Henrik Pontoppidan
Das gelobte Land
Henrik Pontoppidan

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Fünfter Teil

Die Stimmung, die am nächsten Tage während der Vormittagsversammlung in der Hochschule herrschte, trug, jedenfalls zu Anfang, das unheimliche Gepräge, das die Szene mit Emanuel überall hervorgerufen hatte. Erst gegen Tagesgrauen war er – mehr tot als lebend – von der Mannschaft gefunden, die unter Pastor Petersens Führung um Mitternacht ausgesandt war, um ihn zu suchen. Man wußte, daß nach dem Landesvogt und dem Arzt geschickt war und daß er gleich in einem Krankenhaus untergebracht werden sollte.

Der Umschlag in der Stimmung der Versammlung wurde durch Weber Hansen hervorgerufen. Er hatte am vorhergehenden Abend in seiner Ecke gesessen und sich schweigend unter die Niederlage gebeugt, die auch er bei dieser Gelegenheit erlitten hatte. Wenn ihm so sehr daran gelegen war, Emanuel zum Auftreten zu veranlassen, so hatte das seinen Grund darin, daß er darauf rechnete, er werde wenigstens ein gewisses Aufsehen verursachen, und weil er wußte, daß seine Skibberuper doch niemals ihre geistige Heimat ganz vergessen hatten, namentlich aber in diesen Tagen mit Aufmerksamkeit alles verfolgten, was sich auf der Sandinger Hochschule zutrug.

Freilich, – großes Zutrauen zu seiner Kriegslist hatte er diesmal doch nicht gehabt. Der bisher so unermüdliche, wenn auch wieder und wieder geschlagene Streitsmann hatte allmählich angefangen, die Hoffnung auf einen Erfolg der Sache aufzugeben, die für ihn das Leben selbst gewesen war. Als er in dieser Nacht daheim auf seinem einsamen Strohlager lag, mißmutig über die abermalige Niederlage, hatten sich seine Gedanken wie gewöhnlich eine Weile um die finstere Kindheitserinnerung geschart, die der Giftbrunnen in seinem Gemüt gewesen war, das bittere Quellwasser, an dem er seit vierzig Jahren täglich seine Kraft und seine Rachsucht erneuert hatte . . . bei der Erinnerung an jenen Nachmittag, da er als Hirtenknabe Zeuge gewesen war, wie der Gutsherr seinen Vater mit einem Stock durchprügelte. Zum tausendsten Male sah er diese Szene vor sich: die großen lehmgrauen Felder, den krummgebeugten Vater am Pfluge, die dampfenden Pferde, den jungen Junker, den gelben Stock, die jammervolle Miene des Vaters, sein erhobener Arm, seinen flehenden Hundeblick . . . die Erinnerung stand in seine Seele eingebrannt wie ein Sklavenzeichen. Er hatte an jenem Tage seine Knabenfaust geballt und einen heiligen Eid geschworen. Aber statt der Genugtuung für sich selbst und seinen Stand, auf die er gehofft und für die er all diese Jahre gekämpft hatte, war der Gehorsam nur von Tag zu Tage größer geworden und die Untertänigkeit immer krummbuckliger.

Er hatte jetzt beschlossen, endlich den Kampf aufzugeben. Es war nichts auszurichten mit einem Volk, das in allen Verhältnissen den Wahlspruch erwählt zu haben schien: je toller, um so besser! Wenn er dessenungeachtet um das Wort gebeten hatte, geschah es nur, um noch zum allerletzten Mal sein Herz zu erleichtern und seinen ehemaligen Freunden und Gesinnungsgenossen einen wohlgemeinten kleinen Abschiedssalut zu bringen.

Sein Erscheinen auf der Rednertribüne erregte anfänglich keine große Aufmerksamkeit. Er war für den größten Teil der Versammlung eine unbekannte Persönlichkeit, und seine besonnene, ja schleppende Art und Weise, sich auszudrücken, rief im Anfang eine gewisse Ungeduld bei den Zuhörern hervor. Aber allmählich fing man an zu lauschen. Was war das? Der Mann sprach ja von Politik, vom Staatscoup, von der Unterdrückung der Freiheitsbewegungen . . .

Es entstand Unruhe im Saal. Man sah mit ängstlichen Blicken zu dem Minister und von da zu dem mächtigen Dirigenten hin, der sich ja auch schon erhoben hatte, die Hand an der Glocke, bereit einzuschreiten.

Im selben Augenblick schlängelte sich der Weber katzenfreundlich zu dem vorliegenden Thema hinüber: zu der Vorstellung von dem jenseitigen Leben und den ewigen Höllenstrafen.

Aber kaum hatte der Schrecken sich gelegt und der Dirigent wieder Platz auf seinem Stuhl genommen, als er sich abermals auf verbotenem Wege bewegte. Er fing an, über die Altersversorgung der kleinen Leute zu reden, über den Unterricht des Volkes und das veraltete Armenwesen.

Vorsteher Sejling läutete kräftig mit seiner Glocke.

»Ich muß den Redner darauf aufmerksam machen, daß er sich streng an die vorliegende Sache halten soll. Namentlich ist jede Einmischung von Politik absolut verboten,« sagte er. Und unter der lebhaften Zustimmung der Versammlung fügte er wütend hinzu: »Dies ist keine Schenkstubendiskussion, sondern eine Verhandlung über geistige Dinge.«

»Ich bitte sehr um Entschuldigung,« sagte der Weber mit seiner allermildesten Stimme: »Ich meinte wohl, es könne wohl angehen, in dieser Verbindung Dinge zu berühren, die uns doch allen am Herzen liegen . . . namentlich heute, wo wir doch die außerordentlich große Ehre haben, einen so hochangesehenen Mann wie einen Minister in unserer Versammlung zu sehen. Denn sehen Sie, was das ewige, jenseitige Leben betrifft –« fuhr er mit erhobener Stimme fort, als der Wortführer abermals Miene machte, zur Glocke zu greifen – »ja, da mein' ich ja nu, daß der liebe Gott schon dafür sorgen wird. Aber das Leben hier auf der Erde, dafür zu sorgen, haben wir woll selbst eine Verpflichtung.«

»Schluß! – Schluß!« – riefen ein paar erregte Stimmen.

Aber ohne auf die immer ungeduldigeren Zurufe der Versammlung zu achten, und indem er seine Worte so geschickt belegte, daß er das Einschreiten des Dirigenten abwehrte, fuhr er fort zu reden. Er schalt die Gemeinde aus, daß sie die Volkssache verraten habe, die zum Siege zu führen ihre Aufgabe sei, daß sie statt dessen städtische Kleidung angelegt und seine Empfindungen bekommen habe. Er sprach von einem »Hochschulgrößenwahn«, der keinen Deut besser sei als der Studentenhochmut, den die Hochschule hatte bekämpfen wollen, und bezeichnete mit einem herausfordernden Lächeln die Verkündigung der Freundesgemeinschaft als diese »Hofbesitzerreligion«, die sich allein für Leute eigne, die in der Lage seien, sich den Hintern auf den Bänken der Hochschule flach zu drücken.

