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Endlich brach der große Tag an, dem man mit soviel Spannung und Unruhe entgegengesehen hatte. »Die Versammlung in der Sandiger Hochschule« war in dem letzten Monat eine ständige Überschrift in allen Blättern der Freundesgemeinschaft gewesen; aber außerhalb des eigentlichen Kreises der Gemeinschaft erwartete man mit Interesse das Resultat der Verhandlungen als bedeutsames Zeichen der Zeit, das auf entscheidende Weise zeigen würde, welche Richtung die Entwicklung in den letzten Jahren genommen hatte.
Schon am Tage vor der Eröffnung der Versammlung strömten die fremden Gäste herbei. Nach Ankunft eines jeden Eisenbahnzuges war die Landstraße von der Station her in eine lange Staubwolke gehüllt, durch die ein endloser Wagenzug dem flaggengeschmückten Dorf zurollte. Es hatten sich im voraus über 500 auswärtige Teilnehmer angemeldet, und da die Verhandlung zwei Tage dauern sollte, konnte keine Rede davon sein, ihnen allen Platz in der Hochschule selbst zu verschaffen. Der größte Teil mußte ringsumher bei freundlich gesinnten Leuten im Dorf einquartiert werden, und doch mußte hier und da noch Scheune und Tenne, ja sogar der Heuboden in Anspruch genommen, und zu Schlafstätten für die jungen Leute hergerichtet werden.
Zur Abendzeit, wenn die Sonne brandrot unter dem blauenden Himmel unterging, glich der Platz um die Hochschule herum einem kürzlich aufgeschlagenen Lager, ein solches Durcheinander herrschte da von leeren und beladenen Wagen, Strohbündeln, Gepäck und umherirrenden Menschen, die bemüht waren, sich Auskunft zu verschaffen, für Speise und Trank zu sorgen oder ihre mitgebrachten Bündel und Betten unter Dach und Fach zu bringen.
Da sah man alle möglichen Gestalten, hörte man allerlei fremdklingende Dialekte. Da waren große, schwer dahinschreitende Westjüten mit wasserblauen Augen und einer Sprache, die kein Mensch verstand. Da waren lebhafte Leute aus Fünen, die alle durcheinander redeten und lachten und sich amüsierten. Da waren ein paar alte Frauen aus der Gegend von Ribe mit einem Taschentuchbündel und schimmernden Tollenmützen, und da waren kleine Frauen aus Fanö, die aus ihren dicken, steifen Röcken aufschossen wie aus einer Tonne. Namentlich aber waren da Seeländer aller Arten und allen Alters, Jütländer aus der Kallundborger Gegend und Köhler und forsche Stevener mit ihrem hellen Lächeln. Greise und junge Burschen, kranke Leute, die von dem Wagen heruntergehoben werden mußten, und Krüppel, die an Krücken humpelten.
Aber trotz des Unterschiedes war es leicht, ein bestimmtes, gemeinsames Gepräge bei ihnen allen herauszufühlen. Hinter der Geschäftigkeit und dem Reden und dem Herumirren spürte man denselben feierlichen Ernst, dieselbe hochgestimmte Erwartung. Es war etwas in der ganzen Szene, das an die Johanniswallfahrten entschwundener Zeiten nach den heiligen Quellen erinnerte, deren Wasser eine wundertätige Kraft besitzen sollten. Auf mehr als einem bekümmerten Gesicht konnte man von einer fieberkranken Seele lesen, die sich unter den vielen Zweifeln der Zeit wand und unruhig nach dem Heilmittel der Wahrheit dürstete.
Da saßen auf einem Steindeich ein Mann und eine Frau, ein paar Leute in den mittleren Jahren, getreulich Hand in Hand. Ihr ernster Gesichtsausdruck und das stille in sich gekehrte Wesen erzählten eine ganze Geschichte:
Sie waren von weither gekommen, waren einen Tag und eine Nacht und noch einen Tag gereist und saßen nun hier, verwirrt von der langen Reise, sich selbst wunderlich fremd erscheinend in dieser fremden Umgebung. Ihr Heim lag drüben in Jütland, in einer einsamen Gegend nahe der Heidegrenze, wo das Leben ein geduldiger Kampf gegen die Kargheit der Natur und die Barschheit der Witterung ist. An den langen, dunklen Winterabenden, wenn sich die wilden Weststürme von der Heide hereinwälzten, hatten sie in ihrer kleinen Stube um die Lampe gesessen und einander laut aus den Zeitungen und Büchern der Freundesgemeinschaft vorgelesen; und an den hellen Sommertagen waren sie meilenweit durch tiefe Sandwege zu Volksversammlungen und kirchlichen Zusammenkünften gefahren – glücklich, das Bedürfnis nach Aufklärung zu sättigen, das die Hochschule in ihrer Jugend bei ihnen wachgerufen hatte. Aber in der letzten Zeit hatte sich eine Unruhe in ihre Herzen geschlichen. Zuerst hatte Wilhelm Pram sie mit seiner leidenschaftlichen und überredenden Sprache aufgeschreckt. An dem Abend, als sie seine erste große Rede gelesen hatten, wo er gegen die Auffassung der Bibel als Gottes offenbartes Wort eiferte, hatten sie nicht einschlafen können vor unruhigen und verzagten Gedanken. Aber noch stärker hatte später Pastor Magensen ihren Gottesglauben in seinen Grundfesten erschüttert durch seine Schrift von der Hölle und den Höllenstrafen. Drei Abende hintereinander hatten sie die Schrift durchgelesen, ehe sie glauben wollten, daß sie sie richtig verstanden hatten. Sie hatten zueinander gesagt, daß, wenn es keinen Teufel mehr gab und keine ewige Strafe und folglich auch keinen ewigen Lohn, wenn sogar die Geistlichen sich nicht mehr über das Leben nach dem Tode aussprechen wollten, wenn der Glaube nicht mehr eine Zuversicht dessen war, was man nicht sieht – was war dann Christentum? Was war dann Glaube? . . . Schließlich schwankte für sie alles. Und es nützte nichts, daß sie die gefährlichen Bücher zuklappten und sich eine Zeitlang den Versammlungen fernhielten. Die Gedanken ließen ihnen keine Ruhe in ihrer Einsamkeit, die Zweifel fuhren fort, sie zu verfolgen, und forderten eine Entscheidung! . . . Jetzt hatten sie die Bürde der Ungewißheit nicht mehr tragen können. Trotz beschränkter Verhältnisse brachen sie aus ihrem Heim auf, übergaben ihre Kinder und ihr Hab und Gut der Obhut Fremder und saßen nun hier nach der tagelangen Reise, allein erfüllt von dem Gedanken, Klarheit über sich selbst zu erlangen, sich zu der Erkenntnis der Wahrheit durchzuringen, den verlorenen Frieden und das Glück des Herzens wiederzugewinnen.
