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Es ist noch eine alte Angewohnheit aus meiner Pensionszeit bei der guten Madame Rochette, daß ich am Weihnachtsabend mein Tagebuch wieder hervorhole und mich ein Weilchen mit mir selbst unterhalte. Nach meinem Gefühl ist das Jahr mit Weihnachten zu Ende, und das neue fängt erst am dritten Januar wieder an. In der Zwischenzeit kommt es mir vor, als stünde ich am Bahnhof und wartete auf den Zug. Die Leute kommen und gehen sind mit Paketen beladen und haben es alle sehr eilig. In dieser Zeit lebt man überhaupt nicht, man hat alle möglichen Dinge rasch noch zu erledigen und andere vorzubereiten. Es ist so eine Art Inventuraufnahme, und die Zeit steht still, bis sie vorüber ist.
Schon als Backfisch hatte ich einen gewissen Sinn für methodisches Vorgehen und pflegte alles, was ich zu tun vorhatte, auf diesen Zeitpunkt zu verschieben. Keine Macht der Erde hätte mich vermocht vor dem 26. Dezember einen Brief zu schreiben oder irgend eine Arbeit anzufangen. Und am 25. reservierte ich mir den ganzen Nachmittag, um darüber nachzudenken, wie ich das vergangene Jahr verbracht hatte, um mein Gewissen zu prüfen und zu überlegen, was ich im kommenden Jahr vornehmen wollte. Gott, war ich damals, so zwischen dreizehn und sechzehn Jahren – ein komisches Gemisch von Mystizismus und praktischem Sinn. Bei aller Schwärmerei war ich immer darauf bedacht, mir das Leben möglichst angenehm zu gestalten, und hatte eine förmliche Ordnungsmanie. Meine Hefte mußten immer sauber aussehen, Kleider und Wäsche tadellos gehalten werden.
Als ich dann älter wurde, verflüchtigte sich der Mystizismus immer mehr. Die Schwärmerei gewöhnt man sich wirklich mit der Zeit ab, wenn auch ein gewisser Hang zur Sentimentalität zurückbleibt. Die Ordnungsmanie dagegen hat sich immer mehr gesteigert, je größer das Gebiet wurde, in dem ich zu schalten hatte. Jetzt bin ich sechs Jahre verheiratet, und ich kann wirklich ohne Übertreibung behaupten, daß in meinem Hause alles am Schnürchen geht. Vielleicht liegt es auch zum Teil daran, daß mein Mann geradezu unglaublich gedankenlos, zerstreut, vergeßlich und leider auch einigermaßen phantastisch veranlagt ist.
Der Leser möchte daraufhin am Ende glauben, ich hätte einen Künstler geheiratet? Ach nein – wenn Ferdinand Schriftsteller oder Schauspieler wäre, hätte ich noch eher Aussicht, daß er sich in einen sparsamen, ordnungsliebenden Normalmenschen verwandelte. Das soll ja neuerdings unter den Künstlern Mode sein, hab ich gehört.
Aber er ist Rechtsanwalt – und er ist nicht etwa Spezialist für Sensationsprozesse oder pikante Scheidungsgeschichten, sondern für Geschäftsangelegenheiten – äußerst komplizierte und für jeden Nichteingeweihten völlig unverstandene Geldgeschäfte und dergleichen. Aber in diesen Dingen bewegt er sich wie ein Weißfisch in der Seine, vergißt nichts, verwechselt nichts – kurz, er ist einzig in seiner Art, und man reißt sich um ihn. Allerdings hat er zwei Sekretäre, und ich glaube, sie bringen ihre ganze Jugendzeit damit zu, seinen Papieren nachzujagen, denn was seine Privatkorrespondenz betrifft, für die er keinen Sekretär hat – o armer Ferdinand.
Überall treiben sich seine Briefe herum, auf Stühlen und Kaminsims, in Büchern und abgelegten Kleidungsstücken. Ich habe wahrhaftig gar keine Neigung zum Spionieren, aber ich habe mir wohl oder übel angewöhnen müssen, alles abzusuchen, damit seine Privatkorrespondenz nicht fortwährend den Dienstboten in die Hände fällt.
Nein, gar keine Neigung zum Spionieren. – Ich bin viel zu vernünftig, mir selbst unnötigerweise Schmerzen zu bereiten. Schon seit drei Jahren weiß ich mich mit allem abzufinden, womit eine junge Frau sich abfinden muß.
Mein Mann ist herzensgut, er liebt mich zärtlich, es läßt sich reizend mit ihm leben – er hat nur einen Fehler, er ist sehr hübsch und hat viel Glück bei Frauen. Er kann auch ohne das nicht leben. Die ersten drei Jahre unserer Ehe hat er sich ja die größte Mühe gegeben, diese Neigung zu bekämpfen. Dann, während ich mein erstes Baby stillte, ließ er sich zum erstenmal gehen und fing ein kleines Techtelmechtel mit einer hübschen Ausländerin an, die ich unvorsichtigerweise selbst zum Verkehr herangezogen hatte. – Als sie glücklich wieder in Amerika war, hatte ich zwei Jahre lang Ruhe. Es gab nur einen unbedeutenden Flirt mit einer kleinen Schauspielerin. Wieder war es meine eigne Schuld, ich hatte eine Aufführung bei uns im Hause veranstaltet.
