuss tötet oder wenigstens unschädlich macht, dann überlegt sich der auch nicht lange, dass Jäger und Jagd ja nicht ernst gemeint sind, sondern springt ihn an und zerreisst ihn ganz im Ernst, den lebendigen Menschen ...«
Über soviel spitzfindige Logik musste ich lachen. »Ja,« sagte ich, »aber auch dann noch: wer wäre Schuld daran? Schauen Sie sich doch das Tier an! Es weiss von nichts, bei aller Wildheit ist es ohne Schuld.« –
Sie sah mich mit einem sonderbaren Blick an, als habe sie mich im Verdacht, dass ich mich über sie lustig machte. Dann lächelte sie auch und sagte mit einem flüchtigen Achselzucken:
»Liegt Ihnen der Tiger so sehr am Herzen? Nun, richten Sie ihn doch ab! Bilden Sie ihn zu einem Tiger-Schauspieler aus! Tot hinfallen muss er lernen, wenn der falsche Jäger den falschen Schuss abgegeben hat. Dann wird alles wundernett klappen!«
Was soll man da noch sagen? Wir werden einander eben nie verstehen, weil mir's um den Tiger zu tun ist und ihr um den Jäger. –
Die Rolle des Jägers hat nämlich Carlo Ferro bekommen. Es lässt sich denken, dass die Nestoroff darüber recht aufgeregt ist, ja vielleicht kommt sie gar nicht deshalb zu dem Tigerkäfig, um ihre Rolle zu studieren, sondern um sich klar zu werden, welcher Gefahr ihr Geliebter entgegengeht.
Er selbst trägt zwar ein verächtliches und gleichgültiges Wesen zur Schau, aber im Grunde ist er sicher auch voller Erregung und Angst. Ich weiss, er hat bei den Verhandlungen mit Generaldirektor Borgalli auf der Direktion eine ganze Reihe von Bedingungen gestellt: eine Lebensversicherung über mindestens hunderttausend Lire, im Todesfall an seine Eltern in Sizilien auszubezahlen; ferner eine Unfallversicherung über eine kleinere Summe für den Fall, dass er durch eine Verwundung arbeitsunfähig werden sollte. Ausserdem hat er – wenn, wie zu erwarten – alles gut ausgeht, eine ausgiebige Gratifikation beansprucht, und zu guter Letzt verlangt er – und diese Bedingung, die so ganz anders klingt als die übrigen, hat ihm sicher nicht sein Advokat angeraten – das Fell des erlegten Tigers.
Das Tigerfell – sicher soll die Nestoroff es bekommen als einen königlichen Teppich für ihre kleinen Füsse. Oh, gewiss hat sie ihren Liebhaber zuerst beschworen, keine solche gefahrvolle Rolle anzunehmen. Als sie ihn aber entschlossen sah, als er nicht mehr zurück konnte, da war sicher sie es, die Ferro bat, sich dann doch mindestens das Tigerfell auszubedingen. Ja, es steht geradezu fest für mich, dass sie dieses Wort gebraucht hat: »Mindestens!« Will sagen als Entschädigung für alle Aufregung und Angst, die sie erdulden muss, nun ihr Geliebter sich in Gefahr begibt. Carlo Ferro ist sicher nicht selbst auf die Idee gekommen, das Tigerfell zu fordern – als einen Teppich für ihre Füsse. Nein, solche Einfälle kommen ihm nicht, diesem Carlo Ferro. Man braucht ihn nur anzusehen, um das zu wissen, man braucht nur seinen grossen Kopf anzusehen, den er hochmütig trägt, wie ein Ziegenbock.
Neulich kam er einmal dazu, als ich mit der Nestoroff vor dem Käfig stand, und unterbrach unsere Unterhaltung. Es interessierte ihn kein bisschen, worüber wir sprachen, als könne ein Gespräch mit mir für ihn keinerlei Bedeutung haben. Er sah mich kaum an und führte nur flüchtig den Bambusstock zum Grusse an den Hutrand. Dann warf er einen seiner gleichgültigen Blicke auf den Tiger im Käfig und sagte zu seiner Geliebten:
»Wir wollen gehen. Polacco ist schon fertig; man wartet auf uns.« –
Damit wandte er sich knapp zum Gehen, sicher, dass die Nestoroff ihm folgen werde, wie die Sklavin ihrem Tyrannen.