* * *
Auch in »Sandingehus« war es allmählich lebhaft geworden. Während sich das Volk erwartungsvoll um den eigentlichen Schauplatz für die bedeutungsvollen Ereignisse der kommenden Tage lagerte, sammelten sich die Handelnden hinter den Kulissen bei Frau Gylling. Fast alle bekannteren Persönlichkeiten der Gemeinde hatten sich eingefunden. Da waren Geistliche, Hochschulleute, Reichstagsabgeordnete, ja, sogar ein bekannter Universitätsprofessor, der wohl eigentlich nicht zu dem Kreise gehörte, auf dessen Anwesenheit aber man trotzdem besonderen Wert legte, als Zeugnis für die Anerkennung, die endlich der geistigen Urbarmachungstätigkeit der Freundesgemeinschaft gezollt wurde. Großes Aufsehen erregte wie gewöhnlich Wilhelm Pram, der – obwohl verhältnismäßig jung als öffentliche Persönlichkeit – eine vollendete Fertigkeit in der Kunst erlangt hatte, die Aufmerksamkeit der Leute zu fesseln und durch feuriges Gestikulieren und ähnliche dramatische Mittel seine Person zum Mittelpunkt in jeder Versammlung zu machen.
In erster Linie beschäftigte jedoch augenblicklich aller Sinn die kürzlich eingetroffene Mitteilung, daß Seine Exzellenz, der Kultusminister in höchsteigener Person die Versammlung durch seine Anwesenheit beehren und sich möglicherweise schon zu der am nächsten Tage stattfindenden Eröffnungsfeierlichkeit einfinden wolle. Mit Fug und Recht faßte man diese große, seltene Auszeichnung als eine endgültige Bestätigung dafür auf, daß in der Stimmung der Führenden ein Umschlag zugunsten der Freundesgemeinschaft und ihrer Mission stattgefunden habe, und es machte sich infolgedessen in der ganzen Versammlung eine auffallende Versöhnlichkeit geltend. Selbst Wilhelm Pram zeigte sich keineswegs ganz unempfindlich für die zugedachte Aufmerksamkeit von seiten eines der Männer des Staatscoups. In dem Kreise seiner Anhänger ließ er eine Äußerung fallen, daß der Minister jedenfalls zu wissen scheine, was er seiner Stellung als offizieller Aufseher der Kirche schulde; und allerseits war man sich darüber einig, daß es jetzt vor allen Dingen darauf ankam, eine würdige und vollkommen sachliche Verhandlung der vorliegenden Fragen durchzuführen und namentlich allen persönlichen Streit und alle unnötige Erregung zu vermeiden.
In dieser Verbindung beschäftigte man sich auch mit der Frage Emanuel Hansted. Man glaubte nämlich zu wissen, daß er die Absicht haben solle, auf einer der Diskussionsversammlungen das Wort zu ergreifen, was man am liebsten verhindern würde, um keinen Skandal zu riskieren. Es war nämlich jetzt als Tatsache festgestellt, daß der arme Mann unheilbar geisteskrank war; man wußte, daß sein Vater endlich Schritte getan hatte, um ihn für unmündig erklären und in einer Irrenanstalt unterbringen zu lassen. Trotzdem war man nicht blind für die Gefahr, die ein direktes Verbot seines Auftretens zur Folge haben konnte. Ein solches Verfahren würde leicht dazu beitragen, seine armen, einfältigen Anhänger hier in der Gegend noch mehr aufzuregen und den Glanz der Heiligenglorie zu erhöhen, den diese verirrten Menschen ihm um den kranken Kopf gelegt hatten. Es ließ sich nämlich nicht leugnen, daß die Bewegung, die er geschaffen, in letzter Zeit stark um sich gegriffen hatte. Nicht allein die arme Fischerbevölkerung des ganzen Dorfes, sondern auch verschiedene von den Bauern aus Sandinge selbst hatten sich von der Bewegung mit fortreißen lassen und sahen in ihm geradezu den erwarteten Messias. Man einigte sich deswegen dahin, ganz unbefangen zu scheinen und ihm, falls er es verlangte, die Erlaubnis zu erteilen, sich auszusprechen; einschreiten wollte man nur, wenn er durch Worte oder Gebärden geradezu Anstoß erregte.
*
Während dies alles vor sich ging, saß der alte Pastor Momme einsam in seinem leeren Pfarrhaus. Man hatte ihn aufgefordert, eine Art Ehrengast bei der Versammlung zu sein und hatte namentlich seine dekorative Anwesenheit bei der Eröffnungsfeierlichkeit gewünscht,– aber er hatte abgelehnt. Er war nicht einmal zu bewegen gewesen, irgend jemand von den vielen, die im Laufe des Nachmittags gekommen waren, um ihn zu begrüßen, zu empfangen. Er hatte sich selbst gesagt, die neue Generation verstehe er doch nicht, wenn sie sich auch die Erben seiner eigenen Zeit nannten. Und er war jetzt zu müde, bedurfte der Ruhe, hatte nur den einen Wunsch, in Einsamkeit Gott um Verzeihung für sein verfehltes Leben anflehen zu dürfen.
Er saß in einem Lehnstuhl an einem der Fenster des Wohnzimmers, durch dessen rote Gardinen der Abendschein auf seine kleine eingeschrumpfte Gestalt fiel. Durch das geöffnete Fenster wurde das Geräusch des unruhigen Lebens auf der Landstraße in sein Zimmer hineingetragen, dies gemischte Geräusch von Wagen und wiehernden Pferden und geschäftigen Volksmassen, das seinerzeit sein Ohr so wonnevoll berührt hatte . . . wie Vogelgezwitscher, das den dämmernden Tag verkündet. Jetzt erinnerte das dumpfe Gewimmel ihn an das Geläute einer Glocke, das ein abgeschlossenes Leben, eine erloschene Hoffnung zu Grabe geleitete. Es war ihm, als bereite man ein Leichenbegängnis vor, als würden die letzten vermoderten Reste seiner eigenen Zeit, seines eigenen Werkes zur Ruhe bestattet.
In der anderen Fensterecke des Zimmers saß Fräulein Katinka Gude mit ihren rastlosen Stricknadeln.
