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Gestern abend hatte ich bei einer Gesellschaft Madame de Sénanges als Tischnachbarin.
Nach Pariser Begriffen ist Madame de Sénanges noch eine junge Frau, daß heißt, ihr Alter mag sich so um fünfunddreißig herum bewegen, man weiß es nicht genau. In diesem Punkt ist man in Paris bekanntlich sehr höflich. Und sie vermag ihr Geheimnis besser zu wahren als manche andere, sie ist schlank und graziös, ihr Gesicht zeigt nicht das leiseste Fältchen, und ihre Haare sind von einem Dunkelblond, das nicht leicht ergraut. Zudem versteht sie sich ausgezeichnet auf alle die Künste, mit deren Hilfe die Pariserinnen das Alter fast bis zu ihrem Tode abzuwehren wissen. Sie ist immer tadellos gekleidet und frisiert und weiß jede Eigenart ihres Typs durch ihre Toilette zur Geltung zu bringen.
Seit zwei Jahren war ich ihr nicht mehr in der Gesellschaft begegnet. Dazumal hatte man sie überall getroffen, sie gehörte zu den Pariser Damen, die so viel mitmachen, daß man glauben könnte, sie tauchten zu gleicher Zeit an den verschiedensten Orten auf. Tagsüber sah man sie bei den Rennen, in den Ausstellungen, bei allen möglichen Raouts und Tees und abends in Premieren, bei Diners und andern Festlichkeiten. Und dieses aufreibende Dasein hielt das zarte Persönchen etwa zwölf Jahre lang aus, ohne daß man ihr jemals etwas von Ermüdung anmerkte. Nur war sie in der letzten Zeit noch schlanker geworden.
Und dann plötzlich war Madame de Sénanges von der Bühne des gesellschaftlichen Lebens verschwunden. Man merkte es anfangs nicht einmal, und die Zeitungsberichte nannten noch eine Zeitlang ihren Namen weiter, wenn von offiziellen Festlichkeiten die Rede war.
Am Neujahrsabend hatte sie Paris verlassen, und es hieß, sie sei mit ihrem Mann nach dem Süden gegangen. Genaueres wußte niemand darüber.
Der Mann kam vier Wochen später allein zurück. Übrigens ist er ein ganz netter Mensch mit tadellosem Benehmen und gilt für einen ziemlichen Lebemann.
Als man sich nach seiner Frau erkundigte, sagte er nur:
»Sie ist etwas angegriffen, und der Arzt hat ihr geraten, noch einige Zeit im Süden zu bleiben.«
So verging der Winter, dann das Frühjahr, und man gewöhnte sich allmählich daran, Sénanges ohne seine Frau zu sehen. Man fragte nur selten mehr nach ihr, da er etwas ausweichend zu antworten pflegte. Und mit der Zeit geriet die reizende kleine Frau mit dem dunkelblonden Haar völlig in Vergessenheit. In Paris werden ja Menschen wie Dinge so rasch vergessen, wenn man sie nicht täglich vor Augen hat. Selbst die Reporter pflegten ihren Namen nicht mehr gewohnheitsmäßig mitzunennen, wenn sie über die Veranstaltungen der großen Welt berichteten.
Als ich mich nun gestern neben ihr an der mit Rosen und Azaleen geschmückten Tafel niederließ, war denn auch das erste, was ich sagte:
»Es ist wirklich schon eine Ewigkeit her, gnädige Frau, seit ich zuletzt das Vergnügen hatte, Sie zu sehen.«
Sie antwortete nicht gleich, sondern sah mich mit einem Blick an, den ich an ihr noch nicht kannte, viel ernster als früher und dabei leicht ironisch. Dann sagte sie:
»Geben Sie nur ruhig zu, daß Sie sich eben erst wieder an mich erinnerten, weil Sie mich zufällig hier trafen. – Nein, keine Redensarten – ich finde es ja ganz selbstverständlich, daß man Leute vergißt, die man nicht mehr sieht. In Paris hat man an so viel andre Dinge zu denken.«
»Ich kann Ihnen aber versichern, gnädige Frau, daß Paris sich sehr bald wieder mit Ihnen beschäftigen wird, um so mehr, als Sie noch schöner und jünger zurückgekehrt sind, wie Sie uns verlassen haben.«
Darauf sagte sie nur:
»Ja, es geht mir auch viel besser.«
Ihr Nachbar zur Rechten richtete jetzt das Wort an sie, und sie plauderte eine Zeitlang mit ihm, während ich mich ebenfalls der Dame, die links von mir saß, widmete. Sobald ich Gelegenheit fand, unser Gespräch wieder anzuknüpfen, fragte ich:
»Waren Sie denn leidend, gnädige Frau?«
»Ja, sogar sehr krank.«
»Neurasthenie?«
»O nein, die Sache war viel ernster. Ich fühlte mich anfangs nur etwas matt und magerte sehr ab. Man behandelt mich aufs Geratewohl, bis man schließlich darauf kam, daß ich in Tuberkulose machte, wie unsre modernen Ärzte sagen. Dann wurde ich schleunigst nach Malvezin bei Lausanne ins Sanatorium geschickt. Und da bin ich anderthalb Jahre geblieben.«
»Aber es hat Ihnen geholfen?«
»Ja, ich bin jetzt vollkommen wiederhergestellt.«
»Und wir werden Sie hoffentlich wieder bei allen Festlichkeiten zu sehen bekommen?«
»O nein.«
Das kam entschieden so von Herzen, daß ich wohl fühlte, es war ihr Ernst.