Niemand empfindet und bezeugt so stark wie er jene instinktive Antipathie, von der ich gesprochen habe, und die beinahe alle Schauspieler gegen mich hegen. Ich glaube, sie mir richtig zu erklären, wenn ich sie als eine, den meisten wohl ganz unklare Auswirkung meiner Tätigkeit als Operateur bezeichne.
Carlo Ferro aber empfindet diese Abneigung besonders stark, vielleicht auch deswegen, weil er sich allen Ernstes für einen bedeutenden Schauspieler hält.
Die Abneigung der Schauspieler richtete sich übrigens nicht so sehr gegen mich, gegen den Gubbio, als vielmehr gegen meinen Apparat. Aber sie überträgt sich auf mich, als den, der die Kurbel dreht. Denn ich bin wirklich so etwas wie ein Henker für sie.
Sie alle – ich spreche natürlich nur von den Schauspielern, die es Ernst mit ihrer Kunst meinen, seien sie nun mehr oder weniger begabt – sie alle sind wider besseres Wissen hier. Sie werden hier besser bezahlt und dabei ist ihre Arbeit zwar manchmal mühevoll, erfordert aber keinerlei Intelligenz von ihnen. Oft, wie gesagt, wissen sie nicht einmal über ihre Rolle Bescheid.
Bei uns ist ihnen zumute, wie in der Verbannung. Verbannt fühlen sie sich – nicht nur von der Bühne, sondern geradezu von ihrem Selbst. Ihr Spiel, das lebendige Spiel ihres lebendigen Körpers, es geht verloren auf der Leinwand. Nur ihr Bild ist noch da; in irgendeiner augenblicklichen Geste festgehalten blitzt es auf und verschwindet wieder. Dunkel ahnen sie die Wahrheit; ein Gefühl der Leere, ich möchte sagen: des Ausgeleertseins sagt ihnen, dass ihr Körperliches ihnen entzogen wird. Man nimmt ihm Wirklichkeit, Atem, Stimme, ja sogar die Geräusche, die seiner Bewegung folgen, und macht es zu einem stummen Bilde, das einen Augenblick lang rasch vorüberzittert wie ein gestaltloser Schatten – ein Sinnentrug auf einem schmutzigen Stückchen Leinwand.
Das fühlen die Schauspieler: sie kommen sich wie Knechte meines kleinen kreisenden Apparates vor, der auf seinen drei Beinen aussieht wie eine grosse, lauernde Spinne, eine Spinne, die ihnen das Leben aussaugt. Wer aber nimmt ihnen ihre Körperlichkeit – wer wirft sie dem Apparat zum Frasse vor – wer macht einen Schatten aus ihrem Leib – wer? Ich bin es, ich – Gubbio.
Sie spielen hier, wie auf einem Theater bei Tage geprobt wird. Der Abend der Vorstellung jedoch kommt niemals für sie. Nie sehen sie das Publikum. Bei der Vorführung besorgt alles der Apparat mit ihren Schattenbildern, während sie selber nur vor dem Auge des Aufnahmeapparates spielen dürfen. Ihr Spiel, kaum haben sie es dargestellt, ist Filmband geworden. Können sie denn da gut auf mich zu sprechen sein?
Vielleicht stärkt sie der Gedanke ein wenig, dass sie ja nicht die einzigen erniedrigten Sklaven dieses Apparates sind, der so viele Menschen an sich reisst. Berühmte Schriftsteller kommen zu uns, Dramatiker, Lyriker, Romanciers. Sie alle kommen mit demselben alten, guten Vorsatz von der »künstlerischen Wiedergeburt« des Films. Jawohl, und ihnen allen gegenüber redet der Direktor Borgalli so und Coco Polacco ganz anders: Borgalli macht es so quasi in Handschuhen, wie es sich gehört für einen Generaldirektor; Coco Polacco aber spielt den Aufgeknöpften, weil er ja Regisseur ist. Geduldig hört er ihre Vorschläge an, aber dann hebt er plötzlich eine Hand hoch und sagt:
»Nein – nein nein nein: das ist ein bisschen zu toll! Wir müssen immer an die Engländer denken, lieber Freund.«
Dieser Einfall mit den Engländern ist wahrhaft Goldes wert. Tatsächlich setzt unsere Gesellschaft den grössten Teil ihrer Filmproduktion nach England ab. Wir müssen also bei der Auswahl unserer Stoffe auf den englischen Geschmack Rücksicht nehmen. Aber nun höre man bitte, was nach Coco Polacco die Engländer im Film nicht sehen wollen:
»Die englische Prüderie, verstehst du – – –! Da sagen sie dann einfach ›shocking‹ und alles ist futsch!«
Würden die Filme unmittelbar dem Publikum zur Beurteilung vorgeführt, vielleicht würde dann vieles mit durchgehen. So aber gibt es für die Einfuhr der Filme nach England eigene Agenten, und die sind die Plagegeister bei der ganzen Geschichte. Sie entscheiden unumschränkt: das geht – das geht nicht. Für jeden Film aber, der nicht »geht«, haben wir einen Verlust oder wenigstens einen Ausfall von Hunderttausenden.
