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Der große rechteckige Zeichensaal, wo Lea im Kolorieren unterrichtete, lag im warmen Junisonnenschein da. Zwanzig Mädchen saßen oder standen über ihre Arbeit gebeugt. Der Schweiß perlte ihnen von der Stirn. Denn obgleich die Fenster weit geöffnet waren, drang kein erfrischender Luftzug von draußen herein.
Lea ging von einer zur andren, manchmal nahm sie selbst den Pinsel zur Hand, um die richtige Farbe anzugeben oder irgend ein kleines Versehen wieder auszugleichen. Sie gönnte sich keinen Augenblick Ruhe, obgleich der Unterricht zwei volle Stunden dauerte. Es war sogar ihren Schülerinnen aufgefallen, daß sie in letzter Zeit immer rastloser ihren Pflichten oblag, ohne, wie sie es früher gethan hatte, hier und da eine kleine Pause zu machen und auf der für die Lehrerin bestimmten Estrade Zeitungen durchzusehen oder Briefe zu schreiben.
Grade eben hatten sie wieder einmal Gelegenheit gehabt, die strenge Gewissenhaftigkeit ihrer Lehrerin zu beobachten. Während des Unterrichts war einer von den Zöglingen, der grade »die Woche« hatte, eingetreten, um ihr ein kleines Paket zu bringen, das eben mit der Post gekommen war. Es schien ein Buch zu sein. – Aber Lea sagte nur:
»Danke schön, Alexandrina, leg es auf meinen Tisch.«
Und während zwanzig neugierige Augenpaare jede Bewegung der kleinen Alexandrina folgten, bis sie das Paket glücklich auf dem Tische deponiert hatte, fuhr Lea ruhig in ihren Anweisungen fort:
»Siehst du, Alice Aubry, wenn du die Farbe vorher nicht ordentlich aufgelöst hast, giebt es immer Flecken. So, – jetzt versuche einmal, sie rasch und gleichmäßig aufzutragen.« –
Damit räumte sie der Kleinen, die mit großem Eifer fortfuhr, ihre Zeichnung zu kolorieren, wieder ihren Platz ein.
»Adele, du mußt deine Pinsel bester ausspülen – sonst vermischen die Farben sich – sieh mal her – das Braun und Rot läuft ineinander.« – –
Gewiß, – selbst Pirnitz hätte die gleichmäßige Heiterkeit und rastlose Thätigkeit bewundert, mit der Lea ihre täglichen Pflichten erfüllte, aber Pirnitz, die es doch so gut verstand, in den Herzen ihrer Mitmenschen zu lesen, täuschte sich. Sie pflegte sich voll froher Hoffnung zu sagen: Lea ist uns zurückgewonnen! – Sie wußte nicht, daß Lea sich über sich selbst getäuscht hatte.
»O Vanderbrouck – das hast du schlecht gemacht, – gieb mir mal deinen Pinsel.« –
Sie ließ sich ein Glas reines Wasser geben, tauchte den Pinsel hinein und fing an, die mißglückten Farben zu korrigieren. Aber während sie der Schülerin, einem großen, blonden Mädchen mit lichtblauen Augen, die begangenen Fehler erklärte, mußte sie unaufhörlich an das Buch denken, das dort drüben auf dem Tische lag.
Sie hatte, als Alexandrina es brachte, nur einen flüchtigen Blick darauf geworfen, aber an der blauvioletten Marke mit dem Bild der Königin hatte sie sofort gesehen, daß es aus England kam.
»Wer kann mir denn aus England ein Buch schicken?« – –
Sie hatte zuerst auf Madame Sanz geraten, wenn diese nicht grade in Paris gewesen wäre. Aber wer konnte es sein, da diese Möglichkeit ausgeschlossen war? – Vielleicht Edith Craggs – die in London Leas ständige Gefährtin gewesen war? Aber das Paket hatte das bei englischen Romanen übliche Format und Edith – von der sie übrigens schon seit langer Zeit nichts gehört – hätte ihr gewiß nie im Leben etwas andres geschickt als fromme Traktate.
Trotzdem versuchte Lea krampfhaft, sich einzureden, daß die Sendung nur von Edith herrühren könne. Sie wollte nicht auf die geheimnisvolle Stimme ihres Herzens hören, die ihr zuraunte:
»Nein, es ist nicht von Edith – du weißt es sehr wohl – du weißt – von wem – –«
Sie hielt stand, bis der Unterricht zu Ende war und die Kinder den Saal verlassen hatten, um im Hofe ihr Vesperbrot einzunehmen.
