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Wir saßen zusammen und plauderten über das Schamgefühl, wie man eben unter Männern über solche Dinge redet.
Die meisten wollten es überhaupt ableugnen, selbst bei Frauen. Einer meinte, nur eine häßliche Frau könne es erfunden haben, ein andrer, es sei nur Sache der Erziehung. Das tugendhafteste kleine Mädchen vom Lande – wenn es statt dessen in der Rue Caulaincourt zur Welt gekommen wäre, würde es gerade so vergnügt im Moulin Rouge Cancan tanzen wie die andern. – Was die Männer betrifft, so waren alle sich darüber einig, daß das Schamgefühl ihnen völlig fremd sei, wenigstens in bezug auf sich selbst.
Welcher Mann würde sich auch nur einen Augenblick genieren, in Adamskostüm die Champs-Elysées entlang zu spazieren – vorausgesetzt, daß es keine Polizei gäbe. Ein junger Gelehrter aus unserm Kreise zog eine geistreiche Parallele zwischen dem Ehrgefühl des Mannes und dem Schamgefühl bei Frauen. Er meinte, jede dieser Empfindungen sei eben nur dem einen Geschlecht eigentümlich und für das andere überflüssig und unverständlich.
Aber unser Freund Berthold erklärte sich damit nicht einverstanden. Er sei nicht prüder als die andern, und wir wüßten alle, daß er gar kein Duckmäuser sei, wenn es darauf ankomme. Aber trotzdem wäre ihm das Schamgefühl durchaus nicht fremd. Er versuchte es zu definieren, uns klar zu machen, wie er es meinte. Aber wir konnten uns nicht darüber einigen und schlugen ihm vor, er solle es uns durch irgend ein Beispiel erläutern. Und da erzählte er uns dann folgende Geschichte.
Es ist noch gar nicht lange her – damals als ich nach den Septemberjagden aus dem Süden zurückkam. In Bordeaux wechselte ich den Zug und nahm den Nacht-Expreß, der von Spanien kommt. Ich hatte mir schon im Voraus einen Platz im Schlafwagen bestellt – oder vielmehr zwei Plätze, denn ich wollte allein sein und hatte eine ganze Kabine gemietet. Das ist zum Beispiel auch ein Punkt, in dem ich schamhaft empfinde, ein entkleideter Mann ist mir etwas Schreckliches. Und ehe ich mich neben einem dicken, schwitzenden Kerl, der womöglich auch noch schnarcht, schlafen lege, fahre ich lieber einhundert Kilometer im Gepäckwagen.
Da nun diese Frage glücklich gelöst war, sah ich mit egoistischem Behagen zu, wie die übrigen Reisenden den Schlafwagen belagerten, die fünf oder sechs verfügbaren Plätze waren im Nu vergriffen, und wer keinen mehr erwischt hatte, mußte sich grollend zurückziehen.
Ich ging auf dem Perron auf und ab und wartete auf die Abfahrt des Zuges. Da kam der Schaffner des Schlafwagens auf mich zu, in Begleitung einer Dame. Sie war groß, schlank und recht hübsch, – besonders fiel mir das üppige, kastanienbraune Haar auf. Die Dame blieb in einiger Entfernung stehen, sah mich prüfend an, und ich hörte, wie sie zu dem Schaffner sagte: das ist der Herr, sprechen Sie mit ihm.
Der Mann trat an mich heran und sagte:
»Entschuldigen Sie, mein Herr, die Dame reist allein und hat kein Bett mehr bekommen. Sie läßt Sie ersuchen, ob Sie ihr nicht Ihren Platz abtreten wollen.«
Ich gab zur Antwort, es täte mir unendlich leid, aber ich könne darauf nicht eingehen.
Er teilte ihr meine Antwort mit, und nun kam sie selbst auf mich zu.
»Ich glaube, der Schaffner hat sich nicht ganz deutlich ausgedrückt,« erklärte sie mir ohne alle Verlegenheit – »ich hörte, daß Sie zwei Plätze für sich allein genommen haben, und da wollte ich Sie bitten, mir einen davon zu überlassen.«
Dabei sah sie mir gerade ins Gesicht, und ihr Blick berührte mich eigentümlich. Übrigens sprach sie mit etwas englischem Akzent, und ich taxierte sie auf jenen merkwürdigen Typ von kosmopolitischen jungen Damen, die allein in der Welt herumfahren und von denen man nie recht weiß, wie es um ihre Tugend bestellt ist.
So dachte ich denn: »das wird wohl eine schlaflose Nacht geben und womöglich ein kostspieliges Vergnügen sein.« Aber so einen günstigen Zufall weist man doch nicht von der Hand – nicht wahr?