Auch sie konnte sich nicht taub machen für das Leben ringsumher im Dorf; aber in ihren resonanzbodenlosen Ohren klang es nicht anders als ein gewöhnlicher Marktspektakel. Die Auffassung der alten Dame von der großen Versammlung war überhaupt sehr nüchtern. Sie hatte sich niemals mehr von ihren Mitmenschen imponieren lassen, weil sie sich in Scharen ansammelten, und was Geistliche und überhaupt Wortführer anbetraf – namentlich aber die der Freundesgemeinschaft – so hatten sie ihr nie eine besondere Hochachtung abgewinnen können. Mir Ausnahme ihres eigenen Schwagers und des alten Hochschulvorstehers, vor denen selbst sie allmählich Respekt empfunden hatte, betrachtete sie die anderen Vorkämpfer der Richtung, von dem großen Grundtvig an bis zu den Propheten der letzten Tage, als eine Art von Geschäftsleuten, die in Gott »machten« . . . als protestantische Ablaßkrämer, die mit den himmlischen Dingen handelten und feilschten und beständig darauf aus waren, einander in bezug auf den Preis zu unterbieten, für den sie die Freuden der Seligkeit in ihrem Laden feilboten.
Die alte sonderbare Dame war überhaupt nicht durch das Leben gegangen, ohne auch an ihrem Glauben Schiffbruch zu leiden. Mit den Erfahrungen ihrer siebzig Jahre war sie zu dem Ergebnis gelangt, daß nichts in der Welt so wandelbar war, wie gerade das »eine, was not tut«, nichts so vergänglich, wie gerade die »ewigen Wahrheiten«. Sie hatte gesehen, daß, während allgemein irdische und deswegen recht verachtete Wahrheiten, wie daß zwei mal zwei vier ist, und daß Eisen schwerer ist als Holz, stets im besten Wohlergehen weiterleben, es ihren himmlischen Kollegen einmal über das andere passiert war, daß sie einen elenden Tod starben und als bedauerliches Mißverständnis, als Übersetzungsfehler oder schlecht und recht als Lüge zu einem anderen Leben erstanden.
»Katinka!« rief der Alte aus der anderen Sofaecke.
»Ja, hier sitze ich!«
»Erzähle mir ein wenig von Emanuel Hansted. Hast du in den letzten Tagen etwas Neues von ihm gehört?«
»Nein . . . nichts von Bedeutung. Ja, das ist wahr . . . man redet von einem jungen Mädchen von siebzehn Jahren, das irgendwo hier in der Gegend angefangen hat, über ihn zu predigen . . . und ihn Messias zu nennen . . . Es soll, glaube ich, eine Schwestertochter von des Doktors Frau da drüben in Kyndby auf der anderen Seite sein.«
»Ach ja, wer daran glauben könnte! . . . Stelle dir vor, Katinka, wenn Gott es mir vergönnen wollte, Zeuge seiner Wiederkehr unter den Menschen zu sein, ehe meine Augen sich schließen.«
Die Schwägerin antwortete nicht, und sie saßen wieder eine lange Zeit schweigend da.
»Katinka!« rief er wieder.
»Ja.«
»Kannst du mir nicht ein wenig vorlesen, ich bin so unruhig.«
»Es ist auch . . . so schwül heute abend . . . soll ich nicht . . . noch ein paar Fenster aufmachen?«
»Ach nein, tue das nicht.«
»Was soll ich dir denn . . . vorlesen? Ein Stück aus der Bibel?«
»Ach, die Bibel! Das ist ja nur eine Sammlung alter Chroniken, wie man jetzt sagt!«
»Soll ich denn etwas . . . aus Grundtvigs Liederwerk vorlesen?«
»Ich weiß nicht recht, Katinka! Ich glaube, ich bin jetzt zu kleinmütig dazu. Ist es nicht sonderbar, in den letzten Jahren mag ich Brorson viel lieber. Oft kann ich dasitzen und eines seiner geistliche Lieder vor mich hinsingen. Wie zum Beispiel – –«
Er fing an zu singen. Mit seiner schwachen Greisenstimme sang er laut:
Zu den Stätten der Demut hinfliehe,
Im Staube vor Jesu hinknie,
Der Heiland euch gnädig ansiehet.
Im Tale die Rose erblühet.
Als er geendet hatte, sagte Fräulein Katinka, indem sie die Nadel wechselte:
»Meinst du nicht, daß es am besten wäre . . . wenn du zu Bette gingest, Momme?«
Der Gesang hatte ihn angestrengt und er saß einen Augenblick da und schnappte nach Luft.
»Ach ja, du hast wohl recht. Der Schlaf ist doch schließlich unser bester Tröster.«
»Komm, ich will dir helfen.«
* * *
Am folgenden Morgen brütete ein schwerer Wolkenhimmel über der Erde. Es hatte lange nicht geregnet; jeden Morgen hatte die Sonne den Schleier der nächtlichen Nebel gleichsam mit goldenen Klingen zerfetzt; der Himmel war blau gewesen, und auf den Landstraßen lag eine zolldicke Staubschicht. Aber diesen ganzen Vormittag ließ sich die Sonne nicht einen einzigen Augenblick sehen, und doch herrschte seit dem frühen Morgen eine brennende Wärme, eine trockene, drückende Ofenhitze, die dem eigenen glühenden Innern der Erde zu entströmen schien. Ringsumher auf den Feldern lag das Vieh, die Köpfe schwer in das Gras gedrückt, die Schwalben flatterten unruhig, und die Luft hatte einen eigentümlichen, schwefelartigen Geruch.
Um die Mittagszeit kam Fräulein Ragnhild langsam auf den Bauernhof zugegangen, wo Frau Betty und Emanuel wohnten. Sie ging in Gedanken versunken und merkte nicht, wie weit sie gekommen war, als eine Stimme dicht neben ihr guten Tag sagte.
Es war Betty. Sie stand da drinnen auf dem Gang hinter der Gartenhecke in einem einfachen, glatten, schwarzen Kleid, ihre schwarze Morgenspitze über dem Haar. Ihre kleine dünne Gestalt hielt sich sonderbar aufrecht; die Arme hatte sie unter der Brust gekreuzt.
»Ist es wirklich deine Absicht, uns heute einen Besuch zu machen?« sagte sie.
»Ja. Komme ich etwa ungelegen?«
»Das habe ich ja nicht gesagt.«
»Aber, Liebste – warum fragst du denn? Und warum siehst du mich so an?«
»Du bist seit zwei Tagen nicht hier gewesen. Was ist der Grund? . . . Gestehe es nur! Du hast uns in der letzten Zeit gemieden, Ragnhild. Ich habe es wohl bemerkt. Sage mir bitte, gehörst du etwa auch mit zum Komplott?«
»Liebe Betty, laßt uns doch heute nicht wieder anfangen,« sagte Ragnhild in müdem Ton und ging durch die Gartenpforte. »Das Wetter ist wirklich nicht danach angetan. Ich versichere dich, ich bin ganz zu Ende. Und du scheinst mir auch recht nervös zu sein . . . Verzeihe, daß ich mich setze.«
Sie nahm Platz auf der Gitterbank unter dem Apfelbaum. Frau Betty dahingegen blieb stehen. Sie war erdfahl im Gesicht, die Auge waren schlaff. Nur die Augen leuchteten.