Und nun war sie allein. – Sie stand vor dem Tische und blickte das kleine Paket an, ohne es aufzumachen.
Als sie die Adresse gelesen hatte, fühlte sie sich etwas beruhigt. – Es war doch nicht das, was sie gefürchtet hatte. Beim Anblick dieser kindlichen, seltsam unregelmäßigen Handschrift glaubte sie einen kleinen Schreibtisch von Mahagoniholz vor sich zu sehen, auf dem unzählige mit derselben Schrift bedeckte Bogen, verstreut lagen – und dann ein kindlich aussehendes Wesen mit kurzem, blondem Haar, das nachdenklich an seinem Federhalter kaute – Tinka Ortsen. – Das Wohnzimmer der Apple-Tree-Yard wo sie immer arbeitete. – – Und die Romane, die Tinka, während sie entstanden – mit ihrer klanglosen, gleichmäßigen Stimme den andren zu erzählen pflegte. – – –
»Wie kommt Tinka dazu, mir ein Buch zu schicken?« –
Wenn es auch keine so direkte Annäherung war wie ein Brief, so bedeutete es doch immerhin den Wunsch oder das Anstreben, die vor anderthalb Jahren abgebrochenen Beziehungen wieder anzuknüpfen. Und Lea fühlte mit wonnigem Schauer, daß sie nicht mehr wie früher vor dem Gedanken an jene Zeit zurückschrak, sondern, daß er sie mit Seligkeit erfüllte. Sie hatte immer noch nicht den Mut, die Umhüllung zu zerreißen. Sie fühlte sich unfähig, irgend einen Entschluß zu fassen. – Das fröhliche Stimmengewirr der Kleinen drang aus dem Hofe zu ihr herüber. Und nun raffte sie sich auf, brachte mit mechanischen Bewegungen alles in Ordnung, steckte das Paket in ihre lederne Büchertasche und verließ die Klasse. Als sie die Thür hinter sich abgeschlossen hatte, ging sie zuerst in das Vorzimmer, um sich Gesicht und Hände zu waschen ...
Dann dachte sie nach – – –
Pirnitz und Madame mußten fort sein, sie hatten mit der Einrichtung der Filiale für Free-College zu thun. – Friederike war jedenfalls im Hofe, sie hatte heute die Aufsicht während der Freistunde. – Lea fühlte sich nicht im stande, den prüfenden Blick ihrer Schwester zu ertragen. Wie sollte sie ihre Erregung vor Friederike verbergen? Und ihr den Grund derselben anzuvertrauen – dazu hatte sie nicht den Mut.
Plötzlich fiel ihr die Bibliothek ein. – Sie nahm ihre Ledertasche und eilte rasch den Korridor entlang, wie eine Braut zum Rendezvous mit dem Geliebten. Auf der Treppe begegnete sie Geneviève Soubize.
»Haben Sie es schon gehört,« sagte das junge Mädchen, »Duyvecke hat mir geschrieben – –«
»Ah – was denn?« –
»Der kleine Rémineau hat einen Rückfall bekommen – diesmal scheint es ein wirkliches Nervenfieber zu sein. – Sie kann sich nicht entschließen, von ihm fortzugehen. – Sie schreibt mir, wenn er dann stürbe, würde ihr zu Mute sein, als ob sie ihn getötet hätte.«
»Nun und –«
»Und so bleibt sie eben dort.« –
Dann gingen beide ihres Weges, ohne sich weiter über die Angelegenheit auszusprechen.
Lea dachte an die unterdrückte Erregung, die Duyveckes Fortbleiben vorgestern abend unter dem »Generalstab« hervorgerufen hatte. Man hatte sich nicht weiter darüber ausgesprochen, es war, als ob niemand den rechten Mut dazu finden konnte. Im Gegenteil, es hatte nur geheißen:
»Duyvecke hat vollständig recht. Sie konnte den Kleinen doch nicht seinem Schicksal überlassen. – Wir alle hätten an ihrer Stelle ebenso gehandelt.« –
Aber im stillen hatte jede sich gesagt: Wird Duyvecke überhaupt wiederkommen? Zu den finanziellen Sorgen, zu der Aufregung, die der Besuch des Schulinspektors hervorgerufen hatte, kam jetzt auch noch die Angst, daß eine von den Mitarbeiterinnen des Werks – fahnenflüchtig werden könne – die erste, seit dem Bestehen der Schule – –
»Duyvecke läßt sich eben durch den Gang der Dinge leiten« – dachte Lea. »Sie wird nicht anders können – als bei Rémineau bleiben und ihn heiraten.« – Dann versuchte sie, nicht mehr daran zu denken. Sie fürchtete sich beinah davor, sich mit Duyvecke zu vergleichen. Vielleicht hoffte sie am Ende gar selbst auf eine ähnliche Fügung des Schicksals, die ihr die Freiheit wiedergeben sollte? – –
Die Bibliothek lag im zweiten Stock und bestand aus drei mittelgroßen Räumen. In den erkerförmigen Vertiefungen, die durch die hohen Bogenfenster gebildet wurden, waren bankartige Sitzplätze angebracht.
