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Wie oft hatten sie beide während der langen Trennungszeit von dem Augenblick ihrer Wiedervereinigung geträumt, sich ausgemalt, wie ihr gemeinsames Leben sich dann gestalten würde: eine Fortsetzung jener glücklichen Londoner Zeit, nur diesmal in voller Freiheit und losgelöst von allen Hindernissen.
Und jetzt war die Prüfungszeit vorüber, sie hatten sich wiedergefunden. Sie waren frei, sie liebten sich, und nichts stand ihrer Liebe entgegen.
Die kirchliche Trauung war auf Ediths Bitten bald nach Leas Ankunft vollzogen worden. Wenn auch Georg auf den Wunsch des Doktors sein Zimmer im zweiten Stock beibehielt, wahrend Lea mit Edith zusammen neben dem Salon schlief – wenn auch Lea ihn bat, den Zeitpunkt ihrer völligen Vereinigung noch hinauszuschieben, bis sie wieder schön und gesund geworden war – so schien doch wenigstens äußerlich nichts die Glückseligkeit des bräutlichen jungen Paares zu trüben.
Und doch empfanden sie beide, daß es anders war als damals, daß jene ungetrübte Zeit ihrer ersten Liebe niemals zurückkehren würde. Damals fühlten sie sich so ruhig, so sicher in dem, was sie für das Rechte hielten. Jetzt hatten sie eingesehen, daß jene schönen Theorien, an die sie so fest geglaubt hatten, nicht unumstößlich waren. Und beide fühlten, daß sie nicht ungestraft auf jenen lichten Höhen gewandelt waren. Es war ein leises Heimweh danach in ihnen zurückgeblieben, obgleich sie doch aus freiem Entschluß ins volle Leben hinabgestiegen waren.
Sie wollten sich lieben, wie jedes andre Ehepaar, sich mit Leib und Seele dem Naturgebot unterwerfen – und es gab Augenblicke, wo der natürliche Instinkt triumphierte, aber gleich darauf überkam sie wieder ein seltsames Unbehagen, die traditionelle Scham der ersten Menschen im Paradiese. Zu lange hatten sie die Ehe, das Verhältnis zwischen Mann und Weib überhaupt, als einen unwürdigen Zustand empfunden – als egoistische Tyrannei auf der einen, als sklavische Unterwerfung auf der andern Seite.
Sie hätten einander angehören wollen, ohne dieses Gesetz anzuerkennen, und doch fühlten beide, wenn das Verlangen sich regte, daß es auch an ihnen sich vollziehen würde. Georg sah es an Leas flehendem Blick, der sich gleichsam gegen ihn zu verteidigen schien, und Lea las in seinen Augen etwas von der brutalen Rücksichtslosigkeit der männlichen Begierde, vor der sie unwillkürlich zurückschrak. Niemals hatte einer von ihnen dem andern auch nur den leisesten Vorwurf gemacht, aber jeder zürnte sich selbst, er wegen seiner Gewaltsamkeit und sie wegen ihres Widerstandes. Und so endigten ihre Umarmungen fast immer mit einer eigentümlichen Dissonanz.
Es kam noch etwas andres hinzu, wie ein Gespenst, das nie von ihrer Seite wich, das sich fremd zwischen sie stellte: Leas Krankheit. Der Gedanke, daß der Tod sie, kaum vereinigt, wieder voneinanderreißen sollte, das Leben ihnen nicht halten, was es ihnen so hoffnungsreich versprochen – erfüllte sie mit solchem Entsetzen, daß sie es sich nicht einmal einzugestehen wagten.
Vergebens suchte Georg sich einzureden, daß Lea gerettet sei, es gab Stunden, ja Tage, wo er selbst davon überzeugt war, aber dann mit einem Schlage drängte die furchtbare Gewißheit sich ihm wieder auf – bei jedem Wort, das sie sagte – bei jedem Schritt, jeder Bewegung. Manchmal schien für einen Moment alles Leben aus ihrem Gesicht zu weichen, die Wangen furchten sich, die Mundwinkel sanken schlaff herab, die Augen blickten starr und glanzlos in die Ferne. Sie schien es selbst nicht zu fühlen, aber wenn sie Georg ansah, erriet sie, was er dachte.