Die Unruhe im Saal hatte sich allmählich zu einer förmlichen Bewegung gesteigert, und Vorsteher Sejling war denn auch im Begriff, wieder einzuschreiten, als sich Wilhelm Pram von seinem Platz auf der ersten Bank vor der Rednertribüne erhob und – zu der Versammlung gewendet – mit lauter Stimme ausrief:

»Ich fühle mich berufen, einen bestimmten Widerspruch gegen die Worte dieses Redners zu erheben. Obwohl ich mich selbst in Opposition zu vielem in unserm Gemeindeleben befinde – oder vielmehr gerade aus dem Grund – liegt es mir daran, zu erklären, daß ich die gefallenen Äußerungen für ganz ungehörig – ja, für unschicklich erachte.«

»Hört! hört!« tönte es mit lautem und einstimmigem Beifall aus der Versammlung, wohingegen Vorsteher Sejling sichtlich erbleichte und nervös nach der Glocke tastete.

»Die Angelegenheiten,« fuhr Wilhelm Pram mit sich steigernder Wärme fort, »die der Redner berührt hat, eignen sich nicht zu einer Erwägung hier . . . und es ist nicht unsere Sache, sie anzubringen. Im Gegenteil! Wir haben in vergangenen Zeiten zu viel Kräfte und Fähigkeiten vergeudet und ernstere Aufgaben hintenangesetzt, um zu der Lösung von Fragen beizutragen . . . die sich . . . schließlich vielleicht gar nicht lösen lassen. Wir können sicherlich alle tiefes und aufrichtiges Mitleid mit den Stiefkindern der menschlichen Gesellschaft empfinden, und wir können, ein jeder für sich, tun, was in unserer Macht steht, um Not zu lindern und Entbehrungen abzuhelfen und die Mängel der Gesellschaftsordnung auszuflicken. Aber an jedem Menschenwerk kleben nun einmal Unvollkommenheiten und es ist nicht nur zwecklos, sondern fast vermessen, wenn man glaubt, es vollkommen machen zu können. Der Gedanke, daß es schon hier auf Erden ein Land der Glückseligkeit gibt, ist eine Schimäre, eine Frucht schöner, aber leichtfertiger Träumereien . . .«

»Träumereien?« wiederholte der Weber mit einem hinterlistigen Lächeln.

»Ja – eine Vorstellung ohne Gehalt – ohne Möglichkeit für . . .«

»Eine U . . . U . . . Utopie?« versuchte der Weber.

»Ja, ein unlösbares Problem . . . eine Phantasterei, mit der sich ernstlich zu beschäftigen zwecklos ist.«

»Es ist doch eigentlich sonderbar,« sagte der Weber, »denn genau dieselben Worte hab' ich neulich in einer von den richtigen alten, erzreaktionären, konservativen Zeitungen gelesen, wovon ich eigentlich nich' geglaubt hab', daß Herr Pastor damit übereinstimmte!«

»Hier wird nicht von Politik gesprochen,« rief Wilhelm Pram abweisend.

»Ach nein, aber ich kann es nu mal nich in meinen Kopf kriegen, wie man gerade das Phantasterei nennen kann . . . warum gerade das Torheit sein soll, kleinen Leuten zu Gleichberechtigung mit andern Menschen zu verhelfen, und Recht und Billigkeit in der Gesellschaftsordnung zu fördern, während es für uns eine Kleinigkeit sein soll, mit den großen Weltproblemen herumzukämpfen und Himmel und Hölle umzukehren. Ich bin – Gott sei Lob und Dank! – weder Freidenker, noch sonst dergleichen, sondern ich bin glücklich in meinem Kinderglauben. Aber trotzdem muß ich sagen, daß, wenn wir Menschen uns ein klein bißchen weniger in die Angelegenheiten des lieben Gottes hineinmischen wollten, wir gewiß Zeit und Kraft hätten, diese oder jene von den Aufgaben zu lösen, die wir jetzt immer höchst eilig als ganz unlösbar beiseiteschieben . . . das is nu meine bescheidene Meinung.«

»Wie lange soll denn eigentlich der Mann Erlaubnis haben, über Dinge zu reden, die gar nicht hierher gehören?« rief Wilhelm Pram in erregtem Tone dem Dirigenten zu.

»Ja, Schluß . . . Schluß!« ertönte es von vielen Seiten.

Scheinbar vollständig beherrscht, trat Vorsteher Sejling vor und sagte:

»Ich muß Wilhelm Pram darauf aufmerksam machen, daß ich die Versammlung leite . . . und ich werde meine Aufgabe schon ohne seinen Beistand lösen.«

»Aber die Redner müssen sich doch auf alle Fälle an das vorliegende Thema halten.«

»Ja – keine Unparteilichkeit!« brüllte eine jugendliche Stimme aus dem Hintergrunde, und nun erhob sich im ganzen Saal ein allgemeiner Spektakel. Niemand wollte mehr hören, alle sprachen durcheinander . . . während der Weber lächelnd von der Rednertribüne herabkroch und lautlos von dannen schlich.

* * *

Am Abend um Sonnenuntergang saßen Ragnhild und Pastor Petersen auf einer Bank im Garten des Hotels, der sich bis an das Wasser erstreckte. Sie waren beide sehr angegriffen von den Ereignissen der Nacht und des Tages. Namentlich war Ragnhild tief erschüttert. Sie saß zusammengekrochen in einem großen Schal da und sah fast alt aus.

Der Pater führte denn auch das Wort. Er erzählte von einigen Demonstrationen, die Emanuels Anhänger in Szene gesetzt hatten, als er unter Bewachung des herbeigerufenen Arztes und eines anderen Mannes in der alten Kalesche des Krugwirts davongefahren war. Die Stummheit, mit der diese Menschen bei dem so unglücklichen Auftreten ihres Meisters auf der Versammlung am vorhergehenden Abend geschlagen gewesen, war nämlich von ihnen gewichen, nachdem sich das Gerücht verbreitet hatte, daß man in der Hochschule Gift in das Glas Wasser gegeben habe, das auf der Rednertribüne stand und von dem er gleich ein wenig getrunken hatte. Sie waren keinen Augenblick darüber im Zweifel, daß seine Gegner ihn hatten aus dem Wege schaffen wollen und jetzt – wo dieser Plan mißlang – ihn einsperren wollten, um ihm den Mund zu schließen. Den ganzen Tag war da ein Auflauf vor seinem Hause gewesen. Männer und Frauen standen da und riefen seinen Namen und baten um seinen Segen. Namentlich war die schwarze Trine sehr wirksam gewesen. Im Verein mit ein paar Fischern hatte sie versucht, sich Zutritt in das Haus zu erzwingen, und jedesmal, wenn sie den Landesvogt hinter einem der Fenster erblickte, hatte sie drohend die Hand erhoben und gerufen: »Wehe dir, Pilatus!« Im Laufe des Tages hatte der Spektakel derartig um sich gegriffen, daß schließlich wohl an fünfzig Menschen – fast die ganze Bevölkerung des Fischerdorfes – das Haus umringten. Selbst Leute, die bisher Emanuels Erweckungsarbeit gleichgültig gegenübergestanden oder sich gar spöttisch dazu gestellt hatten, wurden jetzt von der Bewegung mit fortgerissen; mit genauer Not war es dem Schutzmann und dem Dorfschulzen gelungen, die Menge mit ihren Stöcken zurückzuhalten. Als die Kalesche vor die Tür vorfuhr und während die Menge rief und schrie, hatte sich eine junge Mutter mit ihrem kranken Kinde vorgedrängt, damit Emanuel ihm die Hand auflegen solle. Es war dem Dorfschulzen nicht möglich gewesen, sie zurückzuhalten. »Ich will ihn sehen,« rief sie. Selbst nachdem sich der Wagen wieder in Bewegung gesetzt hatte, fuhr sie fort, sich an das Rad zu klammern und zu rufen, er solle ihr Kind retten.

