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Ostersamstag

Aus dem Tagebuch eines Pariser Geistlichen

Seit die Kirche vom Staat getrennt ist, will mir scheinen, als ob man uns Geistliche mit Vorliebe auf die Bühne bringt. Jeden Augenblick kommt eins von meinen Beichtkindern zu mir und fragt: Herr Abbé, darf ich in das und das Stück gehen? – Sie wissen, es kommt so ein guter Priester darin vor. – Ich schicke sie einfach weiter mitsamt ihrem guten Priester. In Anbetracht meines geistlichen Standes gehe ich ja selbst nie ins Theater, und es kommt mir wirklich nicht zu, den dramatischen Kritiker zu spielen. So pflege ich ihnen zu antworten: »Fragen Sie irgend einen vernünftigen Herrn aus Ihrem Bekanntenkreise, der in diesen Dingen kompetenter ist als ich.« Und dann machen sie ein verzweifeltes Gesicht und sagen: »Ach, Herr Abbé, wir kennen wirklich keine vernünftigen Herren.«

Die armen kleinen Dinger!

Offen gesagt, ich glaube nicht recht daran, daß die Priester so oft in dramatische Konflikte verwickelt sind, wie die Herrn Schriftsteller behaupten. Zwischen uns und unserer Zeit ist gleichsam eine Mauer aufgerichtet, an der die Wogen des Lebens sich brechen. Was bis zu uns hereindringt, ist nur das geängstete Menschenherz, das unruhige Gewissen. Das kommt zu uns und enthüllt uns alle seine Tiefen, aber das Leben der Welt, die es sonst umgibt, läßt es draußen, jenseits der Mauer.

Es ist etwas ganz anderes, wenn zwei Laien einander ihr Herz ausschütten, mögen sie auch noch so aufrichtig dabei sein, wie wenn der Laie sich dem Priester anvertraut. Wenn ich eine solche Beichte anhöre, kommt es mir immer vor, als spräche eine Seele zu mir, die sich von ihrem Körper losgelöst hat und ihn wie etwas Fremdes behandelt, beinah wie ihren Feind, – ihn anklagt, schmäht, ja manchmal geradezu Haß gegen ihn empfindet.

*

Gerade heute, am Samstag vor Ostern, muß ich daran denken. Ich sitze allein in meinem Zimmer und warte auf jemand, der seit drei Jahren regelmäßig an diesem Tage zu mir kommt. Aber diesmal scheint er sich stark zu verspäten, es hat eben schon neun Uhr geschlagen.

Als er mich zum erstenmal aufsuchte, war ich noch nicht Pfarrer in dieser reichen vornehmen Gemeinde, sondern an einer bescheidenen Vorstadtkirche in der Nähe des Pasteurschen Instituts. Meine damaligen Pfarrkinder fragten mich nicht um Rat, ob sie in irgendein Theaterstück gehen dürften, sie sprachen mir nur von der Misere ihres Lebens, vom Kampf um das tägliche Brot. Und was man Liebe nennt, war auch immer irgendwie damit verknüpft. Sie pflegten nicht in so süßen Tönen davon zu sprechen, wie meine jetzigen Schutzbefohlenen.

Ja, das sind nun drei Jahre her. Ich las nach dem Abendessen in der »semaine religieuse« und nickte beinah darüber ein, denn ich hatte den ganzen Tag im Beichtstuhl gesessen und war sehr erschöpft. Da wurde an meine Tür geklopft und mein kleiner Diener führte einen Herrn herein.

Es war schon so dämmerig, daß ich sein Gesicht nicht genau sehen konnte, aber er schien mir etwa fünfzig Jahre alt zu sein. Nicht gerade elegant, aber sehr gut angezogen. Er war sichtlich verlegen, selbst als der Junge uns allein gelassen hatte, wurde es ihm schwer, mit der Sprache herauszurücken.

»Herr Abbé – – ich habe Sie gewiß gestört. – Wirklich – wenn ich Sie störe, will ich lieber wieder gehen.«

Ich versicherte ihm, daß es nicht der Fall sei.