»O, dann ist es natürlich etwas anderes,« erwiderte ich –, »es wird mir ein Vergnügen sein.« –
Ich konnte nicht umhin, zu lächeln, aber sie schnitt mir einfach das Wort ab und sagte in ernstem Ton:
»Selbstverständlich rechne ich auf Ihren Takt und Ihre Diskretion. Ich werde zuerst in die Kabine gehen und mich ins Bett legen, sobald der Zug im Fahren ist. Ich bitte Sie, mir erst zu folgen, wenn alle Mitreisenden sich niedergelegt haben. Entschuldigen Sie, daß ich Sie so in Anspruch nehme, und haben Sie besten Dank.«
Dann reichte sie mir die Hand und nannte mir ihren Namen: Miß Ethel Dawson aus Paris. Und ich stellte mich ebenfalls vor: Berthold Dartiguelongue aus Paris. Worauf sie mir kameradschaftlich zulächelte und verschwand.
»Nun, das könnte man immerhin ein Abenteuer nennen,« dachte ich, als sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte und ich im Korridor auf und ab schritt. Eine Tür nach der andern schloß sich, und die Lampen wurden ausgelöscht. Als niemand mehr zu sehen war, trat ich in meine Kabine. Mir war zu Mute wie einem Bräutigam, nur der vielsagende Blick und das Grinsen des Schaffners störten mich etwas. Miß Ethel hatte das untere Bett genommen, und lag schon in tiefem, ruhigem Schlaf. Sie sah jetzt viel jünger aus als vorher, in ihrem Nachthemd aus lila Batist, das am Halse geschlossen war. Ihre Kleider lagen sorgfältig zusammengelegt am Fußende des Bettes, das Korsett hatte sie in einen Unterrock eingewickelt. Das Ganze hatte etwas so Amüsantes und Nettes. Ich empfand wirklich nur das keusche Verlangen, sie auf die Stirn zu küssen ohne sie zu wecken. Und ich muß gestehen, der Gedanke, mich dicht neben ihrem Bett auszuziehen, war mir entsetzlich peinlich. Wenn sie nun plötzlich aufwachte und sähe mich in Unterhosen oder im Nachthemd dastehen.
»War das nun Schamgefühl oder nicht?«
»Umgekehrt – das Gefühl, daß Miß Ethel sich schämen würde,« bemerkte jemand aus der Gesellschaft.
»Nun, das kommt doch auf eins heraus. Allzu subtil wollen wir denn doch nicht werden. Soviel steht jedenfalls fest: ich kletterte völlig angezogen in mein Bett hinauf, kleidete mich dort mit größter Vorsicht aus und gab mir alle Mühe, auch nur das leiseste Geräusch zu vermeiden, damit sie nicht aufwachte. Übrigens war ich ziemlich schlechter Laune und wünschte alle Abenteuer zum Teufel.
Am nächsten Morgen gegen sechs Uhr weckte mich ein leises Rascheln unter mir, Miß Ethel erhob sich. Das wäre nun doch eigentlich der Moment gewesen, wo ich mich ein bißchen für meine Gefälligkeit hätte belohnen dürfen, nicht wahr? Aber wollt Ihr mir glauben, daß ich tatsächlich nicht den Mut hatte. Ich verkroch mich in meine Ecke, ohne auch nur einen Augenblick hinzuschielen, ja, ich hatte förmlich Angst davor, sie im Negligé zu sehen. Mir war ganz beklommen und nervös zumut, und ich atmete erst auf, als sie die Kabine verlassen hatte.
Dann stand ich rasch auf und zog mich an. Eine Viertelstunde später saßen wir gemütlich in unserer Kabine, die Betten waren weggeräumt, und es sah jetzt wieder aus wie ein gewöhnliches Coupé. Miß Ethel plauderte in aller Seelenruhe mit mir, sprach über Bordeaux und Paris, über das Wetter und über Reisen. Es war das richtige, unbedeutende Geschwätz eines jungen Mädchens, aber ganz nett anzuhören.
Dann kamen wir in Paris an. Ein rotblonder Jüngling erwartete sie am Bahnhof und schloß sie zärtlich in die Arme. Nachdem er sie auf beide Wangen geküßt hatte, wendete sie sich nach mir um und stellte uns vor.
»Mein Verlobter, Monsieur Clarke – Monsieur Dartiguelongue.« – Der Herr war so liebenswürdig, seine Kabine mit mir zu teilen.
Der rotblonde Jüngling schüttelte mir die Hand. Ich war so baff, daß ich wirklich nichts zu sagen wußte. Die beiden zogen dann Arm in Arm ab, und ich habe sie nie wiedergesehen.«
»Nun, was meinen Sie zu dem Fall, Herr Professor?«
Und der junge Gelehrte antwortete ganz ernsthaft: »Nach meiner Ansicht waren Sie in jener Nacht sehr müde, und Müdigkeit mag bei einem Mann vielleicht eine besondere Form von Schamhaftigkeit darstellen.«