Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es gibt einen schönen Roman. Er heißt »Der fünfte Mai« und ist auch mit Bildern. Die hat sein Dichter, wie es eigentlich immer sein sollte, selbst gezeichnet. Er spielt um die Zeit des großen Hamburger Brandes – alte Hamburger aber, die um die Zeit des Brandes und des Romans gelebt haben, sagen: Reinhard – so heißt der Verfasser des »Fünften Mai« – müsse beim Niederschreiben wohl selbst 'nen ziemlichen Brand gehabt haben. Denn alles darin wäre gehunken und gestunken, gebogen und gelogen. Ich habe Herrn Reinhard sowie seine Modelle nicht persönlich gekannt, weil ich erst ein Vierteljahrhundert später das große Schwindellicht der Welt erblickt habe. Doch scheint es mir, daß er eine gewisse Seelenverwandtschaft mit meinem Freunde Johnny Aasbaas gehabt haben muß. Denn von den Finkenwärdern steht im »Fünften Mai« nicht viel Erbauliches zu lesen. Wenn nur der dritte Teil wahr ist, so hätte die Halbscheid der berühmten Inselbewohner – das heißt, damals waren sie durch andere Dinge berühmt als die heutigen – ihr Leben in Fuhlsbüttel beschließen müssen. Nach Reinhard nämlich müssen sie von den Rifpiraten der marokkanischen Küste nur durch das Glaubensbekenntnis, die Hautfarbe und den Breitengrad verschieden gewesen sein. Und Johnny Aasbaas schwor, nachdem er fünf Tage auf dem glücklich geramschten Kutter vormals »Emanuel«, jetzt »Scholle« im Finkenwärder Loch zu Anker gelegen war: sie wären den wirklichen Rifpiraten nicht nur gleich, sondern ihnen über. Und nach beendigter Illustrierung der zwanzig Quäker-Oatsschen Kriminalromane würde er den Rest seines Lebens auf die Illustrierung und romanmäßige Beschreibung der Finkenwärder Fischer, Bestleute und Jungens verwenden. Womit er, da Finkenwärder augenblicklich »modern« sei, viel Geld zu verdienen hoffe.
Nämlich der Kutter »Scholle« war nach gründlicher Verhandlung, Besichtigung, Beschmusung und Überholung für den Betrag, den mir der Roman »Scholle« eingebracht hatte, in meinen Besitz übergegangen. Jasper Fock, aus dessen seehundslederner Hand ich ihn empfangen, hatte sich nicht schlecht ins Fäustchen gelacht (falls man eine Hand, die in offenem Zustand einen Steinbutt mittlerer Größe so vollständig bedeckt, daß man von ihm weder das Schiefmaul, noch die Schwanzflosse sieht, in geschlossenem »Fäustchen« nennen kann). Bald aber war seine Stimmung ins Gegenteil umgeschlagen. Denn seine Freunde, die ihn um den schönen Rebbach beneideten, hatten ihm eingeredet: so 'n Schriftsteller, der Geld verdiene wie Heu und so dumm sei wie 'n Helgoländer Badegast und so verrückt wie die drei ältesten Insassen von Friedrichsberg zusammen: dem hätten sie mit Leichtigkeit das Dreifache rausgegrault. Da hatte Jasper Fock mit der edlen Dreistigkeit, die von einem dreißigjährigen Verkehr mit Raubfischen auf ihn übergegangen war, eine saftige Nachzahlung verlangt, und als diese glatt von dem glücklichen (hm! die Zeit wird's lehren) Besitzer abgeschlagen worden, mit Seeamt, Kette, Advokaten, Demolierung und persönlichen Prügeln gedroht. Unangenehm waren mir nur die letzteren erschienen – ich hatte daher am nächsten Tage meinen Freund Timotheus, versehen mit einem Wanderstab, gegen den mein alter Jenenser Ziegenhainer ein Streichholz war, nach Finkenwärder mitgenommen und Jasper Fock versichert: das sei mein Seeamt, Advokat, Demolierungsbevollmächtigter und Prügelsekundant. Nur wer einmal in eine Finkenwärder Fischerdöns (Stube) seinen Fuß gesetzt hat, kann sich eine Vorstellung machen, welchen Eindruck das Erscheinen meines