»Ich werde die Lampe anzünden,« sagte ich dann, »man sieht ja fast gar nichts mehr.«

Aber er faßte rasch meine Hand, als ich nach den Streichhölzern langte.

»Nein, nein, bitte nicht. – Nur kein Licht – ich möchte lieber – so mit Ihnen sprechen – im Dunkeln.«

Dann rückte er seinen Stuhl zu mir heran und begann fast atemlos zu reden:

»Herr Abbé, ich muß Ihnen gleich vorher sagen – ich bin kein gläubiger Christ – nein, ich bin sogar absoluter Freidenker und Atheist, kurz, ich stehe im größtmöglichen Gegensatz zu allem, was überhaupt Religion heißt. Ich gebe natürlich zu, daß es wirklich religiöse Menschen gibt, und betrachte sie als eine Art Phänomen, gegen das ich nichts einzuwenden habe. Nach meiner Ansicht ist das Temperamentsache. Aber ich selbst bin einfach eine irreligiöse Bestie – –«

Ich wollte ihm widersprechen, aber er ließ es nicht zu.

»Wenn Sie mich unterbrechen, kann ich nicht weitersprechen – bitte, hören Sie mich ruhig an. – Ich bin jetzt fünfundvierzig Jahre alt und Professor der Chemie an einem der ersten Institute, also was man einen Gelehrten nennt. Mein Name ist auch ziemlich bekannt. – Vor acht Jahren habe ich geheiratet, meine Frau war Studentin der Medizin, nicht gerade schön, aber ein ausgezeichneter Charakter. Sie war damals dreiundzwanzig, hatte beide Eltern frühzeitig verloren und brachte es fertig, sich und ihre kleine Schwester durch Stundengeben durchzubringen. Als wir heirateten, nahmen wir die Kleine natürlich zu uns ins Haus.

Meine Frau hat mich sehr glücklich gemacht, sie teilt alles mit mir, sogar meine Arbeit. Überhaupt ein vollkommenes Wesen – in den acht Jahren unserer Ehe sind nie die geringsten Mißhelligkeiten zwischen uns entstanden.«

Er hielt inne. Es war jetzt ganz dunkel geworden. So verflossen einige Minuten. Ich fühlte, daß er nichts mehr sagen würde, wenn ich ihm nicht zu Hilfe kam.

»Sie armer Mensch, ich ahne, was jetzt kommt,« sagte ich leise, »acht Jahre sind seitdem vergangen. – das Kind, das Sie zu sich nahmen, ist jetzt herangereift« – –

Er sprang auf und wich einen Schritt zurück.

»Wie ist das möglich?« rief er, »wie haben Sie das erraten? Ich selbst habe Monate und Monate gebraucht, bis ich es begriff. – Und Sie können sich denken, daß niemand etwas davon ahnt – vor allem das junge Mädchen selbst nicht.

Lieber würde ich meinem Leben selbst ein Ende machen. – Aber ich leide ganz wahnsinnig darunter. Stellen Sie sich mein Leben zwischen diesen beiden Frauen vor – da ist die eine, die ich nicht mehr liebe, die ich im tiefsten Sinne des Wortes vielleicht nie geliebt habe, und die andere – mein Gott, sie hat Gefühle in mir erweckt, von denen ich bisher nichts ahnte, und die mich zugrunde richten, mir nicht einen Augenblick mehr Ruhe lassen.

Ich habe ja alles versucht, darüber Herr zu werden, ich habe gearbeitet wie ein Galeerensträfling, meinen Körper durch angestrengte Übungen zu ermatten versucht – es hat mir alles nichts geholfen. Und das Schlimmste ist, daß dieses sechzehnjährige Kind in seiner Unschuld – – mich wiederliebt – ich weiß es, fühle es.«

»Sie armer Mensch,« sagte ich noch einmal.