»Ja – er hat eine wunderbare Macht über die Gemüter gewisser Menschen gehabt,« sagte Ragnhild sinnend, als der Pater seinen Bericht geendet hatte.

»Freilich, die Macht, die die Einfalt, verschönert durch Treuherzigkeit, leider stets über unbefestigte Seelen hat, und die Leute wie Emanuel Hansted ungefähr zu den gefährlichsten Personen für eine Gesellschaftsordnung macht.«

»Betrachten Sie ihn wirklich so? Er hat doch eigentlich immer am schlimmsten gegen sich selbst gehandelt.«

»Ach ja, das kann man auch sagen. Der Fehler liegt wohl überhaupt darin, daß man dergleichen Phänomene zu ernsthaft auffaßt, statt sie gleich von der humoristischen Seite zu betrachten. Es ist, bei Licht besehen, vielleicht der allergrößte Fehler der modernen Menschen, daß ihnen der Sinn für das Komische so völlig abgeht. Genau betrachtet, ist doch Emanuel Hansteds ganzes Streben zum Lachen gewesen, sein Leben war eine Reihe plattkomischer Szenen. Mit vollem Recht könnte einstmals, wenn er stirbt, auf seinen Grabstein geschrieben werden: »Hier ruht der Nachfolger Don Quichottes, Emanuel Hansted mit Namen, der zu einem honetten Kaplan geboren war, sich aber für einen Propheten und Heiligen hielt; der sich deswegen in das Gewand eines Viehhirten kleidete und jeden Einfall für eine spezielle Berufung des Himmels hielt; der regelmäßig verpfuschte, was er in die Hände bekam, seine Frau verließ, seine Kinder vernachlässigte, der sich aber dessenungeachtet bis zum letzten Augenblick als den von der Vorsehung Auserwählten hielt, der das Kommen des tausendjährigen Reiches bereiten und Gottes Gericht über das Menschengeschlecht verkündigen sollte.«

»Sie urteilen sehr hart. Sie vergessen, daß er auf alle Fälle die Entschuldigung hat, seiner Mutter Sohn zu sein.«

»Ach ja, und Mutter wie Sohn haben die Entschuldigung, Kinder einer verschrobenen Zeit zu sein, eines verhuttelten Jahrhunderts, das wie kein zweites die Einfalt großgezogen und der Torheit eine Prämie ausgesetzt hat . . . in dem überspannte Ideen, hysterisches Lamentieren und allerlei exzentrische Windmacherei als Ausdruck der wahren, gottbegnadeten Genialität bewundert werden. Falls der liebe Gott am Jüngsten Tage wirklich Entschuldigungen annimmt . . . ja, dann kann Emanuel Hansted freilich als mildernden Grund anführen, daß er das Resultat des ungesund aufgebauschten Gefühlslebens unserer Zeit war, ein Produkt des lyrischen Fäulnisprozesses, in dem unterzugehen die bürgerliche Gesellschaft der alten Welt momentan im Begriff ist.«

»Es ist sonderbar, Sie so reden zu hören. Meinen Sie wirklich, daß das, was Sie da aufrollen, ein Bild unserer Zeit ist . . . des Jahrhunderts der Eisenbahnen, des Telegraphen, der Revolutionen, der Tingel-Tangel?«

»Ja, Fräulein Ragnhild – ein Bild seiner Kehrseite. Ein Bild der Reaktion, die sein praktischer, tatkräftiger Geist, sein rastloses, kräftig pulsierendes Leben aus allen den dunklen und schimmeligen Ecken und Winkeln hervorgeholt hat. Die Wiedergeburt der Romantik und die Erfindung der Dampfmaschine stammen ja aus demselben Jahr. Und im übrigen . . . betrügen wir uns nicht! Selbst wir, die wir uns doch gern die klugen und verständigen Kinder unserer Zeit nennen wollen . . . selbst wir werden oft genug merken können, daß uns noch allerlei mittelalterliche Gefühle im Blut spuken. Hand aufs Herz, Fräulein Tönnesen! Können Sie selbst sich ganz davon freisagen? . . . Nehmen Sie den geschäftigen Kaufmann, den scheinbar wenigst gefühlvollen Weltmann und schaben Sie ein wenig an ihm – und Sie werden sehen, der Schwärmer, der Stimmungsmensch kommt sofort zum Vorschein. In einsamen Stunden, in der Dämmerung am Kamin, am mondbeschienenen Meer . . . wer widersteht da dem gaukelnden Spiel gefährlicher Träume, luftiger Phantasien, finsterer Schrecken – den Reminiszenzen aus der Klosterzelle und den Urwäldern?«

»Nun ja. Sie haben sicher recht. Aber ist denn eigentlich etwas Böses darin?«

»Es braucht nichts Böses darin zu sein,– bewahre! Gleich andern liebevollen Vätern hat der liebe Gott seinen Kindern Spielzeug zu unschuldigem Zeitvertreib gegeben: Sinnenfreude, künstlerisches Entzücken, Lust der Phantasie usw. Wer aber die Ernährung seines geistigen Lebens hierauf gründet, benimmt sich wie ein Kind, das seinen Gummiball verzehrt und Magenschmerzen bekommt. Und kann sich wirklich jemand ganz frei davon sprechen, dieser kindlichen Neigung unterlegen zu sein? Hören wir nicht noch täglich die Lehre predigen, daß der Mensch in den Träumen seine wahren Freuden, sein größtes Glück, seine eigentliche Heimat hat? Nein, betrügen wir uns selber nicht! Noch liegen wir tief im Schlafe des Mittelalters! . . . oder vielmehr, wir befinden uns in einem halbwachen Zustand, in gefährlicher Stunde, wo Traum und Wirklichkeit sich wunderlich vermischen, wo die Wirklichkeit Traum und der Traum Wirklichkeit scheint. Darum sind wir modernen Menschen wohl auch so sonderbare Doppelwesen mit einer Tagseite und einer Nachtseite, die sich nicht einigen wollen. Und das ist wohl auch der Grund, weshalb wir uns so oft gleichzeitig angezogen und abgestoßen, angesprochen und unangenehm berührt fühlen von einem Ding, einer Sache oder einer Person – kurz, warum wir beständig von sich widerstrebenden Gefühlen gepackt werden, wie das ja für unsere Zeit charakteristisch ist. Was sagt wohl Ihre eigene Erfahrung dazu, Fräulein Tönnesen?«

Die Augen des Paters ruhten bei diesen Worten so forschend auf ihr, daß sie den Blick senkte, ohne zu antworten.

