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Das Tandem

»Zweifellos ist der Sport für gesunde Menschen von großem Wert,« sagte Doktor Garnier. »Ich glaube sogar aus eigner Erfahrung, daß er unter Umständen einem Kranken das Leben retten kann. Mir ist da vor einiger Zeit ein ganz merkwürdiger Fall vorgekommen.«

»Aha, eine Anekdote,« meinte einer von den Zuhörern und goß sich ein Glas Kognak ein.

»Nun ja, Sie können es auch eine Anekdote nennen,« antwortete der Doktor jovial.

»Vor vier Jahren, um die Weihnachtszeit, besuchte ich meinen Freund und Kollegen William Scott drüben in England. Er wohnte in einer kleinen Stadt, nicht weit von London und hatte sich dort eine gute Praxis erworben. Übrigens war er Witwer, und von seinen fünf Töchtern waren schon zwei an der Schwindsucht gestorben, die ja dort drüben jenseits des Kanals so zahlreiche Opfer fordert.

Die beiden jüngsten waren Zwillingsschwestern, zwei blühende Kinder von neun Jahren, die älteste mochte etwa neunzehn zählen, und auch sie zeigte schon charakteristische Symptome der schrecklichen Krankheit. Die schönen blauen Augen waren allzu groß und hatten einen verdächtigen Schimmer, und ihre blühende Farben vermochten den Blick des Arztes nicht zu täuschen.

Ada Scott war mit einem jungen Ingenieur verlobt, ob und wann er sich mit seinem Beruf beschäftigte, ist mir nie klar geworden, denn er war ein rabiater Sportsmann und brachte anscheinend sein halbes Leben damit zu, mit seiner Braut Tandem zu fahren.

Was meinen alten Freund William Scott betrifft, so ließ er sich weder durch Trauerfälle noch durch Verlobungen aus seinem heitern Gleichgewicht bringen. Er war immer noch der alte, fröhliche Kumpan, wenn er mit seiner Pfeife im Munde und seinem Whisky mit Soda vor sich dasaß und Erinnerungen aus unsrer gemeinsamen Studienzeit auffrischte.

Habt Ihr jemals ein englisches Christmas mit erlebt? Ihr macht Euch gar keinen Begriff von dem heitern Wohlleben, das da in allen Familien herrscht und die Bezeichnung ›merry old England‹ vollständig berechtigt erscheinen läßt.

Sicher würde diese Woche in Sankt-Craydon zu meinen fröhlichsten Erinnerungen gehören, wenn nicht am letzten Tage oder vielmehr in der letzten Nacht noch ein Zwischenfall eingetreten wäre, der mich melancholisch stimmte.«

»Umschwung,« verbesserte derselbe Herr, der unsern Doktor schon einmal unterbrochen hatte. Aber man zischte ihn nieder, und der Erzähler fuhr fort:

»In der Nacht vor meiner Abreise, saß ich noch spät in meinem Zimmer, rauchte eine Zigarette und las den Daily Telegraph. Da wurde leise an meine Tür geklopft, und noch ehe ich Herein rufen konnte, trat Ada Scott in einem hellblauen Peignair herein. Ich war im ersten Moment etwas verblüfft, und die seltsamsten Vermutungen durchkreuzten mein Gehirn. Aber Ada klärte mich rasch über den Zweck ihres Besuches auf:

»Herr Doktor,« sagte sie, »entschuldigen Sie, daß ich noch so spät störe. Aber Sie sagten einmal, daß Sie immer noch eine Stunde vor dem Schlafengehen zu lesen pflegten, so war ich sicher, Sie noch nicht im Bett zu treffen. Übrigens wollte ich Sie nur um einen ärztlichen Rat bitten.«

Ich bat sie, Platz zu nehmen, und ich kann nicht leugnen, daß ich eine leise Enttäuschung empfand.

»Sie wissen ja, daß ich mit John Hewett verlobt bin,« begann sie, »und daß er ein junger, schöner kräftiger Mensch ist. Sein größtes Vergnügen ist, mit mir Tandem zu fahren oder zu rudern. – Und ich fürchte, ich leide an derselben Krankheit wie meine verstorbenen Schwestern. In den letzten Jahren ihres Lebens wurde ihnen jeder Sport verboten, sie durften weder Rad fahren noch rudern, mußten überhaupt alle körperlichen Übungen aufgeben. Wenn es mir ebenso ginge, würde ich meine Verlobung mit John sofort auflösen, denn was soll er mit einer Frau, die sich nicht rühren kann. Er wäre totunglücklich mit ihr. – Und da ich Papa nichts davon sagen mochte, wende ich mich an Sie. Wollen Sie so freundlich sein, mich zu untersuchen?«

Was sollte ich tun? Ich konnte nicht anders, als ihre Bitte erfüllen. Die heitre Seelenruhe, mit der sie die Untersuchung über sich ergehen ließ, war etwas deprimierend für mich. Denn ich sah wohl, daß ein alter Doktor von fünfundvierzig Jahren als Mann für sie gar nicht in Betracht kam.

»Nun?« fragte sie, als ich mit der Untersuchung fertig war.

Ich schwieg.

»Sagen Sie mir bitte die Wahrheit. Ich bin verloren, nicht wahr?«

Dabei sah sie mich mit ihren großen lichten Augen so fragend an, daß ich meine Bewegung nicht beherrschen konnte.