»Müssen Sie sich denn noch sehr schonen?«
»O kaum, das würde mich nicht hindern, wieder so zu leben, wie ich es früher tat. Aber glauben Sie mir, ich habe gar keine Lust mehr dazu.«
Auf der andern Seite des Tisches wurde jetzt so laut gelacht, daß wir nicht weitersprechen konnten. Einer von den Gästen, übrigens ein geistreicher Mensch erzählte eine skandalöse Anekdote. Ganz Paris kannte die Namen der Beteiligten, und er gab sich auch gar keine Mühe, sie zu verheimlichen. Als er geendet hatte und das Gelächter, sich wieder legte, fuhr Madame de Sénanges fort:
»Sehen Sie, lieber Freund, man braucht nur eine solche Anekdote zu erzählen, wie jetzt eben, so fühle ich schon, daß ich nicht mehr ›auf der Höhe‹ bin, wie man zu sagen pflegt. Nicht, daß ich inzwischen prüde geworden wäre. Aber ich interessiere mich absolut nicht mehr für all dies überflüssige, künstliche Getu, das früher meinen Lebensinhalt bildete; und seit ich wieder hier bin und das alles wieder mit ansehe und anhöre, konstatiere ich fortwährend, daß ich ganz anders geworden bin. Ich komme mir in dieser Umgebung vor wie eine Fremde, wie ein Eindringling.«
Die Tafel wurde aufgehoben, ich bot Madame de Sénanges den Arm und führte sie in den Salon. Statt den Herren in das Rauchzimmer zu folgen, bat ich sie um Erlaubnis, mich noch etwas mit ihr unterhalten zu dürfen. Sie lächelte.
»Sie amüsieren sich wohl über das, was ich Ihnen vorhin gesagt habe. Und wahrscheinlich denken Sie: Aha, das ungewohnte Pariser Treiben macht die kleine Frau nervös, nachdem sie so lange in der Stille gelebt hat, Und nun bildet sie sich ein, ihr Innenleben wäre ein andres geworden, aber ich möchte wetten, in sechs Wochen treibt sie es wieder ebenso toll wie in früheren Zeiten. – Gestehen Sie nur, daß ich Ihre Gedanken erraten habe.«
Ich mußte ebenfalls lächeln, während ich erwiderte:
»Nein, ich habe mich in Gedanken jedenfalls anders ausgedrückt.«
»Aber gedacht haben Sie es doch. Und Sie sind wirklich im Irrtum. – Ich werde nie wieder so werden, wie ich damals war. Und ich möchte gerne, daß Sie mich verstehen.
– – Stellen Sie sich nur einmal vor, wie ich damals abreiste. Am Abend vorher hatte ich mich ganz ruhig schlafen gelegt, ich fühlte mich etwas angegriffen wie immer, aber ich dachte gar nicht daran, daß mir etwas Ernstes fehlen könnte. Beim Aufwachen spürte ich etwas im Halse, ich hustete, um es loszuwerden, und fühlte plötzlich einen salzigen Geschmack im Munde – es war Blut. Natürlich großer Schrecken, – es wurde sofort nach dem Arzt telephoniert. Er untersuchte mich und verlangte, ich solle sofort nach Malvezin fahren.
Von dem Moment an war mein bisheriges Leben plötzlich wie ausgelöscht. Sie können sich denken, daß ich nicht einmal mehr Zeit hatte, alle möglichen Verabredungen rückgängig zu machen. Ich mußte dabeisitzen, wahrend meine Koffer eingepackt wurden, und am Abend um neun Uhr fuhr ich mit meinem Mann ab. Den nächsten Morgen um zehn war ich schon im Sanatorium, hoch oben in den Bergen, bei strahlendem Sonnenschein und zwölf Grad Kälte.
Tags darauf fuhr mein Mann wieder ab. In den anderthalb Jahren hat er mich viermal besucht und blieb jedesmal nur einen Tag.
Diese plötzliche Veränderung, die neue Umgebung und die völlig ungewohnte Lebensweise, alles das stimmte mich natürlich nachdenklich. Aber was meine Stimmung am meisten beeinflußte, war der Gedanke an den Tod.