Aber im stillen bejahte sie seine Worte. Sie hatte selbst heute angefangen, ihr Herz in seinem Verhältnis zu Emanuel Hansted zu verstehen – die Mischung von Verachtung, Mitgefühl, Haß und wirklicher Ergriffenheit zu verstehen, die seine Persönlichkeit beständig bei ihr hervorgerufen hatte. Wenn sie an ihr Zusammenleben zurückdachte, von den allerersten Tagen ihrer Bekanntschaft im Vejlbyer Pfarrhaus an, ward es ihr jetzt mit Schrecken klar, daß auch sie – selbst sie! – der Macht des Wahnsinns, dem Zauber der Einfalt unterlegen war, wovon der Pater soeben gesprochen hatte.

Der Pater fuhr fort:

»Ich weiß ja freilich, daß ein geistiger Durchbruch in unsern Tagen stattgefunden haben soll. Ich habe von Bahnbrechern in der Wissenschaft, in Literatur und Kunst reden hören. Aber es ist mir noch nicht gelungen, zu entdecken, was eigentlich durchbrochen worden ist, oder was diesen Durchbruch vollzogen hat. Ich sehe auf alle Fälle stets dieselbe abergläubische Verherrlichung unseres abnorm entwickelten Gefühlslebens, dieselbe hysterische Anbetung von Leidenschaft, Übertreibung und Phantasterei. Ja, ich finde sogar, daß sich die Ungesundheit in den letzten Jahren auf unheimliche Weise ausgebreitet hat, daß der Schwamm der Lyrik dem Volk selber in Mark und Bein gedrungen ist. Das ist es wohl namentlich, was die jetzige religiöse Überspanntheit – ebenso wie vorher die politische – auf eine so traurige Art und Weise bewiesen hat. Dabei muß ich übrigens daran denken, was ich heute gehört habe, daß die Versammlung da drinnen in der Hochschule mit einer vollkommenen Verwirrung geendet haben soll. Wilhelm Pram und seine Garde sollen geradezu gedroht haben, aus der Gemeinschaft auszutreten, weil sie sie nicht mehr als zeitentsprechend ansehen. Das sind die Ratten, die den schwankenden Turm von Babel verlassen . . . Aber Sie sehen so müde aus, Fräulein Ragnhild. Es ist wohl besser, ich rede nicht mehr. Sie sollten hineingehen und sich ein wenig ausruhen.«

»Das hat nichts zu sagen . . . Ich sitze hier nur und wundre mich, daß es ein Prediger ist . . . ein christlicher Prediger, den ich hier reden höre. Ich muß gestehen, ich verstehe es immer weniger, wie Sie solche Anschauungen, wie Sie sie hier – und bei vielen anderen Gelegenheiten – ausgesprochen haben, mit Ihrer Stellung als betrauter Mann der Kirche vereinigen können.«

»Sprechen Sie sich nur offen aus, Fräulein Tönnesen! Sagen Sie es nur geradeheraus, was Sie gewiß denken, daß ich ein Heuchler sein muß, der im Grunde über die ganze Göttlichkeit lacht . . . ein Pfiffikus, der pflichtschuldigst den Tratsch der Kirche mitmacht und im übrigen den lieben Gott sorgen läßt. Ich weiß das recht gut. Das ist das allgemeine Urteil über . . . Pater Rüdesheimer!«

»Das mag wohl sein. Aber ich habe das weder gesagt, noch gedacht. Ich sagte nur, ich könnte nicht verstehen, wie Sie mit Ihren Anschauungen Vertreter einer Lehre sein können, die gerade das Hauptgewicht auf das Gefühlsleben der Menschen legt und dazu die Lyrik wie auch die Mystik in ihren Dienst nimmt. Obendrein sind Sie ja viel orthodoxer in Ihrer Verkündigung als irgendein anderer; ich weiß ja, daß Sie fast mit Gewalt jeden Versuch zu freieren geistigen Regungen in Ihrer Gemeinde unterdrücken!«

