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Heinse

 

I.

Heinse ist eine Feuerwolke, die Deutschland erst dann am Himmel bemerkte, nachdem sie durch einen ihrer Blitze ein paar elende Bauernhütten in Brand gesteckt hatte« …

Diese Persönlichkeit, die Hebbel in solch leidenschaftlichem Bild sich vorstellt, fesselt uns heute von neuem mit mehr als literarhistorischem Interesse. Wir erkennen in ihr edelste Rasse künstlerischen Fühlens, einen Unproduktiven, dem kein ganzes schöpferisches Werk erwächst, der aber die feinsten Nerven, die schwingende Empfänglichkeit und tiefe Wesenserkenntnis für alle Reiche der Kunst als sicheren Besitz, als eingeborene Natur in sich trägt. Und zu der Gabe des Schauens wurde ihm ein vielstimmiges Ausdrucksorgan voll Fülle der Register erweckt, das geschmeidig, bildkräftig, farbigleuchtend zur Wiedergabe aller Erscheinung fähig ward: Eine Sprache voll Sinnlichkeit, strotzender Lebendigkeit, mit festem, unwiderstehlichem Griff geballt, von heißem Herzensatem durchweht und von Erregung starker Erlebnisse vibrierend. Herders und des jungen Goethe Sprache, den Elementen verwandt und den klammernden und treibenden Wurzeln der Bäume, tönt hier wieder, aber vorklingt in diesem Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts schon das Orchester der Romantiker voll Nuanciertheit und Raffinement der Instrumentation. Und über weiten Raum hinweg rückt diese Reproduktionskunst, die Bilder, Statuen, Musik und Landschaft suggestiv in alle Sinne des Lesers weht, daß er sie körperlich, atmosphärisch fühlt, sehr nahe an die Ecriture artiste, wie sie die Goncourts, Théophile Gautier, d'Annunzio und ihre Wesensverwandten lieben. Und ein gemeinsamer Zug ist dabei auch, daß Heinse, trotz seiner Sinnlichkeit und seines heftigen Lebensdranges, in seinem Schaffen viel mehr von Kunst angeregt wurde als vom Leben. Er schrieb: »Ich bin zu allem andern, außer Natur und Kunst, verdorben, meine Tage fliehen dahin in verzehrendem Feuer, die goldenen Stunden des Lebens, wo ich zu schaffen und zu genießen vermöchte. Das kann ich nicht nach Herzenslust, ohne dem Schönsten, ohne der besten Natur und Kunst am Busen zu liegen und gelegen zu haben, Mark und Bein voll Seligkeit und ewiger Wonne.« Die Natur steht hier voran, doch noch intensiver als mit der Natur lebt Heinse in seinen Schriften mit der Kunst, am wenigsten aber lebt er mit dem menschlichen Geschehen. Er gehört literarisch durchaus zu der Rasse der Artisten, denen eigentlich nur die künstlerischen Emotionen und Sensationen zu Schaffenstrieben werden. Bei ihnen allen spielen die »Dinge« eine größere Rolle als die Menschen, und die Beschreibung edler, kostbarer Geräte, die Assoziationskunst, die mit wesensvollen Bildern Farben, Töne, Düfte materialisiert und darstellt, ist ihnen lockender als die Schilderung menschlicher Begebnisse.

Auch Heinses Erotik und Sinnlichkeit, die den Zeitgenossen soviel Schrecken einflößte, kommt aus der Sphäre künstlerischer Nerven. Von seelenaufwühlender Leidenschaft, von einer Hingabe an die Persönlichkeit einer Frau ist in diesem Leben kaum etwas zu merken. Er scheint eines jener Temperamente, die moderne Schriftsteller, wie z. B. Schnitzler, so interessiert, die mehr die Frissons suchen als die Gemeinschaft.

Für sinnliche Reizungen stark empfänglich schildert Heinse in seinem Tagebuch die Liebesrhythmik in den venezianischen Gondeln, es ist aber mehr ein sachliches Erinnerungsvergnügen als das Erinnerungsvergnügen am Bild einer venezianischen Freundin.

Heinse scheint übrigens viel weniger ein Erotiker als ein Hedoniker, der die Genußfähigkeit aller Sinne übt, sie zu einem bereichernden Zusammenklang ausbildet und dem diese Kunst der eigenen Genußpolyphonie viel mehr gilt als die Menschen, und die Frauen besonders, die ihm nur Mittel sind.

Heinse erkannte früh jenen verfeinerten raffinierten Egoismus des Künstlers, der sich vor der Schwäche menschlicher Befangenheiten, vor der Verstrickung in die Fußangel der das eigene Selbst entwurzelnden Liebe oder des unfrei machenden Mitleids energisch wahrt und zu allem Erleben die Distanz künstlerischen Anschauens hält. Er spricht von der »großen starken Selbständigkeit, die Leiden anderer außer sich zu fühlen, ihre Natur und Eigenschaften mit ihren Kräften zu ergründen und zu erkennen, die Sphäre seines Geistes dabei zu erweitern und zugleich über alles dies empor zu ragen, ohne sich als Teil damit zu vermischen und selbst zu leiden«.

Solch künstlerisches Anschauen ist auch in seinen erotischen Beziehungen. Bei ihm spielen immer Korrespondenzen und Assoziationen. Er gibt nicht, er wird nicht besessen, er empfängt und bleibt in der unantastbaren Sphäre freien Genießens. Alle Eindrücke aus Kunst, Leben und Liebe verschmelzen ihm zu ästhetisch bereichernden Werten, wie es im Ardhingello heißt, daß durch die Beschäftigung mit der bildenden Kunst gerade das Leben mehr Stärke gewinnt. Bei Frauen hat er Begleitvorstellungen von Bildern und Dichtungen, von Basreliefs und Lucianischen Hetärengesprächen und die Courtisanencauserie in Venedig ist ihm etwas Ähnliches wie die Lektüre der Voltaireschen Pucelle.

Tabulaturen solcher Genußkunst und solchen Kunstgenusses bieten Heinses Romane dar. Sie sind nichts weniger als erzählerisch. Der Ardhingello beginnt zwar als Chronik und wirrt im Anfang die fabelhaften und abenteuerlichen Zufälle im Geschmack altitalienischer Lebensläufe durcheinander, aber es ist hier mehr die Freude am Treffen romanischer Kunstform, als die naive Fabulierlust, und bald wird dies bunte Gewebe der Liebesintrigen, der Mantel- und Degenmotive beiseite gelegt, und die Werke Roms und Venedigs werden zu Helden des Romans, und malerische Empfänglichkeit und Ausdruckskunst voll Unersättlichkeit und Fülle zieht in den Kreis Landschaft, Gebirge, Ruinengefild und Meer und wetteifert in Wortgemälden mit der bildenden Kunst.