Freundes Quäker-Oats in einem knapp sieben Fuß hohen und entsprechend langen und breiten Raum erzeugte. Mit gesenktem Kopf, in der Haltung der berühmten »Bunten Kuh«, als der Seeheld Simon von Utrecht mit ihr das Piratenschiff Störtebekers zu rammen versuchte, fädelte er sich in den Nähkasten hinein, in dem Jasper Fock seine Erdentage zu beschließen gedachte, stieß mit dem rechten Ellenbogen das Schiffsmodell des vormaligen Kutters »Emanuel«, jetzt »Scholle«, von einem Wandbrett herunter, mit dem linken drei Scheiben vom Glasschapp (Schrank) ein, mit den Füßen einen ellenlangen Riß in die den Fußboden bedeckende japanische Binsenmatte und rief mit fürchterlicher, beinah Aasbaasscher Stimme:
»Sie verlangen von meinem Freund, Herrn Dr. Eck, einem der größten Ehrenmänner, komptantesten Zahler und genialsten Schriftsteller der Waterkant, auf reell geleistete und quittierte Zahlung für so ein miserables, wurmstichiges, seelenverkäuferisches, ausgedientes, für Rasmus reifes Oesfatt (Wasserschaufel) von Ewer noch 'ne Nachzahlung. Wissen Sie, wer ich bin???«
Hier machte Quäker-Oats eine Kunstpause, um die Worte gehörig wirken zu lassen. Ich sah, daß sie es taten. Jasper Fock zitterte am ganzen Leibe, und er bibberte mit den kalkig gewordenen Lippen vor sich hin:
»Alle guten Geister loben Gott den Meister ...«
Wie mir Hannis Ketelschraper später mitgeteilt, hat er Timotheus Greulich im ersten Schreck für den Domine des von Kapstadt nach dem Finkenwärder Loch heraufgesegelten Fliegenden Holländers gehalten, der ihm teils für früheres gräßliches Fluchen auf See, teils für andere Sünden in Vertretung seines Chefs den Hals habe umdrehn wollen. Der aber fuhr fort, seinen Spazierstock erhebend – wobei er ein Loch in die dünne Decke des »Nähkastens« stieß:
»Ich bin ein Mann, oder vielmehr ein Geist, ja, sogar ein großer Geist, der bislang schon dreihundertfünfundsechzig Verbrechern, doch mögen auch Unschuldige darunter gewesen sein, mit dem Schwert, dem Beil, Dolch, Gift, Ersäufen und Erhängen das Lebenslicht ausgeblasen hat. Dies Geschäft gedenk ich auch in Zukunft fortzusetzen. Auf Ihrem vormaligen Kutter. Sie können auf Wunsch der dreihundertsechsundsechzigste werden – dann buch ich Sie – hahahahaha – in meinem schwarzen Buch als Schaltjahrsnummer.«
Es ist begreiflich, daß hiernach auf Jasper Focks Haut der kalte Schweiß ausbrach. Er winkte dem Gespenst mit den Worten: »Is all good! Is all good!« ab und taumelte in seine Kammer, wo er in der Alkovenecke den Demijohn mit altem Demarara-Rum stehn hatte.
Als er sich damit gestärkt hatte, war der »Domine« verschwunden. Und Jasper Fock fing an zu fluchen, weil er sich auf seine alten Tage so ins Bockshorn hatte jagen lassen. Hm, aber wenn der Kerl auch in Wirklichkeit gar kein Späuk war – wiederkommen und in seiner Döns den ganzen Rest demolieren, ganz abgesehen davon, daß einem Buckel voll Schlägen mit diesem Mastbaum von Knüppel dreimaliges Kielholen bei weitem vorzuziehen sei –, wiederkommen konnte er auf alle Fälle. Daher gab Jasper Fock seiner Raubfischnatur eins auf die Schnauze, sich selbst den Anstrich eines nur gescherzt habenden ehrlichen ollen Seemanns und tat wegen seiner Nachforderung sozusagen Abbitte. – Dafür aber hetzte er seinem Kutter, der nun mein Kutter war, seine Gens und Sippschaft und Knechtsvolk und Jungvolk auf die Spanten und Planken und alles, was nicht niet- und nagelfest war an Bord – nach alter Rifpiratensitte. Und aus diesem Grunde wollte jetzt Johnny Aasbaas seinen Finkenwärder Roman schreiben – mit Illustrationen nach dem Leben.