»Ganz wie Ihr verstorbener Vater – ja! Und darin finden Sie einen Widerspruch? Es mag gern sein, daß Sie recht haben. Offen gestanden, das bekümmert mich wenig. Auf alle Fälle: ich gestatte mir selbst nicht, das zu kritisieren, was meine Religion ist – denn dann wäre es ja meine Religion nicht mehr. Im übrigen aber . . . ist ein so unbedingtes und vertrauensvolles Verhältnis zu dem ererbten Glauben ein Verhältnis, das jegliches Verlangen nach dem Versuch eines Bessermachens ausschließt . . . ist das wirklich so ganz unvereinbar mit guter gesunder Vernunft? Ich habe doch meinen Vater nach einem langen und unruhigen und keineswegs immer tadellosen Leben dem Tod ruhig in die Augen starren sehen, in diesem selben Glauben. Ich habe ihn doch meine Mutter durch ein Leben voller Leiden und Entbehrungen hindurch tragen sehen . . . und ich glaube nun einmal nicht daran, daß die Menschen so im Handumdrehen den tausendjährigen Grundwall für den Frieden und das Glück ihres Lebens ändern. Ich spreche hier nicht von den einzelnen starken Geistern, den einsamen Titanen, von denen die Geschichte erzählt, die unter Gottes Verantwortung über das Weltenrätsel grübeln. Ihre Wege sind für mich unergründlich, und ich richte nicht. Aber ich weiß es – weiß es aus teuer erkaufter Erfahrung – daß es für uns arme Alltagsmenschen nur ein Gebot, nur eine Rettung gibt: zu glauben, ohne Bedingungen, ohne Schwanken, ohne auch nur ein Titelchen von den Worten der Schrift verrücken zu wollen. Ich verstehe eigentlich gar nicht, wie man einen Glauben haben kann, und gleichzeitig ein immerwährendes Verlangen, daran herumzutüfteln. Dann verstehe ich doch die Zeit weit besser, in der man ohne Sentimentalität Ketzer und Zweifler verbrannte. Der wahrhaft Auserwählte, der wirkliche Zeuge der Wahrheit ließ sich doch nicht von den Flammen des Scheiterhaufens zurückschrecken, und man hatte nicht nötig, so wie jetzt zu sehen, wie sich jeder elende Stümper eine Religion mit derselben Leichtigkeit zusammenrührt, wie man einen Eierkuchen bäckt, oder Zeuge zu sein, wie der erste beste theologische Renommist der ihm anvertrauten Gemeinde die Köpfe verdreht, indem er Gottes Wort nach seinem Dafürhalten auslegt. Ich habe Ihnen wohl übrigens früher erzählt, daß auch ich mich in meinen jüngeren Jahren einmal auf die Wege verirrt hatte, auf denen heutzutage so mancher der sicheren Verzweiflung entgegengeht. Selbst den dornenvollen Pfad der Selbstverleugnung, auf dem Emanuel Hansted eben zugrunde gegangen ist, habe ich schwindelnd betreten, verleitet von dem vermessenen Gedanken, daß die schwere Schmerzenswanderung, die Gottes Eingeborenem um der Menschheit Sünde vorbehalten war – die könnte ihm mir nichts, dir nichts jeder Schneidergeselle nachmachen. Aber Gott sei Dank! Mein einfacher, guter Volksverstand gewann endlich die Herrschaft über alle Ausschreitungen des Herzens, und das gesunde und besonnene Bauernblut, das in meinen Adern rollt, empörte sich gegen die häßliche und gotteslästerliche Selbstquälerei. An der Seite meiner jungen, lebensfrischen Gattin – Gott erfreue ihre Seele im Himmelreich! – lernte ich, eh' es zu spät war, für das Leben zu danken, jeden Tag zu danken, den es mir vergönnt war zu atmen, zu danken auch für die Sorgen und Lasten und die schweren Stunden des Mißmuts, die doch allzusammen ein Menschenleben so wunderbar reich und tief und unendlich machen. Ach ja, die gute alte Zeit! Ich suche oft Trost und stärke meine Hoffnung, indem ich an die herrlichen Feiertage meiner Kindheit zurückdenke, an so einen klaren, stillen Sonntagmorgen auf dem Lande, wo die Kirchenglocken den Feiertagsfrieden über die grünen Felder und in die festlich gestimmten Gemüter hineinläuteten; wo sich die Hoftore in den Dörfern auftaten, und die geschmückten Bauernfamilien in dem feingeputzten Staatswagen mit den blank gestriegelten Pferden zur Kirche fuhren . . . nicht um interessante Neuigkeiten von einem ›geistreichen‹ Kanzelredner zu hören, nicht um sich über das allerletzte Aufsehenerregende von dem Eitelkeitsmarkt der Theologen auf dem laufenden zu halten, sondern um treuherzig den alten Bund zu bestätigen, um als vertrauensvolle Kinder sich in dem Schoße des gemeinsamen Vaters zu versammeln, zu seiner Ehre zu singen, seinen Segen zu empfangen und darauf gestärkt und beruhigt heimzukehren, zu dem Ernst des Lebens und den Freuden des Lebens. So einen Frieden, so eine Geborgenheit der Seele, ein solches fröhliches Gleichgewicht des Gemüts wünsche ich uns wieder . . . wir haben es groß nötig. Ich bin nahe daran zu glauben, daß die wesentliche Aufgabe für einen Prediger – wenigstens in unsern schweren Zeiten – darin besteht, die Leute zu lehren, das Leben auf die rechte Weise zu genießen und zu lieben, ohne Trotz und ohne Furcht, dankbar und zufrieden, so wie es unsere Pflicht dem gegenüber ist, der es uns gegeben. Daher ist mir auch niemand widerlicher als diese Art – jetzt so stark grassierender – Individuen, die sich für sich selbst und andere dadurch interessant machen, daß sie als wehmutsvolle Naturen, schwermütige Schatten, heimatlose Seelen usw. schmachtend in der Welt umherwandern, mögen es nun Leute sein, die sich vermessen darin gefallen, ihr Leben als eine lange Kreuzigung zu betrachten, oder mögen es diese modernen, blutlosen Lümmel sein, die infolge von Übersättigung mit permanenter Lebensübelkeit umhergehen und jeden Augenblick das Bedürfnis fühlen, ihre Seelen herauszubrechen, ihr Inneres auszuschütten, Bekenntnisse abzulegen, – nur wissen sie nie so recht, sollen sie es in den Schoß des lieben Gottes oder in den einer Dirne tun. Ich kann nicht mit einer solchen Person zusammensein, ohne daß die Galle in mir überkocht. Mich wandelt eine fast unbezwingbare Lust an, trotz meiner grauen Haare, auf die Tische zu springen und mit der ganzen Kraft meiner Lungen ein dreimaliges Hurra auf das Leben auszubringen!«

»Aber warum tun Sie das denn nicht!« rief Ragnhild mit glühenden Wangen aus, angefeuert von der Wärme, in die sich der Pater allmählich hineingeredet hatte. »Warum rufen Sie denn nicht, so daß es im ganzen Lande widerhallt? . . . Warum sitzen Sie hier und flüstern es nur mir zu? Warum schwiegen Sie gestern auf der Versammlung? Da wäre es an der Zeit gewesen zu reden!«

»Jetzt schwärmen Sie, Fräulein Ragnhild! Die Lyrik bemächtigt sich Ihrer! Sie sehen mich im Geiste gleich als bahnbrechenden Ritter, als volksbezwingenden Helden. Aber finden Sie wirklich . . . ist es wirklich Ihre Meinung, daß ich mit Herrn Wilhelm Pram und den andern volkstümlichen Schauspielern konkurrieren sollte? Ich müßte dann doch notwendigerweise erst einen dramatischen Kursus durchmachen und irgendein aufsehenerregendes Prophetenkostüm anlegen, – denn man macht weiß Gott keinen Eindruck auf das große Publikum, wenn man in seinen Alltagskleidern auftritt.«

»Sie haben vielleicht recht.«

»Ich glaube es. Freilich bin ich selbst Prediger, aber dessenungeachtet habe ich – und dies ist meine einzige, meine letzte Anfechtung! – eine unüberwindliche Angst vor dem Worte und seiner bestrickenden und betörenden Macht. Der liebe Gott bewahre mich davor, in Verbindung mit meiner eigenen geringen Person hochtrabend über Beruf, Mission und dergleichen zu reden. Und doch muß ich sagen, daß ich es in aller Bescheidenheit für meine Aufgabe halte, – sowohl als Geistlicher wie als Mensch – im kleinen und im stillen dazu beizutragen, die Leute zum Bewußtsein zu bringen . . . zum vollen und klaren Bewußtsein. Ich weiß es wohl, ich kann mich nicht rühmen, in dieser Hinsicht ein besonderes Glück zu haben. Aber das hilft nichts! Ich kann mich nun einmal nicht zurückhalten, wenn ich zu sehen glaube, daß jemand in sein Unglück hineinrennt. Ich glaube, ich habe etwas von einer Kinderwärterinnatur in mir, – das muß mir denen gegenüber als Entschuldigung dienen, denen ich möglicherweise mit meinem vielleicht unberufenen und oft unzeitgemäßen und lästigen Diensteifer, mit der trippelnden und redseligen Kükenmutterangst, die ich nie zu überwinden vermag, beschwerlich geworden bin. – – Aber nun vergesse ich wieder, daß Sie müde sind! Die Sonne ist nun auch untergegangen, und ich muß fort!«

Er erhob sich von der Bank.