Vollkommen herrscht die artifizielle Sphäre in der Hildegard von Hohenthal vor. Hier sind die Ereignisse auf dem rheinischen Schloß, die Situationen zwischen dem Kapellmeister und der jungen Fürstin nur Vorwand und Gelegenheitsinszenierung, um Dialoge, Disputationen, Kommentare über altitalienische Kirchenmusik, über Pergolesi und Metastasio, über die Entwicklung der Oper und des Balletts auszuspinnen. Und der letzte der Heinseschen »Romane«, »Anastasia«, in Heinses Todesjahr 1803 beendet, versucht kaum Form und Handlung vorzutäuschen und gibt sich gleich offen als eine Variationsreihe über die Schachkunst, die hier in der gleichen vielfältig gebrochenen Beleuchtung, mit der Fülle von Beiklang und Begleitvorstellungen gespiegelt wird, wie früher Malerei, Skulptur und Musik. Die Schachsituationen geben hier ein Klima, Phantasie und Verstand behend und elastisch spielen zu lassen; man könnte es beinahe ein paradis artificiel nennen mit den Wollüsten des Geistes und der Einbildungskraft, letzte Zuflucht eines Menschen, der sein Leben abgeschlossen. Als Spiel für Dichter wird es empfunden, für Menschen von lebhafter Imagination: »sie können hier verschiedene Charaktere für einen gemeinschaftlichen Zweck handeln lassen. Die Figuren sind ihre Theatergesellschaft, und es findet sich Stoff zu unendlichen Dramas.«

Erotische Umwerbungs- und Verführungsvorstellungen erweckt Heinsen dies Spiel, etwas Sinnliches kommt in die Partie, wenn die Partnerin den Gegenspieler spornt und peitscht »wie eine Bacchantin einen Zentaur mit dem Thyrsosstab«. Und Vorstellungen voll Beziehung und Bedeutung gehen hindurch, wenn es z. B. heißt: »Meister und Anfänger können miteinander spielen, und es kann ein äußerst reizendes Spiel werden, je nachdem die Personen sind. Ein mächtiger Genius scherzt so mit einem lieblichen Kinde, und das Geringste wird sinnreich wie die schöne Natur.« Oder, wenn das Schach als Abbild des großen Welttheaters angesehen wird mit allem Raffinement der Verstellungskunst! »An Höfen, im Krieg, in der Geschichte ist das Studium viel zu weitläufig; bei einem so sinnreichen Spiel, wie das Schachspiel, hat man alles kurz beisammen.«

Diese Bücher, die vordem Heinrich Laube herausgegeben mit der gut charakterisierenden Bemerkung: sie seien »Statuen, Bilder und Töne« – sind jetzt neu und vollständig mit reinem Text durch Briefe und Tagebücher ergänzt, eine musterhafte Arbeit Dr. Schüddekopfs, ediert worden. Und es scheint ein feiner Zug, daß der Inselverlag mit seiner Witterung für kulturelle Delikatessen diesen artistischen Ahnen aus dem 18. Jahrhundert wiederkehren ließ.

Es wäre aber einseitig und gegenwartsbefangen, wollte man aus diesen Bänden nur Beiträge zur »Wiederkehr des Gleichen« suchen. Mannigfaltiger und ausgiebiger wird Heinses literarisches Porträt, wenn man ihn in der Gesamtheit seiner Stilzusammenhänge zeigt. Dieser Schriftsteller, der nachher so außerordentlich eigene und persönliche Modellierungen und Griffe, so unerhörte Farbenwirkungen und Beleuchtungen für seine Sprache gewann, war nämlich in seinen Anfängen durchaus abhängig von den literarischen Dialekten seiner Zeit, er übertrieb sie sogar. Seine stilistische Begabung äußert sich zunächst in einer verblüffenden Anpassungsfähigkeit an die à la mode-Phraseologie. So kommt es, daß man in seinen Jugendbriefen absolute Reinkulturen der anakreontischen, der empfindsamen, der Sturm- und Drang-Kunstart finden kann. Damit steigt die ganze Gefühls- und Anschauungswelt der siebziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts mit antiquarischen Kulturkuriositäten auf. Haben wir aber diese Echos du temps passé mit ihren raren und pikanten Archaismen zu Ende gehört, so versetzen uns die Briefe aus der Düsseldorfer Zeit mit ihren Nachdichtungen der Bilder aus der Galerie und der »Ardhingello« mit seinen Natur- und Kunstsuggestionen unmittelbar in eine modernem Kunst- und Naturgefühl wesensnahe Atmosphäre.

 

II.

Die Welt der Heinseschen Jugendvorstellungen ist jenes bürgerliche Arkadien, das von Gleim und den Seinen in harmloser mitteldeutscher Landschaft angesiedelt wurde. Man gefiel sich in der schäferlichen Verkleidung, trug zu dem kirchenbuch-echten Familiennamen den Weihetitel eines hellenischen Weisen, besang Falerner Wein und träumte von Chloe und Daphnis. Eine Musen- und Grazienmaskerade auf dem geordneten Hintergrunde eines bürgerlichen Haushaltes. Die Motive der Gemmenpoesie waren hier gemütlich dem Hausgebrauch, den Kaffeetassen, Pfeifenköpfen, Schnupftabakdosen angepaßt worden und das ambrosische Gewand war der Schlafrock. Einen Widerschein solch lieblich enger Welt, die sich die kanasterverräucherten Wände der Ehestandsstube mit Silhouetten von Nymphen und Amoretten besteckt und durch das kleine Fenster in der thüringischen Gemeindewiese das Tal Tempe zu sehen glaubt, empfängt man nun auch in den Briefen Heinses, des Erfurter Musensohnes und notleidenden Skribenten, an den allezeit hilfreichen Papa Gleim in Halberstadt, und man merkt, das Heinse den Ton wählt, der guter Aufnahme am ersten sicher ist. Für ihn ist charakteristisch die Mischung bürgerlich-familiären Hausrats mit mythologisch-idyllischem Apparat, eine zopfig barocke Antike. Für eine Gleimsche Einkleidungsgabe dankt Heinse: »Was Lais empfand, als sie in das Gewand ihres Geliebten gehüllt war, das werde ich empfinden, wenn ich ein Hemd von den mir übersendeten trage.« Briefe berauschen wie »Nektar der Grazien«. Gleim ist Vater Anakreon, der »Apostel der Grazien«. »Liebesgötter sollen ihm den gequetschten Arm heilen, und die guten Genien sollen ihm sein Halberstadt zu einem Athen voll Aspasien, Danaen, Musarionen und Laidionen und Alcibiaden und Agathonen machen.«

Der Gleimsche Kreis heißt die »Grazienmänner«; Klemens Schmidt ist der »charit-äugichte«. Jene Wielandische Mischung aus Rokoko und Mythologie, an Operetten und Pantomimen erinnernd, ist in dem Satze: »Vielleicht setzt uns Donna Fortuna noch in eine Kutsche und fährt uns vollends über die Alpen unseres jugendlichen Lebens in ein thessalisches Tempe.« Und Halberstädter Erinnerungen gibt der Gast seinem väterlichen Freunde schmeichlerisch zurück: »da wandelte ich traulich mit Ihnen Hand in Hand, unter den Blumen Ihres Sanssouci als ein junger flugbegieriger Genius mit einem Priester des Apollo voll Gesang und Weisheit und schwärmte in süßen wachenden Träumen in den Inseln des Archipelagus und den glückseligen Hainen von Ephesus, Smyrna und Paphos mit meinem Apelles herum.«