»Sage nur eins« – begann sie – »ist es wahr, daß Pastor Petersen hierher zurückgekommen ist?«
»Ja, er ist gestern gekommen. Er hatte Lust bekommen, der Versammlung drüben in Sandinge beizuwohnen, und er bleibt nur diese Tage hier. Ich hatte übrigens erwartet, ihn hier zu treffen. Er ging heute vormittag nach der Hochschule, um einen Vortrag zu hören, und wir verabredeten, uns hier zu treffen. Er wollte euch einen Besuch machen, sagte er.«
»So! Er kommt also hierher! Eine solche – Kühnheit besitzt er also! Willst du etwa leugnen, Ragnhild, daß er mit zu dem Komplott gehört? . . . Ich bin fest überzeugt, daß er hinter dem Ganzen steckt. Er hat Vater aufgehetzt!«
»Ich glaube, du bist auf ganz falscher Fährte, Betty. Wir sprachen gerade gestern abend von deinem Bruder, und ich hatte den bestimmten Eindruck, daß er bis zu diesem Augenblick nichts von dem letzten Schritte deiner Familie gewußt hat, den er nicht einmal zu billigen schien –«
»Ja, verteidige du ihn nur! Er ist ja dein Freund und Kavalier!« rief Betty aus und fing an, in dem Gartenwege auf und nieder zu gehen, beständig mit einer unnatürlich aufrechten Haltung und die Arme unter der Brust gekreuzt. »Du selbst bist Emanuel ja immer feindlich gesonnen gewesen; du hast ihn gern übersehen und ihn zu einer Null machen wollen. Und nun bist du bitter geworden, weil du siehst, wie sehr du dich in ihm geirrt hast.«
»Weißt du was, Betty, es ist beinahe komisch, dich so reden zu hören. Du vergißt allmählich ganz, daß du selbst noch vor vierzehn Tagen am allereifrigsten warst, deines Bruders Treiben zu verdammen. Wenn wir der Sache auf den Grund gehen, bist du es wohl eigentlich, die den Anlaß gegeben hat, daß dein Vater und dein Bruder Karl – oder wer es nun sein mag – zu so krassen Mitteln gegriffen haben.«
»Was habe ich? . . . Was sagst du da?«
»Ich meine, es muß doch wohl deine eigene Darstellung, wie es hier aussieht, für die Handlungsweise deiner Familie in dieser Angelegenheit entscheidend gewesen sein.«
»Ach, das glaubst du ja selbst nicht, Ragnhild! Und es ist schändlich von dir, das zu sagen! Daß ich lange Zeit hindurch Emanuel nicht verstanden habe – daß es mir jetzt vielleicht noch schwer wird, ihm ganz zu folgen – das bekenne ich ehrlich, das bestreite ich gar nicht! Aber nie, nie, sage ich! – habe ich es für möglich gehalten, daß so etwas geschehen könnte. Einen Menschen wie Emanuel der Freiheit berauben, ihn einsperren und zu einem Verrückten machen zu wollen! Das ist schändlich! . . . Aber das soll auch nie im Leben geschehen! Ich habe doch wohl auch noch ein Wort mitzureden, solange Emanuel unter meinem Dache wohnt. Und von nun an trennen wir uns nicht mehr!«
Sie setzte ihre Wanderung fort und eine Zeitlang herrschte Schweigen zwischen den beiden Freundinnen.
»Dann ist dein Bruder jetzt wohl auch auf der Versammlung?« fragte Ragnhild endlich und gleichsam mit Überwindung.
»Also das interessiert dich doch? Nein, – da ist er nicht!«
Ragnhild sah hastig auf.
»Wollte er denn nicht heute reden?«
»Ja, aber erst heute abend auf der Diskussionsversammlung, wenn das Wort freigegeben wird.«
»Ach so! – Glaubst du, daß etwas daran ist, was ich heute hörte, daß man ihm das Wort versagen wird?«
»Ach, das wagen sie nicht! Was würde das auch nützen? Damit können sie es doch nicht verhindern, daß er sich anderswo Gehör verschafft. Und von dem Tag an, wo er gesprochen hat, werden sich Tausende um seine Verkündigung scharen. Davon bin ich überzeugt!«
Im selben Augenblick räusperte sich jemand draußen auf der Landstraße und Pastor Petersens glühendes Gesicht ward einen Augenblick über der Gartenpforte sichtbar.
»Meine Damen! Guten Tag! Guten Tag, gnädige Frau! . . . Ich muß mich wohl entschuldigen, weil ich so zum zweitenmal in diesem Sommer bei Ihnen mit der Tür ins Haus falle. Und obendrein bei einer solchen Hitze!«
Frau Betty empfing ihn mit genau soviel Zuvorkommenheit, daß sie nicht gerade unhöflich genannt werden konnte. Sie setzte sich neben Ragnhild auf die Bank und bot ihm mit einer gemessenen Handbewegung einen Platz auf dem hochlehnigen Gartenstuhl an, wo er bereits einmal in der Gesellschaft der beiden Damen gesessen hatte.
»Ich höre, der Herr Pastor ist zu der Versammlung in der Hochschule gewesen,« sagte sie.
»Es waren wohl viele Menschen dort versammelt?«
»Ach – sie waren nahe daran, einander auf die Schultern zu kriechen, um hören zu können! Dergleichen Meinungsturniere sind nun einmal die Volksbelustigungen unserer Tage geworden. Und es ging denn auch wirklich – in doppeltem Sinne – ganz heiß her. Dem lieben Gott müssen heute morgen wirklich die Ohren arg geklungen haben . . . denn man ging gerade nicht schonend mit dem alten Manne um. Namentlich der gute Wilhelm Pram und die anderen Schriftgelehrten maßen ihm den Scheffel gehörig voll! Sie ließen ihn geradezu verstehen, daß er Gefahr laufe, ganz aus dem Spiel herausgelassen zu werden, wenn er nicht gutwillig alle die alten Geheimniskrämereien aufgebe, die doch keinem Menschen mehr imponierten. Aufgeklärte moderne Menschen verlangten von der Religion vollen und klaren Bescheid über die Dinge . . . keine Zweideutigkeiten, wenn ich bitten darf!«
Er sprach in seinem gewöhnlichen, scherzenden Ton, aber es war doch nicht schwer, zu erkennen, daß er innerlich kochte.