Die zwei ersten Zimmer waren leer, als Lea eintrat. In dem dritten saß eine Schülerin und kopierte einen Abschnitt aus der » Géographie universelle« von Réclus.
Lea setzte sich auf das Fensterbrett. – – –
Der Tag neigte sich allmählich dem Ende zu, ein rötlicher Schein umgoldete die Gipfel der Kastanienbäume, die Dächer der Nachbarhäuser und den spitzen Kirchturm von St. Charles. Unwillkürlich mußte Lea an jenen Frühsommerabend zurückdenken, wo sie und Georg bei Sonnenuntergang in dem altmodischen Wirtshäuschen von Surrey gerastet hatten, um ihren Afternoontea einzunehmen.
Es war dieselbe rötlichgoldne Abendbeleuchtung gewesen wie heute – und jetzt stieg eine Erinnerung nach der andren wieder vor ihr auf – aus jener glücklichen, gesegneten Zeit ihres Lebens. Ja, die Vergangenheit trug den Sieg davon über die schale, inhaltlose Gegenwart. War nicht alles, was dazwischen lag, nur ein wirrer Traum gewesen? – – Die Rückkehr nach Frankreich – Georgs wiederholte Versuche, seine Braut zurückzugewinnen – die langen arbeitsvollen Monate mit all ihrer forcierten Begeisterung für das Werk? –
Ihr war zu Mute, als ob sie während all dieser Zeit nicht sie selbst gewesen sei, als ob jemand andres an ihrer Stelle gelebt und gehandelt habe – und jetzt in diesem Augenblick war sie mit einemmale wieder die alte Lea – – jene frohe, glückliche Lea, die nach einer langen Fußwanderung mit Georg Ortsen in dem altmodischen Gastzimmer saß und ihm den Thee einschenkte.
Sie seufzte auf, wie von einem schweren Drucke befreit. Dann löste sie langsam das Buch aus seiner Umhüllung und begann zu lesen.
Es war eine jener billigen englischen Romanausgaben à 1 Shilling 6 Pence.
»William Pawells two Sisters von Tinka Ortsen, aus dem Finnischen übersetzt von Missis Clarke Irving. Das Titelbild war geschmacklos und schlecht gezeichnet: eine Frauengestalt auf einer steinernen Bank und davor ein knieender Mann.
Lea betrachtete prüfend das erste Blatt, in der Erwartung, daß es eine Widmung oder einen freundschaftlichen Gruß enthalten würde. Aber sie fand nichts. –
»Derbyshire ist zweifellos eine der schönsten Gegenden von England. Die Umgegend von Buxton, dem uralten Badeort, wo schon die Königin Anna – – –«
Ganz mechanisch las sie diesen Satz drei- bis viermal wieder durch. Er kam ihr absolut sinnlos vor. Sie war nie in Derbyshire gewesen, hatte nie von einem Orte gehört, der Buxton hieß. Ein leises Gefühl von Enttäuschung stieg in ihr auf. Und als sie darüber nachdachte, wurde sie sich klar, daß sie mit Bestimmtheit erwartet hatte, ihre eigne und Georgs Geschichte in dem Buche wiederzufinden. – –
Dann las sie weiter. –
Die Erzählung begann mit einer endlosen Beschreibung des kleinen Badeortes und seiner landschaftlichen Umgebung. Aber so war es immer in Tinkas Romanen, man hatte das Gefühl, als ob die Verfasserin sich erst allmählich auf sich selbst besinnen müßte, aber nach und nach gewann alles Farbe und Form, wurde so greifbar, so warm und lebendig, daß man ganz hingerissen war. –
Lea hatte das erste Viertel des Romanes mit fieberhafter Ungeduld durchflogen, aber jetzt war sie mitten drin – und in den Hauptpersonen von Tinkas Buch fand sie sich und Georg Ortsen wieder, nur hatte die Verfasserin das Geschlecht der beiden vertauscht: William stellte Lea dar und Nora Georg.