Und dann nahm sie sich krampfhaft zusammen. Ihre Augen leuchteten wieder auf, sie lächelte ihn an, – sie wollte ja schön sein, wollte leben – für ihn – mit ihm.
Sie suchten sich gegenseitig darüber hinwegzutäuschen, aber vergebens. Sie konnten sich nicht auf eine Stunde voneinander trennen, und doch wurde diese Einsamkeit zu Zweien ihnen zur Qual. Die bange Scham des Verlangens, und die nagende Angst vor dem Tode – es ging über ihre Kräfte, das zu ertragen. Sie schlossen sich stumm in die Arme, ohne von dem zu sprechen, was auf ihnen lastete, und dann kamen sie stillschweigend überein, sich wieder unter die andern zu mischen. Denn sie alle kannten ja die romantische Geschichte der beiden jungen Leute, sie alle bestürmten den Arzt nach seinem täglichen Besuch mit Fragen und beunruhigten sich über seine ausweichenden Antworten.
Georg und Lea fühlten sich wohler inmitten der stillen Geschäftigkeit von Dartmoor-House, wo alle ihnen freundlich zulächelten, ihre Liebe feierten und an ihrem tragischen Schicksal teilnahmen.
Tinka pflegte sich gewöhnlich im Salon aufzuhalten. Dort saß sie stundenlang an ihrem kleinen Schreibtisch neben dem offnen Fenster und kritzelte mit ihrer unregelmäßigen Kinderhandschrift einen Bogen nach dem andern voll. Sie war schon seit einigen Wochen mit einem neuen Roman beschäftigt, der sich um das Schicksal der Pariser Frauenschule und jene Auserwählten drehte, die das ganze Geschlecht regenerieren wollten und die »neue Eva« verkündigten. Lea mußte ihr immer wieder davon erzählen, ihr alles bis in die kleinste Einzelheit hinein schildern.
Die kleine Ida war der ausgesprochene Liebling ihrer Mutter und saß immer um sie, während Carola sich nur ungern von ihrem Vater trennte und ihn auf allen seinen Spaziergängen begleitete. Edith war den ganzen Tag über verschwunden, sie hatte eine etwas methodistisch angehauchte Gesellschaft von Frauenrechtlerinnen in Torquay entdeckt, mit der sie fast ausschließlich verkehrte. Wenn sie nach Hause kam, erzählte sie begeistert von ihren neuesten Plänen: sie sollte im Auftrag eben jener Frauen nach Queensland reisen, die dort eine blühende, auf dem Prinzip der absoluten Gleichberechtigung beruhende Kolonie gegründet hatten.
Allabendlich aber nahm sie wieder ihren Platz in Leas Zimmer ein, wo man ein Feldbett für sie aufgeschlagen hatte. Denn obgleich Leas Gesundheit sich entschieden kräftigte, waren die Nächte immer noch unruhig und qualvoll. Und Edith hatte es sich zur Aufgabe gemacht, sie zu pflegen, bis sie wieder ganz hergestellt war. Dann erst wollte sie die Reise nach Queensland antreten.
Nach dem Abendessen versammelten alle sich im Salon, Georg setzte sich an das altmodische Klavier und spielte, oder Tinka sang wie in alten Zeiten finnische Lieder, während Edith ab und zu ging, nachsah, ob die Kleinen ruhig schliefen, oder Lizzie bei ihrer Arbeit half.
