Henrik Pontoppidan
Das gelobte Land
Henrik Pontoppidan

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Zweiter Teil

Die Skibberuper Kirche lag fast eine halbe Meile von dem Dorf – einsam auf dem Gipfel eines kahlen Hügels, der sich eine Strecke draußen im Fjord erhob. Nur ein niedriger und schmaler Erdstreifen verband die »Kirchen-Landspitze« mit dem übrigen Lande, und zwischen ihrem Kies und Gestein wuchsen nur ein klein wenig bleiches Gras, etwas Heidekraut und einige an der Erde kriechende Dornsträucher. Die Kirche selbst war ein uraltes, stark zerfallenes Granitgebäude mit einem später angebauten Mauersteinturm. Der ganze Platz machte in seiner öden Verlassenheit einen recht unheimlichen Eindruck. Ringsumher zwischen den vom Winde zerzausten Gräbern lagen herabgestürzte Ziegelsteine, Kalkbrocken und Fensterscheiben; und wenn man das halbdunkle Innere der Kirche betrat, schlug einem eine eisige Feuchtigkeit von den vollkommen kahlen Kalkmauern entgegen, die selbst mitten im Sommer ganz grün von Nässe waren und im Winter eine so bitterliche Kälte ausströmten, daß das Wasser im Taufbecken zuweilen bis auf den Grund gefror und der Pfarrer in Binsenschuhen und großen Fausthandschuhen auf der Kanzel stehen mußte.

An den Alltagen lag die Kirche in ungestörtem Frieden da, nur besucht von dem langen, knochenhagern Küster – dem »Tod« – wie man ihn nannte – der, die langen Gerippearme tiefsinnig auf dem Rücken gekreuzt, jeden Morgen und jeden Abend aus dem Dorfe hier herauswanderte, um die rostige Turmglocke zu bewegen und einige baßtiefe Töne über die Füchse hinausschallen zu lassen, die zwischen dem Dorngestrüpp umherschlichen, und über die Schafe des Küsters, die melancholisch draußen vor der Kirchhofsmauer grasten, – hin und wieder auch über einen einsamen Fischer, der mit seinem Boot unter den steilen Abhängen lag und tolkte.

An Sonntagen dahingegen – namentlich an den hohen Feiertagen – herrschte hier Leben und Festlichkeit. Da wimmelte es auf dem Wege von Skibberup hier hinaus von festtäglich gekleideten Fußgängern und blank geputzten Fuhrwerken; und rund um die Landspitze herum kamen die Fischerfamilien in Booten gesegelt und legten an den großen Steinen am Strande an, von wo aus die Männer die Frauen auf ihren Armen an Land trugen. Die Frauen hatten alle schwarze Kirchenhüte auf dem Kopf – auf den Armen trugen sie Mooskränze oder Blumenkreuze, die sie auf die zerzausten Gräber legten, ehe sie sich im Gänsemarsch in die Kirche begaben. An einer Ecke der Kirchhofsmauer stand »der Tod« auf Ausguck. Unbeweglich starrte er nach dem Vejlbyer Weg hinüber, von woher der Wagen des Pfarrers kommen mußte, und sobald der gewölbte Kaleschenhimmel da draußen zwischen den Hügeln sichtbar wurde, eilte er mit langen Schritten quer über die Gräber und in seinen Türmerraum hinein. Und während nun auch die Männer, die sich in plaudernden Gruppen vor der Kirchentür geschart hatten, sich langsam in die Kirche verzogen und unter andachtsvollem Husten und Schnauben unter den widerhallenden Wölbungen Platz nahmen, begann die Glocke im Turm zu bimmeln, so daß die dicken Mauern der Kirche davon zu zittern anfingen.

Doch – dies alles war im Grunde jetzt eine halbvergessene Sage. Seit Propst Tönnesen hierher in die Gemeinde gekommen war, hatte die Kirche auch an den Festtagen manch liebes Mal öde gestanden; die rostige Glocke hatte über menschenleeren Wegen gebimmelt; in den Stuhlreihen husteten nur ein paar arme Zehntenschuldner, die sich dem Zorn des Propstes nicht auszusetzen wagten, und doch war es auf Tönnesens Veranlassung hin geschehen, daß vor wenigen Jahren ein Ofen in der Kirche aufgestellt und dicke Binsenmatten auf den Fußboden unter die Stuhlreihen gelegt wurden.

Aber gerade im Skibberuper Dorf hatten sich hauptsächlich die aufrührerischen Köpfe der Gemeinde gesammelt, wie auch dort der berüchtigte Weber Hansen sein Standquartier hatte. Kein Wunder daher, daß der Anblick dieser leeren Stuhlreihen Propst Tönnesen jeden Sonntag mit heiligem Zorn erfüllte. Er konnte sich während der Predigt in eine flammende Leidenschaft hineinreden und seine Hand mit einer solchen Kraft auf das Pult niedersausen lassen, daß St. Peter selbst, der in Gemeinschaft mit den andern Aposteln an den Seiten der Kanzel in Holz ausgeschnitten war, einmal buchstäblich Nase und Mund vor Schrecken verlor.

Nachdem Kaplan Hansted in die Gemeinde gekommen, war indessen eine Veränderung in diesen Verhältnissen eingetreten, und eines Sonntags Ende März – an dem ersten Lenztage des Jahres – tönte der Gesang aus der Kirche wieder vielstimmig über den Fjord und mischte sich hier in den Schrei der Möwen, die am Ufer kreisten.

Draußen am Wege vor der Kirchhofsmauer hielt eine lange Reihe von Fuhrwerken und wartete darauf, daß der Gottesdienst beendet sein würde. Einige von den Kutschern saßen oben auf ihrem Bock und schliefen halbwegs, den Kopf in den Händen. Andere lagen unten im Graben und vertrieben sich die Zeit mit Tabakrauchen und Plaudern. Zuvörderst in der Wagenreihe, dicht vor dem Kirchhofstor, hielt die Kalesche des Propstes mit einem hochschwebenden Bock, auf dem ein alter, weibisch aussehender Kutscher in einem großen blauen Radmantel thronte.

Unter den wartenden Bauernburschen war es Sitte, Scherz mit dem Kutscher des Propstes zu treiben: »Maren« hatte man ihn nach seiner verstorbenen Frau benannt, der man dafür (und nicht ohne Grund) seinen eigenen Taufnamen Rasmus zuerteilt hatte. Auch heute standen vier, fünf muntere Burschen, die Hände in den Taschen, um ihn her und lachten.

»Sag' mal, Maren,« begann einer von ihnen. »Was wird eigentlich aus die Geschicht' mit euren Frölen und den Kaplan? Ich sollt' meinen, die haben sich nu lang genug angeguckt, so daß sie nachgerad' in klaren sein müßten!«

»Ach, ich will dir was sagen,« meinte ein andrer, der nachlässig an dem Kirchhofstor gelehnt stand. »Das darf nich so hastig gehn mit die feinen Leite. Mit diese Frölens is es so wie mit die Hühner, – die müssen immer 'n bischen mit den Hintersten wackeln, eh' sie sich geben. Hab' ich nich' recht, Maren?«

Der Angeredete saß regungslos auf seinem hohen Bock und starrte geradeaus über die Ohren der Pferde hinweg, ohne zu antworten. Er fand es ganz unvereinbar mit seiner geistlichen Stellung, sich mit solchen Gotteslästerern einzulassen, die des Propsten Kutscher verspotteten und Fräulein Ragnhilds Namen lästerlich im Munde führten.

Im selben Augenblicke verstummte der Gesang in der Kirche. Die Tür zu der Vorhalle tat sich auf, und die Leute fingen an herauszuströmen.

Unter den Männern, die sich allmählich vor dem Eingang versammelten, um hier ihre Zusammenkunft abzuhalten, war einer Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit. Es war ein Mann von mittleren Jahren in Bauernkleidung, groß, mager, ein wenig vornübergebeugt, mit langen nach vorn hängenden Armen und einem auffallend kleinen Kopf. In diesem kleinen, ein wenig flachgedrückten Kopf saß ein eigentümliches Katzengesicht – klug und spähend – mit zwei rotgeränderten Augen und einem dünnen, rötlichen Vollbart. Die meisten von den Männern gingen hin und reichten ihm die Hand, während sie ihn gleichzeitig mit einem bekümmert fragenden Blick ansahen, den er regelmäßig damit beantwortete, daß er den Mund zu einem schiefen Lächeln verzog.

Plötzlich teilte sich die Menschenmenge vor der Kirchentür, und in derselben erschien Kaplan Hansteds talarbekleidete Gestalt.

Obwohl er bereits mehrmals, sowohl hier als auch in Vejlby, gepredigt hatte, sah er blaß und angestrengt aus und grüßte mit sichtlicher Verlegenheit die versammelte Menge, die denn auch ziemlich träge die Köpfe entblößte, indem er vorüber ging. Der Mann mit dem Katzengesicht griff nicht einmal an seinen Hut, sondern blieb mit seinem schiefgezogenen Mund stehen, während ein spöttischer Blick aus seinen halbgeschlossenen Augen die jugendliche Pfarrergestalt bis an die Wagentür verfolgte, wo »der Tod« mit dem Hut in der Hand stand und sich wie ein Wurm im Staube krümmte.

Sobald der alte Kutscher die Pferde in Bewegung gesetzt hatte, sank der Kaplan in die Wagenecke zurück und legte mit einem leidenden Ausdruck die eine Hand auf den Scheitel. Seinen weichen, breitrandigen Flauschhut hatte er gleich vor sich auf den Rücksitz geworfen, als ob er ihn auf der Stirn brenne. Und während nun die Kalesche knarrend und knirschend auf dem holperigen Wege dahinhumpelte, blieb er mit geschlossenen Augen und fest zusammengepreßtem Munde sitzen – als werde es ihm schwer, die Tränen zurückzuhalten.

* * *

Daheim im Pfarrhause wurde er von Propst Tönnesen empfangen, der eben vom Gottesdienst in Vejlby zurückgekehrt war. Die kirchlichen Geschäfte waren nämlich derart zwischen den beiden Geistlichen verteilt, daß sie beide jeden Sonntag predigten, der eine in Vejlby, der andere in Skibberup. Dies war eine Erfindung des Propstes, der nicht ohne Grund fürchtete, daß die übelgesinnten Skibberuper, die so hartnäckig seiner eigenen Verkündung fernblieben, ihrer Feindschaft noch deutlicheren Ausdruck verleihen würden, indem sie in die Kirche strömten, sobald der Kaplan predigte. Deswegen gab er auch erst im letzten Augenblick kund, in welcher Kirche er selbst den Gottesdienst zu verrichten wünschte, und die Folge davon war gewesen, daß eine Zeitlang beide Kirchen von Scharen gefüllt waren, die jede an sich hoffte, den neuen Geistlichen predigen zu hören.

Neubelebt von dem Anblick seiner treuen Vejlbyer Anhänger, kehrte der Propst jetzt in heiterer Stimmung zurück und setzte sich mit einem vorzüglichen Appetit an den Frühstückstisch. Hierzu trug noch eine Festlichkeit bei, die am Abend im Pfarrhause stattfinden sollte, und zu der man schon seit mehreren Tagen eifrig mit Vorbereitungen beschäftigt gewesen war. Für gewöhnlich lebten der Propst und das Fräulein sehr still, indem sie niemals an der Geselligkeit der Bauern und nur äußerst selten an derjenigen der wenigen und ziemlich einfachen Gutsbesitzersfamilien der Gegend teilnahmen. Aber zweimal im Jahr hielt der Propst eine größere, gleichsam offizielle Bespeisung ab, zu der die Vertreter der verschiedenen Schichten der Gemeinde angesagt wurden, ungefähr wie zu der Tafel eines Fürsten. Propst Tönnesen stand bei dieser Gelegenheit selbst der Leitung der Festlichkeit vor. Es war nun einmal seine Leidenschaft zu regieren, zu ordnen, Befehle zu erteilen. So hatte er sich denn auch kaum am Frühstückstisch niedergelassen und seine große Serviette unterm Kinn angebracht, als er auch schon anfing, seiner Tochter genaue Anweisungen in bezug auf das Temperieren des Weines, die Zubereitung der Salate usw. zu erteilen.

Währenddem saß Kaplan Hansted schweigend und geistesabwesend da und zerkrümelte seiner Gewohnheit gemäß sein Brot auf dem Tischtuch, fast ohne etwas zu genießen. Sein Aussehen hatte sich im Laufe des Winters sichtlich verändert. Er war noch hohlwangiger geworden und über seinen einst so kindlich klaren Augen lag gleichsam ein Schleier, der verriet, daß ein Wurm an seinem Herzen nagte.

Von der andern Seite des Tisches beobachteten Fräulein Ragnhilds blaugraue Augen ihn mit einem aufmerksamen Blick. Auch Propst Tönnesen fiel schließlich seine tiefe Geistesabwesenheit auf, und als er – auf eine plötzliche Frage, die er an ihn richtete – eine verwirrte Antwort erhielt, runzelte er mißbilligend die Stirn. Er fand es nicht passend, daß sein Kaplan unaufmerksam war, wenn er sprach, selbst wenn es sich nur um Pasteten und Salate handelte.

Überhaupt war Propst Tönnesen keineswegs so zufrieden mit seinem Kaplan, wie er es einstmals zu werden geglaubt hatte. Er fühlte sich bedrückt durch diesen, mit jedem Tage sonderbarer und verschlossener werdenden Menschen, der in seinem Hause umherging, als sei er die Beute einer fixen Idee. Er begriff nicht, was ihn quälen konnte, sintemal er sich bewußt war, daß er selbst wie auch seine Tochter sich auf jede Weise bemühten, ihm den Aufenthalt so heimisch und behaglich wie nur möglich zu machen.

»Ich verstehe mich nicht auf den Menschen!« rief er aus, als das Frühstück beendet und der Kaplan auf sein Zimmer gegangen war. »Ich begreife nicht, worüber er nachsinnt. Tag für Tag sitzt er so schweigsam und teilnahmlos hier, als sei ihm ein großes Unglück widerfahren! . . . Kannst du verstehen, was der Grund sein mag, Ragnhild?«

»Ach,« entgegnete die Tochter kurz; sie war am Tisch sitzen geblieben, gegen den Stuhlrücken gelehnt, und sah mit erkünstelter Gleichgültigkeit zu den Fenstern hinaus. »Es wäre doch nicht so wunderbar, wenn er sich noch ein wenig fremd in seinem Beruf fühlte. Er ist ja noch jung . . . und vielleicht hat er auch gemerkt, daß seine Predigten keinen Beifall bei der Bevölkerung gefunden haben.«

»Nun, deswegen brauchte er sich doch wirklich keine Gewissensbisse zu machen,« erwiderte der Propst mit Selbstgefühl. »Und ich glaube auch nicht, daß es so etwas ist, was ihn bedrückt . . . dann wäre er sicher mit seinen Sorgen zu uns gekommen. Nein, ich fürchte, daß er hier umhergeht und nicht recht mit sich selbst ins klare kommen kann. Es liegt etwas Unentschlossenes über ihm. Ich glaube er fängt Grillen. Das liegt so in der Familie. Seine Mutter soll – nach dem, was mir Pastor Petersen vor einiger Zeit erzählte, – eine ziemlich überspannte Dame gewesen sein, die sogar in einem Anfall von Geistesumnachtung ihrem Leben auf unglückliche Weise ein Ende machte.«

Fräulein Ragnhild wandte ihr Gesicht dem Vater zu und sah ihn mit einem erschreckten Blick an.