A la mode und typisch ist auch die Schilderung der Episode Heinses als Hauslehrer in der Familie von Massow in Quedlinburg, wohin ihn Gleim empfohlen hatte. Die »Göttin von Massow«, die »Muse von Massow« wird als Sinnbild aller jugendlichen Sehnsucht gefeiert und geschmückt. Es ist hier jenes Zusammentreffen wirksam, das für die Gefühlswerdezeiten im achtzehnten Jahrhundert so charakteristisch ist und das sein deutlichstes Abbild in den Aufzeichnungen der Elisa von der Recke findet: die adlige Dame, empfindsam, gefühlsschwelgerisch, verheiratet mit einem derberen, soldatischen Mann, der wenig für die schönseligen Empfindungen geeignet ist, und der Jüngling (er kommt meist als Erzieher in das Haus), der schwärmend und verehrend die unbefriedigte Einbildungskraft der Frau beschäftigt und ihr aus den Büchern der jungen Generation ihr eigenes Sehnsuchtsideal zeigt. Das Seraphische gibt dabei den Ton, und Heinse schreibt von dieser Frau, daß sie, die an Geist und Leib den jüngsten der Charitinnen gleich, »das Rohe, Wilde seines Genius mit der holdseligsten, weiblichen Güte, Feuer und Sanftmut, mit den bezauberndsten Grazien ihres Geschlechtes gemildert habe«. Sie lesen zusammen Metastasio. Das Motiv gemeinschaftlichen Lebens ist ja typisch für die »Empfindsamkeitsepoche«, und über der Lektüre schweben Seufzer, bange Augen sehen sich an und füllen sich mit Tränen. Die Grazie von Massow sagt: »die schönste Zeit meines Lebens ist vorbei! Nie werde ich wieder völlig glückselig sein können.« Er blickt sie betrübt an, sie wird röter, schlägt die Augen, in welchen beiden eine Zähre hervorgetreten war, nieder. Er will fragen und trösten, aber sie weist mit dem Finger auf den Metastasio, und sie lesen, ohne zu wissen, was sie lesen, weiter. Das ist eine Szene, wie aus einem Roman der Zeit, ganz die Atmosphäre des Millerschen »Siegwart«.

Und voll von diesem Klima erfüllt sind auch die Abschiedsbriefe beim Fortgang von Halberstadt nach Düsseldorf. Wie Miller das Scheiden seines Freundes und seines Liebespaares schildert, so geht es auch bei Heinse zu. »Die Empfindungen fahren gleich flammenden Blitzen in seinem Wesen und das Herz liegt in seinem Busen, wie ein schweres, stilles Donnerwetter«; er schleicht traurig die Treppe hinauf und setzt sich – der Platz ist typisch – in die unsichtbarste Ecke des Zimmers, hinter den Ofen, stumm, gedankenlos und ohne Empfindung, ein Hagelschauer hatte alles darniedergeschlagen. Dann kommt der Freund, auch gleich einem Schatten; und wandelt »in sich denkend und empfindend« sein Zimmer auf und ab, ehe er ihn gewahr wird. Nun setzt sich Heinse ans Klavier und spielt und phantasiert so zärtlich traurige Elegienmelodien, daß der Freund anfängt, »darein zu singen, zwar nur bloße Töne, in welchen aber höhere Geister gewiß ebenso liebliche Wörter hörten, als die Erdentöchter in seinen Liedern«.

In dieser »Empfindsamkeit« erscheint auch schon ein Vorzeichen jener barockschweifigen Gefühlsemblematik, die dann Jean Paulsche Sätze ornamentiert, wenn Heinse z. B. schreibt: daß »die Schutzgeister der letzten Küsse, die die Seelen einander gaben, gen Himmel tragen und dem Engel überreichen, der die edelsten Empfindungen einer schönen Seele in das Buch des Lebens malt, um sie abzukopieren«.

Heinse wechselt, bis er zu seinem eigenen Ausdruck reift, die literarischen Stilmoden, wie sie kommen. Er trägt die Schäfertracht der Anakreontiker, er kleidet sich in die Farben der Empfindsamkeit, er macht die Kraftgebärden des Sturms und Drangs mit. Merkwürdige Mischungen gibt es, wenn sich die Welten berühren, wie in jener Selbstcharakteristik (1776) an Jacobi, die Prometheische Motive in ein zierliches Vignettenbandwerk einschreibt, er sagt da von seinem Geist, daß er, »geboren gleich einem Raubvogel, in unserer abgeschmackten moralischen Welt zu fangen und zu morden«, von Jacobis »friedlicher himmelsüßen Lyra sich habe gewöhnen lassen, mit Lust und Scherz den Wagen der Tochter des Zeus zu ziehen«.

In der gleichen Zeit aber gibt es deutliche Ironien über die pseudogriechischen Bijouterien. Heinse spöttelt über seinen neuen Gönner Jacobi, der ihn nach Düsseldorf zur Mitherausgabe der frauenzimmerlichen Zeitschrift »Iris« geholt hatte, an den alten Gönner Gleim. Jacobi habe eine Heirat vor mit seiner Muhme Karoline in Zelle, aus welcher nicht viel Kluges entspringen wird, außer einigen »Liederchen an Rosenbüsche, Schmetterlinge und Liebesgötter zwischen Thyrsis und Chloe«.

Seine Bilder holt sich Heinse jetzt nicht mehr einseitig aus der griechischen Mythologie. Das Nordische erscheint jetzt, die »ossianische Nebelsäule« und die »Weltesche der Edda«. Der Rhythmus der »Löwenstärke und Adlerwonne« löst die zahmen Singvogelweisen ab. Kraftgenialisch stampft nun der Briefton daher, im Stakkato-Herzschlag, wie in den Zeilen Goethescher Gesellen. Die Verben werden ohne Pronomen gebraucht in der Art der berühmten Begrüßung: »Bists? Bins!« und ein Schachsendschreiben (1777) an Klinger, den Sturm- und Drangvater, hebt stilgerecht an: »Großer König der Tiere, schüttle Deine Mähne nicht und brülle.«

Statt der zierlich verschnörkelten Fortunakarosse braust jetzt der Sturmwagen mit Schwager Kronos' Rossen und den von unsichtbaren Geistern gepeitschten Sonnenpferden Egmonts: auf halsbrechenden Wegen Sturz und Zusammenbruch, daß »der Wagen überschlägt und Roß und Führer in den Abgrund taumeln, wo man Blut und Gehirn noch lange den Wanderern an Klippen zeigt, bis die Regengüsse des Himmels die Reste des Verwegenen vom Felsen waschen«.

Stammelnder Kunstenthusiasmus wird hingewühlt, voll Freude an Maßlosigkeit und drängendem Feuer des Einfalls. Begeisterung statt Regelpedanterie ist dabei der Trieb, und die gleiche Luft weht wie in den Kunstgedichten des jungen Goethe. Wie Goethe Künstlers Morgenlied sang, so schwelgt Heinse eine künstlerische »Morgenrhapsodie« aus: »will wie Quell entspringen, ohne mich zu bekümmern, ob schon Wasser genug da ist.«

Unter all den Stilhüllen, die nach ihren besonderen Kennzeichen hier angedeutet wurden, regt sich aber früh die eigene Natur. Und nur aus Mangel eigenen Ausdruckes nimmt sie in jenen Zeiten das konventionelle Gewand der Literatursprache an. Jener anakreontische Dialekt war papieren, aber das Heinsesche Griechengefühl war echt. Ein panischer Zug war lebendig in Heinse und eine sinnlichblutvolle Sehnsucht nach Nacktheit, südlicher Sonne und Freiheit des Gefühls ohne Gedankenschwere. Jene ängstliche Trennung von bürgerlich ehrbarem Lebenslauf und der licentia poetica, die nur den Gänsekiel mit Weinlaub umrankt, die hat Heinse früh verlacht. Er nannte sich nicht bloß das »Kind der Natur«, sondern er strebte nach Verwirklichung, und da es nicht gleich Italien sein kann, so wird ihm schon der Rhein zu einer Vorahnung heiteren freibeflügelten Lebens, zur Erlösung von dem »Nebelland mit seinen Bier-, Brandwein- und Tobacksäufern«. Schon in dem ersten Erfurter Briefe, wo die Nippesphraseologie vorwiegt, lüftet er stärkere Gefühlsworte: in seinem »thüringenschen Leibe brennen ihm Funken von Genie aus einer Flasche altem Hochheimer«, und der Thüringer Pastorssohn sagt (1769) kraftgenialisch shakespearetrunken, er wäre nicht in einem »schalen, langweiligen Ehebette« geboren, sondern sein Vater und seine Mutter wären »im Mai seiner Empfängnis bei guter Laune gewesen«.