Nämlich: der Finkenwärder Mein-und-Dein-Komment hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Kommiß-Komment. Wohlgemerkt: nur auf dem vordeichlichen nassen Teil, nicht auf dem Deich und in dem dahinterliegenden trockenen Bezirk. Es gilt nämlich unter den Finkenwärder Fischerknechten nicht für besonders ehrenrührig – im Gegenteil: für erlaubt, ja, durch das »Gewohnheitsrecht« fast geheiligt –, auf den Kuttern und Jollen umherliegende lose Gegenstände, zum Beispiel Ruder, zu »klauen«. Selbstverständlich darf man sich dabei nicht erwischen lassen, auch soll sich das Schöffengericht in mehreren Fällen nicht auf den Standpunkt dieser – falls die Reinhardschen Überlieferungen richtig sind – jedenfalls Jahrhunderte alten bewährten Tradition gestellt haben. Die Fischerknechte aber – so behauptete wenigstens Johnny Aasbaas – hielten sich nach Kräften daran, und die auf der »Scholle« lose umherliegenden Stücke: Tauwerk, Segel, Koffeenägel, ein Kompaß, zwei Wasserpützen, die Hundehütte, der Kambüsenschornstein, Bretter für den Hüttenaufbau und so weiter kriegten plötzlich Beine oder Flossen. Auch daß Johnny, auf der Lauer liegend, eines Nachts eine unvermutet neben der Kajütskappe auftauchende Gestalt sanft mit 'ner Handspake über Bord, geradeswegs in die schlammigen Gewässer des »Finkenwärder Lochs« beförderte, steuerte dem Spuk nicht. Ferner fanden sich mehrfach von unbekannter Hand Spottverse am Kopf- und Schwanzteil der »Scholle« angeschrieben, auch konnte Johnny eines Nachts vor entsetzlichem Gestank nicht einschlafen und mußte zwei Tage nach der Ursache suchen, bis er sie in Gestalt eines höchst verschmitzt unter einem Bodenbrett verborgenen Haufens fauler Schellfische entdeckte, auch zog er einmal einen abgebrochenen Zentrumsbohrer unter der Wasserlinie heraus, auch sang die Jugend Lieder (aber keine schönen) hinter ihm her, wenn er über den Deich ging, und warf ihm gewisse dort aufgelesene, landwirtschaftlich wertvolle Tierprodukte nach, auch erschienen in der Finkenwärder Zeitung »Eingesandts«, »Anfragen«, kurze Notizen (etwa mit der Überschrift: »Wie lange wird der Bajazzenkutter Finkenwärder sich noch dem Gespött der Kulturwelt aussetzen?« und ähnlichen), auch erhielt Johnny anonyme Prügel, Kielholung, Lynchung und sonstige Gewalttaten androhende Briefe, aber auch nicht anonyme, mit Steuerzetteln, polizeilichen Vorladungen wegen »groben Unfugs«, »Veranstaltungen öffentlicher Lustbarkeiten ohne behördliche Erlaubnis« (hiermit waren wahrscheinlich seine Deichspaziergänge gemeint) und ähnlichen Zeit und Seelenruhe raubenden Mitteilungen.
Ich muß nämlich bemerken, daß ich Johnny, allerdings gegen den Wunsch seiner Familie, als Wachtmann und – wegen seines natürlichen Sachverstandes in praktischen Dingen – als Oberbauleiter auf der »Scholle« installiert hatte. Johnny strich nicht so leicht vor Schicksalsschlägen die Segel. Aber als schließlich Tag für Tag Postkarten: »Die ›Scholle‹ ist ein Nagel zu meinem Sarge«, »Das Finkenwärder Loch wird noch mein Grab«, »Meine bisherige Geduld wird nur durch meinen jetzigen Blutdurst übertroffen. Morgen Nacht werde ich acht Finkenwärder – so viele müssen es mit Rücksicht auf Quäker-Oats sein – ermorden und sie den Fischen im Finkenwärder Loch zum Fraß vorwerfen« – da wurde mir doch bedenklich. Ich ersuchte Timotheus, mit seinem Wanderstabe gleichfalls schon jetzt seine Hängematte an Bord der »Scholle« aufzuschlagen, dem Freunde zum Troste, den Finkenwärdern zum Schrecken. Das half. Im Umkreis einer halben Seemeile ließ sich fortan kein Finkenwärder mehr sehen, der Ausbau nahm seinen ungestörten Fortgang, und die »Scholle« wurde allmählich segelfertig.