»Wollen Sie wirklich fort?« fragte sie.

»Ja, es ist an der Zeit. Ich weiß, daß der Wagen wartet, und ich habe hier auch nichts mehr zu tun. Leben Sie wohl, Fräulein Tönnesen! Und verzeihen nun auch Sie – ja, ganz besonders Sie – meine langatmige Anwesenheit hier in diesem Sommer! Gestehen Sie es nur! Sie haben mich manch liebes Mal dahin gewünscht, wo der Pfeffer wachst. Ich habe es Ihrem Gesicht ansehen können, obwohl Sie eine feine Diplomatin sind . . . Aber nun sind Sie nicht mehr böse auf mich, nicht wahr?«

Sie drückte ihm schweigend die Hand.

»Leben Sie wohl, Fräulein Tönnesen! Wir sehen uns wohl gelegentlich in Kopenhagen wieder. Bleiben Sie noch lange hier?«

»So lange, wie Betty bleibt; ich will sie in dieser Zeit nicht verlassen. Und hier wird wohl allerlei zu ordnen sein, ehe sie an Abreisen denken kann.«

»Grüßen Sie sie von mir! Es tut mir leid, daß ich mich nicht von ihr habe verabschieden können. Aber auch sie werde ich wohl in Kopenhagen wiedersehen. Leben Sie wohl! – Leben Sie wohl, Fräulein Tönnesen!«

»Adieu,« sagte Ragnhild. »Und haben Sie Dank für alles!« fügte sie hinzu, als er sich bereits einige Schritte entfernt hatte.

Er wandte sich um und grüßte, indem er lächelnd den Hut an die Brust drückte.

»Ehrerbietigster Diener, mein gnädiges Fräulein! . . . Stets zu Ihren Diensten!«

* * *

An einem regnerischen Herbsttag, ein paar Monate später, schlängelte sich ein Leichenzug langsam auf dem gewundenen Wege entlang, der von der Skibberuper Grenze zu der alten einsam gelegenen Kirche auf der Landzunge führt, die hoch über dem Fjord aufragt. Es war Emanuel, den man jetzt zur Ruhe bestattete.

Obwohl seine Hinterbliebenen gewünscht hatten, daß das Begräbnis in aller Stille vor sich gehen sollte, hatte sich dennoch aus Vejlby wie aus Skibberup ein ansehnliches Gefolge eingefunden. Der Weg war schwarz von Wagen und Fußgängern. Nur die Verhärtetsten unter den »Erleuchteten« in der Gegend hatten sich ferngehalten, weil es bekannt geworden war, daß auf Hansinens Wunsch keine Rede am Grabe gehalten werden sollte.

Man sah fast alle die alten Gesichter, die seinerzeit Emanuel beständig umgeben hatten; das Unglück seiner letzten Tage hatte sie den ehemaligen Streit vergessen lassen. Selbst der »Wiking« Zimmermann Nielsen mit dem mächtigen Bart war erschienen, wenn er sich auch ganz hinten im Gefolge hielt, als wolle er damit andeuten, daß er nicht ganz aus freiem Willen hier sei. Auf seinem ernsten Gesicht stand denn auch deutlich zu lesen, daß er sich keineswegs ohne Bedenken entschlossen hatte, an dieser Zeremonie teilzunehmen. Er gehörte jetzt zu den geschworenen Anhängern des Höllenpredigers und genoß viel Ansehen in der Gemeinde infolge seiner großen »Erleuchtetheit«. Scherzeshalber hatte sich Weber Hansen ihm angeschlossen, was ihn offenbar in hohem Maße genierte. Wiederholt hatte er den Versuch gemacht, ihn loszuwerden, hatte den Platz im Gefolge gewechselt, sich mit anderen auf eine Unterhaltung eingelassen u. dgl. m.; aber der Weber blieb an seiner Seite hängen wie eine Klette und amüsierte sich recht herzlich, als er das Aufsehen bemerkte, das ihre Kompagnieschaft ringsumher erregte.

Auch den ehemaligen Tierarzt Aggerbölle sah man im Gefolge, wenn auch eigentlich nur als einen Schatten seines früheren Ich, bleich und eingefallen mit einem jammervollen Rock und verschlissenem Zylinder, aber immer gleich stramm von Haltung und mit dem Kneifer vor seinen großen, steif vor sich hin stierenden Augen. Der vom Schicksal so unsanft behandelte Mann war jetzt endlich als Armenhäusler gestrandet. Freilich würde er das keineswegs selbst eingestehen. Aus Barmherzigkeit gegen ihn – und außerdem aus einer gewissen unüberwundenen Ehrfurcht vor dem, was er selbst seinen »Rang« nannte – hatte man ihn nämlich in seinem alten Hause wohnen lassen und ließ ihm überhaupt die öffentliche Unterstützung unter so rücksichtsvollen Formen, wie nur möglich, zufließen. Daher behauptete er auch hartnäckig – und glaubte allmählich selbst daran – daß der Armenvorsteher nur freundlichst »seine Mittel verwaltete«, und räumte allerhöchstens ein, daß er zuweilen freiwillige Gaben empfange, gegen die sich sein Ehrgefühl allerdings sträube, die ganz abzuweisen, er jedoch aus Rücksicht auf seine geliebten Kinder sich nicht für berechtigt halte.

Unter denen, die sich dem Begräbnis ferngehalten hatten und deren Abwesenheit bemerkt wurde, waren in erster Linie Kaufmann Villing und seine Frau. Sie hatten nicht gewagt, sich dem Mißfallen ihrer »erleuchteten« Kunden auszusetzen, und waren deswegen zu Hause geblieben, obwohl es namentlich Herrn Villing keineswegs leicht geworden war, auf eine Gelegenheit zu verzichten, wo er repräsentieren und feierlich sein und bewegte Worte über den Tod und das Schicksal und den wunderbaren Wechsel im Leben usw. reden konnte. Das betriebsame Ehepaar hatte übrigens wieder eine geschäftige und goldene Periode gehabt. Villings standhafter Glaube an die Überlegenheit der fachmännischen Ausbildung und ihren endlichen Sieg war nicht zuschanden geworden. Bei der starken Inanspruchnahme von allerlei geistigen Fragen hatte die Gemeinde in der letzten Zeit weder hinreichenden Sinn noch Gelegenheit gehabt, mit der nötigen Energie den »Konsumverein« aufrechtzuhalten, den Weber Hansen seinerzeit zur Kräftigung der Selbständigkeit des kleinen Mannes gegründet hatte, und Villings kleiner Laden war daher wieder der gewöhnliche Versammlungsort geworden, der vom frühen Morgen an voll von handelnden Leuten stand und wo sich die Vejlbyer Bauern mindestens einmal am Tage einfanden, um sich eine müßige Stunde mit Dorfklatsch und Tabak zu vertreiben.

