Henrik Pontoppidan
Das gelobte Land
Henrik Pontoppidan

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Dritter Teil

Eines Nachmittags Mitte Juli kamen Emanuel und Hansine den Weg von der Skibberuper Fjord–Kirche gegangen; sie waren da draußen gewesen, um einen frischen Kranz auf des Buben Grab zu legen. Schweigend gingen sie jeder auf seiner Seite des Weges, Emanuel in seinem grauen langschößigen Moltonrock, Hansine in der Kirchenhaube und mit einem schwarzen Schal, den sie mit ihren braunen, ein wenig knochigen Händen vorne zusammenhielt. Es war ein sonnenheißer Tag. Unter dem hohen Himmel segelte auch nicht eine einzige Wolke und auf dem Wege lag eine dicke weiße Staubschicht, die von ihren Schritten aufgewirbelt wurde, so daß sie wie in Mehldampf gingen.

Als sie auf die Anhöhe hinaufgelangt waren, machte Emanuel halt vor einer einsamen Hütte, die ein wenig Schatten auf den Weg warf. Hut und Stock hinten auf dem Rücken haltend blieb er lange unbeweglich stehen, vertieft in den Anblick der sommerlich üppigen Landschaft. Zu allen Seiten sah er auf reife oder reifende Äcker hinaus. Über die ganze Gegend erstreckte sich ein endloses Kornmeer, das auf seinen gelben und grünlichen Wogen das Sonnenlicht wiegte.

»Ist es nicht ein lieblicher Anblick?« sagte er endlich mit einem stillen Tonfall, fast, als sei er bange etwas zu verscheuchen, wenn er sprach. »Es ist, als könne man durch die Luft die Kraft der Erde spüren! Und höre nur die Lerchen da drüben über Niels Jensens Roggen . . . Aber ist es nicht sonderbar, ich werde immer so feierlich gestimmt, wenn ich das Herannahen des Herbstes spüre. Es ist so merkwürdig ergreifend, die Frucht des Kampfes und der Mühe eines ganzen langen Jahres sozusagen auf einmal vor unsern Augen reifen zu sehen. Und noch rätselhafter ist es, an die wundersame und nicht zu unterdrückende Naturkraft zu denken, die sich uns offenbart. Mag der Winter strenge gewesen sein oder milde, der Sommer trocken oder regnerisch . . . Jahr für Jahr reift das Korn zur selben Zeit, ja fast auf denselben Tag. Und jede einzelne Kornsorte hat sogar ihren eigenen Reifetag! . . . Erinnerst du dich wohl noch, Hansine, wie wir in diesem Frühling alle über die Nachtfröste klagten, weil wir fürchteten, daß sie den jungen Keimen schaden könnten? Und später, wo wir über Mangel an Regen klagten, und hinterher über zuviel Regen? Und nun steht das Korn hier in all seiner Herrlichkeit und spottet unserer Klugheit und aller unserer Besorgnis!«

Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort:

»Es liegt eigentlich eine tiefe Lehre für uns Menschen in alledem!« Und nach einem abermaligen Schweigen sagte er:

»Ich glaube, ich werde dies Thema zu meiner Predigt am Sonntag benutzen. Es offenbart sich in diesem kleinen Auge aus dem gesetzmäßig geordneten Haushalt der Natur eine ewige Wahrheit, die wir – und namentlich in dieser Zeit – uns mit großem Nutzen recht innerlich aneignen können!«

Er hatte seine Wanderung fortgesetzt, blieb aber von nun an vor fast jedem zweiten Acker stehen und brach in eine Bewunderung über den Anblick des hervorquellenden Reichtums aus. Er hatte seinen breitrandigen Strohhut wieder auf den Kopf gesetzt und ihn tief in die Stirn gedrückt, um seine Augen zu schonen, die in der letzten Zeit das Sonnenlicht nicht recht hatten vertragen können.

Drüben auf der anderen Seite des Weges folgte ihm Hansine geduldig trotz seines häufigen Stehenbleibens und hörte ihm mit einem aufmerksamen, ein wenig forschenden Ausdruck zu, wenn er sprach. Sie selbst verhielt sich beständig stumm . . . bis Emanuel plötzlich den Ton veränderte und in etwas melancholische Betrachtungen verfiel, indem er einen Vergleich zwischen dem ziemlich mäßigen Stand seiner eigenen Felder und der Fruchtbarkeit anstellte, die er hier ringsumher erblickte.

»Deine Mutter hat gewiß recht,« sagte er. »Wir müssen uns wirklich jetzt zusammennehmen.«

»Ach, so schlimm ist es denn doch auch nicht,« sagte Hansine in einem ermunternden Ton, der wunderlich fremd in ihrem Munde klang und auch keinen ganz ungezwungenen Eindruck machte. »Der Roggen ist ja beinahe gut, finde ich; und du hast nun auch soviel anderes auf Händen gehabt in den letzten Jahren, Emanuel . . . mit der Politik und mit anderen Sachen. Ich denke, daß wir nun in Zukunft alle zusammen ein bißchen mehr zur Ruhe kommen werden. Und schaden könnt' das am Ende auch nich'.«

Wie so oft überhörte er die letzte Hälfte von dem, was sie sagte und setzte seinen eigenen Gedankengang fort:

»Vielleicht würde es gut sein, wenn ich zum nächsten Jahr eine Änderung in der Bestellung einführte.«

Nach einer Weile aber ging er wieder schweigend in sich selbst versunken weiter und sah zu Boden.

Nachdem sie eine Zeitlang zwischen zwei Mauern von mannshohen Roggenhalmen dahingeschritten waren, über denen sich gelbe und bunte Schmetterlinge im Sonnenschein tummelten gleich fliegenden Stiefmütterchenblüten, erreichten sie jetzt den Fuß des Hügels, von wo aus ein Pfad über eine Wiese nach Skibberup hineinführte. Hier blieb Hansine stehen und sagte:

»Ich will einmal hineingehen und mich nach den Alten umsehen. Kommst du nicht mit? Ich glaube, sie erwarten uns.«

»Nein, jetzt nicht! Jetzt nicht . . . Ich habe etwas Wichtiges zu durchdenken . . . Aber grüße die lieben Alten von mir und sage ihnen, ich würde wohl im Laufe der Woche noch einmal bei ihnen einsehen – – Und, hör' einmal!« rief er ihr nach, als er schon eine Strecke von dem Vejlbyer Wege zurückgelegt hatte, »wenn du daran denkst, so sage deinem Vater, daß ich den Saatroggen nicht vergessen habe, den ich im Frühling von ihm geliehen habe. Er soll ihn wieder haben, sobald ich das erste Fuder unter Dach habe.«

Im Elternhause fand Hansine den Vater allein daheim. In schwarzweißen wollenen Hemdsärmeln und eine Pelzmütze tief auf die struppige Haarmähne gedrückt, saß der alte Mann im Lehnstuhl und schlummerte, umkreist von einem großen Fliegenschwarm, der sich bei ihrem Eintritt summend über die Stube zerstreute.

»Bist du es, Hansine?« sagte er und zog die weißen Brauen hoch über die blinden Augen in die Höhe. »Wie? – Du kommst allein? Wo ist Emanuel?«

»Ich sollte von ihm grüßen, er würde im Laufe der Woche einsehen, sagte er.«

»Ach so. Ja, ja, Mutter kommt gleich. Sie is bloß mal nach Sörensens rübergegangen, um die Zeitung zu holen. Es soll ja 'ne gewaltige Rede von Bärre da in stehen. Hat Emanuel denn nichts davon gesagt?«

»Nein. Ich glaub' er hat die Zeitung heut' noch nich' gelesen.«

»Er gibt ihnen ordentlich einen auf'n Hut, dieser Bärre. Aber so soll es sein. Das haben sie auch verdient . . . diese . . . diese Räuberbande, ja, das sag' ich gerade raus. Denn was sind sie woll anders? Räuber und Gesindel sind sie und nichts nich' weiter! . . . Aber was hab ich dazumals gesagt: . . . Weißt du woll noch, Hansine? . . . Soll'n wir das hölzerne Pferd wieder haben, hab ich gesagt. Soll'n wir Bauern wieder das liebe Vieh für die Gutsherren sein . . .«

Er hatte sich mit Mühe vom Stuhl erhoben und sich mit Hilfe eines Stockes auf ein Paar großen Schlarfen ein Stück durch das Zimmer fortbewegt. Hansine hatte ihr Tuch abgelegt und sich an das Fenster gesetzt; und während der alte verbitterte Mann fortfuhr zu schwatzen, saß sie stumm da und sah in den kleinen schattigen Garten hinaus, wo die eiförmigen Sonnenflecken sich über Gras und Gänge schlängelten, und wo die Hühner umhergingen und unter den Stachelbeerbüschen scharrten – ganz so wie zu jener Zeit, da sie als junges Mädchen ihren Platz hier an demselben Fenster gehabt und in einsamen Stunden sich eine Zukunft in goldenen Träumen aufgebaut hatte.

Sie saß da und dachte gerade an diese Zeit und an das erste Jahr ihrer Ehe, als Emanuel und sie allein mit und für einander lebten, und als jeder Tag des Zusammenlebens eine neue Offenbarung eines reichen und ungekannten Glücks für sie war. Sie dachte an die friedlichen Abende des ersten Winters, als sie zusammen um die Lampe saßen, während ihr Emanuel vorlas oder ihr von den einsamen Seelenkämpfen seiner Jugend erzählte. In der Zeit, unmittelbar nach dem Tode des Buben, hatte sie gemeint, auch bei Emanuel eine Sehnsucht nach dem Frieden und der Traulichkeit jener Tage zu spüren. Aber jetzt merkte sie mit jedem Tage deutlicher, daß seine Gedanken angefangen hatten, ihre eigenen Wege zu gehen. Wohin sie gingen, wußte sie nicht; es war, als wenn sie in der letzten Zeit sein innerstes Vertrauen verloren hatte. Aber im Gefühl ihrer Ohnmacht gegenüber der Niedergeschlagenheit, die ihn mehr und mehr beherrschte, konnte sie keine Ruhe vor dem Gedanken finden, daß er ihr irgend etwas verbarg, daß er über einen beginnenden Mangel brütete, den ihr einzugestehen er nicht den Mut hatte, und dessen er sich selbst vielleicht nicht einmal ganz bewußt war, – über einer langsam erwachenden Sehnsucht nach dem Leben und den Menschen, die er zum Teil um ihretwillen verlassen hatte.

Die Tür zur Küche wurde halb geöffnet und Else steckte ihren großen Kopf herein.

»Ach, du bist es, Hansine! Ja, wir haben euch ja auch erwartet . . . Wo is' Emanuel?«

»Er hatte heute keine Zeit. Er guckt im Laufe der Woche mal ein. Ich sollt' von ihm grüßen.«

Elses Gesicht nahm einen strengen Ausdruck an und verschwand aus der Türöffnung. Nach Verlauf von wenigen Augenblicken sagte sie von der Küche her, wo sie mit ein paar tönernen Schüsseln hantierte:

»Es ist sonderbar, wie hild Emanuel es in letzter Zeit hat. Ich sollt' meinen, er hätt' nie mehr Zeit ein Paar alten Leuten Besuch zu machen. Das sieht doch wirklich lächerlich aus, find' ich.«

Hansine antwortete nicht. Sie wußte, daß in letzter Zeit eine kleine Mißstimmung zwischen der Mutter und Emanuel geherrscht hatte, weil er nach Ansicht der Mutter angefangen hatte, die Bestellung der Pfarrwirtschaft zu vernachlässigen und die Leitung zu sehr den Knechten überließ.

»Aber die Zeitung . . . die Zeitung, Mutter!« rief nun Anders Jörgen, der sich wieder nach seinem Lehnstuhl zurückgetastet hatte.

»Ja, nu komm' ich. Ich will man blos die Milch für die Kälber eingießen.«

Nach einer Weile erschien sie in der Tür im Begriff eine Schürze um ihren umfangreichen Leib zu binden.

»Nu woll'n wir aber mal hören!« rief der Alte strahlend aus, als er den knitternden Laut der Zeitung auffing. »Er gibt ihnen ordentlich einen auf 'n Hut. Ja, Bärre, der versteht es! Der sagt so wie ich – weißt du woll noch? – Soll'n wir wieder das hölzerne –«

»Ja, es is gut, Vater, schweig' du man still,« unterbrach ihn Else, setzte Anders Jörgens alte runde, grünspanige Messingbrille auf die Nase und fing mit leicht näselnder Stimme an, einen sechs Spalten langen Artikel »Unseres Führers Rede in Vemmelöv« betitelt, vorzulesen.

* * *

Währenddes hatte Emanuel seinen Weg in der Richtung nach Vejlby fortgesetzt. Er war jedoch nicht direkt auf sein Haus zugegangen, sondern hatte einen Bogen gemacht, um nach den großen öden Feldern nördlich vom Dorf zu kommen, wohin er in den ersten Tagen seiner Kaplanswirksamkeit so oft seine Zuflucht genommen, und deren Einsamkeit und Stille in der letzten Zeit wieder eine eigenartige Anziehungskraft auf ihn ausgeübt hatte. Hier oben hatte er versucht Klarheit über die vielen Gedanken zu erlangen, die die großen Ereignisse der letzten Tage in ihm wachgerufen hatten. Stundenlang hatte er auf derselben Strecke Weges auf und nieder wandern und sich in staunendes Grübeln über die sonderbare, fast gleichgültige Ruhe verlieren können, mit der seine Freunde hier – ebenso wie die Gesinnungsgenossen über dem ganzen Lande – sich in ihre Entmündigung hatten finden können und täglich mit ansahen, wie die heiligsten Gesetze der Menschen frech mit Füßen getreten wurden. Selbst ein Mensch wie der große Zimmermann Nielsen, von dem er weit eher ein allzu unbeherrschtes Aufbrausen verwundeten Stolzes und Rechtsgefühls befürchtet hatte, lächelte noch immer ebenso selbstgefällig und sprach nur davon, daß man in Zukunft sehen müsse, »sich auf eine veränderte Taktik vorzubereiten.« Dasselbe sagte auch Weber Hansen, der ihm kürzlich einen späten Abendbesuch gemacht hatte und bei dieser Gelegenheit auf seine gewöhnliche geheimnisvolle Weise und mit vielen Umschweifen geäußert hatte, daß der Dorfschulze wohl kaum mehr seiner hervorragenden Stellung gewachsen sei und in einigen verblümten Andeutungen hinzugefügt hatte, daß es vielleicht auch im Privatleben des Dorfschulzen Verhältnisse gäbe, die nicht vereinbar mit einem Manne seien, der als politischer Führer eines großen christlich erleuchteten Kreises dastehe – Andeutungen, die Emanuel nicht verstanden hatte und an deren näherer Erklärung ihm auch nichts gelegen war. Er war fest entschlossen, sich nicht mehr um die Tagespolitik zu kümmern, für die er überhaupt niemals großes Interesse empfunden und von deren Bedeutungslosigkeit er jetzt jede wünschenswerte Bestätigung erlangt hatte. Das Wachstum des Reiches Gottes konnte doch nicht aufgehalten werden. Die heilige Volksherrschaft hier auf Erden würde zunehmen und gedeihen trotz aller Gesetzgeberei und alles Verletzens der Gesetze – genau so wie das Korn des Erdbodens, das am Tage der Ernte den Menschen seine goldenen Ähren reichte trotz aller Winterkälte und aller Sommerdürre.

Aber noch war also die Zeit nicht gekommen, die Kinder Gottes waren nicht reif genug, die volle Liebe des Vaters in Empfang zu nehmen. Vielleicht würde er selber gar nicht mehr das Kommen der großen Zeiten erleben. Aber das sollte ihn nicht mißmutig machen, er wollte nicht verzagen. Es lag ein Glück allein in dem Bewußtsein, mit dazu beizutragen, den Weg für den Siegesgang der Wahrheit und der Gerechtigkeit über die Erde zu bereiten. Es lag schon Freude und Lohn in der Verheißung des Kommens eines Friedensreiches.