»Was sagst du? . . . Seine Mutter?« . . .

Der Propst hielt mit seiner Wanderung durch das Zimmer inne und räusperte sich. Er hatte sich in seinem Eifer hinreißen lassen, von einer Sache zu reden, die er aus Schonung für den Kaplan und aus Rücksicht auf die Gemeinde zu verschweigen für richtig befunden hatte.

»Nun – ich meine das nicht so buchstäblich!« sagte er, indem er mit einem ausglättenden Lächeln und einer Handbewegung seinen Gang fortsetzte. »Die Leute reden ja auch so viel . . . Ich meine nur, daß unser lieber Herr Hansted eine allzu große Neigung hat, sich in sich selbst zu vertiefen, einen Mangel an Fähigkeit sich zu assimilieren . . . Ich glaube doch, getan zu haben, was in meiner Macht steht, damit er sich wohl unter uns fühlen möge. Und daß auch du das getan hast, weiß ich. Ich habe euch ja häufig zusammen im Garten spazieren gehen sehen. Ihr habt – soweit ich es beurteilen kann – so ziemlich die gleichen Interessen; deine Musik schätzt er sehr, das hat er mir selbst erzählt. Ich kann daher nicht begreifen, was ihn so zurückhaltend macht . . . denn ich kann mir doch nicht denken, daß du, liebe Ragnhild, daß du ihn auf irgendeine Weise verletzt haben solltest?«

Propst Tönnesen blieb wieder stehen – diesmal in einer Ecke des Zimmers – und betrachtete von hier aus seine Tochter mit einem vorsichtig forschenden Blick.

Sie tat, als habe sie seine Worte nicht gehört. Die Arme unter der Brust gekreuzt saß sie da und sah mit dem unzugänglichen Ausdruck vor sich hin, mit dem sie dem Vater gegenüber regelmäßig jede Zusammenstellung ihres und des Kaplans Namen abwies.

Propst Tönnesen zog seine buschigen Brauen in die Höhe. Hm! Sollte da doch am Ende? . . . Er fing schnell an, über andere Dinge zu reden und verließ bald darauf das Zimmer.

* * *

Kaplan Hansted war auf sein Zimmer gegangen, eine geräumige Mansardenstube, die still und einsam, von einem großen leeren Bodenraum umgeben, dalag, eine Welt für sich. Trotz der schrägen Dachwand und des spärlichen Lichts, das durch das einzige Fenster des Zimmers drang, sah es dort gemütlich aus. Da war ein Schreibtisch, ein Sofa, ein altmodisches Mahagonischreibpult, Borte voller Bücher, ein großer Lehnstuhl, kleine Teppiche auf dem Fußboden und ein Bett hinter einem Wandschirm. Die Luft da drinnen war frisch und würzig. Der Kaplan war nämlich ein Phänomen unter Theologen – er rauchte nicht: dahingegen war er ein eifriger Blumenzüchter; das Fenster stand voll von Topfpflanzen, und am Fenstergesims hinauf schlang sich eine Efeuranke mit lichtgrünen Blättern.

Über dem Sofa, zwischen zwei großen Bildern von Luther und Melanchthon, hing eine kleine Sammlung von Familienporträts. Hier sah man den Vater des Kaplans, einen großen, hageren, stattlich aussehenden Herrn, der diplomatisch zugeknöpft an einer Konsole lehnte, den Zylinder in der Hand und ein breites Ordensband im Knopfloch. Daneben hing ein kleines Daguerreotypbild seiner Mutter, umgeben von einem Kranz gelber Immortellen. Das Bild stammte aus Frau Hansteds Mädchenzeit. Es war so verblaßt von der Sonne, daß man gleichsam durch einen Nebel nur noch eben einen jugendlichen Kopf mit einer merkwürdig hohen Frisur und zwei großen hellen, weitgeöffneten Augen erkennen konnte. Außerdem waren da Bilder von dem Bruder des Kaplans, dem Gardeleutnant – einem schönen jungen Mann mit einem schneidigen muntern Gesicht – wie von der Schwester, der Generalkonsulin, einer kleinen, vogelfeinen Gestalt, fast noch ein Kind, mit nervös zwinkernden Augen und einem krankhaften Lächeln.

Und dort am Schreibtisch saß nun Emanuel, der älteste von Etatsrat Hansteds Kindern. Er saß, die Wange in die Hand gestützt, in einem braunen Tuchschlafrock, mit dem Lesen eines Briefes beschäftigt.

Der Brief war von seinem Vater. Er hatte ihn schon am vorhergehenden Tage erhalten, es aber hinausgeschoben, ihn zu lesen, um nicht in der Ausarbeitung seiner Predigt gestört zu werden. Es waren die gewöhnlichen, umständlichen Berichte von nichtssagenden Familienereignissen, von dem Bruder, der auf dem Hofball gewesen war, von dem Geburtstagsdiner des Etatsrats, von dem Baby der Schwester, das Zähne bekommen hatte usw. usw.

Der Schluß des Briefes lautete:

»Wie Du Dir denken kannst, mein lieber Sohn, freut es uns alle, zu hören, daß Du immer gesund bist und Dich dadraußen in Deiner Wüste, wie Dein Bruder stets scherzend Deinen entlegenen Aufenthaltsort nennt, noch immer wohlfühlst. Es ist ja ein schöner und erhabener Beruf, den Du Dir gewählt hast; und wenn ich auch noch immer nicht leugnen kann, daß ich Dich lieber eine Lebensstellung hätte wählen sehen, die mehr in Übereinstimmung mit unseren Familientraditionen stünde, und Dich namentlich nicht so weit von uns fortgeführt hätte, so wünschen ich und wir alle Dir doch aus ganzem Herzen Glück und Segen zu Deinem bedeutungsvollen Lebenswerk. Es ist natürlich nicht ganz leicht für uns, die wir stets ausschließlich im Verkehr mit Leuten unserer eigenen Bildungsklasse gelebt haben, vollauf die Möglichkeit eines solchen fruchtbringenden Einverständnisses zwischen Menschen von ungleichen Lebensbedingungen und verschiedenartiger Erziehung zu verstehen, für das Du in Deinen Briefen wiederholt das Wort ergreifst und das Du – nach Deinen Äußerungen zu urteilen – bestrebt bist, zwischen Dir und der Bevölkerung, unter der zu leben Du erwählt hast, zu schaffen. Ich leugne nicht, daß ein befriedigender geistiger Verkehr unter solchen Verhältnissen – natürlich außerhalb des eigentlichen religiösen Gebietes – für mich immer wie ein unaufgeklärtes Rätsel dagestanden hat. Aber vielleicht liegt das in meiner Unkenntnis der Verhältnisse, und ich kann nur wiederholen, daß alle unsere besten Wünsche Dich bei Deiner Arbeit begleiten.«

Emanuel las das letzte Stück langsam zweimal durch – und während des Lesens lagerte sich ein beständig tiefer werdender Schatten über sein Gesicht. Dann sank die Hand mit dem Brief langsam in seinen Schoß, und er blieb unbeweglich sitzen, die Augen starr auf den Boden gerichtet.

Plötzlich erhob er sich und begann händeringend im Zimmer auf und nieder zu wandern. Nein, nein! Er konnte nicht, er wollte nicht glauben, daß der Vater und die anderen recht hatten: – daß alles, was er so glücklich geträumt und gehofft hatte, nichts als leere Phantastereien waren! . . . Und doch! Und doch! . . . War es nicht derselbe Zweifel, der ihn jetzt selber quälte und peinigte? . . .

Er wußte, daß er versucht hatte, sich mit aller Kraft und ganzem Willen für seinen Beruf tüchtig zu machen. Die vielen dicht beschriebenen Bogen in seiner Schreibtischschublade konnten Zeugnis ablegen für den unermüdlichen Fleiß, die gewissenhafte Sorgfalt, mit der er Tag für Tag, Woche für Woche sich auf seine Predigten vorbereitet hatte – in der Hoffnung, daß es ihm doch schließlich gelingen möge, seine Zuhörer durch die Macht seines Wortes, seines Bekenntnisses zu fesseln. Aber vergebens! . . . Sobald er am Sonntag auf die Kanzel trat und die vielen fremden Augen von unten aus der Kirche auf sich gerichtet sah, war es, als gefriere ihm alle Wärme der Worte und der Überzeugung auf den Lippen. Voller Verzweiflung hörte er seine Sätze hohl und leer unter den hallenden Wölbungen klingen, während er fühlte, wie eine immer schwerer lastende Schläfrigkeit sich auf die ganze Versammlung herabsenkte. Es war, als tue sich zwischen ihm und der Gemeinde ein immer breiterer Schlund auf, über den seine Stimme nicht hinüberzugreifen vermochte – ein eisiger Abgrund, in den alle seine gen Himmel strebenden Worte eins nach dem andern wie erfrorene Vögel hinabsanken . . .

Er hatte mit seinem rastlosen Gang innegehalten und sich in die breite Fensternische gestellt, von wo aus er mit Tränen in den Augen über das Land hinausstarrte. Die Sonne fiel goldig auf seine magere Gestalt; und wie er in seinem braunen lose gegürteten Schlafrock dastand, die Schulter gegen die Mauerkante gestützt, den Kopf von der grünen Efeuranke des Fenstergesims umrahmt, erinnerte er an einen jungen Mönch, der aus seiner einsamen Klosterzelle auf die Welt hinausstarrt, die all sein Sehnen umschließt.

Er konnte von seinem Fenster aus fast das ganze Kirchspiel übersehen. Gerade unter ihm lag eine Ecke des Pfarrgartens, und darüber hinweg sah er auf ein paar von den großen mit Zement abgeputzten Gehöften von Vejlby und auf den steingefaßten Dorfteich. Von hier aus konnte er mehr als eine halbe Meile lang die breite Landstraße verfolgen, die sich über die hochgelegenen Felder schlängelte, bis sie weit im Süden zwischen drei großen, kahlen Erdwellen verschwand, hinter denen sich Skibberup so sorgfältig verbarg, daß auch nicht ein Schornstein über den Hügelkämmen zu erblicken war. Weiterhin ragte der Turm der einsam gelegenen Kirche auf, und an dem ganzen östlichen Horizont entlang sah man die blauende Fläche des Fjords und die grünen und weißen Abhänge drüben hinter dem jenseitigen Ufer.

Jeden Tag hatte er hier gestanden und hinausgestarrt, und er kannte schon jedes Haus, jeden Baum, jeden Hügel in der Landschaft. Träumerisch war sein Blick bald der Pflugschar des Bauern gefolgt, die den einen Tag im Regen, den andern Tag im Sonnenschein sich schwer über die nassen Äcker bewegte, bald den Booten, die mit weißen oder braunen Segeln zwischen den Küsten kreuzten, bald den schnellen aus der Stadt heimkehrenden Fuhrwerken der Skibberuper, wenn sie auf der gewundenen Landstraße dahinrollten, wo sie mit jeder Biegung vor seinen Augen kleiner und kleiner wurden, bis sie gleich winzigen Mäusen zwischen den drei in der Ferne gelegenen Maulwurfshügeln hineinschlüpften. Am Abend, wenn die letzte Sonnenfackel im Südwesten erloschen war, hatte er die Lichter, eins nach dem andern, in den Hütten anzünden sehen, gleich Sternen an einem Himmel, und in seiner Einsamkeit hatte er sich in das genügsame und sklavenhafte Leben der armen Bewohner hineingedichtet und davon geträumt, in brüderlichem Verkehr mit ihnen als ihr Freund und Helfer zu leben.

Er wußte jetzt, daß er sich geirrt hatte. Seine Augen waren ihm aufgegangen für den tiefen und unübersteigbaren Abgrund, der ihn von diesen Hüttenbewohnern der Erde trennte, die hier in ihren halb unterirdischen Wohnungen lebten und in dem schwarzen Erdboden gruben und wühlten – eine Art Gnomenvolk, deren Wesen ein Rätsel war, deren Sprache man kaum mehr verstand, deren Gedanken, Träume, Sorgen und Hoffnungen niemand kannte. Und würde das jemals anders werden? War es nicht, als habe die Menschheit völlig das Zauberwort vergessen, das die Hügel sich auf Feuersäulen heben hieß und das Erdvolk an des Tages Licht und Luft bringen konnte?

– – – Er wurde plötzlich durch ein munteres Vogelgezwitscher über seinem Kopf aus seinen Betrachtungen gerissen.

Er sah auf. Ein Star!

Er war überrascht. Den ganzen Tag war er so von sich selbst und seinen Gedanken in Anspruch genommen gewesen, daß er gar nicht bemerkt hatte, wie die Sonne endlich durch die kalten Nebel gebrochen war, die seit Wochen das Land eingehüllt hatten. Er sah sich um . . . und abermals flötete ein Star in seiner Nähe und noch einer und noch einer . . . der ganze Garten war voller Frühling.

Er lächelte wehmütig. Er mußte an die vielen Male denken, die er sich im Laufe des Winters nach dem Kommen des Frühlings gesehnt hatte – weil er einen wunderlichen Glauben gehabt, daß damit alles gut werden würde, daß mit dem Durchbruch des Frühlings in dem wintergebundenen Feld und Fjord auch der Quell der Liebe entfesselt werden würde, den er in seinem eigenen Herzen aufgestaut fühlte. – Und nun!

Er wandte sich wieder dem Zimmer zu, trat an den Schreibtisch, wo er den Brief des Vaters sorglich in einer der Schubladen verwahrte, strich sich darauf mit beiden Händen von der Stirn aufwärts durch das Haar, um alle bedrückenden Gedanken zu verscheuchen, nahm seinen Hut und einen seidenen Regenschirm, der neben der Tür stand und verließ die Stube.

* * *

Er ging die knarrende Bodentreppe hinab, über die Diele und durch eine der Pforten neben dem Hauptgebäude, um durch den Garten auf das freie Feld hinaus zu gelangen. Als er an dem ersten großen Rasenplatz vorüberkam, hörte er, daß ihn jemand rief. Es war Fräulein Ragnhilds Stimme. Er wurde ein wenig ungeduldig. Er wäre jetzt am liebsten allein gewesen. Aber er mußte sich umwenden und grüßen.