Von der Tändelerotik Wielands ging Heinse kühn zu heidnischer Sinnlichkeit, nicht nur Musen und Grazien opferte er, sondern auch dem Priap. Seine Petronübersetzung (von 1773) »Die Begebenheiten des Enkolp«, wenn sie auch ein Brotauftrag in der Lohnsklaverei jenes abenteuerlichen Hauptmanns von Liebenstein war, dem sich Heinse verschrieben hatte, wenn sie auch von Heinse später verleugnet wurde, dieser deutsche Petron stellte doch einen Wesensteil Heinses dar. So etwas wie einen phallischen Protest gegen die zimpferlich bürgerliche Griechenmaskerade der deutschen Kleinstädter. Die derben Zynismen Petrons empfand Heinse ebenso wie die feinschmeckerische Frivolität der Doratschen Kirschen, die er gleichfalls übersetzte, als befreiendes Mittel gegen die »beklemmenden Bangigkeiten des Geistes, gegen die Krankheiten des Gedankens«. Die Auflehnung seiner romanischen Seele gegen das Schwerfällige des Nordens bekennt in diesen Versuchen. Lebendig sprießendes Wahrzeichen des Heinseschen Griechentums wurde dann sein Buch »Laidion« (1774) oder die eleusinischen Geheimnisse. Hier weht stärker Genieflügelschlag und seelische Beredsamkeit. Nicht mehr die Koketterien des galanten Zeitalters tändeln in pastoralen Maskeraden, sondern Nymphen und Faune schlingen einen Lebensreigen voll Begier und Überfluß: Vorklang künstlerischer Bacchanale, die Heinse dann in Italien genoß und im »Ardhingello« schilderte. In den Ottaven, die er gleichzeitig schrieb, ist noch manches Randleistenwerk und Zierrat, manche Vignetten und Culs de lamp aus der Poesie fugitive, Flatterschar der Putten, mit Schleifen und Bändern, die die verstreuten Kleider des Liebespaares tragen und geschäftig in die Wonnelaube Wein und Früchte bringen. Doch zwischen diesen Koloraturen und diesem Graziengezwitscher tönt des Liebesstammelns Raserei in brünstigem Leidenschaftslaut:

Gleich Blitzen flammen um die Lippen Küsse,
Auf hehre Stille folgt ein Donnerschlag,
Es spritzt das Blut der tollen Liebesbisse,
Die Trunkenheit von Wonne raubt der Tag
Den Augen, macht, daß Hände, Leib und Füße
Ein jedes voll verzückter Seelen lag.

Das ist die gleiche Glut wie in der Heinseschen Petron-Nachdichtung:

Welch eine Nacht, ihr Götter und Göttinnen!
Wie Rosen war das Bett! da hingen wir
Zusammen im Feuer und wollten in Wonne zerrinnen
Und aus den Lippen flossen dort und hier
Verirrend sich unsere Seele in unsere Seelen.

Wie diese Sprache damals wirkte, das kann man bei Goethe lesen, der, davon heftig berührt, schrieb: »Das ist mein Mann. Er hat Hunderten das Wort vom Maul weggenommen. Eine solche Fülle hat sich mir so leicht nicht vorgestellt.« Er hätte nicht gedacht, daß »soviel Grazie in dem jungen Faun verborgen« wäre; und an Schönborn sprach er sich noch einmal über die Laidion aus, »die mit der blühenden Schwärmerei der geilen Grazien geschrieben«. »Hinten sind Ottave angedruckt, die alles übertreffen, was je mit Schmelzfarben gemalt.«

Dies Heinsephänomen mit seinen Mischungen aus Anpassung und jähem trotzigen Explodieren unerhörter unvermuteter Gewalten stiftete viel Verwirrung. Wieland versuchte ängstlich die Verantwortung abzuschütteln, er sah in ihm einen Wildgewordenen, der sein zierliches Rokokointerieur demolierte. Und man wußte nicht recht, wo ihn hintun. Heinse zeichnet selbst amüsiert die Stammbaummeinungen, die über ihn im Schwange gingen, auf: (Sie geben gleichzeitig ein Resumé der Schriften, seiner Ariost- und Tassoübersetzungen und seiner Damenbibliothek, einer Ausgabe galanter Erzählungen Wielands, Hagedorns und anderer.) »Bei meinem Dasein zu Hannover hielt man mich für einen Hexenmeister im Klavierspielen, und für einen sonderbaren und unbegreiflichen, doch guten, jungen Menschen; und läutete dann vor Schrecken alle Sturmglocken über die plötzliche Erscheinung der Laidion, und sperrte das Maul weit auf über den Einzug des Tasso und machte eine alberne Figur über Rost (diesen Namen führte er in Halberstadt) und Heinse, Petron und Damenbibliothek und Armida, und nannte mich lange Zeit filius naturalis des Ritters der Ehe Wieland, und dann ein Kind der Liebe des guten, reinen und unbefleckten Junggesellen Gleim und bei Jacobis Aufenthalt wieder das Kind der Natur des ersten.«

 

III.

Es kam bald die Zeit, da Heinse niemand mehr Tribut schuldete, wo er zum weitausgreifenden Vorläufer wurde, ganz in Eigenem wurzelnd, mit höchst persönlichen Organen, der voraussetzungslos jede Erscheinung in Natur und Kunst als ein Neuer ansieht und ihr mit intensiv erlebendem Gefühl ein nervenschwingendes Abbild prägt. Jener Prozeß fruchtbar künstlerischen Genießens stellt sich uns dar voll aufsaugenden Empfangens in Mark und Bein und voll strotzender Wiedergeburt; Rahel fühlt ihn in den Worten über Heinse nach, daß er alles in seinem Blute »mit neuer Insekten- und Löwenarbeit verwandele«. Und aus leidenschaftlicher Empfängnis erwuchs tiefe und wesensvolle Erkenntnis. Wahrheiten erwachten, die Heinses einziges Eigentum im achtzehnten Jahrhundert blieben. Vor den Bildern der Düsseldorfer Galerie erkannte er seinen inneren Beruf, mit Werken der Kunst umzugehen und die Erlebnisse, Leidenschaften und Abenteuer seiner genießenden Seele in farbigem Abglanz zu spiegeln. Und die Erfüllung dieser artifiziellen Sendung brachte die italienische Reise, die ihm durch Gleim und Jacobi ermöglicht wurde. Die Briefe über die Düsseldorfer Gemälde und der Kunstroman »Ardhingello« mit den Dialogen vollartistischen Temperaments sind Dokumente einer Genußkultur und weiten, allen Maßen gewachsenen Verständnisses, die uns gerade beute wieder nahe berühren, fesseln und anregen.