Ja, trotz allem, was in letzter Zeit geschehen war, wollte er nicht den Glauben aufgeben, daß gerade von hier, von den paradiesesgrünen Ebenen dieses kleinen verstoßenen und verachteten Dänemarks aus die Morgenröte der Ewigkeit von neuem über der Welt aufgehen würde. Er fühlte es so sicher, daß Gott dies kleine, von Feindeshand und durch innere Zwietracht so arg mißhandelte Land gesegnet, es durch Trübsal und Not erzogen hatte sowie ehedem das jüdische Volk, um seinen Sinn ganz abzuwenden von der zeitlichen Eitelkeit. Wo gab es wohl in der ganzen Welt ein Volk so kinderfromm von Gemüt, so durchdrungen von dem Geist der Demut und des Gehorsams, wie das stille blauäugige Dänenvolk? Und hatte nicht Gott seine Stimme schon hier durch eine Reihe von Dienern der Kirche erschallen lassen, derengleichen die Christenheit seit Jahrhunderten nicht gesehen hatte, jetzt zuletzt in Grundtvig, dessen Macht des Wortes selbst die Taubsten bewogen hatte zu lauschen . . . Es hatte in seinem eigenen Leben Augenblicke gegeben, wo er zu fühlen glaubte, daß Gott auch mit ihm eine besondere Bestimmung hatte. Schon seit er als Kind auf dem Schoße seiner Mutter saß und sie von den alten jüdischen Propheten erzählen hörte, deren Mund Gott segnete, hatte ihn der Traum, so ein Auserwählter zu sein, niemals ganz verlassen; und er konnte sich auch jetzt nicht von dem Gedanken befreien, daß Gott mit der Krankheit und dem Tode des Buben seinen Glauben auf eine endgültige Probe habe stellen wollen . . . Ach, aber er war zu schwach gewesen! – – – – –

*

Wie er in diesen Gedanken dahinging, ward er überrascht durch den Anblick einer Gesellschaft von fünf, sechs Personen beiderlei Geschlechts, die sich um ein weißes Tischtuch auf einem grasbewachsenen Felde ein wenig vom Wege entfernt niedergelassen hatten.

Ein junges Mädchen in halblangem weißen Kleide mit blauer Schärpe hatte sich erhoben und war im Begriff, eine Rede zu halten. In der einen erhobenen Hand hielt sie ein Weinglas, in der anderen einen grauen Herrenhut, den sie mit feierlicher Verbeugung an ihren Kopf führte und wieder senkte, während die übrige Gesellschaft – zwei andere Damen und zwei Herren – ihr lachend Beifall klatschten. Im Grase hinter den Damen lag ein aufgespannter Sonnenschirm mit dem Stiel nach oben; neben den Herren stand ein Spazierstock, auf dem ein blauer Damenhut hing, in die Erde gesteckt. In einiger Entfernung von der Gesellschaft, im Schatten einer behauenen Weide, hielt ein mit zwei kleinen russischen Schimmeln bespannter Jagdwagen, an dem ein Kutscher mit Sammetbeinkleidern und grauen Gamaschen gelehnt stand.

Eine eigene Scheu überkam Emanuel stets, wenn er in seinem Bereich unvermutet auf städtisch gekleidete Fremde stieß. Auch jetzt wandte er den Kopf ab und gab sich den Anschein, als wenn er die Gesellschaft gar nicht beachtete. Er hörte das junge Mädchen sagen:

»Gestatten Sie mir also, hochgeehrte – beehrte Versammlung, ein Glas zu lee – eeren – auszutrinken – auf unsern hochgeliebten – würdigen Wirt – –«

Die Stimme hielt plötzlich inne. Auch das Lachen verstummte.

Emanuel, der begriff, daß man seiner ansichtig geworden war, legte Hände und Stock auf den Rücken und ging vorüber, indem er sich bemühte, seinen Gang weder zu beschleunigen noch zu verzögern.

Da war es ihm auf einmal, als höre er jemand seinen Namen rufen.

Er sah sich nicht um. Er war überzeugt, daß er sich verhört hatte. Jedenfalls gingen ihn die Menschen nichts an.

Nach einer Weile aber hörte er die Stimme wieder und diesmal ganz deutlich. Zugleich erschien sie ihm merkwürdig bekannt.

»Herr Pastor! . . . Herr Pastor Hansted!« . . .

Er wandte sich jäh, halb herausfordernd um und sah einen Herrn mit lebhaft grüßenden Handbewegungen auf sich zukommen. Er hatte, als er sich umwandte, die untergehende Sonne gerade in die Augen bekommen und konnte anfänglich nur die Umrisse der Gestalt unterscheiden: ein großer, ziemlich starker Mann mit Backenbart, gemessenen Schritten und einer stattlichen Haltung. Erst als der Fremde ganz an ihn herankam und ihm mit einer etwas forcierten Verbindlichkeit die Hand reichte, erkannte er Doktor Hassing.

»Ich komme eigentlich als Abgesandter zu Ihnen,« fuhr Hassing fort, nachdem die ersten Grüße gewechselt waren, und entblößte bei einem Lächeln seine großen, weißen Zähne . . . »Wir bilden dort einen kleinen Familienkreis und meine Damen möchten so gern das Vergnügen haben, Sie zu begrüßen . . . Wollen Sie uns nicht die Ehre erweisen und ein Glas Wein mit uns trinken, Herr Pastor? Sie werden eine alte Bekannte treffen.«

Emanuel hatte die größte Lust, kurz und gut Nein zu sagen. Namentlich verlockte ihn nicht die Aussicht in dieser Gesellschaft alte Bekannte zu treffen. Da er aber keinen triftigen Grund zu einer Ablehnung hatte und nicht gern den Doktor verletzen wollte, der während des Buben Krankheit und Tod ihm und Hansine viel Teilnahme erwiesen hatte, sah er keinen anderen Ausweg, als hinzugehen und die Gesellschaft zu begrüßen.

Die um das Tischtuch Versammelten hatten indes aufmerksam die Begegnung zwischen den beiden Männern beobachtet, und als man sie nun beide sich über das Gras nähern sah, griffen die Damen zu ihren Sonnenschirmen und erhoben sich. Auch der zurückgebliebene Herr – ein junger Mann in melonfarbenem Sommeranzug – kam schließlich auf die Beine, zog seine eine viertel Elle langen Manschetten herunter und placierte sich – auf seinen spiralförmigen Spazierstock gestützt – in herausfordernder Stellung unmittelbar hinter dem jungen Mädchen, als wolle er ihr nötigenfalls seinen ritterlichen Schutz angedeihen lassen.

»Wenn du mich ins Lachen bringst, Alfred, dann prügle ich dich«, flüsterte sie ihm zu, als der Doktor und Emanuel kaum zehn Schritt mehr entfernt waren.

»Aber du großer Gott . . . das ist ja ein kompletter Urochse,« flüsterte er zurück, den Mund mit der Hand verdeckend, die den kleinen blonden Schnurrbart drehte, »sieh doch nur . . . eine Stimme Gottes aus dem Seminarium.«

»Du sollst still sein, habe ich dir doch gesagt.«

»St!«

In diesem Augenblick traten die beiden Männer in den Kreis. Die eine der Damen, eine kleine, in braune Seide gekleidete Brünette mit weichen Formen und sanften überaus weiblichen, halb kindlichen Zügen – erhob sich und ging hin und reichte Emanuel die Hand.

»Meine Frau,« stellte der Doktor vor.

»Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen,« sagte sie in einem so sanften Tonfall, daß es fast klang, als spreche sie mit Akzent. »Wir sind ja nun seit mehreren Jahren Nachbarn gewesen und es hat mich immer gewundert, daß ich Sie nie auf irgendeine Weise getroffen habe. Auf dem Lande kann man sich doch sonst eigentlich nicht leicht aus dem Wege gehen.«

Emanuel lüftete schweigend und ernst den Hut einen Zoll über dem Kopf, worauf Dr. Hassing mit lebhafter Stimme die Vorstellung fortsetzte.

»Gestatten Sie mir, Ihnen ferner vorzustellen – erstens die Jüngste in unserem kleinen Kreis, die liebenswürdige Cousine meiner Frau, Fräulein Gerda Zoff, die Sie vor einem Augenblick in einem außerordentlich wohlgelungenen Speech unterbrochen haben. Und hier den Vetter selbiger Cousine, meinen eigenen hoffnungsvollen Neffen, Herrn halbwegs Assessor Alfred Hassing. Falls Sie auf irgendein Sportsblatt abonniert sind, Herr Pastor, werden Sie sicher häufig diesen bald weltberühmten Namen in seinen Spalten angetroffen haben.«

Großer Gott! dachte Emanuel mitleidsvoll beim Anblick der beutelförmigen Kleidung, der langen, spitzschnauzigen Schuhe und der talergroßen Manschettenknöpfe des melonfarbenen jungen Herrn, – das also ist die Heldenmode des Tages!

»Und endlich hier,« fuhr der Doktor fort, indem er sich einer schlanken, sehr modern gekleideten Dame zuwandte, die sich während der ganzen Vorstellung hinter Emanuel gehalten hatte, als wolle sie bis zuletzt unbemerkt bleiben, »ja – hier brauche ich wohl nicht vorzustellen.«

Emanuel wandte sich um und ward zur Bildsäule.

Der Doktor hatte recht gehabt; eine Vorstellung war hier wirklich überflüssig. Wie die schlanke Dame dastand und lächelte, übergossen von dem Schein eines mohnroten Sonnenschirms, hinter dem die Sonnenscheibe gerade bis an den Horizont hinabgesunken war – so beherrscht und korrekt, von dem festen Blick in ihren prachtvollen blaugrauen Augen bis hinab zu dem Plisseerande ihres Kleides und dabei doch so herausfordernd, so gewagt in der gesuchten Stilvollheit ihrer großgeblümten Toilette, glich sie so ganz sich selbst aus alten Zeiten, daß Emanuel augenblicklich Fräulein Ragnhild Tönnesen wiedererkannte.

»Sie können natürlich nicht begreifen, wie ich hier plötzlich auftauche,« sagte sie lächelnd und reichte ihm zuvorkommend ihre schmale, glattbehandschuhte Hand. »Sie könnten wohl fast geneigt sein, mich als Spion aufzufassen . . . deswegen ist es wohl am besten, wenn ich Ihnen gleich den Zusammenhang erkläre. Ich hatte im Frühling das Vergnügen, die Bekanntschaft mit Doktor Hassing und Frau zu erneuern, und als sie dann so freundlich waren, mich hierher einzuladen, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen. Ich bin erst seit zwei Tagen hier und ich versichere Sie, es ist nicht die leiseste Indiskretion in meinen Gedanken gewesen . . . Sind Sie nun beruhigt?«

Ihr scherzender Ton und die unumstößliche Gewißheit Eindruck zu machen, die aus ihrer ganzen Haltung sprach, berührten Emanuel sofort unangenehm. Er erholte sich schnell von seiner Überraschung und sagte:

»Ich verstehe nicht, welcher Art Spionage ich Sie für fähig halten sollte, Fräulein Tönnesen. Daß Sie Lust gehabt haben, Ihre ehemalige Heimat wiederzusehen, ist doch eine so natürliche Sache, daß sie keiner Erklärung bedarf.«

Seine Worte klangen härter und abweisender, als er es gewollt und berechnet hatte. Sobald er die verstimmende Wirkung merkte, die sie auf die Gesellschaft ausübte, wollte er noch ein paar besänftigende Worte hinzufügen; im selben Augenblick aber sah er zufällig, wie der junge Sportsmann seine Cousine mit dem Ellenbogen anstieß und ihr eine Bemerkung zuflüsterte, die das junge Mädchen veranlaßte, krampfhaft in den Zipfel ihres Taschentuches zu beißen. Das Blut schoß ihm in die Wangen. Er schwieg.

»Ja, wollen wir uns denn nicht auf das grüne Gras niederlassen,« ergriff nun der Doktor von neuem das Wort in seiner unermüdlichen Bestrebung, einen ungezwungenen Ton anzuschlagen. »Sie trinken doch ein Gläschen mit uns, Herr Pastor! . . . Ah, Johann!« rief er dem Kutscher am Wagen zu. »Bringen Sie noch ein Glas und . . .

»Ich danke, ich trinke keinen Wein,« unterbrach ihn Emanuel kurz.

»Ach so!«

Es vergingen einige Augenblicke in unheimlichem Schweigen, währenddessen es war, als wüßten sie alle nicht, wo sie mit ihren Augen bleiben sollten. Der Doktor stand mit verschlossener Miene da und zupfte an seinem Backenbart, während er einen komisch verdutzten Blick zu Fräulein Tönnesen hinübersandte. Er schien ihr zu sagen, es ist eine Dummheit, die wir hier gemacht haben. Aber was habe ich gesagt?

Emanuel sah unbeweglich vor sich nieder, ohne die Ratlosigkeit der anderen zu bemerken. Sein Zorn hatte sich schnell gegen sich selbst gerichtet. Was hatte er hier auch zu tun gehabt? dachte er. Was wollte er zwischen diesen Menschen, mit denen er weder einen Gedanken noch ein Gefühl mehr gemein hatte, ja, deren Sprache ihm sogar so fremd geworden war, daß sie ihm fast klang wie eine andere Mundart?

Mit ihrer alten Gewandtheit fand Fräulein Ragnhild einen Ausweg aus der Verlegenheit.

»Hört einmal!« sagte sie und trat einen Schritt in dem Kreise vor. »Ich glaube, Herrn Pastor Hansteds Worte waren eine Rede zur rechten Zeit . . . Wir haben gewiß alle Wein genug getrunken. Ich mache den Vorschlag, daß wir den schönen Abend zu einem kleinen Spaziergang benutzen. Wir schicken den Wagen voraus – oder ganz nach Kyndlöse zurück – und überreden Pastor Hansted, daß er sich uns ein Stückchen Weges anschließt. Das tun Sie doch, nicht wahr? Wir müssen ja doch – wenigstens zu Anfang – nach derselben Richtung hin, wenn ich mich dessen recht entsinne.«

Ihre Worte gewannen sofort den Beifall der anderen und der Doktor sandte Fräulein Ragnhild einen neuen, diesmal aber dankbaren Blick zu.

Auch Emanuel war der Vorschlag wie eine Befreiung erschienen. Er sagte sich selbst, daß, wenn er sich der Gesellschaft bis zu der Stelle anschlösse, wo der Kyndlöser Weg über seine Gemeindegrenze ging, so sei den Ansprüchen der Höflichkeit entsprochen, und er könne sogar noch früh genug zur Abendfütterung und zum Abendbrot zu Hause sein.

Der Kutscher wurde herbeigerufen und erhielt seine Befehle, und man machte sich auf den Weg. Der junge Sportsmann reichte seiner Tante, Frau Hassing, den Arm und schritt mit ihr den anderen voran, um seinem vollen Herzen Luft machen zu können.

»Aber ums Himmels willen, was für ein Bählamm ist denn das? . . . Und den nennt ihr einen interessanten und originellen Menschen? Er ist ja die reine wandernde Legende!«

»Du bist immer so gewaltsam in deinen Ausdrücken, lieber Alfred,« entgegnete die sanftmütige Frau Hassing mit mildem Vorwurf. »Vielleicht ist er keine große Begabung und mag auch ein wenig wunderlich sein . . . darüber weiß ich übrigens nichts. Aber man muß auf alle Fälle die Art und Weise anerkennen, wie er sich seiner Überzeugung geopfert und sich seinem Beruf gewidmet hat . . . das mußt du doch auch einräumen, Alfred!«

»Ich glaube, auf Ehre, du hast schon ein kleines Faible für ihn, Tantchen. So eine ganz kleine Verliebtheit, wie, Tantchen? Du könntest am Ende gar auf den Einfall kommen, ihn zum Abendbrot einzuladen?«

»Dazu sind wir ja gezwungen, falls er uns noch weiter begleitet. Aber deswegen ist es ja nicht gesagt, daß er die Einladung annimmt. Übrigens würde ich nichts dagegen haben. Ich möchte Herrn Hansted gern sich über verschiedenes äußern hören.«

»Also schon richtig verschossen! Ja, liebe Tante, du hast ein weiches und nachgiebiges Herz! . . . Aber vergißt du denn Onkel Joachim ganz?«

»Onkel Joachim!« wiederholte Frau Hassing, und ihr Gesicht nahm plötzlich einen etwas bedenklichen Ausdruck an. »Du hast recht – an den hatte ich wirklich nicht gedacht.«

* * *

Es währte nicht lange, bis Fräulein Ragnhild und Emanuel allein zusammen gingen eine Strecke hinter den anderen her. Der Doktor, der sie anfänglich begleitet und eine Unterhaltung mit Emanuel über die guten Ernteaussichten und das schöne Wetter angeknüpft hatte, war von dem munteren jungen Mädchen weggerufen, das fortwährend von der anderen Gesellschaft abgesondert umherstreifte und bald diesen, bald jenen herbeirief, um die großartigen Funde zu bewundern, die sie überall machte – bald ein »so süßes, so süßes« Marienwürmchen, das auf ihre Hand herabgeflogen war, bald ein »ganzes Ameisenschloß«, das sie oben hinter einem Graben fand. Bald hier, bald da tauchte ihre kleine weißgekleidete Gestalt auf unter einem hellblauen Sonnenschirm, der sich gleich einem privaten kleinen Glückseligkeitshimmel über ihr wölbte.