Fräulein Ragnhild kam ihm von oben von der Veranda entgegen. Sie trug ein hellgeblümtes Vormittagskleid von weichem, warmem Stoff mit großen Schulterpuffen und einer langen, spitz zulaufenden Taille. Als sie die Stufen der Veranda hinabstieg, sah man unter dem Rande des Kleiderrocks ein Paar spitzschnauzige Lackschuhe mit Spangen, über dem Rücken und dem oberen Teil der Arme lag ein blaßblauer Schal. Auf ihrem eichkätzchenroten krausen Haar saß ein riesenhafter Strohhut, im Nacken aufgeschlagen und mit einer Agraffe gehalten.

»Kann ich ein paar Worte mit Ihnen reden, ehe Sie gehen, Herr Hansted?« fragte sie ungezwungen. »Haben Sie etwas dagegen, mich einen Augenblick in die Kastanienallee hinab zu begleiten . . . ich wollte sehen, ob ich nicht ein paar Veilchen finden kann.«

Sie schritten nebeneinander dahin. Der Garten, der, ebenso wie das Pfarrhaus selbst, eine der Nachlassenschaften des »Millionenpfarrers« war, erinnerte mit seinen ausgedehnten Rasenflächen, seinen Bosketts, seinen großen Steinvasen, seinen langen Alleen und kunstfertig beschnittenen Ligustrumhecken mehr an den Park eines adligen Rittergutes, – und Propst Tönnesen setzte eine Ehre darein, ihn nach Kräften in seiner ehemaligen Herrlichkeit zu erhalten. Über einen tiefen Graben, der den Garten durchschnitt, war eine hölzerne Brücke in chinesischem Stil mit Drachenköpfen und Bambusdach gebaut, – und über diese Brücke gingen nun Fräulein Ragnhild und Emanuel.

»Nun,« sagte der letztere nach kurzem Schweigen, »darf ich mir die Frage erlauben, was Sie mir zu sagen wünschen, gnädiges Fräulein.«

Sie lachte ein wenig. »Sind Sie so neugierig?«

»Das nicht gerade. Aber – offen gestanden – ich bin in Anspruch genommen. Wie Sie sehen, bin ich in Reisekleidung, in Pilgrimstracht . . . Ich bin auf dem Wege nach meinem gelobten Lande!«

»Nach Ihrem gelobten Lande? Was meinen Sie damit?«

»Ach . . . ich meine eigentlich nichts damit,« sagte er ernsthaft und sah vor sich nieder. Sie gingen wieder ein paar Minuten schweigend weiter.

»Welch ein undankbarer Mensch Sie doch im Grunde sind!« sagte sie dann, mit einem Versuch, wieder einen muntern Ton anzuschlagen.

»Ich hätte wirklich Lust, Ihnen eine kleine Strafpredigt zu halten; kann denn nichts auf der Welt Ihrem Antlitz mehr ein Lächeln abringen? . . . Ich will Ihnen nur sagen, ich bin wirklich auf dem besten Wege, mich ein wenig beleidigt durch Sie zu fühlen, ich bin z. B. überzeugt, daß Sie gar nicht beachtet haben, wie ich heute den Frühstückstisch geschmückt hatte, einzig und allein, weil Sie neulich sagten, daß Sie mehr Wert darauf legten, einen Blumenstrauß auf einem Tisch zu sehen, als einen Rinderbraten. Sie wissen, daß ich für mein Teil absolut dem Rinderbraten den Vorzug gebe.«

Er lächelte zerstreut. »Ich fühle es sehr wohl, gnädiges Fräulein, – ich bin ein ganz unwürdiger Mensch. Schelten Sie mich nur . . . ich verdiene es gewiß. Es ist wohl so eine Art Kinderkrankheit, die ich aus dem Körper herausbringen muß. Sie wissen ja, was die allerneusten Propheten predigen. Wir tragen alle ein Erbe von mottenzerfressener Romantik mit uns herum, – sagen sie, und wahrscheinlich hat entweder mein Vater oder meine Mutter ein größeres Kapital davon besessen, als die meisten.«

»Ihre Mutter –?«

»Ja – aber sprechen wir von etwas anderem, mein gnädiges Fräulein. Sie sollten doch nicht vergessen, was Sie mir erzählen wollten.«

Sie waren in eine breite Kastanienallee gekommen, die den Abschluß des Gartens nach den Feldern zu bildete. Eine jubelnde Heerschar von metallglänzenden Staren schwärmte hier im Sonnenschein zwischen den Baumkronen herum, und von draußen her, aus dem freien Lande, strömte ein warmer Dampf herein, der nach Erde und frischen Keimen duftete. Zwischen zwei Baumstämmen stand eine sogenannte Naturbank. Davor blieb Fräulein Ragnhild stehen, indem sie sagte:

»Wollen wir uns nicht ein wenig setzen? . . . Hier scheint die Sonne so schön.«

Mit den Quasten ihres Schals fegte sie einige welke Blätter von dem Gittersitz der Bank und nahm in der einen Ecke Platz. Emanuel blieb vor ihr stehen, auf seinen Regenschirm gelehnt, und machte keine Miene, sich zu setzen.

Sie saß einen Augenblick vornüber gebeugt da, die Hände im Schoß vereint und betrachtete schweigend die Spitzen ihrer Schuhe, dann sagte sie, ohne den Kopf zu erheben:

»Sie sprachen von Ihrer Mutter . . . da fällt mir ein . . . habe ich es geträumt oder haben Sie es mir einmal erzählt, daß Sie noch sehr jung waren, als Ihre Mutter starb?«

»Ich?« sagte er und sah mit einem mißtrauischen Blick zu ihr nieder. »Ach, ich war fünfzehn, sechzehn Jahre alt . . . Aber warum fragen Sie danach?«

»Ach, ich weiß nicht, –«

»Haben Sie kürzlich mit jemandem von meiner Mutter gesprochen?«

»Ja, Vater und ich sprachen heute über . . . Vater hat, glaube ich, jemand getroffen, der seinerzeit Ihre Mutter gekannt hat . . .

Der Blick des Kaplans verfinsterte sich.

»Dann hat Ihr Vater vermutlich auch von dem . . . Ende meiner Mutter gesprochen?«

»Ja.« Eine tiefe Röte war in die Wangen des Kaplans gestiegen. Nach kurzem Schweigen sagte er – gedämpft, mit leidenschaftlich bewegter Stimme:

»Meine arme Mutter war ein Opfer ihrer Zeit, ihrer Familie, der Gesellschaft, der auch Sie und ich angehören, und die von Geburt an eine Zwangsjacke um uns alle legt, die denjenigen, denen es entweder an Mut oder an Kraft ermangelt, sie zu zerreißen, langsam das Leben nimmt.«

Sie sah ihn ein wenig überrascht an und sagte:

»Ja, wie meinen Sie das eigentlich –?«

»Ach, ich meine, daß, wenn wir wirklich ehrlich sein wollen, wir wohl einräumen müssen, daß wir uns alle herumschlagen mit einer mehr oder weniger schweren Last von Lebensmüdigkeit, Lebensüberdruß, Einsamkeitsgefühl oder wie wir nun diese moderne Krankheit nennen wollen, die die bitterste Frucht unserer Überkultur ist. Es gibt Menschen, die hinreichend Seelenkraft besitzen, um diese Last zu tragen, ohne ganz zu verkrüppeln; aber es sind darum nicht allemal die Geringsten, deren Herz darunter bricht. Sie werden sehen, wir fallen schließlich vielleicht alle um im Kampf . . . namentlich wir armen Menschenkarikaturen, die in dem Fieber der großen Städte gezeugt, zwischen Schornsteinen, Telegraphendrähten, Eisenbahnen und Straßenbahnen geboren sind . . . wie viele Generationen, meinen Sie, werden wir noch aushalten? – – – Und das ist es ja gerade, was so verzweifelnd ist!« fuhr er mit einem plötzlichen Übergang in der Stimme fort, indem er mit Gewalt in die alten nagenden Gedanken zurückgeschleudert wurde. »Können Sie denn nicht begreifen, gnädiges Fräulein, wie völlig umgekehrte Welt es ist, daß ich berufen bin, andere das Leben und Sterben zu lehren – ich, der ich es gerade selbst so sehr nötig habe, zu lernen, wie man das Leben richtig lebt – und zwar von denen, zu deren Lehrer ich eingesetzt bin? Oder ist es denn nicht wahr, daß wir alle von ganzem Herzen den armen Häusler beneiden müssen, der fröhlich und ohne zu klagen wochenlang Sklavenarbeit verrichtet, sein trocknes Brot ißt und auf altem Stroh süß schläft. Gibt es eine größere Lebensweisheit? . . . Aber wie töricht ist es da, daß ich, die arme, verderbte Kulturmißgeburt – daß ich ein Führer der Gesunden, ein Beispiel für die Unbesudelten sein will! Ich versichere Sie, Fräulein Ragnhild . . . ich überschreite niemals die Schwelle der elendesten, ärmlichsten Hütte, ohne daß mir das Herz vor heiliger Andacht klopft. Ich habe ein Gefühl, daß ich meine Schuhe ausziehen müßte – daß ich ein Heiligtum betrete, wo auf alle Fälle einige von den menschlichen Gefühlen noch in ihrer schönen, edlen Ursprünglichkeit bewahrt sind, so wie sie der liebe Gott am Morgen der Zeiten in die Brust der Menschen niederlegte – – –«

Er war in seine gewöhnliche Lobpreisung des Lebens der Landbewohner hineingeraten, worüber Fräulein Ragnhild und er im Laufe des Winters so manch eine warme Debatte gehabt hatten. Fräulein Ragnhild gestand nämlich ganz offen, daß sie das Leben auf dem Lande verabscheue, und verhehlte auch nicht, daß sie Bauern als Wesen betrachtete, die einer niedrigeren Menschenkaste angehörten, – als eine Art bald kriechender, bald anmaßender, stets übelriechender Halbmenschen, mit denen sie nicht in nähere Berührung zu kommen wünschte, als wie dies allerhöchst notwendig war. Auch jetzt bekämpfte sie aufs eifrigste Emanuels Anschauungen. Wenn viele von diesen Bauern – sagte sie – sich so wohl in ihrem Schmutz und ihrem verfaulten Stroh fühlten und kaum ein Verlangen nach einem höheren Glück hatten, so bewies dies ja doch nur, wie wenig sie sich in Wirklichkeit immer noch von den Tieren, z. B. von den Schweinen, unterschieden, bei denen doch sicher auch alle Gefühle des Herzens in unverfälschter Schweinerei erhalten seien.

»Aber es hat wohl keinen Zweck, daß wir darüber reden«, schloß sie lebhaft. »Sie sind nun einmal rettungslos von einem tollen Erdarbeiter gebissen – und es ist ganz töricht von mir, den Versuch zu machen, Sie überzeugen zu wollen. Diese Arbeit wird schon einmal die liebe Wirklichkeit verrichten! Warten Sie es nur ab!«

Sie lachte – und wie sie so dasaß in ihrer hellen, nach der neusten Mode genähten Toilette, so beherrscht in jeder Linie des schlanken Körpers, von der Spitze des kleinen vorgestreckten Lackschuhs bis hinauf zu dem riesenmäßigen Florentinerhut, der über die Hälfte ihres bleichen Antlitzes einen geprickelten Schatten, ähnlich einem Spitzenschleier, warf – da konnte man wirklich einen Augenblick in Zweifel geraten, ob sie auch derselben Menschenrasse angehörte, wie die schwerfällige, ungeschickte, in der Erde wühlende, ärmlich gekleidete Bevölkerung, in deren Mitte sie lebte. Emanuel, der sich von ihren Worten beleidigt gefühlt hatte, machte Miene, zu gehen. Zuvor wandte er sich jedoch noch einmal nach ihr um und sagte:

»Ich möchte doch gern wissen, was Sie mir vorhin mitteilen wollten . . . Sie vergessen wohl, daß Sie es mir noch nicht gesagt haben.«

Fräulein Ragnhild errötete ein wenig. Sie hatte nämlich keinen anderen Grund gehabt, ihn zurückzurufen, als das Bedürfnis, ein wenig zu plaudern und unterhalten zu werden. Da fiel es ihr denn ein, zu sagen:

»Ja, sehen Sie, Herr Hansted . . . wie Sie vielleicht wissen, haben wir heute eine kleine Geselligkeit hier im Pfarrhause.«

»Freilich, ich glaube wirklich, daß ich ein Vögelchen davon habe singen hören.«

»Nun ja, – machen Sie sich nur lustig! Dergleichen gestaltet sich hier auf dem Lande, wo das ganze Jahr hindurch nichts Interessanteres vorkommt, immer zu einem Ereignis – was übrigens gerade das beweist, was ich vorhin über die Sache gesagt habe. Aber genug davon! . . . Wie Sie sich wohl schon gedacht haben, werde ich die liebenswürdigste Wirtin für unsere Gäste sein. Diese sind – soweit ich weiß – die Herren Peter Nielsen und Niles Petersen und Peter Nielsen Petersen und Niels Peter Nielsen . . . Ja, jetzt dürfen Sie wirklich die Stirn nicht so entsetzt runzeln. Ich habe ja nicht das geringste gegen die lieben Menschen. Nur kann ich mich nicht damit aussöhnen, daß sie auf meine Teppiche spucken, – ja, denn das tat das letztemal einer. Vielleicht ist so etwas eine Äußerung der Gefühle edler Unmittelbarkeit, wovon Sie vorhin so schön redeten; trotzdem aber entbehre ich das gern. Und nun wollte ich Sie also darum bitten, daß auch Sie sich unseren Gästen gegenüber heute abend recht liebenswürdig zeigen möchten. Und sollte es auf irgendeine Weise geschehen, daß ich im Laufe des Abends verhindert würde – z. B. indem mich meine argen Kopfschmerzen befielen – so haben Sie wohl die Güte, mein galanter Stellvertreter bei den Damen zu sein.«

»Gnädiges Fräulein können – wie Sie wissen – ganz über mich befehlen« – entgegnete Emanuel, indem er mit ironischer Höflichkeit den Kopf entblößte und sich verneigte. »Kann ich dem gnädigen Fräulein sonst irgendwie zu Diensten sein?«

»Ja – Sie werden vielleicht die große Güte haben, ausnahmsweise heute einmal nicht allzu unpräzise zu sein. Ich glaube, daß Vater bei dieser Gelegenheit ungewöhnlich ungeduldig werden würde, falls wir gezwungen wären, auf Sie zu warten. Kommen Sie daher lieber eine halbe Stunde vor der Zeit – dann können Sie mir obendrein ein wenig bei dem Arrangement helfen.«

»Ich werde mein Bestes tun! . . . Aber dann müssen Sie wirklich auch gestatten, daß ich Sie jetzt verlasse. Da sehe ich außerdem Ihren Herrn Vater mit eiligen Schritten kommen. Sie können mir glauben, es ist etwas Ernstliches mit den Salaten passiert! . . . Ich habe die Ehre, mich zu empfehlen!«

Unten am Ende der Allee war Propst Tönnesen wirklich sichtbar geworden; er ging, die Hände auf dem Rücken, offenbar beschäftigt, eine Festrede zu memorieren. Sobald er aber das junge Paar bei der Bank erblickte, machte er schleunigst kehrt und schlug den anderen Weg durch den Garten ein.