»Wenn man gerecht sein will, muß man jedoch hinzufügen,« – fuhr er fort – »daß da auch einige waren, die den alten Mann in Schutz nahmen oder ihn doch zu entschuldigen suchten. Namentlich Vorsteher Sejling legte eine wirklich lobenswerte Hochherzigkeit an den Tag, indem er als sein Advokat auftrat und in einem beredten Vortrag geltend machte, daß die Worte des Angeklagten in der mehrfach erwähnten Schrift, die Bibel genannt, wenigstens in den entscheidenden Punkten, vollständig glaubhaft seien. Aber dann war da ein schlauer Kopf, der mitten in der Hitze des Gefechtes auf die unvergleichliche Idee kam, daß darüber abgestimmt werden solle. Nicht wahr? Das ist doch wirklich ein großartiger Gedanke, den lieben Gott so zum Gegenstand der Ballotage zu machen. Ja, unsere Zeit ist wahrhaftig eine Zeit des Fortschrittes! Ich bin fest überzeugt, daß es nicht lange währt, bis man die Entscheidung über himmlische Dinge trifft, indem man an den Köpfen abzählt oder eine Patience legt.«
»Und was war denn das Ergebnis der Abstimmung?« fragte Fräulein Ragnhild.
»Ja, darüber kann ich Ihnen keine Aufklärung geben, da ich den Ausfall nicht abgewartet habe. Offen gestanden . . . ich zog es vor, meiner Wege zu gehen. Wahrscheinlich wird man das sehr prüde von mir finden . . . aber das muß ich dann versuchen, zu ertragen.«
»Ich begreife eigentlich nicht,« – sagte Frau Betty in kampfbereitem Ton – »wie eigentlich gerade Sie, Herr Pastor, sich von dieser Art Verhandlungen so abgestoßen fühlen können. Sie pflegen doch sonst ein eifriger Fürsprecher für die sogenannte gesunde Vernunft zu sein.«
»Ach ja, meine gnädige Frau! Gerade als ein warmer Bewunderer der gesunden Verständigkeit huldige ich im Großen wie im Kleinen der Lehre, die in dem alten besonnenen Wort ausgedrückt ist, daß man den Stein, den man nicht heben kann, am besten liegen läßt. Ich bin nämlich selbst einmal nahe daran gewesen, mich zu verheben, und daher habe ich gelernt, dankbar dafür zu sein, daß andere mir die Last abgenommen haben. Mein Gott! Warum wollen wir Menschen denn durchaus fortfahren, das Glück unseres Lebens zu verscherzen, indem wir beständig über den Wolken auf Abenteuer ausgehen. Wozu diese Lust, sich auf Schleichpfaden in die Ewigkeit hineinzuschmuggeln, auf denen doch hinreichend deutlich geschrieben steht: ›Unbefugten ist der Zutritt verboten!‹ Freilich bin ich selbst Geistlicher, aber dessenungeachtet muß ich gestehen, daß, wenn ich eine solche theologisch infizierte Versammlung, wie die heutige, betrachte, ich mit Wehmut an die guten alten Zeiten zurückdenke, wo man hier draußen auf dem Lande seinen Acker bestellte und seine Kühe mästete und sein religiöses Bedürfnis vollkommen deckte, indem man am Sonntag in die Kirche und dreimal jährlich zum Abendmahl ging. Damals verstand man es, zu leben, das heißt, man verstand das Leben. Man trug geduldig die Lasten des Daseins und nahm deswegen auch ohne Gewissensbisse teil an den Festen des Lebens. Die Alten spielten ihre Partie und leerten ihren Krug, und die Jugend tanzte auf dem Scheunenboden mit silbernen Schnallen an den Schuhen und roten seidenen Bändern an den Mützen! . . . Ach ja, das war wirklich eine glückliche Zeit!«
»Ja, es können nun freilich nicht alle in einem solchen Dasein ihr Ideal erblicken,« bemerkte Frau Betty scharf.
»Ach nein, darin haben Sie vollkommen recht. Ich merke es sehr wohl – und jeden Tag deutlicher – wie hoffnungslos es ist, die unschuldigen Freuden des Lebens in einem exaltierten Zeitalter anzupreisen, wo man nur die Extreme anerkennt – die abenteuerlichen Ausschreitungen oder die Selbstvernichtung der Askese – und im Grunde für diese beiden Standpunkte gleichviel übrig hat und daher auch beständig zwischen ihnen hin und her schwankt . . . weil man gerade das Extreme an ihnen bewundert. Könnten sich die guten Leute wenigstens über ein gemeinsames Ideal einig werden, so würde ich mich schließlich dareinfinden. Aber es gibt momentan genau so viele »Lebensauffassungen«, wie es Personen gibt, die darauf brennen, sich bemerkbar zu machen. Und es ist gerade nicht schwierig, heutzutage offne Ohren für Prophezeiungen und neue unvergleichliche Wahrheiten zu finden. Die Luft ist in dem letzten halben Jahrhundert derartig angefüllt mit Verheißungen und Prophezeiungen, daß sich nicht ein elender Schneider in einer Versammlung erheben und ein paar etwas ungewöhnliche Torheiten sagen kann, ohne daß die Zuhörer augenblicklich in sich gekehrt werden und denken: Ja, Gott mag wissen, ob dies nicht das erlösende Wort ist, auf das wir gewartet haben!«
Ragnhild fing an, unruhig zu werden. Sie sah Betty wie auf Kohlen sitzen und die Hände im Schoß umeinander drehen. Schnell stand sie auf und verabschiedete sich.
Der Pastor folgte.
* * *
Am Nachmittag saßen Emanuel und Betty nebeneinander auf dem Roßhaarsofa in seiner Stube. Die letzten Wochen hatten ihn gealtert, so daß er kaum zu kennen war. Seine hohe Gestalt war noch schmaler geworden, die Wangen waren hohl, die Augen eingefallen, das starke Haar und der Bart hingen ihm ungekämmt über Brust und Schultern.
Er hatte die letzten vierundzwanzig Stunden nichts gegessen und war daher auch vor einer Weile in eine leichte Ohnmacht gefallen, als er mit der Schwester aus dem Garten kam.
»Wie geht es jetzt? . . . Ist dir ein wenig besser?« fragte sie und strich ihm fürsorglich über den Arm.
»Danke. Es ist jetzt vorüber. Es geht mir gut.«
»Ich möchte dich so ungern quälen, Emanuel . . . aber kann ich dir nicht irgend etwas Kräftigendes bereiten?«
Ein schwaches Lächeln glitt über seine Lippen.
»Wozu sollte das wohl nützen, Betty? . . . Gottes Geist wird mich aufrecht halten und mich stark machen.«
In diesem Augenblick erschien das Dienstmädchen in der Tür.
»Gnädige Frau!«
Betty erhob sich hastig.
»Was gibt's? . . . Sprich leise . . . Störe nicht!«
»Gnädige Frau haben die Kinder wohl nicht gesehen?«
»Nein – sie sind wohl im Garten?«
»Nein, da sind sie nicht. Und wir können sie nirgends finden.«
»Sucht sie nur und sorgt dafür, daß sie sich ruhig in ihrem Zimmer aufhalten . . . Störe uns nicht wieder.«
»Wieviel Uhr ist es, Betty?« fragte Emanuel, als sie zurückgekommen war.