Wieder ein anderes Mal ruft Coco Polacco:
»Ausgezeichnet! – – Aber das ist ja ein Drama, Freund, ein Drama ersten Ranges! Das wird ein grosser Erfolg werden! Was, einen Film willst du daraus machen? Das lass ich dir nie hingehen! Nein, als Film geht es nicht, ich sage dir doch, es ist viel zu fein, viel zu fein! Hier will man etwas anderes! Du bist viel zu intelligent, um das nicht zu verstehen!«
So kleidet es Coco Polacco eigentlich immer in Lobsprüche ein, wenn er den Autoren ihre Filmmanuskripte zurückgibt. Ihr seid nicht dumm genug fürs Kino, sagt er zu ihnen. Auf der einen Seite wollten sie sich das ganz gern sagen lassen, aber daneben wäre es ihnen lieb, wenn ihre Stoffe angenommen würden. Man bedenke: hundert, zweihundertfünfzig, allenfalls dreihundert Lire ... Manchem unter ihnen blitzt freilich der Gedanke auf, ob die Hochachtung vor seiner Intelligenz und die Geringschätzung für den Film nicht etwa gar nur vorgegeben seien, um den vorgeschlagenen Stoff mit einigem Anstand zurückzuweisen. Aber die Würde ist jedenfalls gewahrt, und sie können hocherhobenen Hauptes nach Hause gehen. Von ferne grüssen die Schauspieler hinter ihnen her, wie hinter Gefährten im Unglück.
»Alle kommen sie hier vorbei,« denken sie mit arger Freude. – »Sogar die gekrönten Häupter! Alle – nur für einen Augenblick auf der Leinwand!«
Vor einigen Tagen stand ich mit Fantappié in dem Hofe zwischen dem Vorführungsraum und dem Dramaturgenbureau, als wir plötzlich einen langhaarigen alten Mann bemerkten. Er trug einen Zylinderhut, hatte eine gewaltige Nase und schielte hinter seiner goldenen Brille; zudem trug er einen runden Vollbart. Er schien ganz verschüchtert von den grossen Bildplakaten an der Wand. Rot, gelb und blau machten sie Reklame für die namhaftesten Films unserer Firma.
»Ah, Herr Senator!« rief Fantappié und sprang nur so auf den Mann zu. Dann stellte er sich stramm vor ihm auf und legte die Hand zu einem komischen Soldatengruss an die Mütze. »Sind Sie wegen der Probe hier?«
»Ja – allerdings – – um zehn, hatte man mir gesagt ...,« antwortete der Herr Senator und gab sich Mühe, herauszubringen, mit wem er sprach.
»Um zehn? Wer hat das gesagt? Polacco?«
»Ich verstehe nicht – –«
»Direktor Polacco?«
»Nein, kein Polack! Ein Italiener – – man sagt Ingenieur zu ihm – –«
»Na endlich – Bertini! Zehn Uhr hat er gesagt? Da kann man sich dann schon darauf verlassen. Aber jetzt ist es halb elf. Um elf wird er sicher hier sein.« – –
Es war Professor Zeme, der berühmte Astronom und Direktor der Sternwarte. Er ist königlicher Senator, besitzt dutzendweise italienische und ausländische Auszeichnungen und wird immer zur Hoftafel geladen.