Man mußte bei William unwillkürlich an einen roten Rosenstrauch denken, dem ein geschickter Gärtner die bleicheren Rosen nordischer Länder aufgepfropft hat. – Wenn er es aber einmal versäumte, die wilden Triebe zu beschneiden, so wären statt der farblosen nordischen doch wieder die vollduftenden roten Rosen erblüht.«– – –
Und von Nora hieß es:
»Das Merkwürdige an ihr war, daß ihre Seele fast immer schlief – wie ein kleines Kind. Und es war ein friedlicher, glücklicher Schlummer, glücklicher vielleicht als das Erwachen. – Denn wenn sie einmal erwachte, empfand sie ein gewaltsames Bedürfnis, sich in übermächtigen Sensationen auszuleben. Und weil sie nicht wußte, wie sie diese hervorrufen sollte, pflegte sie sich dann ans Klavier zu setzen und stundenlang zu spielen, bis sie erschöpft zusammenbrach. Und dann schlief ihre Seele wieder ein.« –
Nora hatte eine Schwester, die Julie hieß und bei deren Schilderung Tinka entschieden an Friederike gedacht hatte.
»Julie und Nora,« so hieß es da, »stammten aus Finnland, aus jenen nordischen Gegenden, wo die Natur fast sechs Monate des Jahres wie erstorben ist. Und daher mochte es wohl kommen, daß sie ebenso wie die Bäume und Pflanzen ihr Leben nur halb lebten. Und doch glaubten sie, wirklich zu leben. Nur dann und wann überkam sie ein unklares Vorgefühl, daß sie eines Tages zu vollerem, intensiverem Leben erwachen würden.«– – – – Dann geschah etwas, was die Geschwister aus ihrer Heimat vertrieb. – Hier hatte Tinka ihre eigenen Erlebnisse mit der Geschichte des Hauses Legay-Sûrier geschickt zu verflechten gewußt. – Nora und Julie entdeckten, daß ihre Eltern nicht miteinander verheiratet waren. – Die Mutter hatte ihren legitimen Gatten nach kurzer Ehe verlassen, um mit ihrem Liebhaber zusammen zu leben. Diesem ehebrecherischen Bunde verdankten die beiden Schwestern ihr Dasein.
Sie hatten jetzt alle Achtung vor ihrer Mutter verloren, und gleichzeitig fehlte ihnen der Mut, sie auf ihre Pflicht hinzuweisen. So verließen sie heimlich das Elternhaus und flohen nach Deutschland. Dort lernten sie William Powells kennen, dessen trauriges Schicksal ihre Sympathie wachrief – er war von seiner Frau auf schmähliche Weise verlassen worden. Nora und Julie entschlossen sich, in geschwisterlicher Freundschaft mit ihm zusammenzuleben. Sie glaubten auf diese Weise die Schuld ihrer Eltern sühnen zu können.
So suchten sie durch ihre Liebe ihm das Dasein zu verschönern. Aber mit der Zeit wurde die reine Freundschaft, die sie an ihn fesselte, durch stürmische Empfindungen verdrängt. Die beiden Schwestern verliebten sich in William – aber er liebte nur Nora.
Eines Abends nach einem weiten Spaziergang ließen William und Nora sich zu einem langen, glühenden Kuß hinreißen. – Und von diesem Moment an bestand das junge Mädchen darauf, daß sie sich trennen müßten. Sie hatte das Vertrauen zu sich selbst verloren. Vergebens suchte William ihr klar zu machen, daß er die Scheidung von seiner Frau leicht erreichen könne. Nora war nicht von ihrem Entschluß abzubringen:
»Ich bin nicht zu Ihnen gekommen, um mir das Vergehen Ihrer Frau zu Nutze zu machen, sondern um Ihnen in schwesterlicher Freundschaft zur Seite zu stehen. Was die Gesetze der Menschen erlauben oder verbieten, ist mir gleichgültig. Aber Sie haben eine Frau, und diese Frau ist am Leben.«– –
Julie war eifersüchtig auf Williams Liebe und wußte die Schwester in ihrem Vorhaben zu bestärken. Sie sollte sich von William trennen, um nicht in noch schwerere Anfechtungen zu fallen.– –
Sie trennten sich, und nun begann für alle drei ein trübseliges Dasein. William kehrte nach England zurück, während die beiden Schwestern nach Italien gingen.