»Es ist bald vier. Noch drei Stunden bis zum Beginn der Versammlung. Übrigens, Emanuel . . . ich will es dir lieber sagen, damit du es nicht falsch auslegst . . . ich komme doch nicht mit nach der Versammlung. Ich habe nicht den Mut. Ich fürchte, es wird mich zu sehr angreifen. Auch die vielen Menschen –«
Emanuel streichelte schweigend ihre Hand.
»Aber sage mir doch . . . ich habe mich so sehr danach gesehnt . . . kannst du mir nicht ein wenig von dem erzählen, worüber du heute reden willst, Emanuel?«
»Was Gott mir eingibt. Nichts weiter.«
Die Antwort machte Betty ein wenig unruhig.
»Aber sage mir doch, Emanuel . . . glaubst du nicht, daß es am richtigsten sein würde, ein wenig vorher darüber nachzudenken . . . vielleicht auch etwas aufzuschreiben? Du bist ja nicht daran gewöhnt, in einer so großen und fremden Versammlung zu reden.«
Emanuel sah sie mit einen, mild vorwurfsvollen Kopfschütteln an.
»Du machst dir so viele Sorgen, Betty. Nur eins ist not!«
»Ich verstehe dich wohl nicht richtig, Emanuel . . .«
»Nein – noch nicht!« sagte er und strich mitleidsvoll mit der Hand über ihr Haar und ihre Wangen. »Aber da du dich um mich sorgst, Betty, so will ich dir erzählen . . . ich hatte vorhin eine liebliche, eine trostreiche Erscheinung.«
»Eine Erscheinung?«
»Ja – eine Begegnung mit Mutter. Es war vor ganz kurzem, als ich draußen im Garten saß. Meine Seele war unruhig und voller Angst . . . Da kam sie in ihrer Lichtgestalt auf mich zu, faßte mich um den Kopf und küßte mich auf die Stirn. »Meinen Segen«, sagte sie.«
Betty hatte die Hände vor der Brust gefaltet und starrte ihn entsetzt an.
»Ruhig, Schwester! Laßt uns demütig sein! . . . Warum beunruhigst du dich? Hast du nie in der Einsamkeit gefühlt, daß uns Geister umschweben? . . . Und ist es denn nicht ein trostreicher Gedanke, daß das Himmelreich uns so nahe ist! Ist es nicht köstlich zu wissen, daß wir täglich von seiner unsichtbaren Herrlichkeit umgeben sind, daß wir nur einen einzigen kleinen Schritt zu wandern brauchen, wenn der Tod, unser Erlöser, uns das Erdengefängnis auftut und unsere elende Gefangentracht im Grabe den Würmern zur Beute hinwirft?«
Betty saß unbeweglich still.
»O ja, Emanuel!« rief sie auf einmal in Ekstase aus und umfaßte seine Hand.
* * *
Die Hitze war im Laufe des Tages immer erstickender geworden und schon mitten am Nachmittag herrschte eine derartige Finsternis, daß man in den Stuben kaum sehen konnte, wieviel Uhr es war. Plötzliche Windstöße fuhren über die dürren Felder hin und hüllten die Gegend in eine Wolke von aschenähnlichem Staub. Die Hähne ringsumher auf den Höfen krähten, und die Schwalben flatterten in Todesangst hierhin und dorthin über den Wegen. Von Zeit zu Zeit hörte man das unterirdische Rollen eines fernen Donners.
Um Sonnenuntergang – während sich im Westen eine schwarzblaue Wolkenmasse gleich einem unförmlichen, elefantenartigen Himmelstier aus dem dunkelroten Blutsee des Horizontes erhob – füllte sich die große Vortragshalle der Hochschule wieder bis auf den letzten Platz; und trotz der Hitze und der Anwesenheit Sr. Exzellenz des Kultusministers wurde der Streit vom Vormittag mit ungeschwächter Heftigkeit fortgesetzt. Namentlich waren die »Schriftgelehrten« in Kriegsstimmung gekommen, nachdem sie auf der Vormittagsversammlung bei der Abstimmung der Frage über den göttlichen Ursprung der Bibel eine ernste Niederlage erlitten hatten. Wilhelm Pram erklärte geradeheraus, daß er jetzt die Fahne des Aufruhrs in die Gemeinde pflanzen und die freien Männer und Frauen zu offenem Kampf gegen alle die anrufen würde, die aus lichtscheuer Furcht den Verstand zum Sklaven unter dem Joch des Autoritätsglaubens machen wollten. Diese Herausforderung rief nun auch die Gegner in die Waffen; und nicht nur die Wortführer der Parteien, sondern auch das vielstimmige Echo der Scharen der Gemeinen ließ sich allmählich hören. Einer nach dem anderen betraten sie die Rednertribüne, Frauen und Männer, wunderliche Gestalten . . . alle erfüllt von demselben glühenden Drang zu bekennen, zu verkünden, zu verheißen, zu erneuern.
Ringsum die Tribüne herum saßen die Ehrengäste der Versammlung und die besonders eingeladenen Redner, darunter der untersetzte Pastor Magensen mit den ewigen Höllenstrafen – der »Lüttedeubel«, wie er populär im Lager der Gegner genannt wurde – wie auch der traurige Zweifler, Kandidat Boserup. Die größte Aufmerksamkeit erregte natürlich der junge Minister, der seinen Platz neben Frau Gylling hatte und mit einer etwas angestrengten Würde die Aufschlüsse über die auftretenden Redner in Empfang nahm, wie sie ihm von einigen befrackten Hochschulmännern mitgeteilt wurden, die hinter ihm Aufstellung genommen hatten.
Oben auf der Tribüne neben den Rednern saß Vorsteher Sejling, der Dirigent der Versammlung. Mit ernster Unbeweglichkeit, die Arme über der Brust gekreuzt, sah er mit der undurchdringlichen, barschen und bewußten Miene, die ihn bei Freunden und Gegnern so gefürchtet machte, auf die Versammlung hinaus. Der Wankelmut, der ehedem seinem öffentlichen Auftreten angehaftet und in so hohem Grade seiner Beliebtheit in der Gemeinde Abbruch getan hatte, war in der letzten Zeit – nachdem Wilhelm Prams Popularität unter der Jugend zunahm – einer sogar ungewöhnlichen Festigkeit gewichen. In dem allgemeinen Bewußtsein stand er jetzt als Führer des konservativen Flügels der Freundesgemeinschaft da, und man erzählte sich denn auch, daß namentlich auf seine Veranlassung hin der Minister hier heute erschienen sei . . . ein Zug, der in diesem Falle ganz klug von ihm berechnet war. Es unterlag keinem Zweifel, daß die Anwesenheit des Ministers eine mitwirkende Ursache gewesen war, daß die Aktien der oppositionellen Partei während der Vormittagsversammlung gesunken, und daß der göttliche Ursprung der Bibel mit so überwältigender Majorität festgestellt war.