»Es gibt Momente,« fuhr er fort, »wo ich mir sage, es ist sinnlos, dagegen anzukämpfen – ich glaube ja doch an nichts – ich weiß, daß die ganze Moral nur eine Erfindung des menschlichen Egoismus ist und nicht mehr Wert hat als irgend ein Zolltarif. Das sagt mir meine Vernunft, aber alle diese albernen Moralprinzipien sind uns eben in Fleisch und Blut übergegangen. Sie machen sich doch immer wieder geltend und überschreien die Stimme der Vernunft. Dann sage ich mir wieder: du bist ein erbärmlicher Mensch – ein Schuft. Und ich kann sie nicht zum Schweigen bringen.«

»Mein Sohn,« sagte ich jetzt, »sind Sie hierhergekommen in Gott Trost und Rat zu suchen.«

»Nein,« erwiderte er, »ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich nicht an Gott glaube. Ich bin hierhergekommen, einem menschlichen Wesen mein ganzes Elend zu klagen. Und ich habe mir gesagt, daß ihr Priester seit Jahrhunderten unzähligen Menschen Trost geboten und sie auf den Weg der Moral gewiesen habt. Das ist eine unleugbare, wissenschaftliche Tatsache. In meiner Verzweiflung bin ich zu Ihnen gekommen, weil ich nicht mehr wußte, wohin ich mich wenden sollte. Es ist Ihr Beruf, die Leidenden zu trösten und wunde Herzen zu heilen. Trösten Sie mich – helfen Sie mir.«

Und nun begann ich zu sprechen. Mein Gott, was sollte ich diesem seltsamen Büßer sagen? Unser Beruf bringt es ja mit sich, daß wir uns nur um die Seele unsrer Klienten kümmern, nicht um ihre gesellschaftliche Stellung oder äußeren Verdienste. Sicher war dieser Professor viel intelligenter und gelehrter als ich und hatte sich mehr mit dem beschäftigt, was man Psychologie nennt. Aber ich sprach zu ihm, wie ich zu meinen sonstigen Beichtkindern zu reden gewohnt bin. Wenn jemand dem Ertrinken nahe ist, denkt man ja auch nicht darüber nach, ob es ein Bettler oder ein vornehmer Herr ist, ehe man ihm zu Hilfe eilt.

Als ich zu Ende war, zündete ich die Lampe an, und diesmal ließ er es ruhig geschehen. Ich sah eine lange hagere Gestalt vor mir, das intelligente Gesicht hatte einen gequälten Ausdruck, und das Haar war völlig ergraut.

Er stand jetzt auf und sah mich mit seinen dunklen Augen an:

»Sie haben mir nicht geholfen,« sagte er vorwurfsvoll, »ich fühle mich noch eben so elend wie vorher.«

»Das können Sie noch nicht wissen,« gab ich zur Antwort. »Gehen Sie mit Gott. Vielleicht ist alles noch nicht so schlimm, wie Sie denken. Und kommen Sie wieder zu mir.«

»Nein, Sie wissen mir ja doch nicht zu helfen.«

Er war trotzig wie ein Kind. Ich legte ihm meine Hand auf die Schulter:

»Versprechen Sie mir, daß Sie spätestens in einem Jahr wieder zu mir kommen. Wenn ich Sie dann nicht wiedersehe, nehme ich an, daß Sie unterlegen sind. Aber ich habe das feste Vertrauen, daß Sie siegen.«

Er ging, ohne etwas Bestimmtes zu versprechen.

Und ein Jahr später, am Abend des Ostersamstags saß er wieder bei mir in meinem Zimmer. Er machte diesmal einen etwas veränderten Eindruck, sein ganzes Auftreten war jugendlicher und entschlossner. Und er sagte mir dann auch, daß er den Entschluß gefaßt habe, der Versuchung nicht länger zu widerstehen.

»Ich habe jetzt endlich die letzten Überbleibsel dieser kläglichen Moral in meinem Innern ausgerottet,« sagte er. »Ich liebe das Mädchen, und ich will mit ihr durchgehen.«

»Wann soll das geschehen?« fragte ich.