Dort – unter dem Einfluß einer Natur und einer Kunst, von der sie bisher nichts geahnt hatten – vollzog sich allmählich in Noras Seele eine vollständige Umwandlung. Julie, die weniger künstlerisch veranlagt war, verschloß sich hartnäckig gegen alle derartigen Einwirkungen, sie blieb sie selbst und lebte ausschließlich in der Vergangenheit. Nora dagegen ging bald so weit, alles umzustoßen, was sie früher als das heiligste Gebot ihres moralischen Gewissens betrachtet hatte. Sie zürnte sich selbst, daß sie ihre eigne Mutter verurteilt, daß sie Williams Liebe zurückgewiesen hatte. Endlich beschloß sie, ihm nachzureisen, ihm zu sagen: Nimm mich hin. Ich bin dein.
Julie, der sie ihren Plan mitteilte, überhäufte sie mit Vorwürfen. Nora versuchte anfangs, sich dagegen zu verteidigen, ihre neuerrungenen Ansichten zu rechtfertigen. Aber allmählich wurde sie sich klar darüber, daß es nur Eifersucht war, die aus ihrer Schwester redete. In einer ergreifend schön geschilderten Scene fand Nora den Mut, diesen Vorwurf zu machen ... Julie hatte ihr zugerufen:
»So geh doch zu ihm, um seine Konkubine zu werden.«
Und Nora antwortete:
»Ich fühle das tiefste Mitleid mit dir, denn ich sehe, daß dir das gesunde moralische Empfinden fehlt. Lebewohl, ich gehe zu ihm, weil es meine Pflicht ist.«
Nach monatelangem Suchen gelang es ihr, Williams Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Sie fand ihn in Derbyshire, in dem kleinen Badeort, der zu Anfang des Romans so ausführlich geschildert war.
Aber es war zu spät – William hatte seit der Trennung von der Geliebten ein elendes Leben geführt. Er siechte an einem unheilbaren Herzleiden dahin – Noras Erscheinen vermochte ihn nur noch auf kurze Zeit dem Leben wiederzugeben. Er starb in ihren Armen.
»Kannst du mir vergeben,« sagte sie, »ich habe dich getötet.« –
»Nein –« antwortete William, »nicht du – Nora. – Mich hat jene andre Nora getötet, deren Seele sich noch nicht zur Freiheit durchgerungen hatte.«
– – – – – – – – – – –
Lea blieb noch lange nachdenklich in ihrer Fensterecke sitzen, nachdem sie das Buch zu Ende gelesen hatte.
Die Freistunde war längst vorüber, und die Abendkurse hatten begonnen. Das kleine Mädchen, das vorhin im Nebenzimmer gearbeitet hatte, war fort – sie war ganz allein. –
Draußen war es dunkel geworden; wie aus schwarzem Papier geschnitten hob der Kirchturm von Saint-Charles sich gegen den bläulich schimmernden Nachthimmel ab.
Es war Lea zu Mute, als ob auch ihre Gedanken in schattenhaft verdämmernden Umrissen durcheinander wogten, sie war wie berauscht, wie halb betäubt durch das, was sie gelesen hatte. Mechanisch steckte sie das Buch wieder in ihre Ledertasche und verließ die Bibliothek. Als sie auf den Korridor hinaustrat, war sie durch das elektrische Licht einen Augenblick so geblendet, daß ihr schwindelte. Sie mußte stehen bleiben, sich an die Mauer lehnen, um nicht zu fallen. Plötzlich fühlte sie, daß eine Hand ihre Schultern berührte.
»Was ist Ihnen, Lea? Sind Sie krank?«
Sie schlug die Augen auf und sah Daisy Craggs neben sich stehen. Dann atmete sie tief auf:
»Nein, Daisy, es ist nichts. Ich habe bis jetzt in der Bibliothek gesessen und gelesen. Als ich auf den Korridor kam, hat das Licht mich geblendet. – Es ist wirklich nichts weiter –«.
Sie stützte sich auf Daisys Arm und ging ein paar Schritte weiter, dann machte sie sich los. Daisy blickte sie zärtlich besorgt an:
»Sie fühlen sich nicht wohl, Lea, ich werde Pirnitz und Friederike sagen, daß Sie einige Zeit aufs Land müssen.«
»O nein,« antwortete Lea, »ich brauche nicht mehr Erholung als Sie alle. – Es ist ja nicht mehr lange hin bis zu den Schulferien.«
Mlle. de Sainte-Parade hatte die Absicht, für die Monate August und September auf dem Lande oder an der See ein Häuschen zu mieten, wo die Lehrerinnen und ein Teil der Schülerinnen die Ferien zubringen sollten.