Von Emanuels Familie waren nur Frau Betty und sein Bruder, der Gardeoffizier, zugegen, der letztere in Zivil. Der alte Etatsrat hatte es nicht gewagt, sich den Beschwerden der Reise auszusetzen. Er war sehr schwach und niedergeschlagen und man erwartete, daß er den Winter nicht überleben würde.

Es war Emanuels eigener Wunsch, den man erfüllte, indem man ihn auf dem Skibberuper Kirchhof, der die einsame Landzungenkirche umgab, zur letzten Ruhe bestattete. Er hatte so oft von seiner Liebe zu diesem öden, verlassenen Ort mit der freien Aussicht auf den Fjord geredet, – hatte davon gesprochen, wie herrlich es sein müsse, dort einmal an der Seite des »Buben« zu ruhen, umgeben von der tiefen, hoheitsvollen Stille, die nur das Wellengebrause und die Möwenschreie unterbrachen. Noch während seiner Krankheit hatte er beständig von der alten Kirche phantasiert, an die sich so viele von den glücklichsten Stunden seines Lebens knüpften. In seinen lichten Augenblicken hatte er der Krankenpflegerin von seinem Hochzeitstage erzählt, von dem langen, geschmückten Brautzug, von dem Bischof, der sie am Eingang in vollem Ornat empfing und von der nächtlichen Heimfahrt, wo der Pfarrhügel sich plötzlich auf flammenden Säulen erhob. Auch von dem Vejlbyer Pfarrhause hatte er immer gern erzählen wollen; aber die Krankenpflegerin hatte ihn im allgemeinen zurückhalten müssen, weil ihn die Erinnerungen zu sehr angriffen. Er konnte oft in krampfhaftes Schluchzen verfallen oder in eine tiefe, stumme Verzweiflung versinken über sein verscherztes Glück, und er hatte schließlich keinen anderen Gedanken, kaum einen anderen Wunsch, kein anderes Verlangen, als seine Frau und seine Kinder zu sehen. Als man beim Herannahen des Todes endlich seinen Bitten nachgab und nach ihnen schickte, war es bereits zu spät. Schon in der Nacht starb er. Mit seinen letzten versagenden Kräften bat er dann seine Umgebung, Hansine zu sagen, was er ihr selbst hatte sagen wollen, daß er ihr danke und sie segne. Die Hand der Krankenpflegerin in der seinen und während der goldene Tag da draußen hinter den herabgelassenen Rouleaus des Krankenhauses siegreich anbrach, atmete er seinen Geist in einem langen und schmerzlichen Seufzer aus.

. . . Über dem langsam dahinziehenden Leichenzug hallte die baßtiefe Stimme der Kirchenglocke, dieser eintönige Laut, der trotzdem einen Ausdruck für alle die tiefsten Regungen eines Menschenherzens hat, von der fröhlichsten Hochzeitsfreude bis zum Schmerz des Abschieds. Die Kirchhofspforte wurde geöffnet, und während eine Schar aufgescheuchter Möwen draußen über dem Strande zu schreien begann, als wolle auch sie mit dabeisein, ihrem unglücklichen Freund den letzten Gruß zu bringen, bog der Zug zwischen den verwehten Gräbern ein.

Als sich das Gefolge um den Begräbnisplatz des alten Anders Jörgen versammelt hatte, und während der blumengeschmückte Sarg langsam in die Erde gesenkt wurde, suchten aller Blicke unwillkürlich Hansine. Sie stand da in ihrer Witwentracht neben dem Grabe und hielt die kleine Sigrid an der Hand. Während das Kind schluchzend sein Gesicht in dem Kleide der Mutter barg, schien Hansine selber vollkommen ruhig zu sein. Aber spurlos waren die letzten Zeiten nicht über sie hingegangen. Sie hatte sichtlich angefangen zu altern und sie war so merkwürdig klein anzusehen in ihrer schwarzen Kleidung.

Nachdem ein Gesang gesungen war, trat der Höllenprediger mit finsterer Miene an das Grab.

Er war ein kleiner untersetzter Mann mit schwarzem, kurzgeschnittenen Vollbart, dicken blutroten Lippen und fanatisch mißtrauischen Augen. Er verrichtete das Erdaufwerfen mit eifriger Hand und mächtiger Stimme; und als Ersatz für die Rede, die er nicht hatte halten dürfen, zog er das »stille Gebet« derartig in die Länge, daß einzelne ungeduldig die Hüte aufsetzten und sich aus dem Staube machten.

Und dann war die Feierlichkeit beendet, und das Gefolge zerstreute sich langsam.

* * *

Es sind jetzt ein paar Jahre seit diesem Tage vergangen. Noch herrscht Pastor Madsen mit Feuer und Schwert in Vejlby und Skibberup, ja, weit über die Grenzen des Kirchspiels hinaus, – selbst bis nach Sandinge hinüber – erstreckt sich seine gebietende Kraft.

Aber auch Hochschulvorsteher Sejling ist nicht müßig gewesen. Für all das, was die Freundesgemeinschaft in den letzten Jahren in den breiteren Volksschichten an Verbreitung und Einfluß eingebüßt, hat er eifrig Ersatz an äußerer Macht und Ansehen durch Anerkennung der höheren Gesellschaftskreise gesucht. Und in dieser Hinsicht hat er wirklich überraschend viel Glück gehabt. Die ehedem so lächerliche Gemeinschaft ist in diesem Augenblick auf dem besten Wege, fashionabel zu werden, ihre Auffassung des Christentums ist im Begriff, zur Staatsreligion erhöht zu werden, und Vorsteher Sejling selber ist kürzlich mit dem Ritterkreuz begnadigt worden.

Dieser unvermutete Erfolg scheint für die Wilhelm Pramsche Fraktion, die einer baldigen Auflösung entgegenzugehen droht, verhängnisvoll werden zu sollen. Zu allererst wurde Frau Gylling treulos, die sehr schnell nach dem bedeutungsvollen Besuch des Kultusministers in der Sandinger Hochschule angefangen hatte, zur Erkenntnis zu gelangen, daß sie in Übereilung gehandelt hatte, als sie der reformeifrigen Partei ihre gewichtige Stütze zusagte. Auch der liebenswerte Kandidat Boserup hat endlich Ruhe vor seinen Zweifeln gefunden. Neugeboren und geläutert ist der verlorene Sohn der Freundesgemeinschaft in den heimischen Schoß zurückgekehrt und hat hier das lange im Stall stehende gemästete Kalb in Form einer guten Pfarre demütig in Empfang genommen.