Manchmal vertieften die Geschwister sich in eines der einfachen, ernsten Gespräche, in denen sie sich über die leitenden Motive ihrer Handlungen klar zu werden suchten. Ebner warf hier und da eine metaphysische Bemerkung ein, und Edith einen ihrer ewigen Bibelsprüche. –
Und diese friedlichen Abende waren Lea lieber als die von unruhigem Verlangen durchlebten Stunden der Einsamkeit. Ihre Wangen röteten sich und ihre Augen leuchteten. Sie wußte, daß sie wieder schön war und sie fühlte, daß Georg ihre Schönheit bewunderte. Und dann faßte sie seine Hand und sagte:
»Ich bin so glücklich, Georg.«
Gegen Mitte September fing Leas Gesundheit tatsächlich an, sich zu bessern.
Draußen herrschte eine geradezu südliche Temperatur. Es war noch einmal Sommer geworden, voller, blühender Sommer mit langen, warmen Tagen, wolkenlosem Himmel und tausendfachem Blumenduft.
Und diese belebende Wärme schien Leas Kräfte thatsächlich wieder zu heben. Dr. Bryce, der sie jeden Tag auskultierte, wagte es endlich, eine etwas günstigere Prognose zu stellen. Und neue Hoffnung zog in das Herz der beiden Liebenden ein. Sie fanden den Glauben an das Leben wieder, und je mehr der Gedanke an den Tod in den Hintergrund trat, wurde auch ihre Liebe ruhiger und harmonischer. Die krankhafte, nervöse Sehnsucht wich mehr und mehr dem gesunden Verlangen nach dem Augenblick, wo sie einander ganz angehören dürften, in voller Freiheit und ohne moralische Bedenken.
Lea sehnte sich jetzt nach Luft und Bewegung; so fingen sie wieder an, Touren zu machen, anfangs im Wagen und dann zu Fuß, wie in den Londoner Tagen. Die Stadt und der Badestrand waren ihnen unsympathisch, denn oft, allzu oft, begegneten sie dort dem obligaten Rollstuhl, in dem irgend ein abgezehrtes Wesen mit hohlen Wangen und tiefliegenden, fieberhaft glänzenden Augen spazieren gefahren wurde.
In dem Maße, wie Leas Kräfte zunahmen, machten sie immer weitere Streifzüge in die Umgegend, am Strande entlang. Manchmal fuhren sie mit der Eisenbahn bis zu irgend einer ländlichen kleinen Station und machten von dort aus aufs Gradewohl Entdeckungsreisen durch die üppigen Kornfelder und grünen Wiesen von Devonshire. Wenn sie müde waren, kehrten sie in einem der zahlreichen Landwirtshäuser ein, um zu frühstücken. Nachher ruhte Lea sich auf dem Kanapee oder in einem der bequemen, altmodischen Lehnstühle aus. Georg saß neben ihr und hielt ihre Hand in der seinen. Gegen Nachmittag pflegten sie dann zeitig heimzukehren, denn Dr. Bryce hatte dringend geraten, die Abendluft zu vermeiden.
Bei diesem stundenlangen Aufenthalt in freier Luft bekamen Leas Wangen wieder Farbe. Georg blickte sie an und dachte:
»Nein, es ist unmöglich, daß sie wirklich ernstlich bedroht ist, das Leben ist zu intensiv in ihr. Der Schmerz, alles, was sie ausgestanden, hat ihre Gesundheit untergraben, – das ist alles.«
Das Meer übte großen Zauber auf sie aus, stundenlang konnten sie am Strande sitzen und auf die blaue, unendliche Fläche hinausblicken. Und dann sprachen sie von vergangenen Zeiten, von den bitteren Stunden der Trennung. Sie lebten alles in Gedanken noch einmal durch und wunderten sich darüber, daß sie früher einmal so ganz anders gedacht und gehandelt hatten. Und doch fühlten beide, daß ihr innerstes Wesen sich nicht verändert hatte, nur hatte das Leben sie an Erfahrungen reicher gemacht. Sie freuten sich über das, was jeder in dem andern wiederfand, und doch hätten sie selbst die Wunden nicht vermissen mögen, die Schmerz und Trennung ihnen geschlagen hatten.