Daisy Craggs bewegte die Lippen, als ob sie etwas sagen wollte. Aber sie hielt es für besser, zu schweigen. Sie hatte durch ihre Schwester erfahren, was zwischen Lea und Georg Ortsen vorgefallen war. Sie selbst war eine ausgesprochene Männerfeindin und fühlte sich ganz glücklich dabei, besonders seit das Zusammenleben mit Geneviève sie ausfüllte. Am liebsten hätte sie Lea in aller Freundschaft tüchtig ausgescholten und ihr gesagt: »Was? denken Sie wirklich immer noch an diesen Don Juan, der sich in Italien amüsierte, während Sie Tag und Nacht weinten?« – Aber sie fürchtete, Lea weh zu thun. Und dann dachte sie auch: Ich verstehe ja doch nichts von solchen Liebesgeschichten.
So sagte sie schließlich, um das Gespräch auf etwas andres zu bringen:
»Haben Sie die große Neuigkeit schon gehört?«
»Was für eine Neuigkeit?«
»Die Semaine de Saint-Charles – Sie wissen doch, das kleine Blatt, das der Abbé Minot ganz in der Hand haben soll – hat einen Artikel gegen unsre Schule gebracht.«
»Gegen uns?«
»Ja – Mlle. Heurteau hat ihn mir vorhin gebracht. – Übrigens enthält der Artikel keine persönlichen Angriffe – er ist hauptsächlich gegen unser System gerichtet.«
»Was macht er uns denn zum Vorwurf?« fragte Lea, aber nur, um irgend etwas zu sagen. Mein Gott, alles was die Schule betraf, war ihr im Grunde so gleichgültig. Sie wunderte sich selbst über den warmen Ton ihrer Stimme, sie kam sich vor wie eine abscheuliche Heuchlerin, während Daisy ihr ausführlich erzählte, was der Abbé Minot an der Art des Unterrichts auszusetzen hatte. – Mangel an Religiosität – anarchistische Tendenzen – Verletzung des Schamgefühls und schädliche Erregung der jugendlichen Phantasie durch den hygienischen Kursus – u.s.w.«
Als Lea dann in ihr Zimmer trat, fand sie Friederike, die zum Abendessen Toilette machte. Sie stand vor dem großen Spiegelschrank und steckte ihre schweren dunklen Flechten auf. Lea blieb einen Augenblick an der Thür stehen und betrachtete ihre Schwester:
»Wie ist sie schön!«
Ohne sich umzuwenden sagte Friederike:
»Du bist es, Liebling? Wo warst du denn heute Nachmittag? Ich habe lange nach dir gesucht.«
»Ich hatte in der Bibliothek zu thun.«
Es wurde Lea nicht schwer, diese halbe Lüge auszusprechen. Das einstige vertrauliche Verhältnis zwischen den beiden Schwestern hatte schon seit langer Zeit einer gewissen Zurückhaltung Platz gemacht.
Dann erzählte Friederike von der Aufregung, die der Artikel der Semaine in der Schule hervorgerufen hatte. Sie beobachtete dabei im Stillen, was für einen Eindruck ihre Worte auf die Schwester machten.
Lea hatte inzwischen die Taille ausgezogen und tauchte Gesicht und Hände in das Waschbecken, dann löste sie ebenfalls ihre Haare auf, um sie zu bürsten und wieder aufzuwinden. Es waren zwei Gedanken, die sie momentan ganz beherrschten, die beinah wie ein physischer Schmerz in ihrem Gehirn wühlten, während Friederike sprach. Sie fing jetzt an zu begreifen, weshalb Tinkas Erzählung sie so tief erschüttert hatte. Eine Art von leidenschaftlichem Zorn gegen Friederike regte sich in ihr, sie glaubte die Empfindungen jener imaginären Julie im Herzen der Schwester zu erraten. – Und gleichzeitig fühlte sie eine furchtbare Angst in sich aufsteigen – war Georg wirklich krank – vielleicht gar sterbend, wie William Powells. – »Ich habe dich getötet,« sagte Nora zu William. Dieser Verzweiflungsschrei ließ ihr keine Ruhe. –
Sie war ihm gegenüber stark gewesen, als er im Vollbesitz seiner Kraft vor ihr gestanden und seine Rechte geltend zu machen versucht hatte. Aber jetzt, wo sie ihn krank und schwach wähnte, verwandelte ihr Widerstand sich in Unruhe und Sehnsucht.