Fantappié ist und bleibt ein Spassvogel. »Ah – entschuldigen Sie, Herr Senator,« fing er wieder an. »Eine Frage: könnten Sie mir nicht eine Reise auf den Mond arrangieren?«
»Ich? Auf den Mond?«
»Jawohl – – das heisst: eine Kinoreise, verstehen Sie! Fantappié auf dem Mond – das wäre wunderbar! Als Rekognoszierung, wissen Sie, mit acht Soldaten! Denken Sie doch ein wenig darüber nach! Ich würde die Sache selber skizzieren ... Nein? Sie sagen nein?«
Allerdings, der Senator Zeme sagte nein. Er hob abwehrend die Hand, nicht eben verachtungsvoll, aber mit grosser Ernsthaftigkeit. Ein Gelehrter von seinem Range durfte seine Wissenschaft nicht für derlei Possen hergeben. Jawohl, er hat sich auch schon hergegeben, der Senator: er hat sich in den verschiedensten Attitüden in seinem Observatorium aufnehmen lassen. Auch die Unterschriften der namhaftesten Besucher seiner Sternwarte wollte er im Kino vorführen lassen. Da sollte das Publikum die Unterschrift I. M. des Königs und der Königin lesen, die des Kronprinzen und der Prinzessinnen, auch die des Königs von Spanien und der anderen illustren Gäste. Alles dieses aber nur in maiorem gloriam seiner Wissenschaft, und um dem Volke doch einigermassen ein Bild von den »Himmelswundern« (so hiess der Film) zu geben und von der erhabenen Umgebung, in deren Mitte er, der Senator Zeme, als ein kleines Teilchen lebt und schafft.
Fantappié schnitt eine seiner bekannten Grimassen und ging mit mir weiter.
Bald aber kehrte er wieder zurück, angelockt von einem wilden Stimmengewirr, das sich auf dem Hof erhoben hatte.
Schauspieler, Operateure, Regisseure – alles war aus den Garderoben und aus dem Vorführungsraum herbeigeströmt und stand im Kreise um den Senator Zeme, der sich mit Simone Pau herumzankte. Simone Pau nämlich kommt von Zeit zu Zeit und besucht mich auf der »Kosmograph«.
»Na, das nennt man Volkserziehung!« brüllte Simone Pau. – »Machen Sie mir doch die Freude! Schicken Sie Fantappié auf den Mond! Lassen Sie ihn mit den Sternen Boccia spielen! Oder glauben Sie vielleicht, die Sterne gehören Ihnen? Da, liefern Sie sie nur aus an die göttliche Dummheit der Menschen! Übrigens – übrigens – pardon, was tun Sie denn eigentlich? Was glauben Sie zu sein? Sie sehen ja alles nur als Objekt! Ja, das Objekt – das ist Ihr Gewissen und geradezu Ihre Religion. Und das Fernrohr ist Ihr lieber Gott! Sie halten es für Ihr Instrument, – – aber das ist nicht richtig. Es ist Ihr Gott, und Sie beten es an. Sie sind genau wie der Gubbio da, mit seinem Apparat! Ein Dienstbote sind Sie ... Nein, ich will Sie nicht beleidigen, sagen wir: ein Priester, Pontifex Maximus – genügt das jetzt? – Ihres lieben Gottes. Ein Dogma haben Sie auch und schwören darauf: dass es unfehlbar ist, Ihr Gott. Wo ist denn Gubbio? Hurra, Gubbio! Warten Sie doch, Herr Senator, gehen Sie nicht weg! Hier gibt's einen unglücklichen Menschen zu sehen, einen Kameraden von mir aus dem ›Falken‹. Ich möchte ihn trösten und das tut man doch am besten, indem man ihm handgreiflich zeigt, dass er nicht allein steht mit seinem Unglück. Ich habe ihn hierher eingeladen, zu unsern lieben, guten Künstlern hier. Er ist selber Künstler! Ah, da ist er schon, da ist er!«
Ja, da war der Mann mit der Violine, lange aufgeschossen, krumm und finster, der Mann, den ich vor mehr als einem Jahr im Hospiz für Obdachlose getroffen hatte. Er trat vor, versonnen wie damals, als sei er ganz damit beschäftigt, auf seine buschig niederhängenden Brauen von unten her zu starren.