»Was für ein sonderbarer Mensch Sie doch eigentlich sind, Pastor Hansted!« rief Fräulein Ragnhild aus, nachdem der Doktor sich von ihnen entfernt hatte und sie eine Weile schweigend nebeneinander hergegangen waren. »Seit sieben Jahren habe ich mich nun auf den Tag gefreut, an dem ich Sie hier draußen überraschen wollte . . . und dann empfangen Sie mich, als wären keine drei Tage vergangen, seit wir uns zuletzt gesehen haben. Ich will Ihnen offen gestehen, Sie haben mich vorhin wirklich in Verlegenheit versetzt; ich hatte die anderen natürlich auf eine große Wiedererkennungsszene vorbereitet! . . . Nun, ich gebe zu, das war meine eigene Dummheit,« fügte sie hinzu, als Emanuel hartnäckig schwieg. »Ich hätte aus alten Zeiten wissen sollen, daß Sie in vielen Dingen nicht sind wie andere Menschen. Und in bezug auf Unberechenbarkeit haben Sie sich also nicht im geringsten verändert.«

Emanuel bemerkte nicht den Zwang, den sie sich antun mußte, um wieder den halb kameradschaftlichen Ton anzuschlagen, der in alten Zeiten zwischen ihnen üblich gewesen war – dazu war er vielzusehr erfüllt von seinem eigenen Unbehagen, hier allein mit ihr zu gehen und nach Verlauf so vieler Jahre wieder diese zugleich herausfordernde und einschmeichelnde Stimme mit dem sonderbar metallischen Klang zu hören.

Ohne sich in irgendeiner Weise von ihrer vertraulichen Sprache beeinflussen zu lassen, sagte er:

»Wie es scheint, haben wir einigermaßen gleichartige Eindrücke voneinander gehabt, Fräulein Tönnesen. Sowohl vorhin, als ich Sie sah, wie auch jetzt, wo ich Sie sprechen höre, muß ich daran denken, daß wohl auch Sie noch ganz dieselbe sind wie vor sechs, sieben Jahren.«

»Nun ja,« antwortete sie mit einem Achselzucken. »Was hätte mich wohl auch verändern sollen? Ich bin Fräulein Tönnesen, wie ich es damals war; und den dazwischenliegenden Roman meines Lebens könnte ich wahrhaftig ganz gut auf eine Visitenkarte niederschreiben. So ist nun einmal das Leben für uns unverheirateten Damen . . . Aber mit Ihnen ist es eine andere Sache. Ich stehe Ihren Erlebnissen nicht so fremd gegenüber, wie Sie vielleicht glauben. Ich hatte vor einem Jahr das Vergnügen, die Bekanntschaft Ihrer Schwester, der Generalkonsulin Torm, und Ihres Bruders, des Kammerjunkers, zu machen. Ihre Schwester und ich sind seither gute Freundinnen geworden. Sie ist entzückend, nicht wahr? . . . Wie Sie sich denken können, haben wir zuweilen auch von Ihnen gesprochen. Sie beklagt sich übrigens oft darüber, daß sie fast nie von Ihnen hört.«

Emanuel war aufmerksam geworden. Sollte sich vielleicht trotz der Versicherungen des Fräuleins doch ein wenig Spionage hinter diesem Besuch verstecken? – dachte er.

»Ich habe also schon, ehe ich hierher kam, ein wenig davon gehört, welch einflußreicher Mann Sie hier geworden sind, welche Umwälzung Sie in der ganzen Gegend hervorgerufen haben, seit Vater fortging, und wie Sie von allen Ihren Pfarrkindern vergöttert werden. Ja, man hat Ihnen, wie ich mir hier draußen habe erzählen lassen, ja geradezu den Namen eines Apostels gegeben.«

Es durchzuckte Emanuel leicht; er fühlte sehr wohl den verborgenen Spott in ihren Worten. Nach einem kurzen Schweigen sagte er:

»Sie haben recht. Ich habe wirklich nur Grund, dankbar zu sein. Aber – wie steht es denn? – Ist nicht auch Ihnen Ihr Wunsch erfüllt worden, Fräulein Tönnesen? Sie waren glücklich, aus dieser Gegend fortzukommen, die Ihnen so verhaßt war, und in die Hauptstadt zurückzukehren, zu dem dänischen Kulturzentrum, zur Geselligkeit, den Moden, den Theatern. Sie haben sogar unser weltberühmtes Tivoli zu Ihrem Nachbarn. – –«

»Nun ja,« unterbrach sie ihn mit einer etwas ungeduldigen Kopfbewegung. »Mit mir ist es, wie gesagt, eine andere Sache. Übrigens habe ich mich nicht beklagt, daher verstehe ich nicht recht, worauf Ihre Worte hinauswollen. Ich befinde mich wirklich, den Verhältnissen nach, sehr wohl. Ich will Ihnen nämlich sagen, ich bin auf meine alten Tage Philosoph geworden . . . Stoiker, glaube ich, heißt es. Das heißt, ich habe mich allmählich daran gewöhnt, das Zeichen des Ärgernisses zu sein, das ich und meinesgleichen nun einmal für unsere liebe Mitwelt geworden sind . . . ja, ich fühle mich fast ein wenig stolz darauf, zu denen zu gehören, die den nahe bevorstehenden Fall des großen Babylon verheißen.«

Emanuel wollte etwas erwidern, aber seine Gedanken waren nicht mehr daran gewöhnt, sich in Sprüngen zu bewegen, und noch ehe er einen Satz zusammengebracht hatte, ergriff Fräulein Ragnhild wieder das Wort. »Aber lassen Sie uns nicht von mir reden. Ich versichere Sie, das ist ein ganz schrecklich uninteressantes Thema. Dahingegen müssen Sie mir ein wenig von sich erzählen. Sie haben also wirklich acht lange Jahre hier gelebt, ohne den Mangel der nun so übel berüchtigten Güter der Zivilisation zu empfinden . . . sollten Sie nicht etwa ein wenig gute Musik entbehrt haben . . . nicht einmal meine kleine Schubertsche Lerchenetüde, die Sie doch seinerzeit – wissen Sie wohl noch – so gern hörten?«

Sie hatte, während sie mit ihm sprach, über den elfenbeinweißen Stiel ihres Sonnenschirms zu ihm hinübergesehen und wieder in Blick und Lächeln ihre ganze Liebenswürdigkeit entfaltet. Emanuel bewahrte standhaft seine Zurückhaltung und antwortete ernsthaft:

»Es wird mir schwer, einzusehen, wie ich das entbehren sollte, was ich gerade so vollauf besitze. Wenn Sie sich die Mühe machen wollen, die Ohren zu öffnen, Fräulein Tönnesen, so werden Sie gerade in diesem Augenblick die Lerchen über Ihrem Haupte singen hören – viel schöner, als es der größte Virtuose auf der Welt ihnen in irgendeiner Etüde nachmachen kann. Ich brauche nur zu meiner Tür hinauszugehen, um ein Panorama vor mir zu sehen, das aller menschlichen Kunst spottet; und den ganzen Sommer habe ich vom Morgen bis zum Abend ein ganzes Orchester vor meinen Fenstern. Die Stare in den Baumwipfeln, die Schwarzdrossel in den Büschen, die kleinen Meisen –«

»Ja, und die Krähen! Vergessen Sie die doch ja nicht! – Und die Hähne! Ach Gott, die Hähne!« rief sie aus und hielt in komischer Verzweiflung die Hand an das Ohr. »Hier ist in dieser Zeit so ein Scheusal, das jeden Morgen, wenn ich in meinem süßesten Schlummer liege, sich draußen vor meinem Fenster aufstellt und heult und kräht und schreit . . . Ach, das ist ein Gefühl, als läge man auf einem glühenden Rost!«

Emanuel konnte es diesmal nicht lassen, den Mund ein wenig zum Lächeln zu verziehen. Er blieb einen Augenblick stehen und sagte kopfschüttelnd, indem er ihr zum erstenmal gerade in die Augen sah:

»Wahrlich! Sie haben sich nicht verändert, Fräulein Tönnesen! Selbst unserm herrlichen Morgenverkünder haben Sie Ihren alten Groll bewahrt.«

»Ja, ich gestehe, nach dieser Richtung hin bin ich noch ganz derselbe Ketzer wie ehedem. Meinetwegen mag man den Vogelgesang behalten und die grünen Wälder und den sogenannten frischen Strand – mit dem abscheulichen Tanggeruch – und die blumengeschmückten Wiesen und wie es sonst alles heißt, wenn ich nur in meinen vier Wänden bleiben darf, wo ich mich mit den Dingen beschäftigen kann, die für meinen eigenen Geschmack und mein privates Temperament passen. Mir geht in jeder Beziehung der Geschmack für das ›Natürliche‹ ab. In meinen Augen ist zum Beispiel der Anblick eines stilvollen Zimmers, das das Gepräge der Neigungen eines eigentümlichen Menschen trägt, hundertmal schöner, um nicht zu sagen, weit interessanter, dankbarer und stimmungserweckender, als die allerherrlichste Landschaft . . . Sie finden mich gewiß schrecklich, nicht wahr?«

Emanuel wollte antworten, aber sie kam ihm diesmal wieder zuvor.

»Ich könnte Sie noch viel mehr empören, wenn ich nur wollte. Und warum sollte ich es nicht tun? . . . So will ich Ihnen denn sagen, daß meiner Meinung nach dies alles mit der Schönheit und Erhabenheit der Natur usw. nichts anderes ist, als eine Fabel, die geistesschwache Dichter uns eingebildet haben, und mit der die meisten Menschen eine schreckliche Heuchelei treiben. Ich für mein Teil kann nicht aus den Straßen von Kopenhagen herauskommen und dem Anblick der kahlen Felder, der einförmigen Wege und dieser unsinnigen Menge ganz öden Himmels begegnen, ohne an die kalte Rollkammer zu denken, in der ich als Kind mein Bad nehmen mußte. Die Sonne mag scheinen, soviel sie will, und die Felder mögen noch so grün sein, mir kommt dies alles so öde vor, so kahl und trübselig, daß es mich frieren macht. Und wenn ich dann an den ewig langen Winter denke, an die stockfinsteren Abende und Nächte, an den Sturm, den Regen und die grundlosen Wege – und ich rede hier doch aus einer ziemlich langen Erfahrung – so erscheint mir das Ganze so unmenschlich . . . ja, so entwürdigend! Ich räume ein, auch die Städte können ekelhaft sein, staubig, schmutzig, von Kohlenrauch geschwärzt und noch vieles andere. Aber man ist doch nicht in dem Maße der brutalen Herrschaft einiger abscheulicher Naturmächte preisgegeben. Man ist dort nicht ein vollkommener Sklave davon, ob Frau Sonne oder Herr Mond allergnädigst geruhen zu scheinen oder nicht. Da hat man doch ein klein wenig Ahnung, was es heißt, Mensch zu sein . . . der Herr und Meister der Schöpfung zu sein, zu dem uns einmal allen Ernstes zu machen, es doch wohl die Bestimmung der Entwicklung ist.«

Sie waren gerade auf dem Gipfel eines Hügels gelangt, von wo man eine jener meilenweiten Aussichten hatte, an denen die Gegend so reich war. Sie hatten längst die Gemeindegrenze überschritten, und von der Stelle aus, wo sie sich befanden, konnte man die flache aber freundliche und abwechslungsreiche Landschaft des Kyndlöse-Vesterby-Kirchspiels übersehen, durch die sich ein wasserreicher Bach zwischen grünen Wiesen und ein paar kleinen Wäldern hinschlängelte. Im Westen sah man Kyndlöse selbst mit der hohen, aus Granitsteinen erbauten Kirche, deren vergoldete Wetterfahne am Abendhimmel leuchtete wie ein eben angezündeter Stern. Fern im Norden und Nordwesten endlich tauchte, gleich einer bläulichen Wolkenbank, der große Wäldergürtel von Vesterby auf, hinter dem die Sonne gerade untergegangen war und den ganzen Himmelsrand aufflammen machte.

»Und eine solche Rede zu halten, fehlt es Ihnen selbst hier nicht an Mut,« sagte Emanuel fast wehmütig, indem er mit einer breiten Handbewegung auf die glühende Sonnenuntergangslandschaft hinzeigte, wo die Nachtnebel schon angefangen hatten, über den Wiesen aufzusteigen und sich wie ungeheure Spinnengewebe über die blutrote Ader des Baches zu breiten. »Sie finden wirklich nicht das geringste Anziehende an einem Anblick wie dieser? Er kann in Ihnen keinen anderen Gedanken, kein anderes Gefühl erregen, als eine unheimliche Erinnerung an die Rollkammer aus Ihrer Kinderzeit?«

Fräulein Ragnhild sah eine Weile mit zwinkernden Augen auf die Gegend hinaus. Dann sagte sie mit einem kleinen, vornehmen Lächeln, wie sie es gern aufzusetzen pflegte, wenn sie etwas so recht Herausforderndes sagen wollte:

»Ich kann jedenfalls nicht verstehen, warum das da so bezaubernd schön sein soll, daß ein Mensch verpflichtet ist, von der Wiege bis zum Grabe in einen Zustand der Verzückung zu geraten, sobald er es sieht. Mich spricht es außerdem gar nicht an. Schon allein die Farbenzusammenstellung ist meinem Auge zuwider. Dieser blaue Himmel, dieser schreiendrote Horizont, all dies brandgelbe Korn und die spinatgrüne Wiese da unten . . . nur rot, grün und gelb! Sind das nicht gerade die Farben, die zu den sogenannten Hottentottentaschentüchern benutzt werden . . . Sie wissen wohl, diese bunten Stoffe, die die Engländer zu den Wilden nach Afrika hinuntersenden, und die unsere schwarzen Mitgeschöpfe in einen wahren Seligkeitszustand versetzen. Glauben Sie eigentlich nicht, Pastor Hansted, daß Naturerscheinungen, wie ein Sonnenuntergang, einzig und allein die Bestimmung haben, eine Art erhöhter Lust für Halbmenschen zu sein – für die weißen, wie für die schwarzen – und vielleicht auch für die Tiere? So ein feuerspeiender Himmel entspricht sicher der Vorstellung, die sich diese Art Wesen von Pracht machen; er regt ja auch ihre weichen Gefühle an . . . die Nachtigallen fangen an zu singen, die Frösche zu quaken . . .«

»Sie haben gewiß vollkommen recht, Fräulein Tönnesen!« unterbrach Emanuel sie mit einer kleinen ironischen Verbeugung; er fand es nicht mehr der Mühe wert, sie ernst zu nehmen. »Es ist nur schade, daß der liebe Gott keine Gelegenheit hatte, sich mit Ihnen zu beraten, als er dies Machwerk von Welt schuf, das nur für Kabylen und Hottentotten geeignet ist. Aber da fällt mir ein . . . als ich Sie vorhin traf, hatten Sie sich doch herabgelassen, auf einem ganz gemeinen Grasfelde Platz zu nehmen, – ja, soweit ich es beurteilen konnte, waren Sie, wie auch die übrigen Damen und Herren, in einer ganz munteren Stimmung. So scheint es denn, daß der Aufenthalt in der Natur doch eine recht aufheiternde Wirkung auf Sie ausüben kann.«

»Ja, was soll man sagen?« entgegnete sie mit einem Achselzucken, indem sie ihren Gang fortsetzten. »Es bleibt wohl immer so viel vom Tier im Menschen zurück, daß wir zuweilen Lust zu einer Wiese verspüren, auf der wir uns sonnen und zu einem Walde, in dem wir herumspringen können. Aber was beweist denn das? Ich weiß ja zum Beispiel auch, daß verliebte Menschen dafür schwärmen, im Mondschein zu wandeln. Für mich, die ich nicht verliebt bin, ist eine Mondscheinnacht ungefähr das Ekelhafteste, was ich kenne; sie erinnert mich immer an ein Sterbezimmer. Wahrscheinlich erweckt also der Anblick der Natur auch bei dem Menschen die weniger vornehmen Gefühle –«

Sie hielt plötzlich inne, brach in ein kurzes Lachen aus und sagte:

»Nein, das ist denn doch wirklich zu dumm! Jetzt gehen wir hier und führen akkurat dieselbe Unterhaltung, die wir vor acht Jahren Tag für Tag wieder aufnahmen . . . und mit ganz demselben erfreulichen Resultat. Erinnern Sie sich wohl noch, wie wir uns auch damals alle beide einen ganz roten Kopf anschwatzen konnten . . . wollen wir jetzt nicht Frieden schließen? Jetzt haben wir ja jeder, was wir wollen – Sie Ihr Land, ich meine Stadt – also haben wir ja eigentlich nichts mehr, worüber wir uns zu zanken brauchen.«

»Das denke ich auch,« sagte Emanuel trocken.