Er wurde etwas verwirrt.

»Nun, ich denke bald – in einigen Wochen.«

»Nein, Sie werden nicht fortgehen,« sagte ich und sah ihm fest in die Augen, »warum wollen Sie sich selbst belügen – Sie sind im Grunde ein anständiger Mensch. – Und heute in einem Jahr werden wir uns hier wiedersehen.«

Er überschüttete mich mit grausamem Spott und stieß die furchtbarsten Lästerungen aus. Dann ging er fort, ohne mir auch nur die Hand zu reichen.

Wieder verging ein Jahr, und der Ostersamstag war gekommen, als mein seltsamer Klient um die gewohnte Stunde erschien.

Diesmal war er ruhig, daß ich mich wunderte.

»Sie ist sehr krank gewesen,« erzählte er mir – »es war eine schwere Lungenentzündung. Wir hielten sie schon für verloren. Gott, was für Nächte haben wir zusammen durchgemacht, meine Frau und ich. – Aber jetzt geht es ihr besser, sie muß nur noch sehr geschont werden.«

Ich danke Gott im stillen, daß er dem jungen Mädchen zur rechten Zeit diese Krankheit gesandt hatte. Der Professor erwähnte seinen schändlichen Plan mit keinem Worte mehr. Schließlich fragte ich selbst:

»Und wie steht es jetzt mit Ihnen?«

»Für den Moment bin ich ganz abgestumpft,« sagte er, »aber doch fühle ich, daß ich noch nicht genesen bin. Ich habe eine entsetzliche Angst, daß der Kampf wieder beginnt, sobald sie ganz genesen ist.«

Als gute Freunde schieden wir voneinander, und er versprach, wiederzukommen.

Ich zweifle nicht daran, daß er sein Wort halten wird. Aber inzwischen bin ich aus meinem bescheidenen Kirchlein hierher versetzt worden, an diese vornehme Gemeinde. – Ob er mich hier auffinden wird?

Ich glaube, es hat eben an der Haustür geläutet. Das kann nur er sein.

Er war es denn auch.

Ich hätte ihn kaum wiedererkannt – ein alter, gebrochener Mann stand vor mir. Und mein erster Gedanke, den ich auch aussprach, war:

»Ist sie gestorben?«

Er schüttelte den Kopf, dann sank er müde in einen Sessel und blieb eine Zeitlang schweigend sitzen.

»Nein,« sagte er endlich. »Sie ist nicht tot. Sie lebt und ist schöner als je. Vor kurzem hat sie einen jungen Arzt aus Argentinien geheiratet, der bei mir im Laboratorium arbeitete und« – –

Tränen erstickten seine Stimme, und unter heftigem Schluchzen brachte er hervor:

»Jetzt ist er mit ihr in seine Heimat zurückgekehrt.«

Ich ergriff seine zitternde Hand und sagte:

»Mein Sohn, ich glaube, Sie haben diese Heirat zustande gebracht.«

»Ja,« sagte er leise, »das hab ich getan. – Sie hat mir gestanden, daß sie mich liebte. – Sie wird mit ihrem Mann nicht glücklich sein, und ich bin ein gebrochener Mensch.«

»Und alles das ist Ihr Werk.«

Ich dachte, er würde mich mit Vorwürfen überhäufen wie das letzte Mal. Aber er hatte die Wahrheit gesagt: er war völlig gebrochen. Und nun legte er die Stirn auf meine Hände und weinte lange.

Wir sprachen kein Wort mehr, bis er aufstand, zu gehen, und sich nervös die Augen trocknete.

»Leben Sie wohl,« war alles, was er sagte. Aber an der Schwelle blieb er noch einmal stehen und stammelte:

»Wenn Sie nichts dagegen haben, komme ich nächstes Jahr wieder.«

»Kommen Sie morgen.«

»Nein, morgen nicht, aber bald.«

Ich wußte sehr wohl, daß er nie wiederkommen würde.


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