»Es ist immer noch Hoffnung,« sagte ich leise, »die eine Lunge ist noch fast intakt. Sie müssen sich schonen.«

»Also, wenn ich mich schone,« fragte sie, ohne mit der Wimper zu zucken – »bin ich dann sicher davor, nicht so jung sterben zu müssen, wie meine Schwestern? Warum antworten Sie nicht?

Nicht wahr, Sie können mir nicht garantieren, daß ich am Leben bleibe, selbst wenn ich das Tandemfahren und das Rudern aufgebe?«

Ich sah, daß es keinen Sinn hatte, sie zu täuschen, so schüttelte ich nur den Kopf.

Ada dachte eine Zeitlang nach, dann fragte sie weiter:

»Wenn ich nun John heirate und weiter mit ihm Sport treibe – riskiere ich dann, daß es sehr schnell zu Ende geht?«

»Sie riskieren alles. – Etwas Bestimmtes kann ich Ihnen natürlich nicht sagen.«

Sie stand immer noch nachdenklich da. Dann reichte sie mir ihre schmale blasse Hand:

»Ich danke Ihnen – und sagen Sie bitte niemand etwas davon.«

Einen Augenblick darauf war die zarte Gestalt verschwunden, ich hatte nicht einmal Zeit gefunden, noch irgend etwas zu sagen.

*

Als ich am nächsten Morgen am Bahnhof stand und auf meinen Zug wartete, erschien das Brautpaar auf seinem Tandem, mir Adieu zu sagen. John schüttelte mir die Hand, daß mir alle Knochen weh taten. Er war ein stämmiger Bursche und so jung, daß er beinah wie ein Riesenkind aussah. Ada zog mich einen Augenblick beiseite und sagte mit gedämpfter Stimme:

»Mein Entschluß steht fest. Ich heirate John und fahre ruhig weiter Tandem mit ihm. Geht es dann rasch zu Ende, so bleibt es dem armen John wenigstens erspart, eine kranke Frau zu haben, die immer im Hause hockt.«

Inzwischen war mein Zug gekommen. William Scott umarmte mich, und Adas schlanke durchsichtige Finger ruhten noch einen Augenblick in meiner Hand. Alle wünschten mir glückliche Reise, und dann stieg ich ein.

»Ich kann mir schon denken, wie die Sache weiter ging,« warf jener unverbesserliche Störenfried dazwischen. »Als Sie das junge Paar wiedersahen, war John schwindsüchtig geworden, und Ada platzte vor Gesundheit, aber sie fuhren natürlich immer noch Tandem?«

»O nein,« lachte Garnier, »so romantisch wie Sie meinen, war die Lösung nicht, aber immerhin recht merkwürdig. Daß ich in South-Croydon war, ist jetzt vier Jahre her. Und jedes Jahr um die Weihnachtszeit bekam ich eine Christmas-Card aus irgend einer andern Gegend von England. Das Bild stellte unweigerlich ein junges Paar auf dem Tandem dar, und darunter stand in Adas zierlicher Handschrift: » Merry Christmas! – I am always goingit.« Das heißt: »Fröhliche Weihnachten, es geht immer noch.«

Gestern nun, am 24. Dezember, blieb die Karte zum erstenmal aus. Und ich muß sagen, mir wurde ganz beklommen zumute. Ich sah ihre unnatürlich blühenden Wangen und ihre fieberhaft glänzenden Augen vor mir und dachte: arme Kleine, nun hat sie wohl doch ihre letzte Fahrt gemacht.

Aber dann um fünf Uhr – raten Sie, wer da in meiner Sprechstunde erschien? Miß Hewett in eigner Person und natürlich wie immer in Radfahrkostüm. Mein Erstaunen schien sie sehr zu amüsieren.

»John kommt gleich nach,« sagte sie, »wir sind mit unserm Tandem gekommen, alle Leute haben uns nachgesehen – ist das Radfahren in Paris schon so aus der Mode?«

Und ohne meine Antwort abzuwarten, fragte sie:

»Nun, was sagen Sie zu mir?«

Und ich erwiderte offen:

»Es ist unglaublich.«

Daß sie vor »Gesundheit platzte«, konnte man ja gerade nicht behaupten, aber ihr Zustand hatte sich anscheinend nicht verschlimmert. Auf ihren Wunsch untersuchte ich sie. Die Lunge war nicht ausgeheilt, aber das Übel hatte auch keine Fortschritte gemacht.

»Sehen Sie, Herr Doktor, ich glaube, ich bin so glücklich, daß es mich am Leben erhält. Ich will bei John bleiben und mit ihm leben, wie er es nun einmal gerne hat, und ich bin immer so in Bewegung, daß die Krankheit mich nicht zu fassen kriegt.«

Dann erschien auch John.

Er war trotz allem Sport dicker geworden und hatte ein rotes Gesicht bekommen. Ich fand ihn geradezu häßlich. Aber seine Frau sah ihn ganz verliebt an und erzählte mir, daß sie schon drei Kinder hätte. Wir plauderten noch eine Weile, dann wünschten sie mir fröhliche Festtage und empfahlen sich. Ich sah ihnen noch aus dem Fenster nach, wie sie zur Erheiterung der Passanten ihr Tandem bestiegen und davonfuhren. Man sah, daß Ada ihr Pedal gut in der Gewalt hatte.

Ich habe diesen merkwürdigen Fall in meine Aufzeichnungen eingetragen. – Man sieht doch daraus, daß der Wille zum Leben und die Autosuggestion viel vermag, vor allem bei einer liebenden Frau.

»Und daß man sich nicht unbedingt auf die Diagnosen der Ärzte verlassen darf,« sagte der Störenfried mit tonloser Stimme.


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