Die Hitze im Saal war allmählich fast unerträglich geworden. Obwohl man alle Türen und Fenster geöffnet hatte, um Luft zu schaffen, wurden mehrere Frauen ohnmächtig, und die Lampen ringsumher an den Wänden und unter der schweren, hohen Balkendecke leuchteten schließlich so matt, daß namentlich der untere Teil des Saales in einer düsteren Dämmerung lag. Hin und wieder hörte man ein fernes Grollen des Donners, das langsam näher kam.
Auf einmal entstand eine Unruhe an einer der Seitentüren, die Leute wichen zur Seite – Emanuel trat still ein.
Oben auf der Rednertribüne stand in diesem Augenblick ein Dorfschullehrer und entwickelte seine Anschauungen; niemand aber hatte jetzt mehr Ohr für seine Worte. Alle sahen zu der hohen, bleichen Erscheinung hinüber, die dort an der Tür stehen blieb, den Kopf gesenkt, die Hände vor der Brust gefaltet. Selbst diejenigen, die ihn niemals gesehen hatten, waren keinen Augenblick darüber im Zweifel, wer er war. In dem hinteren Ende des Saales kletterte man auf die Bänke, um sehen zu können, und von Mund zu Mund liefen flüsternde Fragen und Antworten.
Nur Einer verhielt sich still . . . dort in einer Ecke saß Weber Hansen vornübergebeugt und barg den untern Teil seines Judasgesichtes in den blutroten Händen.
Als der Dorfschullehrer endlich schwieg, und nachdem noch ein paar andere das Wort gehabt hatten, wurde da oben von der Tribüne verkündet, daß Emanuel reden wolle. Im selben Augenblick stieg ein schwarzgekleidetes junges Mädchen auf eine Bank neben einem der Fenster, und eine nach der anderen erhoben sich um sie her fünf, sechs zerlumpte Gestalten – darunter die »schwarze Trine« – deren Anwesenheit die ganze Zeit hindurch Unruhe bei den Leitern der Versammlung erregt hatte, namentlich unter den befrackten Hochschulmännern hinter dem Minister. Das waren Gerda und eine Auswahl von Emanuels Anhängern unten aus dem Dorf.
Als er sich nun selber der Rednertribüne näherte, streckte das junge Mädchen mit einem ekstatischen Ausruf die Arme nach ihm aus und rief mit lauter, gellender Stimme:
»Hosianna! Gesegnet sei, der da kommt im Namen des Herrn!«
»Hosianna! . . . Hosianna!« wiederholten die anderen im Chor mit ihren rohen und dunklen Stimmen.
Ringsumher in der Versammlung erregte der Auftritt eine wirre Bestürzung. Man sah einander an oder zu dem Dirigenten hinauf oder – furchtsam – zu dem Minister hinüber. Vorsteher Sejling hatte augenblicklich zu seiner Glocke gegriffen um einzuschreiten, aber im selben Augenblick erschien Emanuel auf der Rednertribüne – und alles wurde still.
Mehr als eine Minute herrschte Totenstille im ganzen Saal. Es war, als wenn ein Engel unsichtbar durch den Raum schwebe. Emanuel selbst glich mehr einem Geist, als einem lebenden Menschen, wie er da oben stand, mager und graubleich, scharf beleuchtet von dem Schein der beiden herabhängenden Deckenlampen, die die Höhlen der Wangen und der Augen tief und schwarz machten wie bei einer Leiche. Die langen, abgezehrten Hände lagen flach gefaltet über seiner Brust, der Blick war in die Höhe erhoben.
Ringsumher im Saal saß man mit verhaltenem Atem. Selbst der Minister vergaß einen Augenblick seine Würde und starrte mit offenem Mund und Augen über seinen Kneifer hinweg, den er aufgesetzt hatte, um besser sehen zu können. Ja, selbst Wilhelm Pram sah so aus, als wisse er nicht mehr recht, was er denken solle. Als Emanuel nun seine Arme gen Himmel erhob und mit schwacher, bebender Stimme sagte: »Rede, Herr . . . Dein Knecht hört!« – und als im selben Augenblick ein dumpfes Donnergetöse in der Ferne erklang, ging auf einmal ein Schaudern durch die ganze Versammlung.
Emanuel blieb mit emporgestreckten Händen und geschlossenen Augen stehen; aber auch nicht ein Laut kam über seine weißen Lippen. Man konnte sehen, daß sein ganzer Körper bebte, daß ihm der Schweiß über das Antlitz rann. Und plötzlich brach er zusammen, bedeckte das Gesicht mit den Händen und rief unter stöhnendem Schluchzen aus:
»Mein Gott! Mein Gott! . . . Warum hast Du mich verlassen!«
In diesem Augenblick ging ein förmlicher Seufzer der Erleichterung durch die große Versammlung. Es war, als würden sie alle von einer zusammenschnürenden Angst befreit, als sie das Bewußtsein erlangten, daß sie nicht einen von Gott gesandten Propheten, sondern einen schlecht und recht verrückten Mann vor sich hatten. Der Vorsteher Sejling hatte sich schnell erhoben und mit Hilfe von ein paar herbeigeeilten Männern wurde Emanuel nun sanft von der Rednertribüne heruntergeführt und dann unter der mitleidsvollen Teilnahme der Versammlung aus dem Saal herausgebracht.
Noch draußen von der Diele her konnte man sein hilfloses Schluchzen hören. – –
So erleichtert man nun gewissermaßen war und obwohl man sofort auf Vorschlag des Wortführers ein Lied anstimmte, um die erschreckten Gemüter wieder zu beruhigen, so verging doch eine ganze Zeit, ehe man den Eindruck dieser unheimlichen Szene überwand. Dazu kam noch, daß das Gewitter jetzt schnell heraufzog. Ein paar gewaltige Donnerschläge waren schon über das Dorf hingerollt und ein mit Hagelkörnern vermischter Regen fing an gegen die Fensterscheiben zu prasseln.