Ja, selbst der gutmütige kleine Pastor Magensen hat sich, wenn auch sicher ohne Berechnung, ja, gewiß mit blutendem Herzen, gezwungen gesehen, seinen extremen Standpunkt zu verlassen. In einer neuen, aufsehenerregenden Schrift über die Höllenstrafen hat er offen eingestanden, daß seine bisherige Auffassung auf einem Mißverständnis, aus einem Übersetzungsfehler beruhe, indem die zu allerletzt eingetroffenen Ergebnisse der Sprachforschung unumstößlich beweisen, daß die vielbestrittene Bibelstelle doch am richtigsten in Übereinstimmung mit der Auffassung der offiziellen Kirche auszulegen sei.

Was Wilhelm Pram selber anbetrifft, so setzt er freilich mit ungeschwächter Leidenschaft seinen Kampf gegen die Autoritäten der Kirche und den Glauben an die Unfehlbarkeit der Schrift fort; aber es scheint, als wenn selbst seine Freunde anfangen, ihn ein wenig einförmig zu finden. Er erfüllt offenbar die Erwartungen nicht, die man in ihn gesetzt hat. So wurde er kürzlich von einem seiner eigenen Anhänger öffentlich in einer Zeitung angegriffen und ihm der Vorwurf gemacht, daß er nun schon seit viel zu langer Zeit »nicht mit etwas Neuem zum Vorschein gekommen sei.« – –

Währenddes schreiten die Tage gleichmäßig und still in der kleinen Fachwerkhalbhufe in Skibberup dahin, wo nun Hansine und ihr Bruder unumschränkt regieren, nachdem die alte Else endlich die Augen geschlossen hat. Im Torweg hängt noch immer die verrostete Stallaterne und dreht sich an ihrer Schnur herum, ganz wie in Hansinens und Ole Christians jungen Tagen. Aber draußen im Garten, auf dem Felde und im Stall läuft jetzt die heranwachsende Generation, Sigrid und Klein-Dagny, rotwangig und zufrieden umher.

Es kommt ja freilich hin und wieder einmal vor, daß sich Sigrid in der Dämmerstunde – oder wenn ihr etwas nicht ganz paßt – in eine Ecke hinsetzt und sich nach Kopenhagen sehnt. Aber sie erhält nie Erlaubnis, sich in Stimmungen zu vertiefen. Die Mutter ist gleich hinter ihr her und stellt sie bei der Arbeit an. Sie ist nun so groß, daß sie anfangen muß, sich nützlich zu machen. Sie hat den Hühnerhof zu besorgen und die kleinen Ferkel und die Schafe und die Lämmer, – und Hansine läßt keine Nachlässigkeit durchgehen.

Mit den Leuten im Dorf pflegt die kleine Familie vorläufig nicht viel Verkehr. Doch guckt hin und wieder wohl einer der alten Freunde ein, um zwischen Tür und Angel ein wenig über die Tagesneuigkeiten zu plaudern. Sogar Weber Hansen stattet ab und zu einen Besuch ab. Der geschlagene Mann lebt jetzt still und ruhig und ernährt sich mit seinem Webstuhl und gibt sich jedenfalls den Anschein, als habe er alle Agitation aufgegeben. Freilich erzählt man, daß er angefangen habe, sich zu Svend Bier und Peter Branntwein und der übrigen unheimlichen Gesellschaft da unten in den Moorhäusern zu halten. Fragt man ihn aber danach, so tut er, als höre er es nicht, und fängt an, über andere Dinge zu reden.

Jeden Sonnabend nachmittag, wenn das Wetter nur einigermaßen ist, ziehen Hansine und die Kinder mit Rechen und Gießkanne nach dem Friedhof hinaus, um den Begräbnisplatz der Familie zu pflegen. Für die Kinder sind diese Wanderungen allmählich eine Art Belustigung geworden, eine Einleitung zu der frohen Feier des Sonntags. Für Hansine hingegen bleibt diese Stunde, in der sie still umhergeht und sich mit den Gräbern ihres Mannes, ihres Sohnes und ihrer Eltern zu schaffen macht, die eigentliche Andachts- und Erbauungsstunde der Woche, in der sie in den Erinnerungen Ersatz für das findet, was ihr das Leben versagt hat. Erst jetzt, wo Emanuel fort ist und sie ohne Unruhe, ohne Sorge und Bitterkeit an ihn denken kann – erst jetzt meint sie, ihn so recht zu besitzen, ihm ihr volles Vertrauen und ihre ganze Liebe schenken zu dürfen. Ja, auch der »Bube« hat jetzt für sie gleichsam neues Leben erhalten, da die Schatten der Vergangenheit von seinem Bilde gewichen sind.

– – Aber da sind auch noch andere, die Emanuels Grab besuchen. Nicht selten geschieht es, daß ein oder mehrere Boote mit schwarzgekleideten Männern und Frauen über den Fjord gesegelt kommen und an den großen Steinen am Strande anlegen, von wo aus die Männer die Frauen auf ihren Armen ans Ufer tragen. Schweigend steigen sie zu dem Kirchhof hinauf und umstehen lange ganz unbeweglich das Grab, in Gebet versunken.

Das sind Emanuels alte Freunde, drüben aus dem Fischerdorf Sandinge, die ihm jetzt nach seinem Tode einen förmlichen Kultus widmen. Sie haben einen eigenen Verein da drüben gebildet, eine Sekte, die vollständig darin aufgeht, in der Erinnerung an sein Leben und seine Arbeit zu leben. »Gottes Lamm« nennen sie sich, und wie es heißt, sollen sie schon eine nicht geringe Verbreitung gefunden haben. Sie leben alle still und friedlich, indem sie in Demut bestrebt sind, es Emanuel in allen seinen Vollkommenheiten gleichzutun. Jeden Sonntag nachmittag versammeln sie sich, um zusammen von ihm zu reden, sich durch seine Worte zu erbauen und den Erzählungen aus seinem wundervollen Leben zu lauschen. Und wenigstens einmal im Jahr machen sie – in Gemeinschaft oder allein – eine Wallfahrt nach seinem Grabe.

Über seine Geburt und sein Heranwachsen sollen schon viele sonderbare Sagen im Gange sein. So erzählt man sich, daß seine fromme Mutter, als sie ihn unterm Herzen getragen, eines Nachts im Traume Gottes Hände sich segnend auf ihren Kopf legen fühlte und eine Stimme in der Dunkelheit sagen hörte: »Du sollst den Menschen einen Erlöser gebären!« Ferner wird behauptet, daß er schon als Knabe oft fastete und täglich auf die Straße hinabging, um seine Speisen mit den Armen zu teilen. Doch in bezug auf diese und andere ähnliche Erzählungen herrscht bereits schon eine gewisse Uneinigkeit. Dahingegen ist man nicht im Zweifel darüber, daß er als Opfer der Verfolgung der Welt gestorben ist, und einer der leitenden Männer der Sekte, ein ehemaliger Schullehrer, soll zurzeit damit beschäftigt sein, einen auf mündliche Zeugnisse begründeten Bericht über sein Martyrium zu verfassen, damit sein Leben und seine Werke der Nachwelt zu dankbarem Gedenken bewahrt werden können. –

 


 


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