»Nun, dann sind wir doch endlich über etwas einig geworden! Aber ich bin auch gar zu redselig gewesen . . . Sie wissen ja, das ist so eine Gewohnheit alter Jungfern. Jetzt ist die Reihe an Ihnen, unterhaltend zu sein, Herr Pastor.«

Sie wurde in diesem Augenblick von dem Doktor und seiner Frau unterbrochen, die eine Weile vor ihnen auf dem Wege stehengeblieben waren und auf sie gewartet hatten.

»Nun bekommen Sie aber keine Erlaubnis, von uns wegzulaufen, Herr Pastor,« sagte der Doktor mit seinem unbestimmbaren Lächeln. »Wir haben jetzt nur noch ein paar Schritte bis zu unserer Tür, und Sie können doch nicht mehr rechtzeitig zum Tee nach Hause kommen.«

»Ja, jetzt dürfen Sie nicht nein sagen,« stimmte die Frau Doktor mit all der Herzlichkeit bei, die sie in ihre sanfte Stimme zu legen vermochte. »Wenn Sie meinen, daß Ihre Frau sich über ihr Ausbleiben ängstigen wird, können wir ja leicht einen reitenden Boten hinausschicken.«

Emanuel stand einen Augenblick unschlüssig da. Er hatte sich nun sieben Jahre ausschließlich in seinem eigenen Freundeskreis gehalten, aber Fräulein Ragnhilds Spottrede hatte ihn gereizt. Er hatte außerdem in letzter Zeit häufig im stillen erwogen, ob er es auch verantworten könne, sich so gänzlich von der Umwelt abzuschließen. Namentlich in den letzten Tagen, nachdem die Regierung durch ihre Gewalttätigkeiten versucht hatte, das Gedeihen der Volkspartei zu untergraben, war in ihm ein Gefühl der Verpflichtung erwacht, den Kampf mit den triumphierenden Feinden des Gottesreichs auch außerhalb seines gewohnten Wirkungskreises aufzunehmen. Seine stille, geheime Hoffnung, daß Gott noch einmal seinen Glauben und seinen Eifer auf eine Kraftprobe stellen werde, war nach dieser Richtung hin nicht ohne Bedeutung gewesen; und – herausgefordert wie er nun einmal war – faßte er denn diese zufällige Begegnung mit den fremden Menschen als eine Art Schickung von oben, als einen himmlischen Befehl auf, und sagte ja zu der Einladung.

* * *

Eine Stunde später saß er an einer feingedeckten Abendtafel in Doktor Hassings pompejanisch ausgestatteter Eßstube.

Er hatte noch nicht ganz das Gefühl der Unfreiheit und des tiefen Unwillens überwunden, das sich seiner bemächtigt hatte, als er in das üppig eingerichtete Haus eingetreten war, das ihn in so vielem an das Heim seiner Kindheit erinnerte. Nachdem er schweigend am Tische Platz genommen, senkte er den Kopf und faltete die Hände in seinem Schoß. Ohne sich von der leisen Verlegenheit beirren zu lassen, die dies bei den anderen hervorrief, betete er still sein gewohntes Tischgebet und fügte noch hinzu: »O, mein Vater und Erlöser im Himmel! Schenke mir Gnade und Kraft, dein Zeugnis in dies Haus zu tragen und das himmlische Licht in der Finsternis der Unwissenheit anzuzünden!«

An dem oberen Ende saßen der Doktor und Fräulein Ragnhild und disputierten über moderne Musik, an dem unteren saßen die beiden jungen Leute, die meistens die Köpfe unter geheimnisvollem Flüstern zusammensteckten, und deren bald warme, bald beleidigte Blicke darauf hinzudeuten schienen, daß die Vetternschaft im Begriff war, in ein vertraulicheres Verhältnis überzugehen.

Emanuel und Frau Hassing geradegegenüber saß eine kleine, schweigende, schwarzgekleidete Dame und neben dieser ein älterer Herr von höchst eigentümlichem Aussehen. Er war ein Mann von ungefähr siebzig Jahren, groß und plump von Körperbau und mit einem völlig kahlen Kopf, dessen Scheitel so weiß und blank war, daß alle Lichter des Zimmers sich darin spiegelten. Das Gesicht war rotweinfarben und quer durch einen breiten Mund geteilt, der jeden Augenblick die Aussicht auf eine große und dicke Zunge erschloß, die ihn daran hinderte, rein zu sprechen; die Augen waren klein, die Nase dafür aber groß und rot wie eine Hummerschere, und von dem Kinn hing eine rotblaue, unebene Haut auf den Hals herab wie ein Pelikanbeutel. Im übrigen war das Gesicht mit einem winzig kleinen weißen Spitzbart und kleinen halbmondförmigen Backenbärten geziert, die sich nach alter Hofmode von dem unteren Teil des Ohres bis an die Mitte der Wangen zogen; und diesem aristokratischen Bart entsprach eine steife schwarze Atlashalsbinde und eine ovale Brillantnadel in der Mitte des Manschettenhemdes (mit einem daranhängenden Stückchen goldener Kette und einer kleinen Sicherheitsnadel) sowie ein großes, buntes, seidenes Taschentuch, womit er sich beständig und ohne sichtlichen Grund über seinen dicken Nacken fuhr. Im übrigen war er ganz einfach gekleidet, hatte einen grauen Tuchrock an und weder seine Wäsche noch seine Hände verrieten einen stark entwickelten Reinlichkeitssinn.

Dieser Mann war der von Frau Hassing und ihrem Neffen so ängstlich erwähnte »Onkel Joachim«, ein ehemaliger Gutsbesitzer, mit dem Titel eines Jägermeisters, der sich kürzlich infolge einer allzu junkerlichen Schwäche für Luxuspferde, kostbare Equipagen, große Dienerschaft, feine Weine und illegitime Liebesverhältnisse gezwungen gesehen hatte, sein Gut zu verkaufen und nun hauptsächlich von der Gnade der Familie lebte. Zusammen mit seiner Schwester – der kleinen schwarzgekleideten Dame – hielt er sich augenblicklich bei Doktor Hassing zu »einem Besuch« auf, der sich bereits über mehrere Monate erstreckte.

In guter Übereinstimmung mit seinen übrigen Neigungen hatte Onkel Joachim stets einen Stolz darein gesetzt, zu »den Wenigen« zu gehören, die noch den weitgehendsten reaktionären Anschauungen auf allen Gebieten huldigten. Er nannte sich stets – und schlug sich dabei mit Wärme an die breite Brust – »einen Repräsentanten der Ideen vor dem Unglücksjahre 48«; und es hatte sein Gemüt nicht milder gegen die überall vorrückende Demokratie gestimmt, daß gerade einem reichen Bauern bei der Zwangsauktion sein Gut zugeschlagen wurde. Doktor Hassings sonst so stilles und namentlich für jegliche Politik gänzlich verschlossenes Haus hatte in der letzten Zeit vom Morgen bis zum Abend widergehallt von rasenden Ausfällen gegen die Bauern, den Reichstag, die Hochschulen und die Regierung selbst; der Jägermeister war nämlich wohl regierungsfreundlich und namentlich königstreu, aber er fand, daß man viel zu lau und ängstlich gegen die »Aufrührer« vorging; er begriff es nicht, warum man nicht gleich die Wiedereinführung des unbeschränkten Absolutismus proklamierte, und beständig kam er auf den Vorschlag zurück, daß man alle Demokraten, jedenfalls doch alle demokratischen Reichstagsabgeordneten auf Kriegsschiffen nach Kristiansö hinüberschicken sollte, wo sie Steine schlagen könnten, bis sie sich gebessert hätten. Alle anderen Verhaltungsmaßregeln waren seiner Ansicht nach Flickkram, Schläge in die Luft, die zu keinem Resultat führen würden.

Es war daher wirklich Grund vorhanden gewesen, mit einer gewissen Besorgnis der Begegnung zwischen diesem Mann und Emanuel entgegenzusehen – und die gespannten Erwartungen waren denn auch in vollem Maße erfüllt worden. Sobald der Jägermeister Emanuels Namen vernommen hatte, war sein Kopf purpurfarben geworden, und ohne Emanuel die Hand zu geben oder seinen Gruß zu beantworten, stürzte er in das Eßzimmer zu Frau Hassing, die dort nach dem Decken des Tisches sah.

»Was soll denn das heißen?« rief er hier mit seiner dicken Lispelstimme, deren Stärke er infolge von Schwerhörigkeit nie recht zu berechnen vermochte. »Ist das nicht der verrückte Anarchist und Volksführer von da drüben aus Vejlby? Und mit solchen Leuten habt ihr Verkehr? Mit dergleichen Personen führt ihr mich zusammen! Was soll das heißen, Ludovika?«

»Hör' einmal, Onkel!« hatte Frau Hassing mit einer Bestimmtheit geantwortet, die ihr sonst ganz fremd war, aber gerade deswegen einen um so überwältigenderen Eindruck auf Onkel Joachim machte. »Du weißt, daß weder Hassing noch ich uns mit Politik befassen. Aber Pastor Hansted ist ein außerordentlich gebildeter und interessanter Mann, von dessen Unterhaltung man sowohl Vergnügen wie auch Belehrung haben kann, ohne daß man deswegen seinen Anschauungen zu huldigen braucht. Ich möchte dich deswegen jetzt bitten, Onkel Joachim, daß du Pastor Hansted nicht beleidigst, sondern daran denkst, daß er heute abend unser Gast ist.«

Die Wirkung dieser Ermahnungsrede konnte man zu Anfang der Mahlzeit noch bei ihm spüren; er saß starr wie ein Pfahl da und ließ mit vornehm gekränkter Miene die meisten Gerichte unberührt vorübergehen. Aber allmählich, als er merkte, daß sein stummer Widerstand unbeachtet blieb – und weil es außerdem auf die Dauer eine zu große Selbstverleugnung von ihm erheischte – veränderte er plötzlich seine Taktik, nahm mit Gier von allem, was auf dem Tische stand, lärmte ungeniert mit Messer und Gabel und fiel jeden Augenblick den anderen in die Rede, indem er mit lauter Stimme »Brot, Butter, etwas mehr von der Leberpastete, Ludovika«, verlangte, um damit zu zeigen, daß der Anarchist gar nicht für ihn existierte.

Die Unterhaltung um den Tisch war allmählich lebhaft geworden. Auch Emanuels langsame und schwergeformte Rede hörte man immer deutlicher zwischen der leichten Konversation der anderen heraus. Er fühlte in steigendem Maße die Verantwortung, die er auf sich genommen hatte, indem er hier zwischen diesen traurig verirrten Menschen saß. Er beantwortete höflich Frau Hassings verschiedene interessierte Fragen über die Verhältnisse in seiner Gemeinde, war aber beständig auf der Hut, gab sich in keinem Punkt ganz hin und legte auch nicht einen Augenblick die ernste, fast düstere Miene ab, die sein vorläufiger stummer Protest gegen alles war, was er um sich her sah.

Die Unterhaltung zwischen ihm und Frau Hassing ging allmählich auf ein gefährliches Thema über, nämlich auf die Frage bezüglich der großen Volksaufklärungsarbeit der Zeit, namentlich innerhalb des Bauernstandes. Emanuel äußerte unvorbehalten seine Anschauungen und hob absichtlich ganz besonders die Bedeutung hervor, die er der Wirkung der Hochschulen auf diesem Gebiete beimaß.

Frau Hassing war lauter lauschende Aufmerksamkeit. Sie gehörte zu jenen leichtbewegten Frauen, die sich augenblicklich für alles erwärmen, von dem sie merken, daß andere dafür glühen. In ihr regelmäßiges, hübsches, nicht gerade besonders kluges Madonnengesicht trat stets ein Ausdruck tiefen Sinnens, wenn jemand sprach, – es sah so aus, als wenn der Betreffende ihr mit seinen Worten gerade das klar machte, worüber sie lange vergebens nachgegrübelt hatte. So saß sie auch jetzt da und lauschte, die Ellenbogen auf dem Rande des Tisches und einen Finger gegen die Wange gelegt – und wenn sie hin und wieder in ihrem singenden Ton mit dem hervortrat, was sie »ihre Bedenken« nannte, so geschah das in Wirklichkeit weniger, um ihm zu widersprechen, als um ihm erneute Gelegenheit zur Entwicklung seiner Ansichten zu geben.

Aber auch die anderen hatten angefangen, aufmerksam zu werden. Emanuels unerschütterlicher Ernst, seine grob gekleidete Gestalt und sein großer Bart machten in dieser Umgebung einen eigentümlichen Eindruck apostolischer Ursprünglichkeit und Kraft. Ja, selbst die etwas vortragsmäßige Weise zu sprechen, an die er sich gewöhnt hatte, indem er seine Worte beständig an Bauern richtete, trug nur dazu bei, ihn in den Augen dieser Menschen noch interessanter zu machen. Außerdem war das Thema der Unterhaltung ihnen allen so fremd, seine Äußerungen daher so neu und überraschend, daß er ihnen unwillkürlich Respekt abzwang.

Sogar die beiden jungen Leute unterbrachen immer häufiger ihr Flüstern, um ihm zuzuhören, wenn er sprach, und der Sportsmann zwinkerte Frau Hassing einmal zu, als wolle er sagen:

»Du hast übrigens recht, Tante . . . der Mann hat wirklich Stil!«

Dahingegen war Fräulein Ragnhild offenbar verstimmt. Sie saß zurückgelehnt auf ihrem Stuhl und ihre langen spitzen Finger spielten immer nervöser mit einigen Brotkrumen auf dem Tischtuch.

Emanuel blieb auf die Dauer nicht unbeeinflußt von der wachsenden Aufmerksamkeit, die er mit seiner Rede erregte. Er hatte in einem Augenblick des Selbstvergessens – ohne an seine Ablehnung draußen auf dem Felde zu denken – ein Glas Wein getrunken, und sein Ton wurde immer ungezwungener. Er formte seine Sätze mit einer Leichtigkeit, über die er sich selber wunderte, und drückte sich überhaupt mit einer Bestimmtheit aus, die ihm ganz ungewohnt war.

Auf einmal entstand eine Unruhe am Tische. Ausgehend von seiner schon ziemlich herausfordernden Lobpreisung der Hochschulen und des Geistes, der von ihnen auf die ländliche Bevölkerung übergegangen war, brachte Emanuel plötzlich die Rede auf den augenblicklichen großen Kampf zwischen der Regierung und dem Volke.

Alle sahen ängstlich zu Onkel Joachim hinüber, dessen Kopf wieder purpurrot geworden war und anschwoll wie ein Ballon, der gefüllt wird.