* * *

Fräulein Ragnhild blieb noch eine Weile auf der Bank sitzen und sah gedankenvoll zur Seite. Dann erhob sie sich und ging langsam auf das Pfarrhaus zu, wo sie von der zur Feier des Tages völlig verwirrten alten Magd empfangen wurde, die ganz außer sich war über ihre lange Abwesenheit und Hunderte von Fragen in bezug auf die Bereitung der Speisen und das Decken des Tisches zu stellen hatte. Fräulein Ragnhild erteilte ihre Anweisungen in kurzem, befehlerischem Ton und ging dann in das Wohnzimmer, wo sie sich mit einem Buch an das Fenster setzte, mit einem englischen Roman, den sie aufs Geratewohl aus dem Bücherschrank nahm. Sie war verstimmt. Als sie eine Viertelstunde dagesessen hatte, ohne zu wissen, was sie las, sah sie nach der Uhr über dem Eckpiedestal. Es war drei. Dann legte sie das Buch hin und erhob sich, kramte ein wenig im Zimmer herum, stand einen Augenblick da und betrachtete den Papagei, der in seinem Bauer eingeschlafen war, und setzte sich schließlich an den Flügel, wo sie anfing, eins von Chopins Präludien zu spielen.

Dann sah sie wieder nach der Uhr. Zehn Minuten nach drei. Sie schlug wieder ein paar Akkorde an, brach aber plötzlich ab, erhob sich, nahm eine Zeitung von dem schweren, runden Mahagonitisch, der mitten im Zimmer stand, und setzte sich darauf abermals auf den Stuhl am Fenster. Die Zeitung auf dem Schoße ausgebreitet, das Kinn in die schmale, weiße Hand gestützt, versank sie tiefer und tiefer in Gedanken, während der Blick rastlos über den großen, leeren Hofplatz und die öden Strohdächer der Stallgebäude hin und her glitt. Endlich schlug die Uhr halb vier. Da erhob sie sich und ging in ihr Zimmer, um sich umzukleiden.

Die fremden Gäste wurden um 6 Uhr erwartet, und da die Mittagsmahlzeit heute der Gesellschaft wegen überschlagen werden sollte, war reichlich Zeit zu einer sorgfältigen Toilette. Aber selbst unter gewöhnlichen Verhältnissen war das tägliche Umkleiden für Fräulein Ragnhild eines der Hauptereignisse des Tages. In ihrem – nach ländlichen Verhältnissen – üppig ausgestatteten Schlafgemach, in dessen Luft man stets den Duft einer feinen Veilchenessenz spürte, verbrachte sie regelmäßig ihre zwei Stunden vor Tische. Es war ihr eine Unterhaltung, vor ihrem lebensgroßen Spiegel zu stehen und ihre Person während des Ent- und Ankleidens zu betrachten, den Anblick ihres Nackens, ihrer entblößten Schulter, ihres aufgelösten Haares zu bewundern, eine neue Frisur, eine neue Farbenzusammenstellung ihrer Toilette auszuprobieren, – nicht, weil das ihre Eitelkeit befriedigt hätte, noch weniger aus leerer Sucht, zu glänzen – für wen würde es sich auch wohl verlohnen, in dieser Einöde zu glänzen? – aber nach schwachen Kräften tröstete sie sich in diesen Stunden für die Entbehrung des Lebens und der Welt, wovon sie ausgeschlossen war.

Was sollte sie auch sonst wohl anfangen? Jeden Morgen trieb sie ihre Musik – und das waren ihre glücklichsten Augenblicke. Aber mehr als drei Stunden am Klavier zuzubringen, hatte ihr der Arzt auf das bestimmteste untersagt. Zwei Stunden beschäftigte sie sich täglich mit Lektüre – am liebsten mit fremden Sprachen – und zwei Stunden konnte sie zur Not totschlagen, indem sie sich im Haushalt betätigte, obwohl ihre persönliche Hilfe dort ganz überflüssig war. Aber noch immer hatte der Tag acht lange leere Stunden – was sollte sie damit machen? Spazierengehen? Ach, in den acht Wintermonaten lagen Felder und Wege als unpassierbarer Morast da oder der Schnee türmte sich als undurchdringliche Mauer um das Pfarrhaus auf. Selbst im Sommer versetzte der Anblick der großen stummen Äcker, der kahlen einförmigen Steindämme, des unveränderlich entweder blauenden oder grauenden Fjords sie in eine gedrückte Stimmung. Am schlimmsten war es jedoch, durch das Dorf zu gehen, wo sie im voraus wußte, was für Menschen sie begegnen würde; wo sie gezwungen war, die vertraulichen Grüße der Bauernburschen zu erwidern und die einfältigen Redensarten der halb angekleideten Häuslerfrauen über Wetter und Ernteaussichten und Nachtfröste zu beantworten. Im allgemeinen beschränkte sie daher ihre Wanderungen auf einen einsamen Pfad, der vom Pfarrgarten nach den Strandhügeln hinausführte. Hier machte sie sich in der Regel um Sonnenuntergang eine tüchtige kleine Bewegung – bis das Geräusch einer Schar heimkehrender Arbeiter oder ein schwüler Lufthauch von einem gedüngten Acker sie heimjagte. Eigentlich hatte sie nur einen einzigen Freund, mit dem sie verkehrte, nämlich »Methusalem« – den Papagei. Nun, sie konnte sich eine trübseligere Gesellschaft vorstellen. Sie hatte niemals einsehen können, daß das menschliche Plappern so eines kleinen Tieres nicht gerade so unterhaltend war, wie das tierische Brummen und Grunzen, woraus in ihren Ohren eines Bauern Rede hauptsächlich bestand. Und dann war da doch ein wenig Temperament in so einem kleinen Kerl; er konnte schelmisch sein, niedergedrückt, ausgelassen, kokett, aufbrausend – alles in einer und derselben Stunde, gleichsam mit der Nervosität der Intelligenz.

Fünf Jahre lang hatte sie nun hier in gleicher Einsamkeit gelebt. Sie war in dem jütischen Provinzstädtchen geboren, wo ihr Vater seinerzeit Adjunkt gewesen, und von ihrem dreizehnten Jahr an, als sie ihre Mutter verlor, bis zur Konfirmation, hatte sie sich bei ein paar Tanten in Kopenhagen aufgehalten, um ihre Ausbildung in einem höheren Mädcheninstitut zu vollenden. Erst mit ihrem vollendeten sechzehnten Jahr hatte sie festen Aufenthalt im Pfarrhause genommen.

Das junge Herz schwellend vor glücklicher Erwartung, war sie damals hier herausgekommen. Aus den Romanen und vom Theater wußte sie, daß die dänische Frau in den jungen Töchtern der ländlichen Pfarrhäuser ihre holdesten Blüten gezeitigt hatte, auf deren Besitz das zärtliche Sehnen aller edlen jungen Männer gerichtet war. Sie entsann sich noch heute, wie sie damals zur Sommerzeit ganze Tage draußen im Garten zubringen konnte, wo sie – geschmückt mit einer frischen Moosrose am Busen – sich bald hinsetzte, um im Schatten eines Baumes zu träumen, bald auf den nach den Feldern zu gelegenen Damm hinaufstieg, und, die Augen mit den Armen beschattend, auf die sonnenflimmernde Landschaft hinausstarrte – als könne sie jeden Tag allen Ernstes gewärtig sein, daß zwei zu Fuße reisende Studenten am Horizont auftauchen würden. Sie stellte sich lebhaft vor, wie sie beide aussahen; wie sie – bestaubt und sonnenverbrannt – neugierig in die Gartenpforte lugen würden, und wie der Vater im selben Augenblick auf die Veranda heraustreten und sie einladen würde; wie sie dann zu Anfang rot und verlegen, später aber munter und natürlich sein und schließlich draußen im Mondschein im Garten Bellmannsche Lieder singen würden; wie endlich der eine – nicht der amüsante und lustige, sondern der mit dem tiefen, gedankenreichen Blick – ihr beim Abschied die Hand drücken und einige verwirrte Worte stammeln würde, daß sie ihn nicht vergessen solle, und wie er im Jahre darauf als Kandidat mit bestem Examen zurückkehren und in bewegten Worten bei dem Vater um ihre Hand anhalten würde.

Aber es kamen niemals Touristen in diese waldlose, entlegene Gegend des Landes, und Sommer für Sommer verging, ohne daß sich die geringste Aussicht auf irgendein Märchen zeigte.

Ragnhild Tönnesen lächelte mitleidig, wenn sie jetzt an diese Schwärmerei ihrer sechzehn Jahre zurückdachte. Sie war seit jener Zeit häufig durch Anträge von den bierdicken Gutsbesitzersöhnen der Gegend belästigt worden, die gar nicht verstehen konnten, daß sie ihr Angebot nicht mit Kußhand annahm. Im übrigen aber waren die Jahre still und einförmig an der Seite des Vaters hingeglitten, ohne äußere Erlebnisse von irgendwelcher Bedeutung. Wenn sie auf ihr Leben zurücksah, begriff sie eigentlich nicht, daß sie wirklich nicht älter als 21 Jahre war, daß sie sich also gerade in ihrer »Blütezeit« befand. Es gab im Grunde nichts in der Welt mehr, was sie interessierte – außer ihrer Musik. Selbst der alljährliche Frühlingsbesuch in Kopenhagen war ihr nicht länger ein wirkliches Erlebnis. Sie war den Verhältnissen in der Hauptstadt allmählich fremd geworden, ihre alten Freundinnen und Bekannten waren zerstreut, ihre Tanten waren gestorben . . . und dann war es auch, als wenn hinterher das Leben hier zu Hause doppelt leer werde und die Natur um sie her doppelt unheimlich in ihrer stummen, versteinerten Leblosigkeit.

Daher war es ihr auch gar nicht angenehm gewesen, als der Vater sich seinerzeit entschloß, einen Kaplan zu nehmen. Sie wünschte nicht, in dem Nachtwandlerdasein gestört zu werden, in dem sie allmählich zur Ruhe gekommen war. Als sie obendrein merkte, daß die Leute sie, noch vor der Ankunft des Kaplans, ohne weiteres mit ihm zusammenbrachten, ward ihre Gesinnung ihm gegenüber von vornherein nicht milder. Allmählich aber, als sie sah, daß der neue Hausgenosse nur den Wunsch hegte, in derselben ungestörten Zurückgezogenheit zu leben, wie sie, hatte sie sich mit seiner Anwesenheit ausgesöhnt. Trotz seiner vielen Sonderlichkeiten fing er sogar bald an, sie zu interessieren. Es amüsierte sie, mit ihm zu plaudern, sich mit ihm zu zanken, und da gleichzeitig Emanuel ein immer größeres Bedürfnis empfand, jemanden zu haben, dem gegenüber er sich aussprechen, dem er sich anvertrauen konnte, so entwickelte sich nach und nach und fast, ohne daß sie selbst es merkten, jenes ungezwungene, halbkameradschaftliche Verhältnis, das Propst Tönnesens Aufmerksamkeit und Nachdenken erregt hatte.

Wenn indessen der Propst – und auch andere außer ihm – auf dies Verhältnis Zukunftspläne für das junge Paar aufbauten, so beruhte dies auf einem Mißverständnis. Freilich war Ragnhild keineswegs eine so kühle Natur, wie es ihr Aussehen und ihr Wesen vermuten ließ; sie hatte im Gegenteil ihres Vaters leichterregte Leidenschaftlichkeit und sein heißes Blut geerbt. Aber gerade deswegen war ihr der Kaplan zu ätherisch. Sie fühlte sich ihm außerdem zu überlegen, und es ärgerte sie immer, wenn sie – so wie an diesem Vormittag – von Langweile verleitet zu viel von ihrer Würde ihm gegenüber abgelegt hatte. Was Emanuel betraf, so gingen seine Zukunftsträume so hoch über dem Kopf der selbstbewußten jungen Dame hinweg, daß sie nie auch nur für einen Augenblick darin existierte.

* * *

Emanuel war durch eine Pforte am äußersten Ende des Pfarrgartens hinausgegangen, von wo man auf das freie Feld gelangte. Er befand sich hier auf dem höchsten Punkt der Gegend, dem sogenannten »Pfarrhügel«, von dessen Gipfel man meilenweit über das Land hinaussehen konnte. Überall lagen die lichtgrünen Roggenfelder und glitzerten in der Sonne zwischen den dunklen Brachäckern; über Sümpfen und Moorland wogten leichte, blaue Nebel; Gräben und Mergelgruben dampften – über dem ganzen Lande lag eine so fruchtbarfeuchte, so lenzfrische Luft voll Sonne und verheißendem Vogelgezwitscher, als könne der Sommer jeden beliebigen Tag seinen festlichen Einzug halten.

Emanuel schritt einen Steig entlang, der von dem Pfarrhof über eine Reihe öder Felder nach dem Fjord zu führte. Es war gerade derselbe Steig, auf dem Fräulein Ragnhild ihre kleine, hastige Sonnenuntergangspromenade zu machen pflegte. Doch daran dachte er nicht, auch war das nicht der Grund, weshalb dieser Steig allmählich auch sein Lieblingsspaziergang geworden war. Wenn sie beide eine Vorliebe dafür gefaßt hatten, so kam es, weil sie hier am ungestörtesten sein konnten. In ihrer Einsamkeit suchten sie unwillkürlich noch einsamere Stätten, und auf diesen entlegenen Feldern sah man nur ab und zu eine kleine Hütte und einen einsamen Bauernburschen, der hier ging und pflügte.

Jeden Tag im Laufe des Winters war Emanuel hier gewandert in seinem langen Rock und mit seinem gewöhnlichen Begleiter, dem schwarzen, seidenen Regenschirm, der ihm allmählich unentbehrlich geworden war, fast wie sein treuer Freund. Oft war er halbe Tage zwischen den Hügeln und an dem öden Strand umhergeschweift ohne Zweck und Ziel; und in diesem Zusammenleben mit der Natur hatte er mehr und mehr einen Ersatz für die Entbehrung menschlichen Verkehrs gefunden. Er hatte sich früher nie gedacht, daß in dem Anblick der schwerfälligen Wanderung eines wintergrauen Wolkenhimmels über die Erde etwas so Fesselndes liegen, daß man so hingerissen dem wilden Schrei der Krähen lauschen könne, wenn sie um Sonnenuntergang scharenweise über die Felder heimwärtszogen. Und die erste Lerche! Nie würde er den Augenblick vergessen, als er mitten in dem mächtigen Schweigen der unbestellten Felder plötzlich die kleine Himmelsglocke sommerlich über seinem Haupte läuten hörte, während noch alles rings um ihn her im Wintertod erstarrt lag.