Aber im letzten Jahr ist die Sache weit schlimmer geworden, und ich habe manche schwere Stunde durchgemacht. Denkt euch nur, bei irgend einem Prozeß um Terrains und Häuser hat Ferdinand eine junge Witwe als Klientin – sie ist wirklich reizend, ich hab sie selbst gesehen, und die beiden haben nach Kräften miteinander kokettiert. Und nun stellt euch vor, daß ich die ganze Sache wider Willen bis ins kleinste Detail verfolgen mußte, und zwar nur, weil mein teurer Gatte so unerhört zerstreut und unordentlich ist. Petits bleus, an ihn Billetts, an sie: meine süße kleine Lucile, – Gegenstände, die auf Rendez-vous hindeuten, wie zum Beispiel einen Schildpattkamm in seiner Tasche und so weiter. Und alles das muß ich zusammensuchen und beiseite schaffen. Meinetwegen will ich alles über mich ergehen lassen, wenn nur sonst niemand darum weiß.
Und wenn ich nicht auf diese Weise immer alles schon wüßte, so würde ich es einen schönen Tages von Ferdinand selber erfahren. Er gehört zu den Männern, die »beichten«. Wenn ein Abenteuer zu Ende ist, »kehrt er zu mir zurück« und erzählt mir alles. Und seine Offenherzigkeit ist manchmal eine Qual für mich. Aber, wenn »sie« es mit anhörten, müßte ich mich wirklich gerächt fühlen. Er spricht darüber wie ein Spieler, den man ausgeplündert hat, von der Spielhölle, und immer ist er es, der die Geschichte zuerst müde wird.
So kommt denn auch immer bald der Moment, wo diese Teilung seines Herzens ihn anwidert. Und dann macht er Schluß, er behauptet ja selbst, daß er ganz außerstande wäre, sich zu verstellen. Und er hat mir sogar erzählt, wie er das zu machen pflegt. Er schickt der betreffenden Dame – je nachdem – einen Scheck oder ein Schmuckstück und schreibt folgendes Billett dazu:
»Mein liebes Kind, ich habe leider das Gefühl, daß unsre Liebe dir nichts mehr bietet und du dich nach einer Veränderung sehnst.
Glaube mir, der Abschied fällt mir unendlich schwer, aber ich habe zu viel Achtung vor deinem Charakter usw. usw.«
Das scheint denn auch tatsächlich zu wirken, und die betreffende Dame hält sich nicht für die verlassene Ariadne, sondern für eine unbeständige Helena.
»Und das dulden Sie?« höre ich fragen. O ja, ich dulde es, wenn ich auch bitter darunter leide. Mein Mann hat nun einmal diese schwache Seite, und ich wüßte wirklich nicht, wie ich ihn daran hindern sollte. Ebensowenig, wie man einen Spieler hindern kann, immer wieder zu spielen.
Oder soll ich mich etwa von ihm scheiden lassen? Gut, – schön – aber erst dann, wenn ich mich danach sehne, den Rest meines Lebens in trostloser Einsamkeit zu verbringen.
Einstweilen ziehe ich es noch vor, nur hier und da eine traurige Stunde zu haben, wenn ich auf meinen lieben Treulosen warte – und er kommt ja doch immer wieder zu mir zurück.
Ach nein, wenn man sechs Jahre lang zusammen glücklich gewesen ist und seinen Mann immer noch lieb hat, ich glaube, es gibt keine Frau, die da nicht hier und da ein Auge zudrücken würde.
Also, gestern war Weihnachtsabend. Mein Mann, der trotz seines phantastischen Gemüts sehr auf gute alte Traditionen hält, hat den Abend mit mir zusammen gefeiert.
Und wir machen uns dann den Spaß, uns dann gegenseitig allerhand kleine Geschenke im Kamin zu verstecken. – Deutet das nicht geradezu auf eine musterhafte Ehe hin?
Nun, und was habe ich diesmal im Kamin meines Zimmers gefunden? Ein Etui mit einer wundervollen Gürtelschnalle und dabei ein Briefchen, das also lautete:
»Meine süße kleine Lucile, ich habe leider das Gefühl, daß unsere Liebe dir nichts mehr bietet, und daß du dich nach einer Veränderung sehnst. Glaube mir, es fällt mir unendlich schwer,– –«
Nun, Ihr könnt euch denken, daß ich im ersten Augenblick ganz starr war – einen Moment hab ich wirklich geglaubt, mein Mann wolle mir mitteilen, daß er mit mir zu brechen gedächte. Aber der Name Lucile beruhigte mich wieder – ich heiße nämlich Helene. – Zweifellos galt dieser Abschiedsbrief unsrer reizenden Klientin. Nur hatte mein zerstreuter Gatte die Weihnachtsgabe für seine legitime Frau und die für – – die andere miteinander verwechselt, und das Briefchen war mir zugefallen.
Soll ich euch sagen, was ich getan habe? Ich steckte es einfach in ein Kuvert und schrieb die Adresse der rechtmäßigen Empfängerin darauf – die mir – leider – bekannt ist.
Das Mädchen hat den Brief gleich einstecken müssen, so daß sie ihn morgen auf ihrem Frühstückstisch finden wird.
*
Als wir dann zusammen bei unserm Festmahl saßen, fragte mein Mann:
»Nun, Liebling, wie hat dir mein Geschenk gefallen?«
»Mehr als ich dir sagen kann,« antwortete ich. »Seit wir verheiratet sind, habe ich mich über kein Weihnachtsgeschenk so gefreut wie über dieses.«
Ich hatte die Schnalle schon an meinem Gürtel.
Ferdinand betrachtete sie mit sichtlichem Wohlgefallen.
»Sie ist wirklich sehr hübsch,« sagte er »und sie steht dir glänzend.«
Sicher hatte er schon längst vergessen, für wen von uns beiden er sie bestimmt hatte. – Oder – und das halte ich beinah für wahrscheinlicher – er hat uns beiden die gleiche geschenkt.