»Bist du fertig, Liebling?«
Lea war so in Gedanken vertieft, daß es ihr nicht einmal in den Sinn kam, sich zu verstellen. Als sie die Stimme ihrer Schwester hörte, fuhr sie auf:
»Ja, ja, ich komme« schon.«
»Dann laß uns hinuntergehen,« sagte Friederike, »es hat schon zum zweiten Male geläutet.«
Die andren waren schon alle im Eßsaale versammelt, Lea saß bei Tische wie gewöhnlich zwischen ihren Lieblingsschülerinnen: Alice Aubry, Lydia Ranacho, Georgette Vincent und der kleinen Alexandrina, die ihr das Buch gebracht hatte. Aber während sie sich sonst an ihren Gesprächen zu beteiligen pflegte, klang das Geräusch der jugendlichen Stimmen heute nur wie aus weiter Ferne zu ihr herüber, sie gab sich nicht einmal Mühe, ihre Stimmung zu verbergen. Als Alexandrina sie mit Fragen bestürmte, sagte sie nur:
»Ja, mein Kind, es sind allerhand trübe Gedanken, die mich quälen.«
Sie fühlte sich erleichtert, als die Mahlzeit zu Ende war und Lehrerinnen wie Schülerinnen in den Hof hinuntergingen.
Die Luft war immer noch drückend schwül. Die hohen Mauern, die den Platz umgaben, schienen all die Hitze auszuströmen, die sie während des Tages aufgesogen hatten... Selbst die Kinder schienen heute nicht wie sonst zu lärmenden Spielen aufgelegt. Sie gingen Arm in Arm spazieren oder saßen in Gruppen umher und plauderten halblaut miteinander.
Während Lea sich neben Pirnitz niederließ, sagte Mlle. Heurteau:
»Nach allem, was ich gehört habe, scheint man einen regelrechten Feldzug gegen uns zu eröffnen. Die Semaine de Saint-Charles steht sich zu gut mit den Behörden, um auf eigne Hand vorzugehen.–
»Aber wir haben bisher doch keine Differenzen mit den Behörden gehabt,« warf Friederike ein.
»Nein, das nicht. Aber man ärgert sich darüber, daß wir unabhängig dastehen. Wir haben die Subvention ausgeschlagen, die uns für die Preisverteilung angeboten wurde – Sie werden sich erinnern, daß es gegen meinen Rat geschah« –«
»Wir konnten es nicht annehmen,« sagte Pirnitz, – »da bei uns überhaupt keine Preise verteilt werden.«
»Doch, wir hätten es trotzdem thun müssen, – – Die Sache liegt bei uns ganz anders, als in London. Wir können uns nur halten, wenn die Behörde uns duldet, und sie duldet uns nur, so lange wir sie wenigstens scheinbar ernst nehmen und so thun, als ob wir sie nötig hätten.« –
Während sie so sprach, zuckte plötzlich ein flüchtiger Lichtschein am Himmel auf.
»Es blitzt,« sagte Geneviève mit etwas unruhiger Stimme.
»Ja, es wird ein Gewitter geben,« meinte Madame Sanz, »es war heute auch unnatürlich schwül. Man konnte ja kaum atmen.«
Die Luft wurde immer beklommener. Obgleich der Himmel wolkenlos war, konnte man die Sterne nicht sehen.
Der Blitz hatte die Kinder aufgeschreckt. Sie waren aufgestanden und drängten sich zusammen. Geneviève faßte Leas Hand, Lea fühlte, daß die Finger des jungen Mädchens nervös bebten.
»Ich kann keine Gewitter leiden,« flüsterte Geneviève.
»O, ich glaube nicht, daß es hier eins giebt,« antwortete Lea, »es ist noch sehr weit weg.«
»Glauben Sie wirklich?« fragte Geneviève ängstlich.
Währenddessen fuhr Mlle. Heurteau fort, ihre Ansichten über die Ereignisse des Tages auszusprechen.
»Wir haben den einflußreichsten Mann des ganzen Ortes gegen uns – unser allgewaltiger Nachbar – –«
»Duramberty?« fragte Daisy. »Aber er hat doch einen Freiplatz bei uns gestiftet. Er ist uns noch nie feindselig entgegengetreten.«
»Trotzdem ist er unser Feind. – Und Friederike weiß das ganz gut. Es ist allgemein bekannt.«
Friederike war froh, daß die andern in der Dunkelheit nicht sehen konnten, wie sie errötete. Sie wußten also alle um jenes peinliche Geheimnis – um das schmachvolle Anerbieten, das Duramberty ihr gemacht hatte. Hatten sie es nur erraten, oder sollte er wirklich so schamlos gewesen sein, darüber zu sprechen?