Anfangs noch abstrakt in seinen Definitionen – »Schönheit ist unverfälschte Erscheinung des ganzen Wesens, wie es nach seiner Art sein soll« – wird Heinse sehr bald Herr natürlichen Empfindens, und er sagt jetzt: »einzelne Szenen, wie wir sie gelebt haben, mit scharfem Sinn gegessen und getrunken, mit gesundem Verstand verdaut und mit Phantasie und Kunst was Neues daraus erzeugt, ist alles, was wir vermögen und besitzen«. Und früh wird ihm eine Hauptwahrheit sicher, daß »die Kunst sich nicht anders, als nach dem Volke richten kann, unter welchem sie lebt«: »Wer hätte von Rubens verlangen sollen, daß er an die Generalstaaten holländisch mit griechischen Lettern schriebe.« Gerade weil er selbst aus dem romanisch-hellenischen Einschlag seiner Natur leibhaftiges Nähebewußtsein für die Antike besaß, erkannte er das Verzerrte des akademischen Drills nach dem Kanon des Altertums, des seelenlosen Nachbetens einer fremden Form. Er hat Mitleid mit den jungen Menschen, die Maler werden wollen und so verkehrt »zugeritten« werden und alte Köpfe kopieren müssen. Und mit gutem Gefühl sagt er, daß, so wenig die Schulbuben den Römergeist unter Cäsar und Brutus zu fassen vermögen, den Geist, »der wie Orkan über Nationen schwebe«, so und noch weniger jener Herz und Phantasie einen Sieger von Olympia. Heinse selbst aber errichtet strahlende Abbilder antiker Statuen und erfüllt ihre Form mit bedeutendem Sinn, den Apoll von Belvedere, den Laokon, den sterbenden Alexander formt er nach, »in dessen versunkenem Löwenblick noch die Spur von hundert gewonnenen Schlachten hervorflammt, mit der unerschrockenen Stirn, die noch wie ein Fels steht«, oder Solon, aus dem er den »feineren Athenienser« deutet, und an der »hervorgehenden Spannung der Muskeln am linken Auge, der sich aufwölbenden Stirn, dem Festgehaltenen überall«, den Gesetzgeber zeigt und aus der vollen geübten Kehle den gewaltigen Redner zum Volk. Und er fragt: »wie will ein Kind an Geisteskräften, das an den Mittelsmann seiner Gegend noch nicht reichen kann«, zu solchen Werken Verhältnis gewinnen? Und dem Einwand, daß die Jugend solche Werke der »schönen Form« wegen studieren solle, setzt er ein Wort entgegen, das nicht altern kann: »Es gibt keine echte Form ohne Bedeutung.« Er erkennt damit, wie Goethe, nur eine Form an, die »innere Form«. Schönheit entspringt ihm aus »Art und Charakter«. Kein theoretisches Kunstideal diktiert er, und er sieht in großer Freiheit ein, daß es viele Wohnungen gebe. Jeder solle nach dem Lande seiner Schönheit ziehen. Er freilich will lieber »im Julius auf dem Kessel des Ätna die Sonne aus dem Meere steigen und die Tiefe in einem Brand von Entzücken sehen, als auf einem holländischen Damm sitzen und Pfeffer und Kaffee heransegeln sehen; und lieber in den vatikanischen Hof und die Medizäische Tribune sich einsperren lassen, als in irgend einen anderen Kunstort der Welt«. Aber er läßt nichtsdestoweniger »jedes in seinen Würden«.

Solche Augen und solche Sprache, die von der Antike bis zu den Niederländern zu jeder Erscheinung, unbeschadet persönlicher Vorliebe, die Verständnisdistanz finden, sind einzig im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert, das einseitig erst die altdeutsche Kunst auf den Schild hob und dann die Antike als alleinseligmachend erhöhte.

Modern sind Heinses Anschauungen vom Malerischen, wie er die Farbe über das Zeichnerische stellt. »Das Zeichnen ist bloß ein notwendiges Übel, die Proportionen leicht zu finden; die Farbe das Ziel, Anfang und Ende der Kunst. Das Hohle und das Erhabene, Dunkle und Helle, das Harte und Weiche und Junge und Alte, wie kann man es anders herauskriegen als durch Farbe? Das Lebendige mit allen den feinen Tinten in ihrer Vermischung und schwindenden Umrissen, die keine bloße Linie faßt, da gehört Auge und Gefühl dazu.« In »Ardhingello« sagt ein Künstler: »Mit Eurem Licht in der Malerei sieht es übel aus«, und er schwelgt in der Vorstellung ein Jahr lang weiter nichts als Lüfte und Sonnenuntergänge zu malen. Turnersche Phantasmagorien träumt er, Melodien von Licht und Dunkel und Wolkenformen: Gebirge, Schlösser, Paläste, Lusthaine, immer neue Feuerwerke von Lichtstrahlen, Riesen, Krieg und Streit, flammende Schweife wechseln mit neuen Reizen ab, wenn das Gestirn des Tages in Brand und Gluten untersinkt.

Auch in der Architektur hat Heinse jene Anschauungen, die heute wieder besonders betont werden, den Sinn für das Organische, Wesentliche, für Klima- und Zweckbedingung, für Materialgerechtigkeit und die Verwerfung alles äußerlichen, beziehungs- und bedeutungslosen Kopierens. Er konstatiert, daß verschiedener Stoff, wie Holz, Backstein und Marmor verschiedene Formen veranlaßt. Und sehr fein charakterisiert diese zweckästhetische Erkenntnis das antike Theater, den griechischen Tempel, die gotische Kirche nach ihren Lebenszusammenhängen und ihren organischen Bedingungen.

Die überraschendsten Genüsse gibt Heinse aber in seinen Impressionen von Kunstwerken, die mit einer Suggestionskraft ohne gleichen Farben und Formen gegenwärtig machen und mit zitterndem Leben umspielen. Voll Feuer und Furia sind seine Rubensphantasien. Die Flucht der Amazonen: »Gewalt in Männerschultern und Armen und Fäusten mit dem Mordgewehr, und Brust und Knie; Blut und Wunden, Schwimmen und Sterben, Blöße und zerhauenes Gewand; höchstes Leben in vollem Schlachtgetümmel unter furchtbarem Leuchten zerrissenen Morgenhimmels.«

Heinse hat auch manchmal vor den Bildern jene reine Unbefangenheit, die sich naiv menschlich mit einem gewissen Haus-Märchensinn in den Vorgang versetzt. Man glaubt manchmal Herman Grimmsches Bilder-Fabulieren zu hören, wenn er von einer heiligen Familie z. B. sagt: »Joseph hat einen rötlichen, hier und da verschossenen Hausrock an, darüber ein gelber Mantel hängt, als ob er ausgewesen und was bestellt hätte und wiedergekommen wäre. Auf den Kopf hat er eine rote Kappe aufgesetzt und betrachtet daraus mit ehrlichem trefflichen alten Zimmermannsgesicht den kleinen Schlafenden, als ob er dächte: Sonderbar, ja sonderbar und unbegreiflich, und doch alles wahr und richtig und kann nicht anders sein.« Solche unmittelbaren Charakteristiken hat Heinse gern; von Karl dem Großen auf dem Krönungsbild in den Stanzen sagt er, er sieht aus, wie ein alter Schweizerkorporal mit abgestutztem Haar und auf dem Raffaelischen Altarblatt zu Perugia erscheint ihm Christus – »feurig im Gesicht und mit dem starken Bart um die Kinnbacken« – wie ein »sonnenverbrannter Kalabrier«.