»Gestatten Sie mir, Verehrtester!« explodierte er schließlich, indem er nach Gewohnheit schwerhöriger Leute eine Hand – eine höchst unaristokratische Faust mit langen, roten Haarbüscheln in der Mitte aller Fingergelenke – hinter das Ohr legte. »Ich höre, Sie sind ein eifriger Bewunderer dieser sogenannten Volksfreiheit, mein Herr, und dieses . . . sogenannten . . . allgemeinen Stimmrechts, ich bitte Sie! Da werden Sie mir vielleicht gestatten, Verehrtester, Ihnen ein Beispiel anzuführen, das Sie sehr wahrscheinlich auf andere Gedanken bringen wird. Ich brauche nur ein einziges Beispiel anzuführen, um Ihnen klar zu machen, wie verwerflich, ja geradezu verderblich dieses . . . ich bitte Sie . . . dieses sogenannte allgemeine Stimmrecht für die Zukunft und die Wohlfahrt des Landes ist.«

Frau Hassing sandte ihrem Mann einen Blick zu, um ihn zu veranlassen, Onkel Joachim zum Schweigen zu bringen. Aber der Doktor, der hinter seinem korrekten und würdigen Äußeren einen großen jugendlichen Schelm barg, tat, als sähe er es nicht. Er fand, es könne ganz unterhaltend werden, Zeuge von einem kleinen Duell zwischen den beiden kampflustigen Herren zu sein.

»Ich gestatte mir also – ganz kurz – Ihnen folgendes vorzutragen,« fuhr der Jägermeister fort. »Ich hatte einmal . . . vor einiger Zeit, hm . . . einen Kuhhirten . . . einen Kuhhirten, verstehen Sie! Im übrigen ein sehr nüchterner und ordentlicher Mensch, aber gänzlich unwissend, selbst der elementarsten Kenntnisse bar. Wenn ihn jemand gefragt hätte . . . wieviel zum Beispiel dreimal sechs sind, so würde er wahrscheinlich zwölf oder vierzehn geantwortet haben. Ich bitte Sie! . . . oder wenn ihn jemand gefragt hatte, wie zum Beispiel die Hauptstadt in Deutschland heißt, so würde er zweifellos Skelskör geantwortet haben . . . das war nämlich die einzige Stadt, die er außer Kopenhagen und Roskillde kannte. In bezug auf die Gesetzgebung wußte er ebenso genau Bescheid über das, was in unserem . . . sogenannten . . . Grundgesetz steht, wie über das, was in den türkischen oder chinesischen Gesetzen steht! Nun erlaube ich mir zu fragen,« fuhr er mit steigendem Selbstgefühl fort, als er an dem allgemeinen Schweigen merken konnte, daß er angefangen hatte, Erfolg zu haben. »Ist es wirklich Ihre Absicht, Verehrtester, daß eine solche Person ebensoviel Einfluß auf die Leitung der inneren wie der äußeren Angelegenheiten des Reiches haben soll, wie ein Mann, wie . . . wie zum Beispiel unser verehrter Wirt, Herr Dr. Hassing? Ich bitte Sie!«

Er warf sich mit einer einladenden Handbewegung in den Stuhl zurück, kreuzte die Arme über der Brust und wartete in dieser Stellung siegesgewiß Emanuels Antwort ab.

Emanuel hatte die größte Lust, dem Jägermeister überhaupt nicht zu antworten, denn seine ganze Persönlichkeit erschien ihm nicht gerade zu einem ernsten Meinungsaustausch einladend. Da er aber die Spannung merkte, mit der auch die anderen zu ihm hinsahen, um seine Antwort zu hören, sagte er:

»Ich glaube, daß der besagte Kuhhirte, trotz aller vermeintlichen Unwissenheit, nicht nur das gleiche Recht, wie Herr Dr. Hassing hätte genießen sollen, sondern – falls ihm volle Gerechtigkeit widerfahren wäre – vielleicht vielmehr das doppelte.«

Die Antwort kam mit einer solchen Zuverlässigkeit der Überzeugung und klang dabei so paradox, daß man unwillkürlich lauten Einspruch erhob.

»Aber das können Sie doch unmöglich meinen,« sagte selbst Frau Hassing, während sich Onkel Joachim zu seiner Schwester herabbeugte und mit einer Stimme, die er offenbar selbst für Flüstern hielt, ihr ins Ohr schrie: »Was sagt er? was sagt er?«

»Ich wollte meinen, daß die Sache doch ganz einfach und einleuchtend ist,« fuhr Emanuel fort, von dem Widerstand, den seine Äußerungen hervorriefen, noch beredter gemacht. »Warum soll denn die Geburt eines Mannes für sein Verhältnis zum Staat bestimmend sein? Daß ein Mensch in Armut geboren ist, kann ein Unglück für ihn werden, und es ist weit eher ein Grund vorhanden, ihm dafür eine Genugtuung zu verschaffen, als das Gegenteil. Und was seine vorgebliche Unwissenheit oder vielmehr seinen Mangel an Schulbücherkenntnissen anbetrifft – ja, der bedeutet doch eigentlich nur, daß der Staat nicht genügend auf seine Ausbildung hat verwenden wollen . . . aber deswegen ist doch kein Grund vorhanden, ihn stets stiefmütterlich zu behandeln; im Gegenteil!«

»Ja, aber Sie müssen doch wirklich einräumen –« begann Doktor Hassing.

Emanuel aber hörte nur seine eigenen Worte und fuhr fort:

»Die Sache hat außerdem noch eine andere Seite. Ich setze den Fall, daß eine Entscheidung in irgendeiner großen allgemeinen Frage bevorstünde, zum Beispiel über Krieg oder Frieden . . . die Frage steht ja wirklich ringsumher in Europa auf der Tagesordnung. Nun muß mir doch jeder Mensch recht geben, daß für einen Mann in Dr. Hassings Stellung der Ausbruch eines Krieges – vom ökonomischen Gesichtspunkt aus – keine wesentlichen Veränderungen in seinen Lebensbedingungen zur Folge haben würde. Ich meine, er braucht sich aus dem Grunde keine Entbehrungen irgendwelcher Art aufzuerlegen, gar nicht zu reden davon, daß er nichts für die Zukunft zu befürchten hat . . . ich rede hier ja gar nicht von den viel tieferen Gefühlen, die ein solches Ereignis natürlich hervorrufen wird, von denen man aber annehmen kann, daß sie bei allen die gleichen sind. Dahingegen behaupte ich, daß der Ausbruch eines Krieges für einen armen Arbeiter etwas ganz anderes und weit mehr bedeutet. Es bedeutet in vielen Fällen seine völlige Verarmung. Seine Arbeit stockt, der Handel, der Fabrikbetrieb usw., alles steht still. Zugleich werden die Lebensmittel teurer, die Steuern werden erhöht . . . und nicht genug damit: seine jungen Söhne, die ihm eine Stütze im Alter sein sollten, werden gegen den Feind geschickt, werden vielleicht erschossen oder zu Krüppeln gemacht. Das heißt, sie belasten in Zukunft die Familie als neue und schwere Bürde. Und einen solchen Mann, dessen Gegenwart und Zukunft so schrecklich bedroht ist, den sollte man nicht um Erlaubnis fragen, nicht zweimal um Erlaubnis fragen? . . . Aber gerade so stellt sich ja das Verhältnis in fast allen Fällen. Stets werden die Kleinen und die Armen am meisten unter dem Druck der schlechten Zeiten leiden; deswegen ist es wohl nicht mehr als billig, daß man ihnen in erster Linie die Entscheidung überläßt. Wenn wirklich von Gerechtigkeit die Rede sein soll, so sollten weder diejenigen, die am meisten wissen, noch diejenigen, die am meisten besitzen, noch diejenigen, die am meisten genießen, den größten Einfluß auf die Leitung eines Landes haben . . . sondern dahingegen diejenigen, die am meisten ausgesetzt sind. Von dem Gesichtspunkt sehe wenigstens ich die Sache an.«

»Aber dann sind Sie ja beinahe . . . dann sind Sie wohl im Grunde Sozialdemokrat!« meinte Frau Hassing; sie hatte den Finger unter das Kinn gelehnt und sah gedankenvoll zur Decke empor.

»Darauf kann ich wirklich keine ganz bestimmte Antwort geben,« entgegnete Emanuel, der abermals in Gedanken ein Glas Wein ausgetrunken hatte. »Wenn die Anschauungen, die ich hier geäußert habe, sozialdemokratisch sind – nun ja, dann bin ich Sozialdemokrat. Ich schrecke nicht vor der Benennung zurück!«

»Was sagt er? . . . Sagt er Sozialdemokrat?« stotterte der Jägermeister und beugte sich wieder über die Schwester herab, deren Aufgabe es überhaupt zu sein schien, an seinem Ohr zu hängen, gleich einem lebenden Hörrohr.

»Aber Sie müssen doch wirklich zugeben, Herr Pastor,« nahm jetzt der Doktor das Wort, – »daß das Volk so im allgemeinen in vielen Fällen gar nicht weiß oder imstande ist, sich ein Urteil darüber zu bilden, was zu seinem eigenen Besten dient. Dazu sind doch in vielen Fällen Voraussetzungen erforderlich – Kenntnisse, Erfahrungen usw. – die zum Beispiel einem Arbeitsmann auf dem Lande ganz abgehen. Natürlich gibt es viele ausgezeichnete Ausnahmen, das werde ich, weiß Gott, nie bestreiten – aber ganz im allgemeinen kann man doch gewiß sagen, daß das Volk z. B. unsere große Bauernbevölkerung als ein großes, unerfahrenes – vielleicht zurzeit auch ein wenig unregierliches – Kind zu betrachten ist, das sich nur selbst in allerlei Unglück stürzen würde, falls man es ganz seiner eigenen Urteilskraft überließe. Finden Sie nicht doch, daß ich recht habe?«

»Ich weiß nicht, warum man dies Mißtrauen zu den Bauern gefaßt hat,« entgegnete Emanuel. »Unsere Geschichte flößt es uns doch nicht ein. Im Gegenteil, sie lehrt uns, wie ganz unberechtigt es ist. Es wird sich nicht ein einziges Beispiel nachweisen lassen, wo man, indem man den Wünschen der niederen Klassen nachkam und ihren Rat befolgte, den Staat auch nur der geringsten Gefahr ausgesetzt hätte. Dahingegen kann man ein Beispiel über das andere dafür anführen, daß man – trotz der Warnungen des Volkes – unser Vaterland von einem Unglück ins andere gestürzt hat. Aber nicht genug damit! Ich wage es, zu behaupten, daß alles, was unser Land an Tüchtigkeit, Unternehmungslust, Fleiß und Ausdauer besessen hat und noch besitzt, ursprünglich und ausschließlich aus unserem Bauernstande herstammt. Es läßt sich historisch nachweisen, daß es sowohl in der Vergangenheit wie in der Jetztzeit kaum eine einzige große Begabung, nicht eine einzige Persönlichkeit gibt, die durch Geist und Tatkraft über ihre Mitwelt aufragte, ohne daß man nicht, wenn man nur einige Generationen zurückgeht, auf Bauern in der Familie gestoßen wäre! . . . Dahingegen wird man kaum eine einzige hervorragende Kapazität finden, die durch Generationen hindurch ihre Wurzel in den sogenannten höheren Schichten gehabt hat. Der Fleiß, die Genügsamkeit und die zähe Ausdauer unseres Bauern sind das Erbteil aller unserer tüchtigen Männer gewesen . . . so war es in der Vergangenheit, und so ist es noch heut und diesen Tag. Jahr für Jahr schickt das Land frische unternehmungslustige Kraft in die Städte hinein . . . und jedes Jahr speien diese dafür eine Schar hinwelkender, geistig und körperlich heruntergekommener Menschen aus, die das Landleben und die Landluft wieder auf die Beine bringen soll. Es ist ganz dasselbe Verhältnis wie mit unserer guten, geduldigen dänischen Erde, die jahraus, jahrein ihr nährendes Korn ›zwischen die roten Dächer‹ hinsendet . . . und den Dünger wieder zurückerhält.«

Er hatte mit zunehmender Kraft und Leidenschaft gesprochen. Freilich war seine Begeisterung allmählich ein wenig bewußt geworden, aber er nahm sich gut aus, wie er so da saß mit seinen rotblonden Haarlocken und dem blonden Bart, warm vom Reden und vom Wein und von seiner ernsten Überzeugung. Es war wirklich etwas von einem prophetisch verklärten Ausdruck in sein Gesicht gekommen, und das starke Licht des Zimmers hatte einen kleinen goldenen Stern in seinen himmelblauen Augen entzündet.

Auf seine Rede folgte ein kurzes Schweigen. Es ward durch den Doktor unterbrochen, der sich an Fräulein Ragnhild wandte und sagte:

»Nun, was sagen denn Sie, Fräulein Tönnesen? Wollen nicht auch Sie uns Ihren Beitrag zur Diskussion geben?«

Sie erhob sich gleichsam mit einer kleinen Anstrengung aus ihrer zurückgelehnten Stellung und sagte:

»Ich halte es mit Pastor Hansted.«

»Wie . . .? Sie auch?« rief man ringsumher aus, während Onkel Joachim, nachdem er sich ihre Worte von der Schwester hatte wiederholen lassen, mit einem »hat man je so etwas –« die Hände über dem Kopf zusammenschlug.

»Ja, ich gestehe es. Ich bin ebenfalls der Ansicht, daß in einem Lande wie dem unserigen, mit seinem langen dunklen Winter und seinen übrigen harten Lebensbedingungen für die Bewohner . . . daß in diesem, unserem lieben Heimatslande, das vielleicht ebenso wie der übrige Norden niemals hätte zivilisiert werden, sondern wie eine Art großes Grönland hätte daliegen sollen, wohin man zur Sommerszeit hinaufreiste, um zu fischen und zu jagen . . . Ja, was wollte ich denn eigentlich sagen?«

Sie sah sich mit einem erkünstelten Lächeln um.

»Ja, jetzt weiß ich es. Nur das . . . daß es in einem solchen Lande, wie Herr Hansted das ganz richtig andeutete – ganz naturgemäß hauptsächlich auf die starken Schultern und die breiten Stirnen ankommt. Wie Herr Hansted ebenfalls vollkommen richtig bemerkte, lehrt uns die Geschichte, daß gerade hier in Dänemark sehr schnell alles verfriert und verweht, was nicht vierzig Zoll über der Brust und zwanzig zwischen den Ohren mißt. Ich gebe Pastor Hansted vollständig recht, wenn er behauptet, daß wir Ärmsten eigentlich von Bauers Gnaden leben . . . davon habe ich selbst stets eine lebhafte Empfindung gehabt.«

Auch nach diesen Worten entstand eine kleine Pause. Man war nicht ganz klar darüber, was als Ernst und was als Ironie aufzufassen sei. Nur der Doktor spürte Gewitter in der Luft und hielt es für ratsam, beizeiten aufzubrechen.

»Darf ich Sie dann bitten, fürlieb zu nehmen!«

Man erhob sich und sagte einander gesegnete Mahlzeit.

Auch Fräulein Ragnhild und Emanuel begegneten sich und reichten einander die Hand.

»Mein aufrichtiges Kompliment, Herr Pastor!« sagte sie mit erzwungener Lustigkeit. »Das muß ich Ihnen lassen . . . Sie haben sich wirklich zu einem schlagfertigen Redner ausgebildet.«

* * *

In dem salonartigen Wohnzimmer waren ringsumher auf kleinen Tischen und Konsolen schleierbehängte Lampen aufgestellt, die den Raum in einem angenehmen Halbdunkel ruhen ließen, so recht geeignet zu friedlicher Ruhe in den großen, samtüberzogenen Lehnstühlen.

Nach der glasüberdeckten Veranda, einem ganzen kleinen Wintergarten voller Palmen und hochstämmiger Pflanzen, war eine Flügeltür geöffnet, und hier hindurch hatte man wieder eine Aussicht auf den etwas niedriger gelegenen Garten. Man konnte von dem Zimmer aus einen Rasenplatz mit einer steinernen Vase, einige Rosensträuche und ein paar hohe Pappeln sehen, alles in den bleichen Mondnebel der Sommernacht wie in einen silbernen Flor gehüllt.