Haben Sie nur keine Angst, daß ich mich in schönen Redensarten ergehen will. O Gott, nein! Aber stellen Sie sich nur vor, wie der Gedanke, sterben zu müssen, auf das Gemüt einer kleinen Pariserin wirkt, die immer nur an das Leben gedacht hat – und an was für ein Leben! Und von jenem furchtbaren Morgen an mußte ich nun fortwährend an die dunkle enge Grube denken, die uns alle einmal aufnehmen wird – früher oder später. – Zum erstenmal war diese Vision vor mir aufgestiegen, als ich am Abend der Abreise mein Zimmer verließ. Einige meiner Bekannten hatten mir Blumen geschickt, und unwillkürlich kam mir der Gedanke: ›ob ich dieses Zimmer wohl jemals wiedersehe? – vielleicht sind diese Blumen die letzten, deren Duft ich einatme.‹
Nachher, unter dem Einfluß des regelmäßigen Lebens im Sanatorium wurde ich etwas ruhiger, und doch war es unmöglich, sich der trüben Gedanken zu erwehren. Stellen Sie sich vor, daß Woche für Woche einer oder der andre von den Patienten, der im gleichen Zustand wie man selbst hergekommen war, von denselben Sorgen und Hoffnungen erfüllt – plötzlich verschwunden ist. Mein Gott, da kommt man schließlich dazu, über den Wert und über die Vergänglichkeit des Daseins nachzudenken.«
»Sie haben sich damals wohl sehr unglücklich gefühlt?« fragte ich.
»Die erste Zeit ja, – dann wich die Traurigkeit allmählich von mir, und mir war nur sehr ernst zumute. Die Nervosität, die mich in Paris so gequält hatte, ließ nach, und ein Gefühl von tiefer Ruhe kam über mich. – Ich tat, was ich konnte, wieder gesund zu werden, aber ich hätte mich auch in mein Schicksal ergeben, wenn es anders gekommen wäre. Und aus dem Gefühl meines eignen Elends heraus lernte ich Mitleid mit den andern empfinden.
Wissen Sie, was mich am meisten wunderte? Daß ich mich so gar nicht nach meinem Pariser Leben zurück sehnte. Im Gegenteil, wenn ich daran zurück dachte, kam es mir so entsetzlich schal und nichtig vor. Mir wurde klar, daß diese Art zu leben, wie ich es früher getan hatte, ein ungeheurer Irrtum ist. Wir suchen ja nur uns durch fortwährende Zerstreuungen zu betäuben, uns selbst zu entfliehen, wir wollen nicht fühlen, daß wir leben.
Und dort oben in meinen Schneebergen fühlte ich zum erstenmal, daß ich lebte, ich lernte das bloße Dasein an sich als Genuß empfinden – ohne alle Surrogate der Zivilisation.
Bis dahin hatte ich überhaupt nicht gewußt, was inneres Gleichgewicht ist. Daß ich es nun endlich gefunden habe, rechne ich mir natürlich nicht zum Verdienst an, die Umwandlung hat sich ganz von selbst in mir vollzogen. Mein Herz und mein Empfinden ist allmählich gesund geworden, gerade wie meine Lunge – unter dem Einfluß eines regelmäßigen Lebens in Ruhe und Einsamkeit.«
»Und Sie glauben, daß dieses innere Gleichgewicht hier in Paris nicht wieder ins Schwanken geraten wird?«
»O nein, das wird es nicht. Ich wundere mich ja selbst darüber, denn ich hatte wirklich etwas Angst, ich möchte hier wieder in die alte Bahn hineingeraten. Und das wäre sehr schlimm gewesen, nachdem ich eingesehen habe, daß es die falsche für mich ist.
Es hat nicht lange gedauert, bis ich mich darüber völlig beruhigen konnte. – Mir ist, als sei ein Schleier von meinen Augen genommen.
Es ist mir ganz unmöglich, diese Art Leben, wie mein Mann es führt, wieder mit ihm zu teilen. Er möchte ja gerne, daß ich es täte, und um ihn nicht zu kränken, werde ich ja auch hier und da mit ihm in Gesellschaft gehen. – Aber mir ist dabei zu Mute, wie einem faulen Beamten in seinen Bureaustunden – er wird tun was er kann, sich möglichst bald wieder drücken zu können. – Sie sehen ja selbst, ich habe sogar den richtigen Gesellschaftston ganz verlernt, und ich fürchte, ich werde nicht immer liebenswürdige Zuhörer finden wie Sie.«
– Aber jetzt kam der Herr des Hauses auf uns zu und sagte: »Schau, schau – mir scheint dieser Flirt hat jetzt wirklich lange genug gedauert.«