Er ging täglich hinab an den Strand, wo er sich einige Zeit aufzuhalten pflegte, um die Meeresfrische einzuatmen und die Möwen zu beobachten, die stumm und unruhig einen Punkt in der Luft umkreisten, als verschwiegen sie ein wichtiges Geheimnis. Heute aber war der Strand leer – die Wärme hatte die Vogelscharen nach der Fjordmündung hinausgetrieben – und so setzte er denn seine Wanderung längs der Küste fort und genoß den Anblick der großen Fläche des Fjords, in dem die gegenüberliegenden Fischerdörfer und mit Strauchwerk bewachsenen Abhänge sich prachtvoll spiegelten. Schließlich stieg er auf eine Anhöhe ganz im Süden, von wo aus er wieder einen weiten Blick über die Gegend hatte. Gerade unter ihm lag hier Skibberup zwischen seinen drei nackten Erdhügeln.

Er fühlte sich immer eigentümlich angezogen von diesem Dorf, das ihm mit seinen Haufen von kleinen Hütten, seinem weitverzweigten Dorfteich und seinen vielen kleinen Wiesen und sonderbaren engen Gassen und Schlupfwinkeln weit freundlicher erschien, als die Gruppen neuer, regelrechter Bauernhöfe von Vejlby, die er tagtäglich vor Augen hatte. Er hatte sich ganz verliebt in diesen kleinen romantischen Fleck, der hier gleich einer fruchtbaren Oase zwischen den unbewachsenen Hügeln lag; und es war ihm daher ein doppelter Kummer, daß gerade in diesem Dorf die kirchenfeindliche Bewegung in der Gemeinde ihren Hauptsitz haben mußte. Er fühlte gleichsam jedesmal einen Stich durch das Herz, wenn sein Blick ein bestimmtes, baufälliges Haus in der Mitte des Dorfes streifte, über dessen Strohdach oft eine große Dannebrogflagge wehte. Er wußte, daß hier der Versammlungssaal war, von wo aus der berüchtigte Weber Hansen seinen heftigen Kampf gegen Propst Tönnesen und – in letzter Zeit – gegen seine eigene Verkündigung führte.

Lieber weilte sein Blick an einem Häuschen am westlichen Ende des Dorfes mit gelbgetünchten Wänden und einem mit Reisig umzäunten Garten. Es war die Halbhufe, wohin er an jenem Winterabend im Schlitten geholt worden war, um der kranken Tochter des Besitzers das Abendmahl zu reichen. Er hatte seither oft an den Abend gedacht und an die fremden Menschen, unter denen er auf so eigentümliche Weise seine priesterliche Tätigkeit eingeweiht hatte. Wiederholt war auch der Wunsch in ihm aufgestiegen, seinen Besuch bei ihnen zu wiederholen und sich nach dem Befinden des jungen Mädchens zu erkundigen, aber er hatte sich noch nicht überwinden können, eine persönliche Annäherung mit diesem Teil der Bevölkerung zu versuchen, nachdem sie – fast unmittelbar nach seiner ersten Predigt – so unzweideutig eine unfreundliche, ja feindliche Gesinnung gegen ihn an den Tag gelegt hatte.

Aber heute war es, als ob die Sonne und die Lenzluft ihm neuen Mut einflößten. Er sagte sich selbst, er könne nicht fortfahren, hier auf diese Weise weiterzuleben; es müsse notwendigerweise eine Entscheidung getroffen werden. Er müsse sehen, sich über seine Stellung klar zu werden, und deswegen beschloß er, einen letzten ernsten Versuch zu machen, den Widerstand zu brechen, der sich ihm von hier aus entgegenstellte, und sich durch Liebe das Verständnis dieser Menschen zu erkämpfen und dadurch den Weg zu ihrem Herzen zu finden.

* * *

Es war das erstemal, daß Emanuel sich ohne Talar in Skibberup zeigte, und sein Erscheinen erregte daher überall im Dorfe große Aufmerksamkeit. Die Frühlingsluft und die Sonntagsfreiheit hatte die Leute aus den Häusern gelockt; selbst alte Krüppel waren aus den Ofenecken hervorgekrochen und saßen auf den Türfliesen und sonnten sich, während die Häusler und ihre Frauen mit dem Umgraben der kleinen Gartenflecke an den Giebelwänden beschäftigt waren.

Aber nicht viele, weder von den Männern, noch von den Frauen, hatten einen Gruß für den jungen Geistlichen übrig, obwohl sie alle von ihrer Arbeit aufsahen und ihm mit den Augen durch die Straße folgten. In der Tür eines niedrigen Hauses stand ein Mann in blaugestreiften Hemdsärmeln und mit einem Kind auf dem Arm. Es war der große, bärtige Schneeschaufler, der Emanuel an jenem Winterabend auf dem Wege zu dem kranken Mädchen eine kleine herzliche Willkommsrede gehalten hatte. Jetzt lüftete der Mann den Hut nur ein klein wenig, und als das Kind im selben Augenblick zu weinen anfing, sagte er lachend und so laut, daß Emanuel nicht umhin konnte, es zu hören:

»Man nich bange werden, mein Dirn! . . . Das is ja man bloß uns jung Hochehrwürden!«

Emanuel, der auf seiner Wanderung durch das Dorf beständig seine Schritte beschleunigt hatte, atmete nicht eher frei auf, als bis er Anders Jörgens' Halbhufe erreichte und in den Torweg hineinkam, wo die Laterne noch unter dem Deckenbalken hing und sich langsam an ihrer Schnur drehte.

Auf dem Hof blieb er stehen und sah sich um, aber da war kein Mensch zu sehen. So ging er denn nach dem niedrigen Wohnhaus hinauf, fand den Weg nach dem Vorzimmer und klopfte hier an die Türen rechts und links. Niemand antwortete. Nachdem er sich einen Augenblick besonnen hatte, öffnete er selbst und trat in die niedrige Wohnstube, deren eigentümliche, jahrhundertalte Ausstattung schon damals seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Die Stube war leer. Auch aus den Nebenräumen vernahm man keinen Laut außer dem schweren Perpendikelschlag der Uhr im Zimmer nebenan, wo das junge Madchen krank gelegen hatte. Er fing an, unschlüssig zu werden. Er klopfte an verschiedene Türen, die in den inneren Teil der Wohnung führten. Aber nirgends erhielt er eine Antwort. Das Haus war wie verlassen.

Einen Augenblick blieb er mitten in der Stube stehen und ließ den Blick umherschweifen. Er erkannte den schweren Eichentisch und die Bank unter den kleinen, vielscheibigen Fenstern wieder, auch die grüngemalten Panelierungen der Wände, den viereckigen Ofen mit den dünnen geschnörkelten Beinen, der von außen geheizt wurde, den dunklen sandbestreuten Lehmfußboden, den Spinnrocken und den blaugestreiften Alkovenvorhang in der einen Ecke der Stube. Auf einem Bort oben unter der Decke stand eine Reihe sonnenblanker Zinnteller und an der Wand über einem alten Armstuhl am Ofen hingen als Schmuck ein Kranz aus Ähren – ein »Maibusch« und zwei eingerahmte Zeichentücher mit der Jahreszahl 1798. Alles verriet einen peinlichen Sinn für Ordnung und Reinlichkeit. Über der ganzen sonnenerfüllten Bauernstube lag eine treuherzige, sonntägliche festliche Traulichkeit, die ihn ganz bezauberte. Unwillkürlich verglich er diese stille Schlichtheit mit dem unruhigen Luxus seines eigenen Heims, mit der bunten Ausstattung der modernen kleinstädtischen Wohnungen, mit ihren orientalischen Teppichen und Portieren und Sammetmöbeln, Gemälden und leichtfertigen Pariser Nippes –, und er dachte bei sich: »Wie gedankenlos doch die Menschen mit ihrem eigenen Glück umgehen! Wie leicht sie sich das Schlechte aneignen; wie schwer sie das Edle und Schöne bewahren!«

An dem Pfeiler zwischen den Fenstern entdeckte er ein Bild, das aus einer Sammlung von bekannten Männern in einfachem Holzschnitt bestand. Da waren Tscherning, Grundtvig, Monrad und noch ein paar Männer, die er nicht kannte. Den mittleren Teil bildete ein größeres Gruppenbild, das Friedrich den Siebenten in dem Augenblick darstellte, als er von seinen Ministern umgeben, das Grundgesetz unterschreibt. Emanuel entsann sich, dasselbe Bild in dem Zimmer seiner verstorbenen Mutter gesehen zu haben –, und es machte einen sonderbaren Eindruck auf ihn, ihm nach Verlauf so vieler Jahre in dieser Umgebung wieder zu begegnen.

Plötzlich hörte er Schritte draußen auf dem Hofe. Aus einer kleinen Pforte zwischen den Stallgebäuden kam ein junges Mädchen mit einer Milchtracht über den Schultern, gefolgt von dem weißhaarigen Burschen, der an jenem Winterabend sein Kutscher auf der Schlittenfahrt hierher gewesen war. Das junge Mädchen war im Sonntagsstaat und trug ein kirschrotes Kleid mit schwarzem geschnörkelten Schnurbesatz auf Brust und Armen. Den Kleiderrock hatte sie vorne in den Gürtel geheftet und um den Kopf hatte sie ein helles Tuch gebunden, das stramm unter dem Kinn zusammengeknöpft war und daher ihrem rundlichen Gesicht ein doppelt frisches und volles Aussehen verlieh. Rund um den einen Milcheimer krümmte sich eine weißsockige Katze, deren unruhige Aufmerksamkeit gleichmäßig geteilt war zwischen dem jungen Mädchen und zwei kleinen Kätzchen, die der Bursche auf dem Arm trug. Ungefähr in der Mitte des Hofes sprang sie plötzlich mit einem Satz nach einem ausgehöhlten Stein vor einer leeren Hundehütte, wo sie offenbar gewohnt war, ihre Portion Milch zuerteilt zu erhalten. Als aber das Mädchen gedankenvoll ihren Weg fortsetzte, ohne hieran zu denken, sprang das Tier wieder zu ihr hin und fing an, mit der Pfote an dem Rande ihres Rockes zu kratzen. Da kehrte sie um und goß eine reichliche Portion der noch dampfenden Milch in den ausgehöhlten Stein. Nun aber begann das Martyrium der Katze allen Ernstes. Statt ihr die Kätzchen auszuliefern, nahm der Junge sie in seine Hände und hob sie unter Gelächter hoch über seinem Kopf empor, während er sich mit dem Fuße gegen die rasende Mutter zu wehren suchte, die bald an seinem Bein zu entern suchte, bald sich mit unglücklicher Miene dem jungen Mädchen zuwandte, als sei sie gewohnt, dort Schutz zu finden. Das Mädchen bat für das arme Tier; der Junge wollte aber seine Beute nicht loslassen und fuhr fort, sie auf dem Hofe herumzutragen, die miauende Katze auf seinen Fersen.

Drinnen hinter dem Wohnstubenfenster hatte Emanuel regungslos gestanden und diese Szene beobachtet. Sein Blick ruhte namentlich auf dem gedankenvollen jungen Mädchen, in dem er augenblicklich die Tochter des Hauses wiedererkannte. Er hatte sie sich ein wenig größer und stattlicher vorgestellt, war aber auf der anderen Seite ganz angetan von dem tiefen, fast düstern Ernst, der ihrer kleinen gedrungenen Gestalt das Gepräge verlieh. »Sie erinnert an die Natur hier,« sagte er zu sich selbst und konnte sich nur mit Mühe von seinem Beschauen losreißen.

Doch als der Junge mit seinem Spiel fortfuhr, hielt er es für das richtigste, nicht länger mit dem Kundgeben seiner Gegenwart zu zögern. Er ging durch die Tür zurück, durch die er hereingekommen war und trat auf die Steinfliesen vor der Diele heraus.

Als die beiden Geschwister seiner ansichtig wurden, entfuhr ihnen beiden ein kleiner Ausruf des Schreckens. Mit dunkelroten Wangen löste das junge Madchen schnell den Zipfel des Kleides aus ihrem Gürtel und riß das Melktuch vom Kopf, während der Bruder schleunigst die Kätzchen losließ und durch die nächste Scheunentür die Flucht ergriff.

Emanuel stieg die beiden Stufen hinab und sagte guten Tag.

»Lassen Sie sich doch ja nicht stören,« sagte er entschuldigend. »Ich kam hier zufällig vorüber und bekam Lust, einmal einzusehen und zu hören, was Sie machten. Wie ich sehe, haben Sie sich ganz wieder erholt, nicht wahr?«

»Danke, – ja,« murmelte sie und sah sich unruhig mit einem finstern Blick um, als suche sie Entsatz.

Im selben Augenblick öffnete sich die eine Scheunentür und der alte Anders Jörgen kam stampfend in schweren, blechbeschlagenen Holzschuhen, einen Kuhpfahl in der Hand, heraus. Er war in schwarz und weiß gestreiften wollenen Hemdärmeln und trug auf seiner struppigen Haarmähne eine Pelzmütze mit ledernem Schirm.

Emanuel reichte ihm die Hand.

»Ich kam hier nur zufällig vorüber, da wandelte mich die Lust an, zu sehen, wie es hier bei Ihnen stünde,« wiederholte er. »Ich sehe, daß Ihre Tochter . . . Hansine heißt sie, nicht wahr?«

»Jawohl, Hochwürden.«

»Ich sehe, daß sie sich ganz wieder erholt hat . . . Sie hat jetzt doch ihre Krankheit wohl ganz überstanden . . .«

»Ich bedank' mich auch vielmals . . . Ja, ich glaub', daß sie nu, Gott sei Dank, wieder ganz gesund is' . . . Aber bitte – will der Herr Kaplan nich' nähertreten. Mutter kommt gleich . . . sie is' man bloß mal zu eine Frau inner Nachbarschaft gegangen.«

Sie gingen über den Hofplatz und traten in die Stube, wo die Sonne noch warm auf den Fenstern brannte und vielscheibige Vierecke aus goldnem Licht auf den Tisch und den sandbestreuten Fußboden warf. Anders Jörgen, der auf der Diele die Holzschuhe abgestreift hatte, bat Emanuel auf dem Ehrensitz der Stube, dem alten Lehnstuhl am Ofen, Platz zu nehmen, während er sich selbst auf den Rand eines hölzernen Stuhls am Fußende des Alkovens setzte. Unwillkürlich faltete er die Hände im Schoß – die Handflächen nach oben gewendet, so wie er es während der Predigt am Sonntage zu tun pflegte – und lauschte in dieser Stellung mit unruhiger und gespannter Miene auf jedes Geräusch vom Hofe her, in der deutlich ausgedrückten Hoffnung, daß es seine Frau sein möge, die zurückkehrte.