»Es ist eine elende Bande,« erklärte Geneviève. »Socialisten wollen sie sein, und doch nimmt keiner von ihnen Partei für uns. Wenn wir nicht unglücklicherweise schwache Frauen wären, würde man sich das nicht herausnehmen. – – Aber wenn wir auch hundertmal Frauen sind, wir wollen uns schon wehren. Der Inspektor hat wohl daran gethan, daß er nicht in meine Klasse gekommen ist. Ich und meine Schülerinnen hatten ihn schön hinausgeworfen.«
Alle lachten. Dann sagte Daisy:
»Aber Geneviève, ich bitte dich! Nicht so aufgeregt!«
»Nicht so aufgeregt!« wiederholte Geneviève. »Wenn unsre Feinde uns aus unsrer eignen Schule vertreiben wollen? Was ihr andern thun werdet, weiß ich nicht. Aber soviel steht fest, mich soll niemand ungestraft anrühren.«
Niemand antwortete. Es war allen schon aufgefallen, daß Geneviève in den letzten Wochen, besonders seit die Schule angegriffen wurde, über jede Kleinigkeit in Zorn geriet. Und man hielt es für besser, sie nicht noch mehr aufzuregen.
Jetzt zuckte wieder ein Blitz am Himmel auf. – Alle waren verstummt. Ein fernes dumpfes Grollen, das von Westen herzukommen schien, machte die Luft erbeben. Dann fegte plötzlich ein Wirbelwind über den Hof und jagte dichte Staubwolken auf.
»Laßt uns doch hineingehen,« bat Geneviéve mit veränderter Stimme.
Eben ertönte auch die Glocke, die zum Schlafengehen läutete. Schweigend drängten die Kinder sich dem Schulhause zu. Die Lehrerinnen blieben an der Thür stehen, bis alle drin waren. Geneviève verbarg das Gesicht an Leas Schultern, um die Blitze nicht sehen zu müssen. Aber Lea blickte zum sternenlosen Himmel empor, sie fühlte, wie die magnetische Spannung, die in der Luft lag, auch ihre Nerven erbeben machte. Aber sie war heute Abend in jenem Zustand von innerer Erregung und Unruhe, wo man selbst das entfesselte Toben der Elemente als Wohlthat empfindet.
Die Kinder waren jetzt alle im Schulhause verschwunden, man hörte das vielfache Geräusch von Schritten und Stimmen allmählich auf den Treppen verhallen. Als nun auch die Lehrerinnen den Hof verließen, fielen die ersten schweren Regentropfen. Auf dem Korridor teilte Alexandrina die Abendpost aus. Daisy bekam einen Brief, auf dessen Adresse Lea Ediths Handschrift erkannte.
»Von Duyvecke,« sagte Pirnitz leise zu Friederike, während sie ein kleines Kouvert in die Tasche gleiten ließ.
Daisy las ihren Brief, während sie gemeinsam die Treppe hinaufstiegen.
Im ersten Stock angelangt, trennte man sich.
»Edith läßt Sie grüßen,« sagte Daisy zu Friederike und Lea, als sie vor dem Zimmer der Schwestern standen.
Während sie noch sprach, ertönte ein lautes Krachen durch das Haus. Der Wind hatte gewaltsam alle Thüren, die eben geöffnet wurden, wieder zugeschlagen.
»O komm doch, Daisy,« bat Geneviève, »ich bleibe heute nacht bei dir.«
Der Regen peitschte gegen die Fenster, während Lea und Friederike sich auskleideten. Dann und wann blitzte es, und in langen Zwischenräumen hörte man in der Ferne den Donner rollen.
Die beiden Schwestern wechselten ein paar Worte miteinander, dann verstummten sie gänzlich.
Als die Lampe ausgelöscht war und beide im Bette lagen, suchte Friederike Leas Hand, die anfangs kalt und leblos in der ihren lag, aber dann allmählich zärtlich ihren Druck erwiderte.
Dabei dachten sie beide an jenen ersten Abend in London, wo sie sich vor dem Einschlafen so innig geschwisterlich umarmt hatten. Und auch heute fanden sich noch einmal ihre Lippen in einem langen, stummen Kuß. –
Keine von ihnen sprach ein Wort. Was hätten sie sich auch sagen sollen? Nachdem sie ihre ganze Kindheit und erste Jugend hindurch einander alles gewesen waren, hatte ihre einstige Vertraulichkeit allmählich immer mehr einer gewissen Entfremdung Platz gemacht. Und doch war nie ein bittres oder vorwurfsvolles Wort zwischen ihnen gefallen.
Sie lagen noch lange wach; während der Regen klatschend gegen die Fenster schlug und der Donner aus weiter Ferne grollte, dachten sie beide mit bittrem Schmerz an jene ferne, glückliche Zeit, die niemals wiederkehren würde.