* * *
Daheim bei Frau Betty hatte währenddes auch große Unruhe geherrscht. Zuerst in Veranlassung der Kinder. Sigrid hatte sich wirklich die Verwirrung zunutze gemacht, die den ganzen Tag im Hause geherrscht hatte, und endlich ihren langvorbereiteten Plan ausgeführt, auf eigene Hand die vermißte Mutter aufzusuchen. Zusammen mit Dagny, der Puppe Liese und einem kleinen Bretterwagen, der die Bagage enthielt, nämlich zwei Sommeräpfel, eine Sparbüchse und eine Schiefertafel, war sie am Nachmittag auf die Landstraße hinausgezogen, ohne daß jemand es gesehen hatte. Die kleine Karawane war jedoch nicht weit gekommen. Da nämlich das Schicksal es wollte, daß die Sonne, ihr einziger Wegweiser, sich an diesem Tage gar nicht blicken ließ; da außerdem die widerspenstige Dagny sofort zu heulen anfing, um wieder nach Hause zu kommen; und da schließlich das Unglück es wollte, daß das eine Rad des Wagens sich ablöste, als es gegen einen Stein fuhr, verlor auch Sigrid allmählich den Mut und setzte sich verzagt auf den Grabenrand, – wo sie das Mädchen dann bald darauf gefunden hatte.
Frau Betty war ernstlich böse geworden. In ihrer exaltierten Gemütsverfassung hatte sie die Kinder vorgenommen und eine förmliche Weltgerichtspredigt gehalten, so daß selbst Sigrid schließlich kleinmütig geworden war und zu weinen angefangen hatte.
Nun ging Betty in fieberhafter Spannung in der ärmlich erleuchteten Bauernstube auf und nieder und wartete auf Emanuels Heimkehr. Sie konnte nicht begreifen, daß er noch nicht gekommen war. Die Uhr war bald zehn, und sie war überzeugt, daß er sich nicht von dem Regen hatte zurückhalten lassen. In ihrer Ungeduld fing sie schließlich an, sich Vorwürfe zu machen, daß sie ihn nicht begleitet hatte. Ihr war außerdem so unheimlich zumute in ihrer Einsamkeit. Das Gewitter kam mit jeder Minute näher, und der Regen strömte herab wie eine Wasserflut . . .
Horch! Wie, kam da nicht jemand? Ja, da war er endlich! Nein . . . was war denn das? . . . Das war nicht sein Schritt.
»Ragnhild!« rief sie aus, als die Tür sich auftat. »Kommst du hierher . . . zu dieser Zeit! Und, mein Gott! – wie siehst du aus?«
»Guten Abend,« sagte Fräulein Tönnesen atemlos und befreite sich hastig von einem großen Schal, den sie über dem Kopf gehabt hatte. »Erschrick nicht! Ich wollte nur im Vorübergehen hören, wie es hier aussieht.«
»Aber woher kommst du denn? Du bist ja ganz durchnäßt! . . . Ragnhild! . . . Du bist doch nicht dadrinnen in der Versammlung gewesen?«
»Ja . . . warum denn nicht?« sagte sie in einem Ton, der gleichgültig klingen sollte; aber ihre Stimme zitterte und der Ausdruck in ihrem Gesicht war scheu und unruhig. »Ich hatte Lust, einmal zu sehen, wie so etwas zugeht.«
»Aber wer hat dich begleitet? . . . Du bist doch nicht allein gegangen, Ragnhild?«
»Nun ja, warum denn nicht? . . . Ist dein Bruder noch nicht nach Hause gekommen?«
Betty stand einen Augenblick sprachlos da.
»Ragnhild!« schrie sie auf einmal und schlang die Arme um die Freundin.
»Du liebst Emanuel! Ich sehe es dir an! . . . Du liebst ihn! Du liebst ihn!«
Ragnhild wollte sich losreißen, aber ihre Kräfte versagten; ermattet sank sie in einen Stuhl.
»Beruhige dich, Betty,« sagte sie – sie schnappte nach Luft und hielt die Hand gegen das Herz gepreßt. »Antworte mir doch einmal . . . Ist dein Bruder noch nicht nach Hause gekommen?«
»Nein. Ist die Versammlung aus . . . Erzähle doch!«
»Ist dein Bruder wirklich noch nicht nach Hause gekommen?«
»Nein, warum fragst du nur immerfort? Und warum siehst du mich so an? . . . Es ist etwas geschehen! Ich kann es dir ansehen! Ragnhild! Was ist geschehen!«
»Du weißt es also nicht?«
»Was?«
»Daß dein Bruder auf der Versammlung . . . krank geworden ist.«
»Krank? . . . Emanuel krank! . . . Aber wo ist er denn? –«
*
Ein Mann von der Hochschule hatte ihn nach Hause begleitet. Aber während dieser unterwegs in ein Haus gegangen war, um einen Trunk Wasser für ihn zu holen, war Emanuel weitergegangen, und seither hatte man ihn nicht wieder auffinden können.
In diesem Augenblick wanderte er über die öden Hammerhügel, – langsam, den Blick zu Boden gerichtet. Er merkte nicht, daß der Regen über ihn herabströmte. Seine Gedanken standen still, sein Geist war gelähmt . . . er wußte nicht einmal, daß er ging.
Er hatte von den Erlebnissen des ganzen Abends, ja von seinem ganzen Leben nur eine einzige Erinnerung bewahrt . . . die Erinnerung an ein ungeheures Getöse, einen schrecklichen Schrei aus tausend Mündern . . . und dann an ein Feuermeer, eine endlose Feuersbrunst, über deren Flammen sich Gottes Geist in einem blendenden Strahlenkranz offenbart hatte, umgeben von weißen Cherubinen mit langen, goldenen Gerichtsposaunen, deren mächtige Töne ihn zu Boden geschlagen hatten . . .
Plötzlich blieb er stehen. Der Himmel im Westen war von fernen Blitzen erleuchtet, und das Seezeichen oben auf dem Hügel hob sich einen Augenblick ganz deutlich gegen den weißblauen Himmelsrand ab.
Ihm schauderte. Er hatte einen Leib da oben an dem schwarzen Kreuz hängen sehen, und in dem leidenden Antlitz unter der Dornenkrone erkannte er seine eigenen Züge. Jawohl! Sie hatten ihn gekreuzigt . . . ihm die Brust mit Lanzen durchstoßen, ihn mit Geißeln gepeitscht und gekreuzigt! . . . Jawohl! Und nun ging er hier durch das Reich der Toten . . .
Die Angst vor der Finsternis erweckte ihn nach und nach. Scheu sah er sich um . . . und es begann in seinem Bewußtsein zu dämmern.
»Es regnet!« sagte er laut.
Im selben Augenblick entsann er sich alles dessen, was geschehen war, und er setzte sich in das nasse Heidekraut und weinte wie ein Kind.
Er wollte nicht heimkehren. Er konnte hinfort nicht mehr in der menschlichen Gemeinschaft leben. Er flehte so inbrünstig, daß ihn Gott doch aus dem Elend dieses Lebens erlösen und seiner müden Seele Ruhe in seinem Schoß bescheren möge!
»O, lieber Vater! Laß mich nicht noch mehr schmachten! Nimm mich auf in deinen Himmel! Ich habe kein Heim mehr auf Erden. Habe Barmherzigkeit mit mir! Nimm mich auf in deinen Schoß! –«