Immer hat Heinse diese große Freiheit und Unbefangenheit des Anschauens, und immer sieht er mit reichen Assoziationen. Paolo Veroneses Hochzeit zu Kana fühlt er wie eine »spanische romantische Novelle, voll Chronikwahrheit und Laune.«

Unerschöpflich ist die Fähigkeit, die uns heute für die Kunstschilderung als höchstes erscheint, die Fähigkeit, das Stimmungsfluidum restlos zu übertragen und sichtbar zu machen. Den farnesischen Herkules meißelt er zyklopisch nach: »die Brust schwillt ihm feist und breit, seine Stärke fällt zentnermäßig über das Gefühl eines heutigen schwachen Römers. Sein Kopf ist vollkommen Eisen und Stahl und unerbittlich im Zähneeinschmeißen.« Schmiegsam schmeichlerisch, als spielten die Finger mit weichem Ton, bildet er die Antinousstatue nach: mit der »schwellenden milchigen Brust« und dem empfindenden Blick, als ob er sich besänne, »zu welchem Mädchen er gehen solle«, und mit mächtigem Hammerschlag fügt er das Abbild des anderen Antinous auf dem Kapitol: »von einer gewaltigen Seele leicht hingestellt; übermenschliche Stärke; Stärke eines erscheinenden Gottes, der mit einem Faustschlag zermalmen kann. Hervorgedrängte Löwenbrust und viereckige Schultern mit von Kraft geschwellten, rückgehenden, herunterhängenden Stahlarmen und einem Kopf zur Herrschaft geboren«.

Laokoon genießt er wie eine griechische Tragödie: »es leidet ein mächtiger Feind und Rebell der Gesellschaft und der Götter; und man schaudert mit einem frohen Weh bei dem fürchterlichen Untergang des herrlichen Verbrechers. Die Schlangen vollziehen den Befehl feierlich und naturgroß in ihrer Art, wie Erdbeben die Länder verwüsten«.

Heinse wandelt zwischen den Künsten. Wie er sich den Bildern und Statuen hingibt, so, ja vielleicht noch leidenschaftlicher taucht er in die Musik, und das gefügige Instrument seiner Sprache bringt resonanzfähig auch hier jeden Eindruck zum Wiederklang. Musik ist für Heinses Sensitivität das »Sinnlichste, was wir vom Leben fassen können«, und ähnlich, wie ein junger Kunstphilosoph, Rudolf Kaßner, führt er aus, daß die Worte Zeichen für etwas sind, die Musik aber ganzes, ungeteiltes Wesen und die Sache selbst: »Bei Leidenschaften ist die Musik an ihrer rechten Stelle; besonders bei heftigen, wo man nicht mehr an Worte denkt, sondern von der Sache selbst durchdrungen wird. Wir stoßen einen Teil von dem Leben aus, das in uns ist« … heißt es in den Dialogen der »Hildegard von Hohenthal«.

Ein Gluckenthusiast spricht hier vor E. T. A. Hoffmann, »er folgt seinen Gängen mit schmiegsam nachtastender Hand und lauscht, wie der Meister auf Töne und Bewegungen lauert, auf deren Langsamkeit, Geschwindigkeit, Schwierigkeiten und Hindernisse, Verwicklungen, Verflechtungen, leichte Schwalbenwendungen, hohe Adlerflüge und die Stöße des Falken, der seine Beute fängt.«

Die Orgel »wälzt tiefe Fluten«; den Nachlaut der »Jubelorkane, Donnerwetter, Niagarakatarakte« in Westminster hört man; die göttliche Menschenstimme überfliegt wie ein Vogel die Instrumente, eine Melodie wird »durch die Fermate des Lebens geführt«, und die reine Nacktheit der Vokalmusik »lebt und regt sich, wie es ein Alkibiades, eine Phryne aus dem Bad nur je dem Auge könnte, für ein zartes Ohr in der Luft«.

In der »Hildegard« mit ihren Dialogen über Messen und Opern wird auch das Ballet behandelt, und wieder ist es eine Gegenwartsberührung, wenn man hier liest, wie Heinse sich zu Noverre und seinen Inszenierungen stellt. Heinse erkennt an dieser Persönlichkeit das Gleiche, was Oskar Bie in seiner Studie »Das Ballett als Literatur« hervorhebt. »Feste des Lebens« sieht auch Heinse in den Ballets, die Pantomime ist ihr höchstes Ziel, nicht die Spezialität der Sprünge und Kapriolen. Das hat Noverre konsequent ausgebildet, und Heinse feiert, wie der Forscher von heut, seine Tendenz zum Gesamtkunstwerk: »Kein Balletmeister hat je von dem Charakter, den Talenten, den Schönheiten seiner Person so viel Vorteil zu ziehen und sie so ins rechte Licht zu stellen gewußt. Er war zugleich vortrefflicher Dichter und Maler. Er hatte die Meisterstücke der bildenden Künste wohl studiert, trieb die Magie der nächtlichen Beleuchtung sehr weit und schuf sich, zur Vervollkommenheit der Täuschung, ein Ideal von Theaterperspektive. Überall war er zugegen; bei dem Zeichner der Kleidungen, – keine Tänzerin durfte sich nach ihrer bloßen Laune kleiden; die Hintergründe mußten zu seinen Draperien passen, die Figuren darauf in gehöriger Proportion hervorgehen; – bei dem Maschinisten, um die Szenen leicht und schnell zu verändern, besonders aber bei dem Tonkünstler, und er selbst schrieb zuweilen Melodien und Instrumente vor«.

 

IV.

Die wache, einsaugende Empfänglichkeit, die in allen Nerven widerschwingt, war bei Heinse nicht nur vor der Kunst wirksam, sondern ebenso leidenschaftlich im Aufnehmen und vielfältig gebrochenen Ausstrahlen vor der Natur.

In einer Studie über das Naturgefühl würde das Kapitel Heinse in Italien eine an Ausbeute reiche Hauptsache sein. Victor Hehn spricht in seinen Reisetagebüchern einmal von dem Plan, eine Geschichte der »Italomanie« zu schreiben, eine Untersuchung, wie die Deutschen der verschiedenen Kunstepochen auf Italien reagierten. Und freilich sind solche deutsch-italienischen Reflexe sehr erhellend für die Erkenntnis landschaftlichen Sinns.

Zwei Welten scheiden sich deutlich, die klassische und die romantische, jene mehr skulptural, diese durchaus malerisch und daher unserem Gegenwartssinn ganz nahe.

Winckelmann lehrte jenes Sehen mit antiken Augen. Ihm selbst war das völlig organisch und wesenhaft. Er hat wenig Sinn für Farbenreize, für Sonnenauf- und Untergänge, sein Naturgefühl ist das der alten Welt, dem, wie es Friedländer in der Sittengeschichte Roms definiert, »die Hervorhebung der Wirkung des Lichts und ihrer Modifikationen durch das Medium der Luft fehlt, so daß nirgends die Rede ist von dem eigentümlichen Charakter, den die Landschaft und ihre Teile durch die Beleuchtung erhält, von den verschiedenen Wirkungen der Nähen und Fernen, von den Abstufungen des Lichts«. So galt auch Winckelmann das Malerisch-Koloristische nichts gegen die Skulptur. Er beobachtete den Himmel nicht in seinen wechselnden Licht- und Lufttönen, sondern dachte nur daran, wie sich von seiner klaren Fläche die im Freien aufgestellten Marmorbilder abheben. Als Jünger Winckelmanns ging Goethe nach Italien. Fest verschlossen waren die drängenden elementaren Herzensbrunnen, die in der jungen Lyrik und in Werthers Naturgefühl brausend sangen zu panischem Zusammenklang von Landschaft und Menschenseele. Ruhevoll und fest, ohne Vibrieren und Weichheit wandelt Goethe durch den Süden. Die neue Form nimmt er an, in überzeugtem Glauben höherer Entwicklungsstufe, den Affekten und ihrer holdträumenden Verwirrung fern, der Klarheit und der Stille nah und dem kristallenen Reich.