Es war schon lange Leas Wunsch gewesen, mit Georg nach jenem Gilder Rock hinüberzufahren, von dem Tinka ihr erzählt, – wo Georg sich vor aller Welt verborgen hatte, um seinem Schmerz nachzuhängen. Aber Bryce hatte es bis jetzt nicht erlauben wollen, er fürchtete, daß die Erschütterung einer Meerfahrt Lea schaden könne.
An einem Sonntag Morgen fühlte sie sich beim Erwachen so wohl und heiter, wie seit lange nicht. Sie warf rasch ihren Schlafrock über und eilte ans Fenster. Das Meer lag schimmernd im Sonnenschein da, keine Welle rührte sich. Gilder Rock ragte von bläulichem Morgennebel verschleiert aus der Flut empor. Sie hatte die größte Lust, heute eine Bootfahrt zu versuchen.
Edith war schon zur Kirche gegangen, wo sie den ganzen Sonntag verbrachte. So kleidete Lea sich allein an. Sie fühlte sich heute vollkommen gesund, weder Husten, noch Atembeschwerden. Beim ersten Frühstück fiel es allen auf, wie schön und froh sie aussah.
Heimlich vertraute sie Georg ihren Wunsch an. Er war heute so zufrieden mit ihrem Aussehen, daß er ohne weiteres ja sagte. So machten sie sich denn gleich nach dem Frühstück auf den Weg, ohne den täglichen Besuch des Doktors abzuwarten, und ohne den andern etwas von ihrem Plan zu verraten.
Der Strand und die Promenaden waren fast menschenleer. Überall Sonntagsstille.
Es kam ihnen vor, als ob die ganze Gegend, die Felsen, der Sand, das Meer, ihnen heute ganz, allein gehörte.
Sie gingen außen um die Stadt herum und dann den Weg nach Baccacombe und St. Marys Church, zwei kleinen Stranddörfern, entlang. Dann schlug Georg einen schmalen Pfad ein, der direkt an das Ufer hinabführte. Am Rande des Weges stand ein kleines Haus mitten in einem etwas verwilderten Garten. Als Georg an die Thür klopfte, trat ein alter Fischer mit weißem Haar heraus.
»Guten Tag, Bissie, wie geht es denn bei Ihnen?«
»O, ganz gut – meine Frau ist nicht da. Sie hat schon Angst um Sie gehabt, weil Sie so lange nicht da waren. Sind Sie krank gewesen?«
»Nein, Bissie – – ist das Boot drunten?«
»Ja, wollen Sie den Schlüssel?«
Er suchte in seiner Tasche und reichte Georg einen halbverrosteten Schlüssel.
»Wie wird das Wetter heute, Bissie?«
»O, es wird wahrscheinlich noch regnen, es ist zu warm. Aber wenn Sie nur bis zum Rock fahren – sehen Sie das Wetter ja kommen und können leicht zurück sein, ehe es anfängt.«
»Komm, wir wollen uns eilen,« sagte Lea.
Wie zwei fröhliche Kinder liefen sie an den Strand hinab. Georg machte das Boot los, schob es ins Wasser und half Lea hinein.
Sie setzte sich ans Steuer, während er kräftig drauflos ruderte. In einer halben Stunde hatten sie den Felsen erreicht. Das Meer war so ruhig, daß Lea nicht das geringste Unbehagen spürte.
Eine in den Fels gehauene Treppe führte zu der Plattform, auf der die ehemalige Kapelle erbaut war. Sie war im Laufe der Zeit völlig verwittert, die zum Teil zerstörten Mauern mit Moos und üppig wuchernden, weißblühenden Schlingpflanzen bedeckt.
Georg zog die Segeltuchvorhänge auf, die Bissie vor der Thür und dem großen Bogenfenster angebracht hatte, um das Eindringen des Regens zu verhindern. Dann führte er Lea in das Innere der Kapelle.
»Sehr gemütlich ist es hier nicht,« fügte er lächelnd, während sie ihm neugierig und zugleich tiefbewegt folgte.