Emanuel fühlte sich immer wohler in diesem gemütlichen kleinen Bauernhause. Er hatte schnell einen Gesprächsstoff in dem schönen Frühlingswetter gefunden, und mit einer Leichtigkeit, die ihn selbst überraschte, sprach er von der Freude und Dankbarkeit, die ja namentlich der Landmann empfinden müsse, wenn er den lieben Gott so seinen Segen auf seine Arbeit legen sähe. Er bemerkte Anders Jörgens unruhige Zerstreutheit gar nicht. Dahingegen sah er im Laufe seiner Rede oft aufmerksam zu Hansine hinüber, die inzwischen hereingekommen war und sich mit einer Handarbeit auf die Bank unter das Fenster gesetzt hatte, das Emanuel am fernsten war.

Die Sonne schien auf ihre kleine, feste Gestalt und warf einen warmen Glanz über ihre dunklen Flechten. Sie hatte ihren Anzug durch einen breiten gehäkelten Kragen vervollständigt, der in Zacken auf die Schultern fiel; das Haar war mit Wasser glattgekämmt und über dem Nacken in einem Kringel aufgesteckt.

Still wie eine Maus und halb abgewandt saß sie da, über ihre Handarbeit gebeugt, als sei sie bemüht, ihre Anwesenheit soweit wie möglich in Vergessenheit zu bringen, während doch der Ausdruck des Gesichts und die Farben der Wangen deutlich verrieten, daß sie in ihrer Ecke ganz Ohr war und aufmerksam jedes Wort des Kaplans auffing.

Emanuel dachte nicht daran, daß sein Blick vielleicht manchmal reichlich ungeniert auf ihr ruhte; – dazu war er zu sehr erfüllt von der Freude, endlich hier einen kleinen freundlich gesonnenen Zuhörerkreis gefunden zu haben; und er vergaß allmählich alle Verlegenheit.

Mitten während seiner Rede vernahm man Schritte draußen auf dem Hofe. Anders Jörgen richtete sich mit einem Ausdruck der Erlösung im Sitz auf, und das junge Mädchen am Fenster warf einen schnellen Blick hinaus, um die Kommende vorzubereiten. Plötzlich aber wechselte ihr Gesicht die Farbe. Mit verwirrter, fast entsetzter Miene sah sie zu dem Vater hinüber.

Einen Augenblick später wurden drei bedächtige Schläge gegen die Tür hörbar.

* * *

Der Eintretende war der große, magere, ein wenig vornübergebeugte Mann mit dem eigentümlichen Katzengesicht, der am Vormittag nach dem Gottesdienst Gegenstand so großer Aufmerksamkeit unter Emanuels Zuhörern gewesen war. Er blieb einen Augenblick an der Tür stehen, indem er sich, gleichsam überrascht, mit scharfgezogenem Munde umsah. Dann sagte er mit schleppender Stimme »guten Tag« und ging langsam herum und gab die Hand.

Der alte Anders Jörgen, der sich erschreckt von seinem Stuhl erhoben hatte, sah den Fremden mit einem verlegenen flehenden Blick an, den dieser jedoch ganz deutlich zu meiden suchte.

Auf Emanuel, der sich flüchtig entsann, das Gesicht des Fremden ein paarmal in der Kirche gesehen zu haben, machten seine Person und sein Wesen einen äußerst unangenehmen Eindruck. Und dies Gefühl von Unbehagen ward nicht minder rege bei ihm, als ihn der Unbekannte jetzt, indem er ihm die Hand gab, mit einem Blick fixierte, der halb von seinen roten geschwollenen Lidern versteckt wurde, und sich gleichzeitig vorstellte mit den in unschuldigem Ton vorgebrachten Worten: »Mein Name ist Weber Hansen.«

Emanuel fühlte selbst, daß er rot wurde, bewahrte aber doch Geistesgegenwart genug, den Gruß des Mannes mit passender Zurückhaltung zu erwidern. Scheinbar unbeirrt setzte er darauf die Unterhaltung mit Anders Jörgen fort, während freilich seine Haltung und sein Ton – unwillkürlich beeinflußt durch die Anwesenheit des Webers – eine immer vornehmere geistliche Würde annahmen, die an Propst Tönnesen erinnerte.

Indessen schien es, als führe der Weber nichts Böses im Schilde. Er hatte sich auf die Bank am Ende des Tisches gesetzt und saß dort vornübergebeugt, die Ellenbogen auf den Knien und die großen roten Hände vor dem Mund, als sei er einzig und allein hier hereingekommen, um ein andächtiger Zuhörer mit den andern zu sein.

Es währte jedoch nicht lange, bis sein Gesicht anfing sich zu kleinen Grimassen zu verziehen, während er sich bald räusperte, schnaubte, bald sich anstrengte zu husten, wobei er sich lächelnd umsah von dem Alkoven bis zum Fenster hin, wo Hansine – mit blutroten Wangen und wogendem Busen – über ihre Näharbeit gebeugt dasaß, als wage sie nicht die Augen aufzuschlagen.

Emanuels Gesicht hatte indes alle Farbe verloren: er war leichenblaß. Noch bezwang er jedoch seinen Zorn; als aber der Weber schließlich anfing, hinter seinen Händen zu murmeln und halblaute Bemerkungen zu seiner Rede zu machen, verließ ihn allmählich die Selbstbeherrschung. Mit einer Mischung von jugendlicher Hitzigkeit und geistlicher Empörung wandte er sich nach ihm um und rief aus:

»Ich weiß nicht, ob es Weber Hansens Absicht ist, mich hier aus dem Zimmer zu verdrängen. In dem Falle will ich Ihnen nur sagen, daß Ihnen das nicht gelingen soll . . . und daß ich mich unter keinen Umständen in Ihre Störungen finden will.«

Neben dem Alkoven erhob sich Anders Jörgen ganz bestürzt und wollte Frieden vermitteln. Aber Emanuels Blut war ins Sieden geraten und da war er nicht leicht zu halten.

»Ich kenne Sie ja sehr gut vom Hörensagen,« fuhr er mit bebenden Lippen fort. »Propst Tönnesen hat mir allerlei von Ihnen erzählt, und ich will Ihnen nur sagen, daß weder er noch ich gewillt sind, Ihre Bemühungen, Spaltung und Unfrieden in die Gemeinde zu bringen, länger mit anzusehen. Was namentlich mich selbst betrifft, so will ich Sie auf das dringendste ersuchen, mich nicht in meiner Tätigkeit zu verunglimpfen. Ich weiß, daß ich mich nach Kräften bemüht habe, ein Vertrauensverhältnis zwischen mir und der Gemeinde zu schaffen . . . Ist es aber die Absicht, daß hier Krieg sein soll – wohlan! Dann nehme ich ihn auf! Wir werden dann sehen, wer der stärkere ist!«

Es war totenstill in der Stube nach seinen Worten. Selbst der Weber saß einen Augenblick da und duckte den Kopf wie nach einem unerwarteten Nackenschlag. Bald aber spielte wieder das schiefe, aufreizende Lächeln in seinem zusammengedrückten Gesicht. Es sah fast aus, als ob das Aufbrausen des jungen Geistlichen ihm förmlich Spaß mache. Nach kurzem Schweigen sagte er auf seine langsame, unbeirrte Art:

»Herr Pastor tun mir wirklich ganz unrecht. Sie sagen, daß Sie mich kennen und wissen, was für ein schlimmer, ruchloser Mensch ich bin . . . und das haben Sie ja von dem Herrn Propst selbst gehört, dann muß es wohl seine Richtigkeit haben. Denn Herr Propst, der hat mich nu so oft inne Höll' braten un räuchern lassen, daß ich ja denken muß, er tut es aus 'n ehrlichen Herzen. Aber sehn Sie, das wissen Sie ja auch, Herr Pastor, daß es nich' immer akkerad so kommt, wie die Herrn Pröpste predigen . . . Und am End' bin ich gar nich' so schwarz, wie der Herr Propst mich machen will. Aber ich will ja gar nich' abstreiten, daß ich hier wirklich reingekommen bin, weil ich Sie treffen wollt' und ein bißchen mit Sie schnacken wollt' – so zwischen Tür und Angel, wie man sagt – . . . denn das hab' ich schon ümmer gern mal gewollt; ich wollt schon ümmer hin und Sie 'n Besuch machen. Ich dacht' mir nämlich, daß wir woll so allerlei zusammen zu bereden hätten. Un' als ich da hört', daß Sie hier zu Anders Jörgen reingegangen waren, da meint' ich ja, ich wollt' die Gelegenheit nich' verpassen . . .«

»Wir haben sicherlich nichts miteinander zu bereden,« unterbrach ihn Emanuel kurz und mit einer Stimme, die noch von Gemütsbewegung zitterte.

»Ja, ja – das mag ja sein,« fuhr der Weber ebenso ruhig, aber in verändertem Tone fort, während das Lächeln einen Augenblick aus seinem Antlitz wich und seine halbgeschlossenen Augen den Kaplan mit einem gleichsam prüfenden Blick scharf beobachteten. »Ich glaub' nu doch, daß der Herr Pastor uns Skibberuper verkehrt anfaßt! Denn es is nu mal so mit uns, daß wir ümmer unsre eigne Metod' haben, wie wir die Sachen anfassen. Wir reden so grad aus über allens . . . und sehen Sie, Herr Pastor, darum sind Sie ja heut' bös auf mir geworden. Und doch will ich Sie sagen, daß ich gar und ganz nich' da an gedacht hab', Herr Pastor zu beleidigen.«

»Dann begreife ich allerdings Ihr Benehmen nicht,« entgegnete Emanuel noch immer abweisend, obwohl er schon angefangen hatte, ruhiger zu werden und sich wegen seines jugendlichen Aufbrausens beschämt zu fühlen.

»Na, das is es ja grad, Herr Pastor! . . . Das is es ja grad, daß Sie uns hier nich verstehen. Das haben wir ja die ganze Zeit gemerkt, und darum sind wir ja allzusammen so schrecklich traurig gewesen, kann ich woll sagen. Und darum haben wir es uns auch schon lange überlegt, ob es nicht das richtigste wär', wenn wir mal 'ne Unterredung darüber mit Sie haben könnten.«

Der plötzliche Ernst, mit dem er diese Worte sagte, und das breite Selbstbewußtsein, mit dem er hier im Namen der ganzen Gemeinde sprach, verfehlten ihre Wirkung nicht auf Emanuel. Er sah mit einem unschlüssigen Blick zu ihm hinüber und sagte:

»Wenn Sie wirklich etwas mit mir zu bereden haben, so werde ich natürlich bereitwillig zu Ihren Diensten stehen . . . Nur will es mir scheinen, als wenn die Gelegenheit ein wenig passender hätte gewählt sein können.«

»Ja, sehen Sie – das sag' ich ja grad! Wir Skibberuper kommen ümmer so verquer wie 'ne Katz durch 'nen Schornstein! . . . Aber nu erlauben Sie mir woll, Herr Pastor, daß ich mir darüber aussprech', daß es Sie ja doch eigentlich nich' wundern kann, daß uns so schnurrig zu Mut' gewesen is, daß wir Sie hier bei uns haben. Wir konnten ja doch unmöglich anders als ümmer an die Frau denken, die einstmals für uns Freunde der Volkssache hier in diese Gegend so wie 'ne heilige Jungfrau gewesen is, und die noch in unsere Erinnerung lebt, als das Schönste und Heiligste, was wir haben.«

Emanuel sah ihn verständnislos an.

»Was meinen Sie eigentlich?«

»Wen ich meine?« wiederholte der Weber und fuhr fort, den Kaplan anzustarren, als wollte er ihn mit seinem Schlangenblick an den Stuhl festbannen. »Ja, wen kann ich woll sonst meinen als sie, die von allen Menschen, auch Ihnen am nächsten gestanden hat, Herr Pastor Hansted, und die nu längst von alle Sorgen und Schmerzen erlöst ist . . . Ihre Frau Mutter.«

Emanuel zuckte zusammen . . . hatte er recht gehört?

»Meine . . . meine Mutter?« sagte er nur halblaut, – und unwillkürlich suchten seine Augen die kleine Porträtsammlung an der Wand zwischen den Fenstern.

»Ja, das war ja nu freilich, eh sie Herr Kaplan seine Mutter wurd', daß sie für uns Volksfreunde das war, was wir ihr nie vergessen werden . . . Wenn wir auch Beweise dafür haben, daß sie uns nie ganz aus den Augen verloren hat, weil sie auch Ihres Vaters Frau war. Aber nu können Sie doch woll verstehen, Herr Pastor, was das für ein Stolz und für eine Freude bei uns war, als wir hörten, daß wir Frau Hansted ihren eignen Sohn als unsern Kaplan haben sollten. Wir dachten natürlich, daß das so recht ein Pastor nach unserm Herzen werden müßt'! Un so'n Mann, den hatten wir hier bei uns in der Gemeinde so bitter nötig . . . ja, den haben wir bitter nötig, Herr Pastor Hansted!«

Emanuel war ganz schwindlig geworden. Er konnte sich nicht von seinem Erstaunen erholen, zum zweiten Mal im Lauf dieses Tages die Mutter nennen zu hören, diesmal sogar als unvergeßliche Beschützerin, – die Mutter, deren Andenken in seinem eigenen Heim wie ausgelöscht war – deren Name ängstlich in den Ecken geflüstert wurde, um nicht die Erinnerung an die Schande wieder zu erleben, die ihr Ende über die angesehene Hanstedsche Familie gebracht hatte.

»Aber sehen Sie, nu müssen Sie mir auch erlauben, daß ich es Sie sage,« fuhr der Weber fort, während seine Augen beständig wachsam auf dem jungen Geistlichen ruhten: »Nu müssen Sie mir auch erlauben, daß ich es Sie ganz ehrlich sag', Herr Pastor, daß wir bei Sie nich' so recht das gefunden haben, was wir so sehr gehofft haben . . . und ich denk' mir, das haben Sie auch selbst merken können. Seh'n Sie, da sind nu zum Beispiel Ihre Predigten . . . ja, ja nu müssen Herr Pastor nich' böse werden,« unterbrach er sich selbst mit erheuchelter Ängstlichkeit, als er bei dem letzten Wort ein Zucken über das Gesicht des Kaplans huschen sah. »Aber ich darf doch am Ende sagen, daß wenn wir uns auch freuen, daß Sie nich' – so wie gewisse andere – zu uns reden, wie zu das liebe Vieh – und wenn wir auch ganz gut merken können, daß Ihre Predigten sehr schön ausgedacht und schön und poetisch sind und so recht was man gut gesalzen nennt, – so is das ja man doch ümmer alles dasselbe, was wir nu schon so viele, viele Mal gehört haben. Und was is es denn eigentlich, was unsre guten Pastors uns Bauersleute immer erzählen? Sie sagen, wir sollen tugendsam und gehorsam sein un nich' stehlen un nich' fluchen, sondern uns mit unsern Sorgen an Gott wenden und auf die Gnade des Herrn hoffen, usw. Aber das können wir uns doch allens selbst an unsere zehn Finger abzählen, und wir werden wahrhaftig keine bessern Menschen, wenn wir auch jeden Sonntag, den Gott werden laßt, den ganzen Katechismus und die schönsten Gesangsverse vorgepatert kriegen! . . . Nein, wenn aber ein Mann wie Sie, Herr Pastor Hansted, uns was von sich selbst erzählen wollt', un nich' von uns – denn daüber können Sie uns doch nie was anderes erzählen, als was wir schon so viel besser wissen – ne, aber so richtig von sich selbst und davon, wie Sie mit Ihre Studien und Ihre Erziehung zu Ihre Anschauung über das Christentum und das Volksleben gekommen sind . . . sehen Sie, das wär' was, wo wir Bauern was von lernen könnten . . .