Winckelmanns Spruch: »Man muß alle Dinge mit einem gewissen Phlegma in Rom suchen«, wird Richtschnur, und Hauptstreben »Klarheit und Ruhe« zu gewinnen. Auf dem Palatin selbst, zwischen den Ruinen der Kaiserpaläste, haben Geister und Träume keine Macht über Goethe, er kommt zu der Einsicht, daß in dieser Umgebung der Geist zur Tüchtigkeit gestempelt werde, daß er zu »einem Ernst ohne Trockenheit« gelange, zu einem »gesetzten Wesen mit Freude«.

In diesem Geist ist die italienische Reise geschrieben. Ihr Ziel ist Objektivität. Sie ist plastisch, und sie enthält sich bewußt und streng alles Malerischen im Stil. Goethe will die Dinge schildern, nicht seine Empfindung.

Wie einen Rückfall in eine niedrigere Form fühlt er in Rom seine Sehnsucht nach Neapels Natur, und sogleich führt die Anschauung der Teppiche nach Raffaels Kartonen ihn wieder »in den Kreis höherer Betrachtungen«. Mit Festigkeit hütet sich Goethe vor allem Verschwimmenden, vor schwelgerisch aufgelöster Stimmungshingabe. Er verliert sich nicht an den Mondzauber. Er bannt nicht seine Atmosphäre, sondern verzeichnet nur sachlich das Phänomen: »Die Beleuchtung war sonderbar. Ruhe und Anmut groß«, oder er reflektiert bedachtsam: »So haben Sonne und Mond, eben wie der Menschengeist hier ein ganz anderes Geschäft als anderer Orten, hier, wo ihrem Blick ungeheure und doch gebildete Massen entgegenstehen.« Am charakteristischsten für den italienischen Goethe ist aber sein Abschied von Rom. Er besteigt das Kapitol im Mondschein. Eine heroisch-elegische Stimmung überkommt ihn, doch nicht in eigenen Worten löst sie sich, der Geist eines antiken Dichters wird beschworen. Wie Goethe einst den Gardasee durch eine Zeile Vergils »veredelt« fand, so sagte er jetzt der ewigen Stadt ein Vale mit Ovids Abschieds-Elegie. Auch Ovid schied beim Vollmond, aber die antike Seele war lunarischer Magie verschlossen, so geht denn auch die Elegie über das Bild der mondbeleuchteten Stadt nur kurz hinweg.

Daß Goethe diese Stimmung zu der seinen machte, zeigt am besten, wie in Italien klassisch-antikes Wesen in ihm Wurzel gefaßt hatte. Gegen die kühle, marmorglatte Plastik des Klassizismus, gegen das Winckelmannsche Schauen stellte Heinse sein leidenschaftliches Stimmungsgefühl. Was die Sehnsucht der Romantiker später in Italien suchte, ward früh (er lebte 1780-1783 in Italien) sein heiß erlebtes Eigentum.

Er wendete sich gegen die Landschaftskühle Winckelmanns, den er »in ein Zeitrechnungssystem eingesponnen« nannte. Er ließ sich Italien »in die Sinne prangen«; wie eine Flamme fuhr er umher, und ihm ward gerade das Malerische und die Landschaft als état d'âme Erlebnis und Ereignis. Licht, Luft und Farben sind das flutende Element, darin seine schauende Seele schwingt. Nie empfängt er den isolierten, gleichsam präparierten Eindruck der Erscheinung, sondern alles wird für ihn im Gesamteinklang aller Sinne wirksam. Nuancen und Übergangsstimmungen locken seine Sensitivität besonders. Wie er vor den Bildern von seinen Sonnenuntergangsvisionen gesprochen, das wird jetzt vor der Natur zur Wahrheit. Das Coliseum »schwebt im süßen Abendlicht fern aus dem Grünen in die hohe Luft, wie ein Gemälde voll Empfindung vergangener Zeiten«. Vom Vatikan trinkt der Blick »grauen Duft und blaue Ferne« der Gebirge von Sabina, Tivoli und Frascati.

Bilder und Vergleiche voll wuchernder Assoziationskraft, üppig und unversieglich malen die Erscheinungen und spiegeln sie mit der vollen Atmosphäre des Stimmungserlebnisses.

Er beschwört den Vesuv: »Man glaubt in die Wohnung der Donnerkeile wie in ein Schlangennest hineinzusehen, so blitzschnell ist alles aus unergründlicher Tiefe gerissen, von Metall bespritzt und Schwefel beleckt.«

Die Illumination der Peterskuppel schildert Heinse suggestiv mit einer d'Annunzioschen Fuocosinnlichkeit. Vom Pincio sieht er die Kuppel wie einen gewölbten Lindenwipfel, durchwimmelt von Feuerblüten; Laterne und Kreuz sprießen daraus auf wie ein neuer Busch, den die Kraft des Stammes herausgetrieben, und ebenso ganz feuerblühend. Und die Girandola, auffahrend wie ein ungeheurer glühender Palmenbaum, herrschend neben der schönen Linde mit den Feuerblüten im Haar.

Heinse hat ein tiefes Gefühl für das Meer, es ist ihm nicht nur »ein großer Anblick«, er ringt mit aller Seeleninbrunst danach, der herrlichen Gewalt anschauungsstarken Ausdruck zu geben. Lange vor Heines Nordseehymnen schuf er, als einziger, denn Stolberg ist schwächer, eine Meerpoesie. Von Genuas Ufermauern blickt er hinaus, und vor dem Elementenkampf kommen ihm Gedanken, gleich Nietzsches Kolumbusversen aus derselben Welt:

Dorthin – will ich; und ich traue
Mir fortan und meinem Griff,
Offen liegt das Meer, ins Blaue
Treibt mein Genueser Schiff …

Nichts auf der Welt füllt Heinse so stark und mächtig die Seele wie das Meer. Er zieht hinaus »in die unermeßliche Sphäre von Gewässern, und die ungeheure Majestät will ihm die Brust zersprengen«. Sein Geist »schwebt weit über der Mitte der Tiefen und fühlt ganz in unaussprechlicher Wonne seine Unendlichkeit«.

»Die Stürme machen mir jeden Tag ein neues Schauspiel,« heißt es im »Ardhingello«, »und ich begreife nun, wie Kolumbus der Mut im Herzen erwuchs, sich mit einer Bande Gesindel in den unwirtbaren Ozean hinauszuwagen, gleich einem Gott, der Wasserfluten und Orkane kennt und in ihr grausam wildes Spiel sich zu finden weiß, kühner als Herkules und alle Helden der vorigen Zeitalter.« Und nach solcher Reflexion mit mächtigem Einsatz und vollem Werk: »Wenn die Wogen so in den Hafen hereinbrechen und sich an seiner hohen Mauer hinaufwälzen, bis über die Dächer der Häuser, die da stehen und schauen und das Meer wie ein Wolkenbruch wieder herabstürzt und mit dem neu hereinbrechenden Ungestüm sich klatschend zu Staub wirbelt, wie lebt da die Natur in meinem Sinn und ergreift mit ihrer Musik mein Wesen.«

Auf dem Schiff im Sturm fühlte er sich wie zum Gott gemacht im Genuß seliger Unendlichkeit und grüßt die »schroffe Heldenform« der heranziehenden Wogen.

Heinse hat in einer Zeit der barocken Naturverkünstelung einen ausgeprägten Sinn für die freien »rhythmischen Künste der Natur«. »Heftigkeiten und Leben« in ungezügelt ihrer Naturkraft folgenden Wasserstürzen reißt ihn hin. In Tivoli sieht er den Fall aus alabasterner Grotte wie einen erzürnten jungen Seegott in nassem Staubdampf hervorbrechen und die andere Flut ihm entgegen wie eine Nymphe zu Liebeskampf und Raserei.