»Jetzt sind Sie so liebenswürdig und spielen uns ein wenig vor, Fräulein Tönnesen,« sagte der Doktor. »Ich denke, wir sind uns alle darüber einig, daß die Gemüter es nötig haben, ein wenig in Ruhe gelullt zu werden.«

»Herzlich gern,« antwortete Fräulein Ragnhild, »wenn ich nur etwas auswendig wüßte!« fügte sie nach einer Weile am Klavier hinzu, wo sie auf Virtuosenweise stand und ihre gefalteten Hände bog, um die Finger geschmeidig zu machen.

Emanuel hatte sich in einen großen Lehnstuhl der Verandentür gegenüber gesetzt; es war nicht recht nach seinem Sinn, daß musiziert werden sollte. Er war noch zu sehr erfüllt von der Unterhaltung bei Tische und hätte sie am liebsten jetzt, wo er in Stimmung war, fortgesetzt.

Währenddes hatten auch die anderen ringsumher im Zimmer Platz genommen und es sich in den breiten Stühlen bequem gemacht. Nur Onkel Joachim war bei einer Weinkaraffe im Eßzimmer sitzen geblieben, wo man eine Weile hörte, wie er sich seiner Schwester gegenüber Luft machte . . . bis Frau Hassing, als Fräulein Ragnhild ihren ersten Akkord anschlug, hinging, die Tür öffnete und mit einem »St« ihn zum Schweigen brachte.

Fräulein Ragnhild begann ihr Spiel mit ein paar kräftigen Läufen, die Tasten hinauf und hinunter, als wolle sie die Luft im Zimmer reinigen. Dann saß sie einen Augenblick unbeweglich mit beiden Händen im Schoße da, in einer Stille, in der man die Musik schon aus der Ferne zu hören vermeinte.

In dem finstersten Winkel des Zimmers hatte das kleine Fräulein Gerda sich verkrochen.

Es war im Laufe des Abends eine merkwürdige Veränderung mit dem vorher so munteren jungen Mädchen vor sich gegangen; sie war auffallend still, fast feierlich geworden. Für die Galanterien des Vetters hatte sie sich während der Mahlzeit mehr und mehr unzugänglich gezeigt, wohingegen sie mit wachsender Aufmerksamkeit Emanuel angehört und angesehen hatte, sobald er sprach.

Auch jetzt saß sie da und starrte ihn unverwandt mit großen staunenden Augen an. Sie saß vornübergebeugt, die Ellenbogen auf den Knien. Der dunkelrote Schein einer in der Nähe stehenden Lampe beleuchtete ihr Gesicht und die gefalteten Hände, auf die sie ihr Kinn stützte; die übrige Gestalt machte der Schatten undeutlich. In jedem ihrer Züge sah man deutlich die Familienähnlichkeit mit Frau Hassing; sie hatte ganz deren madonnenhaftes Oval des Gesichts; die weichen Linien des Mundes und des Kinnes verrieten dasselbe schwärmerische Bedürfnis, sich hinzugeben, aber die Nase war kräftiger, die Rundung des Kinnes fester, und es schwelte ein Feuer erwachender Leidenschaft in den samtbraunen Augen, über denen die dunklen Brauen sich wie ein Paar Flügel abzeichneten, die sich zum Fluge aufschwingen.

Als das erste Musikstück beendet war und während zwischen Fräulein Ragnhild und dem Doktor einige Bemerkungen über den Komponisten gewechselt wurden, erhob sie sich vom Stuhl und schlich langsam an der Wand entlang zu Frau Hassing, die in dem entgegengesetzten Ende des Zimmers saß.

»Tante,« flüsterte sie ihr ins Ohr, »ist es wirklich wahr, daß er mit einem Bauernmädchen verheiratet ist?«

»Ja, mein Kind.«

»Mit einem richtigen Bauernmädchen?«

»Ja, mein Kind,« wiederholte Frau Hassing und streichelte ihr die Wange.

Sie blieb einen Augenblick stehen, die Hand auf der Rücklehne von der Tante Stuhl. Dann schlich sie, als Fräulein Ragnhild ein neues Musikstück begann, denselben Weg zurück, den sie gekommen war und setzte sich wieder hin, um zu Emanuel hinüberzustarren.

In einiger Entfernung von ihr saß der Vetter, der sich die ganze Zeit bemühte, durch Zeichen ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Aber sie tat, als sehe sie es nicht; und als er einmal in seiner Ungeduld versuchen wollte, sie mit einem langstieligen Federbüschel zu erreichen, den er in seiner Nähe gefunden hatte, sandte sie ihm einen so blitzenden Blick zu, daß er vor Überraschung fast vom Stuhl heruntergewippt wäre.

Emanuel schenkte der Musik anfänglich keine sonderliche Beachtung: das erste Stück war eine moderne, schwer aufzufassende Komposition gewesen, die in seinen Ohren ganz wie ein Katzenkonzert klang. Er hatte sich in den Stuhl zurückgelehnt und sich ganz seinen eigenen Betrachtungen überlassen. Sein Blick war durch das Zimmer geglitten, über die Bilder an den Wänden und einige weiße Statuetten auf Eckpiedestalen . . . und währenddes hatte eine schwere Schläfrigkeit sich auf ihn herabgesenkt.

Es war schon lange über seine gewöhnliche Schlafenszeit, und die Dämmerung des Zimmers, die vielen neuen Eindrücke des Tages, die Erschlaffung nach all der geistigen Anstrengung, wie auch die Wirkung des beim Abendessen genossenen Weins, machten ihn matt und schwer.

Aber allmählich fing er an zu lauschen. Bekannte Töne drangen an sein Ohr . . . brausende, feierliche Harmonien, die gleichsam aus weiter Ferne zu ihm kamen. Er wußte lange gar nicht, wo er sie hinbringen sollte, verstand ebensowenig die starke Gemütsbewegung, in die sie ihn versetzten. Er fühlte sich wie gefangen unter einem Zauber. Sein Blick fiel durch die Verandentür – und die bleiche, feierliche Sommerlandschaft da draußen mit der großen steinernen Vase und den schwarzen, Zypressen ähnlichen Pappeln erschien ihm im selben Augenblick wie eine Verkörperung von Fräulein Ragnhilds Musik. Da erkannte er den Chopinschen Trauermarsch, das Lieblingsstück seiner Schwester, das er sie in seinen Jugendtagen so oft daheim in der Dämmerstunde hatte spielen hören . . . und im selben Augenblick war es, als wenn sich die Umgebung verwandelt habe. Es war nicht mehr Doktor Hassings Wohnzimmer, sondern das Heim seiner eigenen Kindheit, in dem er sich befand! Es war seine eigene Schwester Betty, die dort auf dem Sessel zwischen den beiden brennenden Lichtern des Klaviers saß und mit anmutigen Bewegungen die weißen Hände über den Tasten hob und senkte. Wie ein im Bann der Berge Gefangener, der die fernen Glocken seines Heimatsdorfes läuten hört, saß er mit noch halbschlummerndem Bewußtsein da und ließ das Auge auf diesen weißen, schönen Schattenhänden ruhen; und als sie während einer Pause im Musikstück von den Tasten genommen und in den Schoß gesenkt wurden, glitt sein Blick unwillkürlich über Fräulein Ragnhilds schlanke Arme hinauf und gab sich der Betrachtung ihres Nackens hin, aus dem das eichhörnchenrote Haar in die Höhe gestrichen war, um in eine Schnecke über dem Scheitel zusammengefaßt zu werden. Er saß eine Weile bewundernd da, versunken in den Anblick dieses Nackens und dieses Haars, folgte in Gedanken den Linien des Halses aufwärts und entzückte sich an ihrem linken Ohr, dessen feine durchsichtige Knorpel von dem dahinterstehenden Klavierlicht einen korallenroten Schimmer bekam. Aber plötzlich erwachte er zum Bewußtsein . . . Mit schamvoller Verwirrung strich er sich mit beiden Händen durch das Haar und, sobald das Musikstück beendet war, stand er auf. Er fühlte sich nicht wohl; er wollte nach Hause.

Ziemlich Hals über Kopf verabschiedete er sich und befand sich wenige Augenblicke später draußen auf dem Wege.

Aber auch hier draußen war der Zauber nicht gleich gehoben, obwohl er mit starken, hastigen Schritten ging, gleichsam getrieben von dem unruhigen Pochen seines Herzens. Die Töne der Musik fuhren fort, ihn auf dem schlangengewundenen Wege zu verfolgen . . . er war nicht wieder er selber, bis er über die Gemeindegrenze kam und die dunklen Massen der heimischen Hügel sich hoch von dem schon schwach leuchtenden Horizont abheben sah.

Währenddes hatte er drinnen im Wohnzimmer des Doktors das Thema einer lebhaften Unterhaltung gebildet. Onkel Joachim war hereingekommen und hatte Erlaubnis erhalten, sich offen auszusprechen, – was er im reichsten Maße ausnutzte. Frau Hassing sang Emanuels Lob und selbst der Doktor mußte einräumen, daß er wirklich »ein höchst eigentümlicher und keineswegs unbegabter Mensch sei.«

Fräulein Gerda saß unbeweglich in ihrem Eckstuhl, stumm und geistesabwesend, – in Träume verloren.

Auch Fräulein Ragnhild verhielt sich ziemlich schweigend; sie hatte nun auch eigentlich keinen Grund, sehr zufrieden mit diesem Abend zu sein. Es war nämlich nicht so ganz unwahr, was sie zu Emanuel gesagt hatte, daß sie während der verstrichenen Jahre oft gewünscht hatte, ihm wieder zu begegnen, ja, die Aussicht, daß sich dieser Wunsch erfüllen möge, hatte sie hauptsächlich beschäftigt, als sie ihrerzeit Frau Hassings Einladung annahm, und sie hatte es während ihres Aufenthalts hier geschickt verstanden, alle Ausflüge an den Vejlbyer Strand zu dirigieren, in der Hoffnung, Glück zu haben und ihm zu begegnen.

Es war nicht ausschließlich weibliche Neugier, die sie hier hinausgetrieben hatte. Sehr bald nach ihrer Trennung war ihr klar geworden, daß das Interesse, das sie für den damaligen Kaplan Hansted empfunden, sich nicht auf einem so ganz ungemischten Freundschaftsgefühl gründete, wie sie geglaubt hatte, sondern, daß während des Zusammenlebens mit ihm wirklich ein Hauch von Liebe über ihre Seele hingegangen war. Sie hatte sich seither in der Erinnerung daran oft entwürdigt gefühlt. Das Bewußtsein, verschmäht zu sein – sogar von einem Manne, der sich mit einer Bauerntochter verheiratet hatte – peinigte die stolze Propstentochter fast wie die Erinnerung an einen Fehltritt. Sieben lange Jahre hatte sie einen tiefen Haß gegen Emanuel genährt, und die Erinnerung an die erniedrigende Abreise ihres Vaters aus dem Vejlbyer Pfarrhause – die den alten Mann tiefer verletzt hatte, als irgend jemand ahnte und die im Grunde die eigentliche Ursache zu seinem Tode geworden war – hatte nicht dazu beigetragen, diesen Haß zu besänftigen. Auch hatten die vielen Triumphe, die die Bauern in den vergangenen Jahren auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens gefeiert, ihren Sinn gerade nicht milder gestimmt. Sie verabscheute den Bauer und alles, was nur nach Erde roch, aufrichtiger denn je zuvor. Selbst über die neuere Literatur war sie empört, einzig und allein wegen ihrer Naturbeschreibungen und Verherrlichung des Volkes, und sie ging nie mehr auf die Charlottenburger Ausstellung, weil sie fand, daß auch alle Künstler sich in Motive aus dem Stall und vom Dunghaufen verliebt hatten. Ja, selbst im Theater hatte sie keinen Frieden mehr; dort saßen Reichstagsabgeordnete auf ihren Freiplätzen im Parkett und spien an die Erde.

Doch nichts hatte sie so empört wie das viele Reden über den bevorstehenden Ministerwechsel, das man in den letzten Jahren überall gehört hatte. Man hatte wirklich allen Ernstes davon gesprochen, daß jetzt die Bauern an das Ruder kommen sollten. Man hatte geradezu einen ehemaligen Dorfschulmeister als kommenden Konseilpräsidenten genannt. Selbst Leute, die sich gar nicht mit dem Zustand der Dinge aussöhnen konnten, hatten kopfschüttelnd gesagt, daß »jetzt kaum etwas anderes zu machen sei«. Sie verstand es nicht. Hatte man denn nicht immer gewußt, daß die Bauern hierzulande in der Mehrheit waren? Warum denn plötzlich diese Unterwerfung? »Die Bauern sind ja doch auch Menschen«, hatte sie beständig als Antwort auf ihre Einwendungen gehört. Aber das war es ja gerade, was sie nicht waren! Vielleicht waren sie es infolge der Naturgeschichte nach der Anzahl der Backenzähne und Darmwindungen. Aber ein Hirte auf dem Felde stand dessenungeachtet dem Schaf und der Kuh viel näher, als einem nur mittelmäßig begabten Intelligenzmenschen. Und man dachte doch noch nicht daran, dem Schaf oder der Kuh Stimmrecht zu geben! – Wie hatte sie nicht auch gejubelt, weil nun endlich Männer erstanden waren, die Mut und Mannesherz besaßen, um das alte Herrscherrecht des Menschen über die Erde hervorzuheben und dies Bauern-Koboldgelichter wieder in die Dunghaufen zurückzubannen, wohin sie gehörten!

Das Herz von dieser Wonne erfüllt, hatte sie denn auch gehofft, den ehemaligen Kaplan des Vaters jetzt wiederzusehen. Jetzt, wo die Zeit der Torheiten vorüber war, brannte sie vor Ungeduld, über denjenigen zu triumphieren, der ihren Vater und sie selbst gedemütigt hatte, und sich von dem Schamgefühl zu befreien, das die Erinnerung an ihr Zusammenleben während aller dieser Jahre in ihr wachgehalten hatte. Aber nach dieser Richtung hin hatte die Begegnung mit Emanuel ihr keineswegs die erhoffte Befriedigung gewährt.

In ihrem Verdruß hierüber sagte sie vor allen andern Gutenacht, indem sie ihren Aufbruch mit Kopfschmerzen entschuldigte; und gegen ihre Gewohnheit bat sie an diesem Abend Frau Hassing nicht, sie auf ihr Zimmer zu begleiten, um noch ein wenig unter vier Augen mit ihr zu plaudern. Lange saß sie in ihrem weißen Frisiermantel vor dem Spiegel, die Hände im Schoß gefaltet, und vergaß ihr Haar zu lösen. In den Stuhl zurückgelehnt, sah sie mit einem erstarrten Ausdruck von Zorn vor sich hin. Plötzlich fing sie an zu frieren. Eine dumpfe Angst beschlich sie . . . Was für eine Macht war es doch, die dieser Mensch über sie besaß?

* * *

Müde und verwirrt von den Ereignissen des Tages langte Emanuel wieder im Vejlbyer Pfarrhause an, wo sein Ausbleiben übrigens keine Verwunderung hervorgerufen hatte. Hansine fragte ihn nicht einmal, wen er besucht habe; sie war daran gewöhnt, daß er sich von den Freunden festhalten ließ, bei denen er zufällig hineinschneite, und daß er dann im Laufe der Unterhaltung Ort und Zeit völlig vergaß.