Alles wich zur Seite. Stille breitete sich aus, da und dort unterbrochen von einem plötzlich aufschrillenden Gelächter. Die meisten aber sahen mit Erstaunen und selbst mit Schauder auf diesen Menschen, der sich mit gesenktem Kopf näherte, und dem sich der Blick irgendwie in den Brauen verfangen hatte, als wolle er seine fleischige rote Nase nicht sehen müssen, die ihm schwer niederhing, wie eine Strafe für Unmässigkeit. Mehr als je schien er jetzt, im Näherkommen, sagen zu wollen:
»Stille! – Platz gemacht! Seht ihr, was das Lehen alles mit unseren Nasen anstellen kann, wir armen Menschen?«
Simone Pau stellte den Mann Senator Zeme vor. Dieser wandte sich indigniert ab und alles lachte. Simone Pau aber blieb ernst und begann den Mann überall vorzustellen, bei Schauspielern und Regisseuren, und überall erzählte er ein wenig von der Geschichte seines Freundes, wie und warum er seit seinem letzten Missgeschick nicht mehr gespielt habe. Schliesslich rief er ganz begeistert:
»Aber heute wird er spielen, meine Herrschaften! Er wird spielen. Er wird den bösen Zauber brechen. Er hat es mir versprochen, dass er spielt, aber nicht für Sie, meine Herrschaften! Er hat mir versprochen für den Tiger zu spielen. Ja, – jawohl, für den Tiger, für den Tiger! Wenn ihm so etwas einfällt, muss man Respekt davor haben, er wird schon seine guten Gründe dafür haben! Marsch, meine Herrschaften, nur hereinspaziert! Aber wir wollen uns im Hintergrund halten. Er wird sich ganz allein vor dem Käfig aufstellen und wird spielen!«
Unter Geschrei und Händeklatschen folgten wir alle Simone Pau, denn uns trieb die heftigste Neugier, dies bizarre Abenteuer mitanzusehen. Simone hatte seinen Freund untergefasst und zog ihn mit sich zu dem Tigerkäfig.
Der Tiger hatte sich mit einem Satz in den Hintergrund des Käfigs zurückgezogen. Mit gesenktem Kopfe und gefletschten Zähnen kauerte er am Boden und wies die Krallen, als sei er bereit zum schrecklichen Sprung.
Der Mann hatte wohl Angst bekommen. Verwirrt drehte er sich um und suchte mit den Blicken in unserer Mitte nach Simone Pau.
»Spiele!« rief der aber. »Nur keine Angst! Spiele! Er wird dich verstehen, gib acht!«
Der Mann hob den Kopf, als befreie er sich mit schrecklicher Anstrengung von einem Alp, und warf sein verbeultes Hütchen zu Boden.
Witze ertönten aus der Mitte der Arbeiter, die hinter uns in einem Haufen standen. Gelächter erhob sich dann und entsprechende Bemerkungen waren zu hören, während er seine Geige stimmte. Dann aber entstand ein grosses Schweigen, sobald er anhob zu spielen. Es klang zuerst ein wenig unsicher und zögernd, als schmerze ihn der Klang des Instrumentes, das er so lange nicht mehr vernommen hatte. Dann überwand er mit einem Schlage alle Unsicherheit, allen Schmerz wohl gar mit einigen energischen Bogenstrichen. Und dann folgte, wie Kummer schwillt und schwillt, ein drängendes Lied voll seltsamer, rauher und dumpfer Klänge. Manchmal hörte man einen Ton breiter werden, wie ein Mensch wohl aufschluchzt im Weinen. Immer breiter wurde dieser Ton, er schwoll an und sank hin, von Kummer befreit, in einem Bogen der Melodie, die klar, süss und innig war, bebend von unendlicher Qual. Tiefe Rührung überfiel uns alle, ja Simone Pau hatte Tränen in den Augen. Mit erhobenem Arme winkte er uns zu, ruhig zu bleiben und nichts zu verraten von unserer Bewunderung, weil nur in der Stille dieser wunderbare Vagabund auf seine Seele lauschen könne. –
Es dauerte nicht lange. Wie erschöpft liess er die Hände sinken und wandte sich zu uns um. Sein Gesicht war verklärt, von Tränen überströmt. Er sprach:
»So – genug – – –«
Stürmischer Beifall brach los. Man ergriff ihn, man trug ihn im Triumph davon. Zur nächsten Kneipe schleppte man ihn, und nichts halfen die Bitten und Drohungen Simone Paus: er betrank sich.
Polacco biss sich in die Finger vor Wut, weil er nicht gleich daran gedacht hatte, mich meinen Apparat holen zu lassen; man hätte sie doch unbedingt festhalten müssen, diese Szene: der Geiger spielt vor dem Tiger.
Wie er doch sofort immer alles heraushat, dieser Coco Polacco!
Ich konnte nicht antworten, denn ich musste immerzu an die Augen der Nestoroff denken, die auch der Szene beigewohnt hatte, gleichzeitig wie in Entzücken und starren Schreck gebannt. –