In Heinses Schilderungen berühren uns sehr nah die Begleitvorstellung und die korrespondierenden künstlerischen Anklänge. Die antiken Säulen, die griechischen Schönheitstrümmer im Bau der christlichen Kirchen empfindet sein feines Kultursentiment als »gefangene rührende Schönheiten«, als »Iphigenien in Tauris«.

Von Hannibalstimmung ist er in den ersten römischen Tagen besessen: »Wie Hannibal suche ich es einzunehmen, das unbändige Rom, aber es wird mir wie ihm nicht gelingen. Alsdann habe ich es wieder von seinen Höhen betrachtet und nun stürze ich mich wieder in seine Tiefe.« Am Trasimenischen See packen ihn die Geister des Ortes: »die Schlacht an meinem See ziert mir hier die Gegend ganz anders aus, als Konstantins Schlacht von Raffael den Vatikan«, und Sensibilität und Eindrucksresonanz offenbart sich in dem Satz: »die furchtbaren Wörter, die wunderbar davon noch immer übriggeblieben sind, als ponte sanguinetto (Blutbrücke), Ossaja (Knochenberg), spelonca (das Mordloch) gehen mir immer wie eine Brandfackel in die Seele«.

Intensive Witterung hat er für die Seele der Städte, aus ihrer Physiognomie liest er die Psychologie ihrer Geschichte und das Temperament ihrer Einwohner. Er fühlt die »triumphierende Lage« Roms und hat die Sensationen des Helden- und Siegergangs auf den Straßen. Venedig ist ihm ein Zufluchtsnest für »die vom Lande weggeprügelten und weggescheuchten furchtsamen Hasen, die sich nachher groß und zu geflügelten Löwen gemacht haben«. Und nie fehlt es an besonders eigengefühlten ziselierten Bildern, so wenn er den kühnen Bogen einer Brücke einen Amazonensprung nennt und die glatte Wasserfläche unter dem prallen Sonnenbrand einer »Feuerpfanne von geschmolzenem Silber« vergleicht, ein Gegenstück zu dem Jean-Paul-Bild des Coliseums, über das fahles Mondlicht wie »ätzendes Silberwasser« fließt und Tempel und Säulen in die eigenen Schatten auflöst.

Italien entbindet das eigentliche Wesen Heinses. Früher nur vage Geahntes wird ihm jetzt Gewißheit. Er erfährt an sich selbst die Wahrheit, daß man in diesen schönen Gegenden »stärker an Leib und Seele« lebt. Eine gute Schule fand er hier im Studium dessen, was auch für Goethe wenige Jahre später fruchtbar wurde: »Den Menschen zu beobachten, wo er in verschiedenen Punkten seine Vorurteile abgelegt und bloß nach seiner inneren Natur lebt.«

Gedanken über eine neue Erziehung kommen ihm hier, gegen den Begriffsdrill wenden sie sich; statt des Eintrichterns wollen sie leibhaftige Begegnung und Anschauung, und noch für unsere Gegenwart, für das »Jahrhundert des Kindes« hat es volle Bedeutung, wenn es heißt: »Ich glaube, die Hauptregel bei der Erziehung sei, den Kindern Zeit zu lassen, sich selbst zu bilden. Alle Natur, wenn sie groß und herrlich werden soll, muß freie Luft haben. Alles, was in die jungen Seelen eingetrichtert wird, was sie nicht aus eigener Lust und Liebe haben, haftet nicht und ist vergebliche Schulmeisterei. Was ein Kind nicht mit seinen Sinnen begreift, wovon es keinen Zweck ahnt, zu seinem eigenen Nutzen und Vergnügen, das verfliegt wie Spreu im Winde, und es kommt mehr darauf an, Sachen zu lernen als Worte.«

Einer Erfüllung nah kamen nun auch Heinses Jugendträume, »daß der Mensch, das endlose Geschöpf, gemacht ist, Zone von Zone zu durchwandern und mit seiner Seele Besitz zu nehmen von allem, was gut und schön ist«. Die Phantasien des Erfurter Studenten von den glückseligen Inseln voll heiter leuchtender Existenz gestalten sich zur Anschauung. Und daraus erwächst ihm die Abschlußperspektive des »Ardhingello«:

Eine Utopie steigt auf voll »Wandelns in lauter Leben«. Die griechischen Inseln sind ihre Heimat, »ein neues Griechentum blüht hier auf, die Frauen sind aber nicht Sklavinnen, sondern haben Stimme bei den allgemeinen Geschäften. Die Liebe schwingt in allerhöchster Freiheit die Flügel, jeder beeifert sich schön, und liebenswürdig zu sein, und konnte sich weder auf Geld und Gunst, noch Pflicht und Schuldigkeit verlassen. Sie machen sich die gesellschaftlichen Bürden so leicht wie möglich zu tragen, und genossen alle Wonne dieses Lebens unter dem milden Himmelsstrich bei den ersprießlichen und allgemein beliebten Gesetzen. Und das Ganze fügte sich immer lebendiger zusammen und wuchs zur reifen Schönheit.«

Der »Ardhingello« ist aber nicht auf griechischen Inseln geschrieben, sondern in Deutschland von einem widerwillig Heimkehrenden. Er hatte sein Stärkstes erlebt, und ihm kam nun nichts weiter. Die großen Entzückungen und Motionen fehlten dieser Existenz künftig. Man weiß nicht viel von den letzten Zeiten Heinses. Er wurde 1786 Lektor des Mainzer Kurfürsten, er lebte in Mainz und nach der »Freiheitsfarce« in Aschaffenburg. Er lebte mit Büchern und dem Schachspiel; er sah der Zeit leidenschaftslos zu und schrieb in ruhevollen Nebenstunden nach dem »Ardhingello« noch den Musikroman der Hildegard und den Schachroman der Anastasia, mehr beschauliche Selbstvergnügungen, Gedankengespinste eines Amateurs und Sammlers, Kataloge und Inventare innerer Besitztümer, als Kunstform einer Werkstatt.

Heinse starb 1803, 54 Jahre alt. Sein Schädel, den er dem Anatomen Sömmering vermachte, ist nach mancherlei Wandlungen in den Besitz der Senckenbergschen naturforschenden Gesellschaft zu Frankfurt am Main gelangt. Ihm ging es edler und geehrter als einem modernen Dichterschädel, ein goldenes Scharnier an der Wölbung, die aufklappbar ist, trägt die Aufschrift: Wilhelm Heinse, poeta summus.

Sein vollstes Leben und sein Schattenabstieg lassen sich zum Schluß in den Stellen spiegeln: »All mein Wesen ist Genuß und Wirksamkeit; heiter der Kopf, immer voll heller Gedanken, reizender Bilder und bezaubernder Ansichten, und das Herz schlägt mir wie einer jungen Bacchantin im ersten, ganz freien Liebestaumel.« Das ist »Ardhingellos« Lebensgefühl.

Die Stimmung des Verbannten auf den einsamen Weg aber findet sich seltsam ahnungsvoll in dem frühen Jugendwerk »Laidion« vorgedeutet, wo es von einem Menschen heißt, der »nun zu Hause wie im Gewächshaus lebt«, nachdem er die »Nachtigallen zu Venedig und die Sirenen zu Rom und Neapel hatte singen hören und die Toten erwecken sehen«.

Denn für Heinse war, wie für Goethe, wenn sich auch ihr Klima dann streng schied, das »Italienweh« das eigentliche Heimweh.


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