Das ist das, was uns not tut, damit wir sehen können, wie andere Menschen in ihre Verhältnisse leben und denken. Und sehen Sie, das hatten wir uns ja so gewünscht, daß unser Pastor uns dazu verhelfen sollt'. – Ja, ich weiß nu nich', ob Herr Pastor mich verstehen. Ich bin ja man einen ungelehrten Mann und hab nich' Pastor studiert un nich' Küster, so daß ich meine Wörter nich' so bewegen kann.«

Emanuel hatte ihn ausreden lassen, obwohl er recht gut fühlte, wie demütigend es für ihn war, diese Rede mit anhören zu müssen, obendrein in Gegenwart anderer. Aber er hatte kein unterbrechendes Wort über seine Lippen zwingen können, weil er im Innersten seines Herzens erkennen mußte, daß der Weber recht hatte, ja, daß dieser Mann hier den Ausdruck für genau dieselben Gedanken gefunden, die ihm selbst in letzter Zeit dunkel vorgeschwebt hatten.

Erst, als der Weber schwieg, und er merkte, wie Aller Blicke erwartungsvoll auf ihn gerichtet waren, nahm er sich zusammen. Mit einer krampfhaften Bemühung, den letzten Rest der geistlichen Würde diesen Leuten gegenüber aufrecht zu erhalten, antwortete er stammelnd:

»Ich erkenne natürlich die Offenherzigkeit an, mit der Sie sich mir gegenüber ausgesprochen haben. Ein solches gegenseitiges Vertrauen ist . . . sicher die erste Bedingung zu einem wirklichen Verständnis . . . was wohl niemand mehr wünscht und erhofft, als ich.«

»Ja, das is auch akkerad unsere Meinung,« sagte der Weber mit plötzlichem Eifer. »Und darum meinten wir ja auch, daß es am Ende gut wär', wenn wir Sie mal zur Sprache kriegten – so ganz gerade heraus. Wir kennen Sie ja man blos von 'ner Kirche her – und ich will auch man sagen, daß wir mehrmals sehr zufrieden mit das gewesen sind, was wir da von Ihnen gehört haben – aber wir finden ja ümmer, wir könnten Sie ein bischen näher kennen als bis jetzt. Wir Leute auf'm Land haben ja ümmer so 'ne eigenartige Neugier, unsern Pastor richtig kennen zu lernen, so daß wir mit unsere Fragen in alle Teile frei und offen zu ihm gehen können. Wir Bauern, die wir uns hier Tag aus, Tag ein mit dieselbe Arbeit abmarachen, wir haben so'n mächtiges Bedürfnis, einen Menschen zwischen uns zu haben, der uns Aufklärung und Belehrung geben kann. – Auch über solche Sachen, über die man nich gerad von 'ner Kanzel runter reden kann. Aber sehen Sie, das woll'n nu unsre guten Herren Pastors nie verstehen, und darum sieht es auch manch liebes Mal so schlimm mit uns aus. Sehen Sie, da haben wir zum Beispiel in Skibberup so'n Art Versammlungshaus, wie wir es nennen . . . ja, ja, ich kann mir's denken, Herr Kaplan haben woll schon davon gehört und wissen, was für 'ne Räuberhöhle das is – denn so hat der Propst es mehr als einmal genannt. Aber übrigens tun wir nichts weiter, als daß wir uns in guten Einverständnis versammeln und über das schnacken, wo wir Lust zu haben, oder wir lesen was aus unsern Büchern vor, mal is es ne fromme Schrift, mal sind es diese Volksunterhaltungsbücher, wie wir sie nennen, – denn wir finden ja nu, daß es ein ebenso guter Zeitvertreib sein muß, wenn wir 'n gutes Wort hören, als wenn wir die Abende auf 'ner Ofenbank schlafen oder sie zu Kartenspiel und andern Verlustierungen gebrauchen, so wie es in die gute alte Zeit Mode war, wo der Herr Propst so viel mit in'n Sinn hat. Aber das versteht sich ja von selbst, daß es mit das, was wir Bauernsleut uns zu erzählen haben, nich so weit her sein kann; – ne, aber wenn wir so'n Mann wie Sie, Herr Pastor, dazu kriegen könnten, daß er uns besucht un so ganz gemein und niederträchtig mit uns schnacken tät und uns was erzählte, was Sie selbst grad möchten, – ja, dann wär' das ja ganz was andres; daüber würden wir uns freuen, und dafür würden wir Sie sehr dankbar sein. Denn wir finden ja nu doch mal, daß Sie so einen einfachen, natürlichen Menschen sind, an den wir uns recht innerlich anschließen könnten. Un denn sehen Sie Ihrer Mutter ja auch so lächerlich ähnlich, in Ihren ganzen Ausdruck, so weit ich das beurteilen kann, wenn ich sie auch man einmal vor vielen Jahren gesehen hab' bei einer unserer Freundes-Versammlungen in Sandinge. Darum kann ich Sie versprechen, da wird helle Freude sein, den Tag, wo es heißt, unser Herr Kaplan will unser Versammlungshaus besuchen – denn da wüßten wir doch, daß wir endlich gefunden haben, was wir so lange und so von Herzen gewünscht haben. Ja, sehen Sie, das waren man bloß diese paar Worte, die ich mir gern erlauben wollte, zu sagen; un nu müssen Herr Pastor auch nich böse sein, weil ich so offen gesprochen hab' – ich kann Ihnen versichern, ich hab' es bloß inner allerbesten Absicht getan.« –

Emanuel verhielt sich noch immer schweigend. Er war so merkwürdig betäubt, von den Worten des Webers und wußte nicht mehr, was er glauben sollte. Konnte dieser Mensch, von dem er so viel Schlechtes gehört hatte, wirklich ein Freund sein? . . . Und Anders Jörgen und seine Tochter? waren sie im Einverständnis mit diesem Manne? . . . Es schien ihm fast so. Zufällig fing er den gespannten, erwartungsvollen Ausdruck auf, mit dem das junge Mädchen ihn in diesem Augenblick über ihrer Näharbeit hinweg beobachtete, als wolle sie ihm mit ihrem Blick die Antwort von den Lippen stehlen.

Aus Angst diesen fremden Menschen gegenüber, die so offenbar eine entschiedene Äußerung von ihm erwarteten, gänzlich die Fassung zu verlieren, erhob er sich, um Abschied zu nehmen. Mit einer verwirrten Entschuldigung, daß seine Zeit ihm nicht gestattete, die Unterhaltung länger fortzusetzen, griff er nach Hut und Schirm. Unter dem tiefen Schweigen der andern ging er herum und gab die Hand. Und als er die Stube verließ, gab ihm niemand das Geleit.

* * *

Emanuel hatte, seit er erwachsen war, seine Mutter nicht oft erwähnen hören, überhaupt wußte er nicht viel mehr von ihr, als was er selbst gesehen hatte; aber schon zu ihren Lebzeiten hatte er das Gefühl gehabt, daß da in ihrem Jugendleben irgend etwas war, was die Familie sorgfältig zu verbergen suchte. Was es war, hatte er nur undeutlich geahnt. Seine Jugendfreunde und Kameraden waren – nach dem unglücklichen Tode der Mutter – in seiner Gegenwart immer bange gewesen, auch nur auf sie hinzudeuten; und ihn selbst hatte eine natürliche Scheu verhindert, von ihr zu sprechen, namentlich, da der Vater und die übrigen Verwandten beständig das unverbrüchlichste Schweigen über alles bewahrten, was die Mutter und ihre Verhältnisse betraf. Nur eine sehr alte Tante, die in einem Kloster wohnte, hatte einmal in einem erregten Augenblick zu ihm gesagt, er solle doch nicht vergessen, »wie tief sich seine Mutter gegen ihren Stand versündigt habe. –«

Jetzt wurden die Worte des Webers und die Bilder an der Wand des Bauernstübchens ihm ein bestimmterer Fingerzeig zum Verständnis ihres wunderlich einförmigen Lebens im Hause seines Vaters. Er sah sie wieder vor sich mit dem hochaufgesteckten Haar und dem schwarzen, schlichten Kleide, das ihn in seinen Knabenjahren zuweilen ein wenig beschämt machen konnte, weil es so wenig der Kleidung der andern Damen ihres Umgangskreises glich, die sich ja auch offenbar in ihrer Nähe immer ein wenig gedrückt fühlten. Er erinnerte sich ihres eigenen Wohnzimmers, das ebenfalls nicht den übrigen Räumen des Hauses ähnelte und in das sie sich oft tagelang einschloß, ohne Besuch empfangen zu wollen. Gar oft hatte er als Kind in der Dämmerstunde draußen vor der Tür gestanden und nicht gewußt, ob er anklopfen dürfe oder nicht. Und wenn er dann endlich Mut gefaßt und sich hineingeklemmt hatte, sah er sie zusammengekauert in der Ecke des langen Mahagonisofas sitzen und unbeweglich vor sich hinstarren, als habe sie ihn nicht kommen hören. Erst wenn er eine Weile neben ihr gestanden und »Mutter« geflüstert hatte, legte sie wohl die Hand auf seinen Kopf und streichelte ihm schweigend das Haar, oder auch sie preßte ihn mit einer so heftigen Zärtlichkeit an sich, daß ihm fast ängstlich dabei wurde, oder auch sie nahm ihn auf ihren Schoß und fing an, ihm Sagen und Märchen von Helden und Königssöhnen zu erzählen, die unter Christi Banner in die Welt hinausgezogen waren, um für Wahrheit und Recht zu streiten, die so ergreifenden Erzählungen, die noch lange nachher seine Wangen brennen machten und ihn oft des Nachts wach hielten, während wechselnde Bilder von goldbehelmten Kriegern und barfüßigen, dunklen Kuttenträgern an ihm vorüberzogen. Er entsann sich auch, daß seine beiden Geschwister die Mutter seltener in ihrem Zimmer besuchten, und in der Regel über ihren Erzählungen einschliefen. Sie waren jünger und belustigten sich besser in des Vaters schönem Lesezimmer mit den Bilderbüchern und dem großen Globus. Darum nannten die Dienstboten sie auch »die kleinen Herrschaften« während er selber mit einem Spottnamen »der Gnädigen Junge« gerufen wurde. Wie oft und bitter hatte er es nicht auch empfunden, daß er vom Todestage der Mutter an allein und unverstanden in seines Vaters Hause zurückgeblieben war!

So lange schritt er nun auf dem Heimwege am Strande entlang und vertiefte sich in seine Kindheitserinnerungen, daß er Zeit und Raum völlig vergaß. Als er endlich nach dem Pfarrhofe zurückkehrte, sah er zu seinem Schrecken, daß die geladenen Gäste bereits angefangen hatten, zu erscheinen und daß er sich mit dem Umkleiden beeilen mußte, um nicht zu spät zu kommen.

Als er eine Viertelstunde später in das Wohnzimmer trat, wo die ganze Gesellschaft jetzt versammelt war, wurde er mit einem höchst ungnädigen Blick von dem Propst empfangen, der – in Frack und Käppchen – mitten im Zimmer stand und sich gestikulierend mit ein paar ebenfalls befrackten Herren unterhielt. Es waren wohl an zwanzig Menschen versammelt. Da waren die drei Gutsbesitzer des Kirchspiels, der alte Schullehrer Mortensen, Tierarzt Aggerbölle und Kaufmann Villing, alle mit ihren Frauen in seidenen Kleidern. Außerdem waren da sechs Vejlbyer Bauern mit ihren Ehehälften, sowie der junge Hilfslehrer Johansen. Von den Skibberuper Leuten war niemand zugegen und ebenso fehlten Vertreter der Vejlbyer Häusler, da die letzten von den Getreuen unter diesen kürzlich zu Propst Tönnesens großem Ärger als Zuhörer in Weber Hansens Versammlungslokal ertappt worden waren.

Zwei von den Gutsbesitzern waren große, kräftige Gestalten, die einander glichen wie ein paar Brüder, ohne es doch zu sein. Der dritte war ein kleiner, grämlich aussehender Dicksack mit einem rotgeäderten Gesicht, in dem ein Paar blasse, hervorquellende Augen gleichsam in Fett schwammen, wie ein Paar Spiegeleier. Von seinem breiten Unterkiefer, der sich einen halben Zoll vor das Obergesicht vorschob, so wie ein Freßtrog, wuchs ein Gestrüpp von grauen Bartstoppeln über einen ungeheuren Kinnbeutel hinab, der gleich einem faltigen Bauch über den Hals hing. Die kurzen Arme auf dem Rücken, ging er leise grunzend vor der Tür zum Eßzimmer hin und her und sah jeden Augenblick nach seiner Uhr.

Die sechs ganz gleich gekleideten Bäuerinnen – in schwarzen, wollenen Kleidern und Hauben mit breiten Goldgalons – saßen in einer schweigsamen Reihe unter den Fenstern und hielten die braunen Hände unbeweglich im Schoß um ein zusammengelegtes Taschentuch. An den Wänden in ihrer Nähe standen ihre Männer in selbstgewebten Anzügen und sahen nicht weniger ernsthaft aus. Nur wenn der Propst von Zeit zu Zeit einmal zu ihnen herankam, und in liebenswürdiger Gesellschaftsstimmung eine scherzhafte Bemerkung an den einen oder den andern von ihnen richtete, zogen sie alle auf einmal die steifen Mundwinkel in die Höhe mit einem Versuch, zu lächeln.

Nur der Dorfschulze Jensen bewegte sich ungeniert im Zimmer mit seinem blauroten Kalekutenschnabel und ließ freimütig seine Stimme bis an die Decke gellen, wie ein Mann, der gewöhnt war, sich in höherem Gesellschaftsleben zu bewegen.

In den Lehnstühlen um den runden Tisch in der Mitte des Zimmers saßen die Damen und breiteten ihre langen, seidenen Schleppen über den teppichbedeckten Fußboden aus. Hier gingen die Münder lebhaft in einer Art Unterhaltung, bei der niemand weiß, was er selbst sagt, noch was die andern antworten. Das Wort wurde namentlich von der einen Gutsbesitzersehefrau geführt – von einer Dame mit Gardemaß in grünem Satin mit weißen Blonden – die kürzlich von einer Reise nach Kopenhagen heimgekehrt war und unermüdlich von allem erzählte, was sie gesehen und erlebt hatte.