Das ganze Mobilar bestand aus Georgs Malgerät, das in einer Ecke aufgestapelt war, aus einem Divan, einem Sessel und einem Tisch. Auf dem ehemaligen Altar im Hintergrunde stand eine mächtige Schiffslaterne.
»Und doch habe ich manchmal Tage und Nächte hier zugebracht,« sagte Georg.
»Georg, was haben wir beide gelitten, ehe wir uns wiederfanden,« murmelte sie leise. Dabei lehnte sie sich an seine Brust und blickte sich um in diesem romantisch dürftigen Raum, wo ihr Freund nur seinem Schmerz, nur seiner Erinnerung an sie gelebt hatte.
Das Gewölbe hatte grade über dem Chor einen Spalt, durch den der blaue Himmel und die Baumzweige hereinblickten.
Georg schob den Divan an das halbverfallene Fenster, damit Lea auf das Meer hinaussehen konnte. Die Sonne stand schon fast im Mittag und sandte ihre glühenden Strahlen senkrecht auf die Wasserfläche hinab, die wie flüssiges Kupfer schimmerte.
»Ich bin froh, daß keine andre Frau wie ich mit hierher gekommen ist,« sagte Lea.
Georg erriet, daß sie an die Frauen Italiens dachte, die ihn in die Geheimnisse der Wollust eingeweiht hatten. Und jene flüchtigen Freuden erschienen ihm in der Erinnerung so schal und nichtig, daß er nicht einmal mehr bereute, sie genossen zu haben.
Er gab keine Antwort, sondern blickte ihr tief in die Augen.
So saßen sie lange schweigend nebeneinander, und tiefer Friede zog in ihr Herz ein.
Endlich brach Lea das Stillschweigen:
»Wenn ich daran denke, wie Pirnitz und Friederike jetzt in Paris um die Befreiung der Frauen kämpfen. – Sie halten es für ihre Pflicht, sie vor der Tyrannei und vor der Liebe der Männer zu schützen. – Und lange Zeit hab' ich auch daran geglaubt. – Aber jetzt weiß ich, daß es meine Pflicht war, zu dir zu kommen, bei dir zu bleiben und dich zu lieben. – Siehst du, ich muß so oft an das denken, wovon du und Tinka damals am ersten Abend spracht. – Damals in Paris glaubte ich das rechte zu thun, und jetzt bin ich ebenso fest überzeugt, daß es meine Pflicht ist, bei dir zu bleiben. – Georg, du bist dir so wunderbar klar über die innersten Vorgänge des Seelenlebens – sag' mir, wie kommt es, daß ich mich jetzt so tief ruhig fühle?« Er blickte nachdenklich auf das Meer hinaus. Dann sagte er:
»Ja, Lea, darüber habe auch ich oft nachgegrübelt, als du noch ferne von mir warst. Ich bin ebenso wie du der Meinung, daß Pirnitz, – Friederike, – Edith recht thun, – und daß Tinka und ich damals recht thaten, als wir Larmsoe verließen. – – Die Notwendigkeit, das Weib zu befreien, ist keine Utopie – denn das Weib von heute ist wirklich eine Sklavin. Der Mann von heute ist ihr Feind und ihr Tyrann. Aber das wird nicht immer so bleiben. Pirnitz' Theorien taugen nur für eine Zeit des Kampfes, sie werden in sich selbst zusammenfallen an dem Tage, wo die Frau ihr Ziel, – die Gleichberechtigung mit dem Manne, erreicht hat. Und es hängt nur von uns ab, dieses Ziel schon jetzt, in unsrer Ehe, zu verwirklichen.«
»Das ist wahr,« murmelte Lea, – »warum sollte ich in dir, den ich von ganzen Herzen liebe, meinen Feind sehen? Ich weiß ja, daß du nur mein Bestes willst.«
»Ja, Lea, nur dein Bestes. Ich will dich nicht als Sklavin. Ich habe mich, Gott sei Dank, von dieser sinnlosen Tradition freigemacht. – Und wenn nun wirklich jene zukünftige Stadt ersteht, die uns als höchstes Ziel vorschwebt, so wird es überhaupt keine Sklaverei und keine Unterwerfung zwischen Mann und Weib mehr geben. Und ich bin fest überzeugt, daß beide im Bewußtsein ihrer Liebe doppelt stark sein werden, ohne daß einer sich für den andern opfern muß.