Erst am nächsten Morgen erzählte Emanuel ihr, wo er gewesen war und wen er getroffen habe . . . und damit hätte er am liebsten einen Strich durch die ganze Sache gemacht. Er war mit der Empfindung eines schlechten Gewissens erwacht, und je mehr von den Begebenheiten des Abends in seiner Erinnerung auftauchten, um so unzufriedener wurde er mit sich selbst. Nach der Morgenandacht ging er in sein Zimmer, schloß seine Tür und stellte sich an ein staubiges Pult, das in einer der Fensterecken stand. Den Kopf in seine Hand gestützt, sagte er reuig aber kindlich vertrauensvoll:

»Vater! Bist du erzürnt auf mich? Ich weiß es wohl, schlecht und eitel habe ich die Arbeit ausgeführt, die du mir zu tun gabst. Aber du wirst langmütig sein! Du wirst mich nicht verstoßen. Prüfe mich – prüfe mich von neuem, ich bitte dich, Vater! – bis ich nicht mehr strauchle!«

Der Besuch bei Doktor Hassings erhielt übrigens die Bedeutung für ihn, daß er ihn über den Zustand von Schlaffheit hinwegbrachte, die ihn solange gefangen gehalten hatte; er verlieh ihm geistige Schwungkraft, endlich über den toten Punkt hinwegzukommen, in dem er sich seit dem Begräbnistage des Buben befunden hatte. Am Sonntag predigte er wieder mit einer Wärme der Überzeugung, so daß seine – übrigens nicht zahlreichen – Zuhörer ganz hingerissen von seinen Worten waren und sich nach dem Gottesdienst vor der Kirchentür versammelten, um ihm die Hand zu reichen und ihm zu danken. Der Text des Tages war der Bericht des Evangelisten Marcus über Christus, der das Volk in der Wüste mit fünf Broten und einigen Fischen speiste. Seiner Gewohnheit gemäß machte er erst das Ereignis selbst seinen Zuhörern anschaulich, malte ihnen poetisch die feierliche Stille der Wüste, ihren ewig blauen Himmel und die zerklüftete Felslandschaft aus, auf die die Sonne ihre brennenden Strahlen herabwarf. Dann fuhr er fort:

»Und dann ist da dies mit den fünf Broten und den kleinen Fischen, das zu allen Zeiten ein Gegenstand für die Spötteleien der Zweifler gewesen. Ihr Toren, sagen sie, viertausend Menschen mit einem Arm voll Armeleutekost zu sättigen und doch noch fünf Körbe voll übrig zu behalten, das ist ja Tollhausgerede! Ja, so sagen diese armen Menschen, die keinen anderen Hunger kennen und kennen wollen als den, der den Magen knurren macht. Aber wir, die wir wissen, was es heißt, daß der Geist hungert, und daß die Seele dürstet – ach, wir verstehen das alles so gut. Wir haben alle diese Augenblicke der Schwachheit und Mutlosigkeit gekannt, in denen wir meinten, daß alles um uns her zur Wüste würde, und wir erblickten keine letzende Quellen, und wir glaubten, daß nicht alle Schätze des Himmels und der Erde den Hunger unserer Seele würden stillen können . . . Und dann geschieht da nur ein einziges, kleines, unerwartetes Ereignis, oder wir hören eines Tages ein gutes, kleines Wort, in das der liebe Gott seinen Segen gelegt hat, und gleich grünt wieder alles vor unseren Augen und unserem Herzen . . . ach, es füllt sich, es zerspringt fast vor Hoffnung und Wonne, so daß wir nicht allein selbst völlig satt werden, sondern auch noch mit vollen Händen davon austeilen können! Ja, Freunde, solche Augenblicke der Schwachheit kennen wir alle. Und wenn ich nun meine Meinung sagen soll, so finde ich, daß so ein Schlaf der Erschlaffung augenblicklich auf allen den guten Leuten hier bei uns lastet. Überall hört man mutlose Stimmen sagen: Was kann das alles nützen? Wir kämpfen für die Wahrheit und die Gerechtigkeit hier auf Erden, aber wir sehen nur das Unrecht und die Lüge und die Willkürlichkeit besser und besser um uns her gedeihen. Laßt uns entsagen, laßt uns zurückkehren zu der Ägypter Knechtschaftsjoch, zu ihren Fleischtöpfen. Und die Versuchung, die dem Zweifel auf den Fersen folgt, wie sein Schatten, stimmt mit ihrem sanften, lieblichen Schlangengeflüster ein: Ja, knie nur nieder und ich will dir alle Herrlichkeiten der Erde geben! . . . Nein, nein! Wir geben nicht verloren! Wir bauen auf den Gott, der den Juden Manna streute und die viertausend Mann in der Wüste mit seinem Segen sättigte. Auch wir sind Gottes auserwähltes Volk, das er begnadigt und zu seinem Werkzeug gemacht hat, und wir wollen ihm dafür danken und ihn lobpreisen! Ja, liebe Brüder und Schwestern, hütet euch vor der Schlange in eurem Herzen, haltet sie nicht für tot, weil sie ihr Kleid gewechselt hat. Sie lauert als Schwachheit selbst hinter eurer stärksten Hoffnung, sie verbirgt sich als Selbstgerechtigkeit sogar in eurem allerdemütigsten Gebet, sie führt uns zum Falle, gerade wenn wir glauben, daß wir aufrecht stehen. Aber wir wollen ihren Kopf mit der eisernen Ferse des Glaubens zermalmen. Wir wollen die Hände falten und mit Mund und Herzen sagen: Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiliget werde Dein Name, zu uns komme Dein Reich – –«

Emanuel hatte selbst gefühlt, daß der Geist ihn erfüllte, während er sprach. Als er nach Hause kam, küßte er Hansine auf die Stirn, nahm die kleine Dagny auf seinen Arm und trug sie lobsingend im Zimmer hin und her. Er war seit langer Zeit nicht so freimütig und fröhlich gewesen.

Am Nachmittag machte er den Vorschlag, daß sie zu den Großeltern fahren wollten, die er die ganze Woche nicht besucht habe und nach denen er sich jetzt sehne. Der große Federwagen wurde herausgezogen und Hansine und die Kinder mit ihrem besten Staat geschmückt. Das geschah auf Emanuels ausdrücklichen Wunsch, »weil wir wirklich auch einmal zeigen müssen, daß wir hübsche Kleider haben«; und als er Hansine mit der schwarzen, seidenen Schürze und ihrer kleinen, perlengestickten, seidenen Mütze sah, faßte er sie mit beiden Händen um die Taille und rief aus:

»Ich wette zehn gegen eins, daß es im ganzen Königreich Dänemark keine schönere Pfarrersfrau gibt!«

Als die Uhr vier war, ging er selbst in den Stall hinüber, um die Pferde anzuschirren. Wie er da stand mit einem Kopfzaum in den Händen, kam Sigrid zu ihm hingestürzt, die Augen weit aus dem Kopf und so atemlos von Gemütsbewegung, daß sie kaum sprechen konnte.

»Vater!« rief sie, »da sind zwei gekommen . . . zwei Menschen . . . feine Damen . . . die gingen gleich in die Stube rein.«

Emanuel errötete. Er wußte sofort, daß es Fräulein Tönnesen und eine von den anderen Damen aus Doktor Hassings Haus sein müßten.

»Ist Mutter in der Stube?« fragte er.

»Ja.«

»Das ist gut.«

Er ließ sich absichtlich reichlich Zeit, die Arbeit mit den Pferden auszuführen . . . aber sein Herz pochte unruhig. Seine Gedanken galten namentlich Hansine. Was würde sie wohl von diesem Besuch denken? Und wie hatte sie wohl die Fremden empfangen?

Jetzt kam auch Abelone im Sturmlauf über den Hofplatz auf ihren hölzernen Pantoffeln und steckte den ganzen Oberkörper durch die Stalltürklappe:

»Ist Emanuel hier? . . . Du mußt schnell hinkommen; da sind zwei Damen gekommen – –«

»Mein Gott! Wie oft soll ich das denn hören!« unterbrach er sie ungeduldig. »Sigrid hat es mir ja schon erzählt –«

Sie sah ihn verwundert an.

»Das konnt' ich doch nicht wissen. Übrigens hat Hansine mir gesagt, daß ich hierher laufen sollt'.«

Sie wandte sich beleidigt ab und eilte klappernd über den Hofplatz zurück.

* * *

In der Halle saß währenddes Fräulein Ragnhild auf einem der Strohstühle am Tische und bemühte sich, eine Unterhaltung mit Hansine zu führen, die in ihrem Lehnstuhl am Ofen Platz genommen hatte und mit ihrer gewohnten Unliebenswürdigkeit Fremden gegenüber sich wenig Mühe gab, ihr Erstaunen über diesen Besuch zu verbergen.

Auf der Bank unter dem Fenster hinter dem Tisch saß der Kuhhirte Sören und kroch zusammen in seiner nicht gerade kleidlichen Sonntagstracht, einem alten, blauen Hausrock mit weißen Säumen und einem brandgelben Halstuch. Mit weit aufgesperrten Augen und offenem Munde starrte er abwechselnd Fräulein Ragnhild und ihre Begleiterin, das junge Fräulein Gerda an.

Fräulein Ragnhild trug eine schwarze Perlenpelerine über einem Promenadenkleid aus graukarierter Seide, dazu einen schwarzen »Capothut« mit hoher, spitzauslaufender Schleife. Fräulein Gerda hatte dasselbe weiße Kleid an und denselben hellblauen Hut auf, den sie neulich bei Emanuels Besuch bei Doktor Hassings getragen hatte.

Das junge Mädchen saß mit den Händen im Schoß ganz auf dem Rande ihres Stuhles, und diese Stellung, sowie ihre glühenden Wangen und der Blick, mit dem sie sich im Zimmer umsah und hin und wieder Hansine und ihre Bauernkleidung betrachtete, verrieten ein starkes Interesse, obgleich sie sich im Grunde sehr ungemütlich fühlte in dem großen unmöblierten Raum, der sie an eine leere Scheune erinnerte, und dabei empfand sie allerlei Krabbeln am ganzen Körper, sobald sie Kuhhirt Sören und seinen Hausrock ansah. Sie hatte Fräulein Ragnhild keine Ruhe gelassen, bis sie Erlaubnis erhalten, mit ihr hierher zu gehen, und auf dem ganzen Wege von Kyndlöse war sie in einer fieberhaften und erwartungsvollen Spannung gewesen.

Aber als die Tür sich nun öffnete und Emanuel hereinkam, trat ein etwas enttäuschter Ausdruck in ihr Gesicht. Sie hatte durch Doktor Hassing von der merkwürdigen Kittelkleidung gehört, mit der sich Pastor Hansted im Hause zu bewegen pflegte, und er erschien jetzt in ganz demselben hellgrauen, langschößigen Moltonrock und der festzugeknöpften Tuchweste, womit sie ihn neulich gesehen hatte.

»Ja, da haben Sie mich wieder, Herr Pastor!« rief Fräulein Ragnhild aus, indem sie sich erhob. »Es ist freilich mit der Tür ins Haus fallen; aber ihre Frau war so liebenswürdig zu sagen, daß Sie das hier so gewohnt seien. Ich hoffe also, daß wir nicht ungelegen kommen . . . Ja, Sie erinnern sich wohl noch meiner kleinen Freundin, Herr Pastor,« fügte sie hinzu und wandte sich nach Gerda um.

Emanuel begrüßte sie beide schweigend und bat sie mit einer gemessenen Handbewegung, wieder Platz zu nehmen.

»Sie haben einen weiten Weg zu gehen gehabt,« sagte er nach einer Weile.

»Ach, nicht so weit, wie Sie wohl meinen,« lachte Fräulein Ragnhild. »Ganz von Kyndlöse hierher zu gehen, das würde sicher meine Kräfte überstiegen haben; aber so schlimm ist es denn auch nicht. Doktor Hassing hatte hier irgendwo in der Nähe einen Krankenbesuch zu machen, und da konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, die Gelegenheit zu benutzen und Ihnen« – hier machte sie eine kleine Verbeugung zu Hansine und zu Emanuel hinüber – »und dem alten Heim meiner Jugend einen Besuch abzustatten. Wir fuhren mit dem Doktor bis an den sogenannten ›Berg‹ – so heißt der Ort, glaube ich –, und da sollen wir ihn auch wieder treffen. Es ist wohl wenigstens eine halbe Stunde Weges bis hierher, und ich bin ganz stolz darauf, in der Sonnenhitze so weit gegangen zu sein.«

Sie begann ein wenig nervös über die Gegend und das Neue zu reden, was sie unterwegs gesehen hatte. Sie fand, daß alles so verändert sei, seit sie hier gewohnt hatte; namentlich hatte das Aussehen des Dorfes sie überrascht. »Es ist hier wirklich viel gemütlicher geworden,« sagte sie, und Emanuel, der auf der Bank hinter dem oberen Tischende Platz genommen hatte, erklärte ihr, das komme von den vielen damals abgebrannten Gärten, die im Laufe der Jahre wieder angewachsen und große Bäume bekommen hätten.

Hansine mischte sich nicht in die Unterhaltung, und Emanuel gab sich auch keine Mühe, sie hineinzuziehen. Er wußte eigentlich selbst nicht recht, was ihn bei diesem Besuch bedrückte und warum er beständig glaubte, Hansinens Blick zwischen ihm und Fräulein Ragnhild hin und her wandern zu sehen. Er hatte sich doch wirklich nicht das Geringste vorzuwerfen, und jedenfalls hatte er ihr doch nichts verschwiegen. Er hatte an jenem Morgen, nachdem er zuvor sein Herz vor Gott erleichtert, ihr offen alles erzählt, was sich am Abend zugetragen hatte.

Währenddes saß Fräulein Gerda auf dem Rande ihres Stuhles und warf glühende Blicke zu Emanuel hinüber, während sie selbst von der kleinen Sigrid beobachtet wurde, die in einem rosa baumwollenen Kleid mit einem schwarzen Band um ihr gelbbraunes Haar neben Hansine stand. Das Kind hatte den Kopf und die Arme in den Schoß der Mutter gelegt, und jedesmal, wenn sie entdeckte, daß Fräulein Gerda sie ansah, verbarg sie ihr Gesicht. Aber gleich nachher guckte ein großes, dunkelblaues, spähendes Auge von neuem über ihren sonnengebräunten Arm hinweg; und sobald sie sich unbemerkt glaubte, hob sie sich auf die Zehenspitzen und flüsterte der Mutter etwas zu.

Hansine nickte zerstreut und strich ihr gleichzeitig liebkosend über das Haar mit einer mütterlichen Zärtlichkeit, wie sie sie ihren Kindern gegenüber nicht oft an den Tag legte.

Die Unterhaltung am Tische drohte jeden Augenblick ins Stocken zu geraten. Es war Emanuel nicht möglich, seine Gedanken zusammenzuhalten. Hansinens vollkommenes Schweigen machte ihn immer nervöser. Außerdem fühlte er sich ein wenig bedrückt durch des Kuhhirten Sören Anwesenheit. Sören hatte immer seine üblen Angewohnheiten gehabt, die man ihm seiner vielen guten Eigenschaften halber nachgesehen hatte; aber es wollte Emanuel scheinen, als habe er nie in dem Maße gekrächzt und gespuckt oder so oft hörbar aufgestoßen, wie grade heute.

»Wollen wir nicht einmal in den Garten hinausgehen?« fragte er endlich. »Freilich können wir keinen Mustergarten aufweisen, wie ihn uns Ihr Vater seinerzeit hinterließ . . . aber ein wenig Kühlung werden wir auf alle Fälle da draußen finden.«

»Das ist ja herrlich,« sagte Ragnhild.

Sie standen alle auf; Hansine jedoch erst, nachdem Emanuel sie geradezu gefragt hatte, ob sie nicht mitkomme. Nur Kuhhirt Sören blieb sitzen und verschlang bis zuletzt die fremden Damen mit seinen gierigen Augen.

Jetzt steckte Abelone den Kopf zur Küchentür hinein, hinter der sie gestanden und gelauert hatte.

»Sind sie gegangen?«

Sören nickte schweigend, worauf Abelone ganz hereinkam und an das Fenster lief um auszugucken.

»Wenn ich bloß wüßt, was Emanuel mit sonne Frauenzimmer zu schaffen haben will,« sagte sie empört. »Die seh'n ja auch nich' anners aus, wie 'n paar ganz gemeine Dirns.«

* * *

Der erste Eindruck des Vejlbyer Pfarrgartens war nicht gleich anziehend für alle. Emanuel hatte recht darin, daß nicht mehr sonderlich viel von dem herrschaftlichen Park vorhanden war, den Propst Tönnesen ihnen hinterlassen hatte. Die in alten Zeiten so wohlgepflegten Hecken hatten wilde Schüsse nach allen Seiten ausgebreitet, die Rasenplätze waren über die Gänge hinausgewachsen, und das Gras war mit allem möglichen Unkraut vermischt. Die langen Alleen waren zugewachsen und unter den großen Bäumen lagen herabgewehte Äste und halbverfaulte Starkasten.