Nur die kleine, magere Frau Aggerbölle saß schweigend da und starrte mit zerstreuter Miene vor sich hin, als wenn ihre Gedanken sich noch nicht von Haus und Kindern hätten losreißen können. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet und sah aus, als müsse sie umfallen, vor Müdigkeit und Nachtwachen. Es hatte den Anschein, als habe sie absichtlich den Platz hinter Schullehrer Mortensens schwellender Frau gewählt, damit der Abendschein nicht zu spottend auf ihre früh gealterten Züge fallen solle und auf ihr verschossenes seidenes Kleid, das mit einem altmodischen Schnitt und seiner viel zu geräumigen Taille melancholisch von entschwundener Jugendherrlichkeit erzählte. Hin und wieder sah sie besorgt zu ihrem Gatten hinüber, der sich vor den Ofen gestellt hatte und sich von hier aus mit einer herausfordernden Haltung umsah, als wolle er jede Kenntnis von dem Benzinduft verleugnen, der sich aus seinem stark glänzenden Leibrock über den Teil des Zimmers verbreitete, in dem er sich aufhielt. Er war erst hoch am Vormittage von einer Kindtaufe bei einem Bauern im benachbarten Kirchspiel heimgekehrt und rings umher in dem bartlosen Teil seines Gesichts saßen noch Erinnerungen an die Strapazen der Nacht in Form von dunkelroten Flecken, die davon zeugten, daß das betreffende Kind nicht mit Wasser allein getauft war.

Einsam am Flügel stand der junge Hilfslehrer Johansen in einer einstudierten Stellung, das eine rundliche Bein leicht über das andere geworfen, so daß die Zehenspitze eben den Fußboden berührte. Er hatte einen weißen Handschuh an der einen Hand und zwischen der Weste und dem getollten Manschettenhemd steckte ein Taschentuch. Herr Johansen, der ungefähr gleichzeitig mit Emanuel in das Kirchspiel gekommen, war – im Gegensatz zu diesem – schnell der erklärte Löwe von Vejlby geworden. Sein starkes, dunkles Haar, das bei festlichen Gelegenheiten über den ganzen Kopf gelockt war, sein fettes, blasses, bartloses Schauspielergesicht, seine kleinstädtische Kleidung und sein »gebildetes Wesen« hatten ihm im Laufe des Winters sogar auf den Gütern Zutritt verschafft, und man hielt es bereits nicht mehr für ganz unwahrscheinlich, daß eine der jungen Damen der Gegend über kurz oder lang auf den Einfall kommen könne, ihm mehr als ihre Bewunderung zu schenken.

Kurz nach Emanuels Erscheinen wurde die Flügeltür zum Eßzimmer geöffnet und Fräulein Ragnhild kam herein und bat die Gesellschaft, zu Tische zu gehen.

Sie trug einen schwarzen Seidenstoff mit großen, brandgelben Palmenblättern und einem Art Spitzenüberkleid, das an dem oberen Teil der Brust und dem unteren Teil der Arme durchsichtig war. Rund um den hohen, schlanken Hals lag eine dünne, vierdoppelte goldene Kette, die vorn mit einem Opalschloß zusammengehalten wurde. Über der Nackenschnecke des braunroten Haares saß ein großer Schildpattkamm.

»Wollen die Herren, bitte, die Damen führen,« rief der Propst und bot selbst der Gutsbesitzersfrau mit Gardemaß den Arm.

Unter den älteren Herren entstand ein Wettlauf auf Fräulein Ragnhild zu. Der Schulze Jensen, der ihr am nächsten stand, ward der Glückliche, und führte sie mit erhobenem Schnabel ins Eßzimmer. Emanuel verbeugte sich vor Frau Aggerbölle, die übrig geblieben war, nachdem die anderen Herren Damen gewählt hatten. Die Bauern nahmen ihre eigenen Frauen bei der Hand und schlossen sich in stummen Trupp der feierlichen Prozession an.

* * *

Mitten auf dem Tisch unter der Hängelampe stand ein hoher Blumenaufsatz. An jedem Ende des Tisches strahlte ein Armleuchter mit sieben Lichtern. Auf jedem Teller stand die Serviette aufrecht in Form einer Bischofmütze, unter der sich ein Brötchen verbarg. Im übrigen war die Tafel mit einer Sammlung ausgewählter Gerichte bedeckt. Da waren Fische in verschiedenfarbigen Gelees, farziertes Geflügel, mehrere Arten Salate in großen blauen Glaskummen, Hummer und Sardinen in Dosen und noch mancherlei mehr. Obwohl die Anrichtung eigentlich keine Überraschung für die Anwesenden bot, indem sie bei diesen Gelegenheiten immer so ziemlich dieselbe war, machte doch das festliche Gepräge der Tafel und das ungewöhnlich hübsche Service gleich einen starken Eindruck auf die Gäste, und die Mahlzeit verlief zu Anfang unter andachtsvollem Schweigen. Nur der kleine, dicke Gutsbesitzer setzte sich gleich gierig zurecht, die Ellenbogen nach den Seiten gespreizt, und füllte sich mit Messer und Gabel von allem auf, was in seine Nähe kam. Dahingegen kämpfte Tierarzt Aggerbölle tapfer gegen seine schlechten Triebe. Lange saß er mit demselben Glas Rotwein vor sich da und füllte nie mehr als die Hälfte seines Tellers –, weswegen er auch einmal über das andere mit einem Blick voll stolzer Selbstzufriedenheit zu seiner Frau hinübersah. Er hatte ihr nämlich auf dem Wege zum Pfarrhause feierlich – sogar mit erhobenem Finger – geschworen, Mäßigkeit und Beherrschung zu üben, damit sie an diesem Abend keine Schande an ihm erleben solle. Propst Tönnesen war zu Anfang sozusagen der einzige, der redete, überhaupt offenbarte er sich als ein ebenso liebenswürdiger, wie unterhaltender Wirt. Er sorgte dafür, daß die Schüsseln die Runde machten, bat die Herren, sich einzuschenken, erzählte kleine Geschichten und verriet in seinem ganzen Wesen den ehemaligen Gesellschaftsmann, den der Anblick von festlicher Beleuchtung, von Blumen und Damen in Seide unwillkürlich mit fortriß und in Stimmung versetzte.

Als man eine Viertelstunde gespeist hatte, schlug er an sein Glas und hielt eine Rede. Von einem Spruch Salomonis ausgehend, sprach er in formvollendeten Worten von der Stärke, die man empfinde, wenn man sich in schwierigen Zeiten von einer treuen Freundesschar umgeben wisse. Er sprach die Hoffnung aus, daß der Kreis von Gesinnungsgenossen, die er in diesem Augenblick um sich sähe, – »auch um des Friedens in der Gemeinde willen« nie gesprengt werden möge und schloß, indem er in herzlichen Worten den Gästen für ihre Anwesenheit dankte.

Gleich darauf erhob sich der eine von den großen, schwerknochigen Gutsbesitzern und übermittelte in einem vollendeten Vortrag Propst Tönnesen den Dank der Gesellschaft für sein segensreiches Wirken in der Gemeinde. Einen Augenblick drohte er damit, sich auf eine nähere Erörterung der ernsten Fragen einzulassen, die Propst Tönnesen soeben gestreift hatte, indem er eine Bemerkung über die »untergrabenden Tendenzen der jetzigen Zeit« machte, gegen die der Propst gottlob eine so treffliche Wehr sei. Aber da er im selben Augenblick stecken blieb, als sei sein Wortvorrat auf einmal erschöpft, so schloß er jäh mit dem Vorschlag, ein Hoch auf Propst Tönnesen und Fräulein Ragnhild auszubringen.

Nachdem man sich abermals erhoben und angestoßen hatte, wurde die Stimmung freier unter den Gästen; und als nun der Nachtisch – ein mächtiger Plumpudding – flammend aufgetragen wurde, äußerte sich die Zufriedenheit bald in einer allgemeinen Lebhaftigkeit.

Da aber schlug auch Tierarzt Aggerbölles böse Stunde. Plumpudding war eins seiner Lieblingsgerichte, und außerdem fingen nun die Karaffen mit den Dessertweinen an zu kreisen. Das Unglück wollte es außerdem, daß er dem kleinen schweinefetten Gutsbesitzer gerade gegenüber saß, der während der ganzen Mahlzeit dieselbe mürrische gierige Miene aufgesetzt und wie ein Bandwurm alle die leckersten Gerichte verschlungen hatte, so daß Aggerbölle förmlich die Augen hatte abwenden müssen, um nicht in Versuchung zu geraten. Aber nun war es ihm auch platterdings unmöglich, noch länger zu widerstehen. Indem er einen verzweifelt-flehenden Blick zu seiner Frau hinüberwarf, schnitt er sich ein Stück von anderthalb Pfund aus dem Pudding heraus und leerte gleich darauf zwei bis an den Rand gefüllte Gläser Sherry, um sich schleunigst taub gegen die Stimme des Gewissens zu machen.

Rings umher am Tische ertönte jetzt munteres Lachen und laute Rede. Nur die Bauern verhielten sich noch immer gleich stumm. Einer von ihnen – ein kleiner, kindlich pausbackiger Greis, der während der ganzen Zeit dagesessen und ängstlich in den rätselhaften Gerichten herumgestochert hatte, als habe er tote Ratten vor sich, und der an dem Wein genippt hatte, als sei es Medizin – flüsterte seinem Nachbarn zu, indem er mutlos ein Stück Pudding betrachtete, das noch auf seinem Teller zu brennen fortfuhr:

»Wer doch einen von Mutterns Apfelkuchen hätt'! Dies rauchende Zeug is' woll nichs nich für'n Bauernmagen.«

Emanuel hatte seinen Platz ungefähr in der Mitte einer der Längsseiten des Tisches bekommen. Auch er hatte während der ganzen Mahlzeit nur wenige Worte geredet, und seine Tischdame, die ganz davon in Anspruch genommen war, ihren Mann zu überwachen, regte ihn auch nicht dazu an. Er ärgerte sich über das leere und aufgebauschte Fest. Noch summte ihm die Unterhaltung mit dem Weber in den Ohren und durch den gelben Lichtnebel des Zimmers hindurch sah er beständig das Bild des sonnendurchströmten kleinen Bauernstübchens mit seiner treuherzigen, sonntäglich festlichen Traulichkeit vor sich.

Von dem untersten Tischende suchte Fräulein Ragnhild mehrmals seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, um ihm zutrinken zu können. Aber absichtlich wich er ihrem Blick aus; denn von allen in der ganzen Gesellschaft war sie beinahe diejenige, die ihm heute abend am meisten zuwider war. Er fand ihre Kleidung anstößig und mit tiefer Beschämung beobachtete er, wie der junge Hilfslehrer Johansen, der in ihrer Nähe saß, ihren weißen Hals und die Arme, die durch den Spitzenstoff schimmerten, förmlich mit den Augen verschlang, während er sich über den Tisch lehnte und ihr Annehmlichkeiten sagte. Und – wie es schien, – lauschte sie nicht ganz gleichgültig dieser lächerlichen Karikatur eines Großstädters. Sie hatte sich in den Stuhl zurückgelehnt und sah ganz angeregt aus. Die Wärme, der Wein und das Geräusch der vielen Menschenstimmen hatten zwei kleine hektisch rote Flecke auf ihre Wangen gemalt; und wenn sie lächelte, senkte sie wohlbehaglich die Augenlider ein wenig, fast wie in einem leichten Rausch.

Unwillkürlich mußte er sie in Gedanken mit dem ernsthaften, gesund rotwangigen Bauernmädchen vergleichen, mit dem er vorhin zusammen gewesen war, und das ihm in seinem einfachen, dunkelroten Kleid hundertmal schöner erschien, als irgendeine von diesen papageienhaft aufgeputzten Damen in Seide und Tüll. Indem er seinen Blick langsam über die ganze Gesellschaft hingleiten ließ, – von den selbstzufriedenen Gestalten des Propstes und des Gutsbesitzers bis hinab zu den schweigsamen Reihen der Bauern – dachte er daran, wie entsetzlich er sich doch hatte hinters Licht führen lassen. Er, der für immer den Widerwärtigkeiten des Kulturstaates entronnen zu sein glaubte, war hier ja nur dem Zerrbild dieser Gesellschaft in die Arme gefallen. Oder herrschte hier etwa nicht dieselbe Leichtfertigkeit, derselbe Hochmut, dieselbe Heuchelei?

Die Tafel wurde aufgehoben . . . und die Gäste zerstreuten sich in die Zimmer. Die Damen ließen sich im Wohnzimmer nieder, während sich die Herren zum Rauchen im Studierzimmer versammelten.

In der Tür der Eßstube begegneten sich Fräulein Ragnhild und Emanuel.

»Gesegnete Mahlzeit!« rief sie lebhaft aus und streckte die Hand aus. »Sie hätten übrigens gern zu mir kommen können, sollte ich meinen. Oder finden Sie etwa, daß meine Tafel kein Lob verdiente? . . . Und warum sind Sie fortwährend so ungalant gewesen, mich nicht anzusehen? Ich wollte Ihnen zutrinken!«

»Ach . . . ich habe Sie allerdings sehr gut gesehen. Aber Herr Johansen war so stark von Ihnen in Anspruch genommen, daß ich es nicht übers Herz bringen konnte, Sie ihm zu entziehen.«

»Der arme Johansen!« lachte sie. »Auf den haben Sie es doch immer abgesehen. Ich gebe zu, daß er ein wenig lächerlich ist . . . Aber, mein Gott . . . er ist doch immer eine Art Mensch. Er spricht doch nicht fortwährend von Kühen und Kornpreisen. Er ist sogar ein Mann mit Geschmack. Ich habe heute die Bemerkung gemacht, daß er ein Parfüm gebraucht, das wirklich gar nicht übel ist . . . Und er hat mich sowohl über Wagner wie über Beethoven unterhalten. Was kann man mehr verlangen?«

»Sie haben sicher recht. Ich finde auch, daß Sie und Herr Johansen vortrefflich zueinander passen.«

Der Ton von Emanuels Antwort veranlaßte das Fräulein, die Stirn zu runzeln. Sie sah ihn an und sagte mit Entfaltung ihrer ganzen Würde:

»Sie vergessen sich wohl, Herr Hansted . . . Es will mir überhaupt scheinen, als hätten Sie in letzter Zeit in beklagenswertem Maße angefangen, Ihre frühere Liebenswürdigkeit einzubüßen.«

»Sie haben wohl auch in diesem Punkte Recht, mein gnädiges Fräulein! Ich fühle selbst, daß ich nicht in diese Gesellschaft hineinpasse, und daher war ich eben auch im Begriff, sie zu verlassen, als ich Ihnen begegnete. Sollte Ihr Herr Vater nach mir fragen, so haben Sie vielleicht die Güte, mich bei ihm zu entschuldigen.«

Er grüßte mit einer steifen Verbeugung und verließ das Zimmer.

Fräulein Ragnhild blieb auf der Schwelle stehen und sah ihm nach, wie aus den Wolken gefallen vor Erstaunen.



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