Fräulein Ragnhild und Emanuel, die sich nach Verlauf kurzer Zeit von ihren Begleitern getrennt hatten, waren allmählich in die dichteste Wildnis des Gartens hineingeraten. Emanuel machte angestrengte Versuche, wieder zu den anderen zurückzukommen, oder doch wenigstens in die breite, offene Kastanienallee hineinzulenken, die den Abschluß des Gartens nach den Feldern zu bildete. Aber Fräulein Ragnhild schien eine ganz besondere Vorliebe für die geheimsten und abenteuerlichsten Wege gefaßt zu haben. Sie ging ein paar Schritte vor ihm und hob mit der linken Hand die Schleppe ihres Kleides ein wenig in die Höhe, so daß man gerade den getollten Rand eines gesteiften Unterrockes und die Absätze von ein Paar eleganten Lackschuhen sehen konnte.

Emanuel hatte eine Unruhe erfaßt, wie er so allein mit ihr auf diesen dunklen, schweigsamen Wegen dahinschritt, die so viele halbvergessene Erinnerungen aus ihren Jugendtagen in sich schlossen. Ihn befiel eine Verwirrung, als er nach Verlauf so vieler Jahre wieder das geheimnisvolle Flüstern hörte, das ihre Kleider beim Gehen hervorriefen, und den Veilchenduft einsog, den man auch damals stets in ihrer Nähe spürte. Fräulein Ragnhild dagegen sah sich ungezwungen um und schien zu allerlei Kurzweil aufgelegt. Doch hatte sie sich keineswegs ohne Überwindung zu diesem Besuch in ihrem alten Heim angeschickt. Sie hatte aber keine Ruhe finden können, ehe sie nicht noch einmal den Versuch gemacht hatte, den früheren Kaplan ihres Vaters zu demütigen, – und der Anblick des Verfalles des ganzen Pfarrhauses, wie auch der kleine Auftritt drinnen im Zimmer hatten ihr in dieser Hinsicht eine nicht geringe Befriedigung gewährt. Noch aber war ihr Rachedurst nicht gestillt und sie gab sich beständig Mühe, die Unterhaltung in Spure zu lenken, in denen sie ihren Triumph verfolgen konnte.

Indessen waren Hansine und das kleine Fräulein Gerda bei einem sonnenbeschienenen Rasenplatz im vorderen Teil des Gartens stehen geblieben. Gerda hatte Ragnhild und ihrem Begleiter, als sie verschwanden, einen sehnsuchtsvollen Blick zugeworfen; und als Ersatz für Emanuels Anblick hatte sie sich mit Sigrid gut Freund gemacht, die nun ganz mutig geworden war und – von ihren feinen Kleidern angezogen – sich einschmeichelnd an sie schmiegte und die Hand an ihrem Kleid hinabgleiten ließ. Hansine hatte versucht, eine Unterhaltung mit dem jungen Mädchen anzuknüpfen; nachdem sie aber einige Worte gewechselt hatten, ohne sich auch nur im mindesten zu verstehen, fing Gerda in ihrer Verzweiflung an zu spielen, während sich Hansine auf eine Bank in den Schatten einer Hecke setzte.

Nach Verlauf einiger Zeit wurde sie durch den Laut von sich nähernden Stimmen aus ihren Gedanken erweckt. Es waren Ragnhild und Emanuel, die durch die gerade hinter ihr entlanglaufende geschlossene Haselallee zurückkamen.

»– Wir sehen uns ungefähr alle 14 Tage einmal,« hörte sie Ragnhild sagen. »Und in der Regel spielen wir dann ein wenig vierhändig miteinander. Aber natürlich plaudern wir auch . . . zuweilen auch von Ihnen, sowie ich es Ihnen wohl schon erzählt habe. Ich habe immer fühlen können, daß Ihre Schwester mit einer seltenen Liebe an Ihnen hängt. Sie hat oft davon gesprochen, wie sehr sie Sie entbehrt und wie schmerzlich sie sich nach Ihnen sehnt.«

»Also Betty hat wirklich mit Ihnen von mir gesprochen?«

»Ja, und das ist doch eigentlich so natürlich; sie hat Sie in allen diesen Jahren ja gar nicht gesehen. Sie sollten wirklich einmal in die Stadt reisen. Betty bedarf der Ermunterung, die Ärmste. Sie fühlt sich so allein, seit sie ihr Kind verloren hat. Es war wirklich ein harter Schlag für sie. Sie ist ja noch jung und muß irgend jemand oder irgend etwas haben, was ihr Leben ausfüllen kann . . . und es läßt sich ja nicht leugnen, daß der Generalkonsul nach der Richtung hin seine Schwächen hat; er ist ja außerdem jetzt fast ein alter Mann und überhaupt ziemlich abgelebt –«

Die Stimmen wurden für Hansine unhörbar. Sie sah wieder zu Sigrid und ihrer jungen Freundin hin, die sich einander gegenüber draußen auf dem Rasenplatz gelagert hatten. Nach einer Weile kam die Kleine mit vor Begeisterung strahlenden Augen auf sie zugestürzt:

»Mutter!« rief sie. »Weißt du, was sie sagt? Sie sagt, sie hat eine große Puppe, die schlafen kann wie ein wirklicher Mensch, und eine Puppenstube mit richtigen Stühlen und Tischen und einer Küche. Und weißt du, was sie sagt? Da gehört auch ein Teich zu mit Enten darauf und ein Boot. Glaubst du, daß das wahr ist, Mutter?«

»Nun, kommst du bald, Sigrid?« rief Fräulein Gerda vom Rasen her. Ohne die Antwort der Mutter abzuwarten, lief das Kind zu dem jungen Mädchen zurück und warf sich ihr in ihrem Übermut gerade in den Schoß.

Im selben Augenblick hörte man wieder die Stimmen sich durch die Haselallee nähern. Diesmals waren es Emanuels Worte, die Hansine zuerst aufzufassen vermochte; und sie konnte es ihm anhören, daß er in der Zwischenzeit eifrig geworden war:

»– – Es mag ja gern sein, daß an und für sich nichts Böses in der Art und Weise zu leben ist, aber Sie müssen mir doch zugeben, daß schon allein die Rücksicht auf die weniger gut gestellten Mitmenschen die Leute abhalten sollte, in eine Luxusentfaltung zu verfallen, wie zum Beispiel die meines Schwagers. Der Anblick einer solchen Verfeinerung macht die Bürde der Armut doppelt schwer für diejenigen, die leidend das ganze Jahr hindurch kämpfen müssen, um sich nur das trockene Brot zu verschaffen. Das erzeugt Bitterkeit, Neid und schlechte Instinkte – –«

»Nein, nein, ich glaube nicht im geringsten an das, was Sie sagen. Ich muß an eine Szene denken, deren Zeuge ich kürzlich auf einem großen Arbeitsplatz war, wo eine Menge Menschen mitten im Sonnenbrand sich mit schweren Kieswagen, Steinen und dergleichen abmühten. Gerade, als ich draußen auf dem Wege vorüberkam, gingen zwei allerliebst gekleidete junge Mädchen, wahrscheinlich die Töchter des Arbeitsherrn, lachend und plaudernd über den Platz . . . so ein paar recht ›unnütze‹ Wesen, wie zum Beispiel unser Fräulein Gerda hier. Ich sah, wie alle die geschwärzten Arbeiter die Köpfe erhoben und ihnen nachstarrten; aber ich versichere Sie, auch nicht in einem einzigen Gesicht konnte ich den geringsten Mißmut spüren. Im Gegenteil, es war deutlich, daß der Anblick der beiden hübschen, fröhlichen, vogelfreien Geschöpfe sie in ihrer mühseligen Arbeit erheiterte; sie fuhren fort, ihnen mit dem fast zärtlichen Blick nachzusehen, mit denen wir alle ein paar Schwalben verfolgen können, die auf der Landstraße munter an uns vorbeifliegen. Solche Leute fühlen es sehr wohl, daß sie aus einem ganz anderen Stoff geschaffen sind, als die jungen Töchter ihres Arbeitsherrn, und wenn sie nicht gerade dazu aufgestachelt werden, denken sie ebensowenig daran, sich darüber zu beklagen, wie es einem vernünftigen Menschen allen Ernstes einfallen kann, bittere und mißgünstige Gefühle den Schwalben gegenüber zu empfinden, weil der liebe Gott sie mit ein Paar leichten Flügeln, uns aber mit zwei schweren Spazierbeinen erschaffen hat. Habe ich nicht recht?«

Emanuel widersprach eifrig, aber sie waren jetzt so weit entfernt, daß Hansine seine Worte nicht mehr hören konnte.

Nach einer Weile kamen sie drüben auf der andern Seite des Rasens wieder heraus und als sie sie erblickten, näherten sie sich ihr über den Rasen. Gerda war augenblicklich aufgesprungen.

»Ach, sitzen Sie da, Frau Hansted!« sagte Fräulein Ragnhild.

»Ihr Mann und ich haben uns schrecklich gezankt. Pastor Hansted und ich können uns nun einmal nicht über irgend etwas einigen . . . Nein, aber es ist ja an der Zeit, daß wir uns aufmachen. Gerda! Wollen wir jetzt nicht Adieu sagen?«

Emanuel erbot sich, sie eine Strecke zu begleiten, um ihnen einen Feldweg zu zeigen, der ihnen den halben Weg ersparte. Hansine blieb im Garten zurück.

»Ich bin wirklich sehr froh darüber, daß ich Sie besucht habe,« sagte Fräulein Ragnhild, als sie sich ein Stück vom Pfarrhause entfernt hatten. »Jetzt kann ich Ihrer Schwester erzählen, wie gemütlich Sie wohnen und wie glücklich Sie leben . . . kurz, daß Sie ein wahrer Glückspilz sind. Denn – nicht wahr – darin habe ich doch nicht geirrt?«

Emanuel hatte eigentlich nicht die Absicht, sich mit ihr auf eine Unterhaltung über dies Thema einzulassen, aber die Kampflust war nun einmal in ihm erwacht, und er konnte es deswegen nicht lassen zu äußern:

»Ich kann es Ihrem Ton anhören, daß Sie sich darüber gewundert haben.«

»Da Sie es selber sagen – nun so will ich nicht leugnen, daß es meine Anschauungen von Ehe und Familienglück ein wenig verrückt hat – die sind offenbar sehr altmodisch gewesen.«

Beständig, ohne die Ironie in ihren Worten zu merken, antwortete er:

»Sie sind sicher auf alle Fälle höchst originell gewesen.«

»Keineswegs. Sie wissen, daß ich nach jeder Richtung hin konservativ bin. Ich habe ganz einfach geglaubt, daß das, was man unter ehelichem Glück versteht, von dem bedingt sei, was unsere Großeltern mit einem etwas schwulstigen Ausdruck »Harmonie der Herzen« benannten, und was wir heutzutage wohl ungefähr als Nervensympathie bezeichnen würden.«

»Nervensympathie! Das ist sicher ein vortreffliches modernes Wort. Wenn man nur so recht wüßte, was es bedeutet! . . . Könnten Sie nicht eine kleine Erklärung darüber geben?«

»Ach ja . . . aber ich habe Ihnen wohl schon gesagt, daß ich unter die Philosophen gegangen bin. Falls ich mich deswegen etwas weniger klar ausdrücken sollte, müssen Sie mich entschuldigen, – das kommt von all dem Tiefsinn! . . . Ich will also sagen –«

Sie blieb stehen, legte die Wange auf den weißen Stiel ihres Sonnenschirmes und sah einen Augenblick mit verschmitzter Nachdenklichkeit in die Luft hinauf.

»Hm, ja!« sagte sie dann und ging weiter. »Ich will also sagen . . . Nervensympathie zwischen zwei Menschen, damit meine ich, daß alles, was diese beiden Personen sehen, erleben, hören, lesen usw. einen gleichartigen Eindruck auf sie beide macht. Der Anblick einer Landschaft zum Beispiel, oder der Genuß eines Musikstückes muß sie in dieselbe Stimmung versetzen, darf nicht anregend auf den einen wirken und den anderen melancholisch machen. Drücke ich mich klar aus? . . . Alle die mannigfaltigen Ereignisse des Lebens von dem unbedeutendsten, zum Beispiel von dem Malheur mit einem Teller, der zerbricht, bis zu den großen schicksalsschwangeren – traurigen oder erfreulichen – müssen ihre Nerven in derselben Art und in demselben Grade in Bewegung versetzen. Also – mit anderen Worten . . . die Bedingung, daß zwischen zwei Menschen das entstehen kann, was die Alten »Harmonie der Herzen« nennen, sollte nach dieser veralteten Anschauungsweise darin bestehen, daß ihre Nerven die gleiche Art der Empfänglichkeit haben, gewissen Eindrücken gegenüber gleich empfindlich, anderen gegenüber unempfindlich sind. – Bewundern Sie meine Logik nicht?« – »Aber die Art und der Grad der Empfänglichkeit unserer Nerven,« fuhr sie fort, als Emanuel immer noch nicht antwortete, »sind das Ergebnis unserer Erziehung, unserer Beschäftigung, unserer Lektüre . . . ja, nicht allein unserer eigenen, sondern auch der unserer Eltern, unserer Großeltern und aller unserer Vorfahren durch viele Generationen zurück, nicht wahr? Sie werden jetzt verstehen –«

»Vortrefflich!« unterbrach Emanuel sie, indem er mit einem großen Lächeln den Kopf erhob. »Ich verstehe jetzt, daß die Bedingung dafür, daß ein Mensch mit einem anderen vollkommen glücklich werden kann, darin besteht, daß dieser andere Mensch ihm in allen Punkten gleich ist; das heißt, daß er dieselbe Erziehung und denselben Verkehr, und auch am liebsten denselben Vater und dieselbe Mutter, dieselben Geschwister und dieselben Ahnen durch viele Generationen zurück gehabt haben muß . . . mit anderen Worten, daß er es selbst sein muß! Ja, darin haben Sie recht, Fräulein Tönnesen, die Eigenliebe, der Egoismus, das ist sicher, der modernen, konservativen Lebensanschauung nach, die einzige andauernde und zuverlässige Liebe. Das glaube ich auch!«

Fräulein Ragnhild zog mißvergnügt ihre Augenbrauen zusammen und schwieg.

»Aber gestatten Sie nun auch einmal mir, zu philosophieren,« fuhr Emanuel mit wachsender Lebhaftigkeit fort. »Sie werden wohl auch von Ihrem Standpunkt aus einräumen, daß die höchste Aufgabe des Menschen – und damit auch seine größte Freude und sein tiefstes Glück – in der Selbstentwicklung besteht. Habe ich nicht recht?«

»Nun ja!«

»Aber von wessen Freundschaft und – um nicht ein so altmodisches, schwulstiges Wort wie Liebe zu benutzen – von wessen Vertrauen kann man wohl erwarten, die reichste Ausbeute für sein geistiges Wachstum zu ernten? Wohl von dem, der genau so sieht, fühlt, denkt und handelt, wie ich selber? Nicht etwa eher von demjenigen, dessen Blick mir Aussichten eröffnen kann, die ich bisher nicht geahnt habe, die mit einem für mich neuen Gedanken- und Gefühlsleben, mit einer von der meinen grundverschiedenen Erziehung mein Wissen bereichern, die Grenzen nach allen Seiten erweitern und mir gleichsam die Welt verdoppeln kann? Ich glaube das – ja ich weiß es. Ich rede hier aus kostbarer Erfahrung.«

»Aber Sie drehen die Sache ja ganz um,« sagte sie plötzlich in gleichgültigem Ton. Emanuels letzte Worte hatten einen bleichen Schein um ihren Mund hervorgerufen, und sie lenkte die Unterhaltung schnell in andere Bahnen.

* * *

Auf ihrem Wege ins Haus hatte Hansine Emanuel über den Gartenzaun mit den Augen verfolgt, während er sich mit den Damen da draußen auf dem Fußweg durch das hohe Korn entfernte. Sie sah ihn dort an Fräulein Ragnhilds Seite gehen und mit lebhaften Handbewegungen reden.

»Mutter,« sagte Sigrid, die sie an die Hand gefaßt hatte . . . »Mutter,« wiederholte sie, als Hansine sie nicht gleich hörte. »Warum ist Vater weggegangen? Wir wollten doch zu Großmutter fahren?«

»Das hat Vater vergessen, mein Kind. Nun bleiben wir heute zu Hause.«



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