»Georg, Georg,« rief Lea, und ihre Augen strahlten in verklärtem Glanz, »wenn das wahr ist, was du da sagst, wenn ich wirklich das Recht haben soll, auf die Mitarbeit an Pirnitz' und Friederikens Werk zu verzichten, dann muß ich selbst jene neue Eva werden, die sie verkündigen, das Weib jener zukünftigen Stadt. Ja, Georg, nur dann werde ich wirklich deiner würdig sein.«
Schweigend zog er sie an sich. In diesem Augenblick bedauerte keines von ihnen, was sie gelitten hatten, sie wußten jetzt, wozu all diese schweren Prüfungen notwendig gewesen waren. Was die ganze Menschheit beiderlei Geschlechts Jahrhunderte hindurch hatte leiden müssen, um sich die gleichen Rechte zu erkämpfen, das hatten sie während der kurzen Zeit ihrer Jugend an sich selbst erduldet. Und eben das hatte sie schon jetzt zu jener Höhe herangereift, zu der die andern nur sehnsüchtig emporblickten.
Einen schweren Leidensweg waren sie gegangen, ehe sie sich selbst gefunden hatten. Und auch dann hatte es noch eine Zeit gedauert, bis sie einander ganz und voll erkannten.
Aber jetzt, heute – in diesem Augenblick, standen sie sich frei gegenüber. Es war ihr eigener, freier Wille, einander anzugehören – ohne Tyrannei und ohne Unterwerfung. Ihre Lippen fanden sich wie an jenem Abend in Richmond, aber statt der schmerzlichen Verwirrung, die sie damals wieder voneinander getrennt hatte, empfanden sie jetzt nur seligen Frieden.
Dann ließen sie sich wieder los und blickten sich an.
»Sieh dort, « sagte Georg, und zeigte auf das Meer hinaus.
Der Himmel hatte sich bezogen. Schwere Wolken türmten sich im Westen auf wie eine phantastische Stadt mit Thoren und Säulenhallen. Und darüber goß die Mittagssonne ihren blendenden Schein aus. Wie ein kupferner Spiegel lag das Meer da, aus dem diese märchenhafte Riesenstadt emporgestiegen zu sein schien.
Lea und Georg schlossen geblendet die Augen. Ihnen war, als ob der monumentale Wolkenbau näher und näher heranrückte, um sie in sich aufzunehmen.
Und angesichts dieser zukünftigen Stadt, zu deren Bewohnern sie auserwählt waren – feierten sie endlich das Fest ihrer Liebe. – –
Als sie wie aus tiefem, wollüstigem Traum wieder erwachten, war die Sonne verschwunden, der ganze Himmel mit dunklen Wolken bedeckt. Dazwischen zuckten hier und da fahle, schwefelgelbe Lichter auf.
Rasch eilten sie zum Boot hinunter. Georg ruderte mit Anspannung aller Kräfte, um das Land zu erreichen, ehe der Sturm losbrach. Leas Blässe beunruhigte ihn, aber sie lächelte ihn an und zeigte keine Angst.
»Du fühlst dich doch nicht krank?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. Weder der trübe Himmel, noch das drohende Gewitter, das sie sonst so sehr fürchtete, vermochten ihre tiefe Glückseligkeit zu trüben.
Sie hatten bald die Küste erreicht. Während Georg das Boot festmachte, stand Lea und blickte auf das Meer hinaus, das immer unruhiger wurde.
»Komm rasch,« rief Georg und zog sie mit sich fort.
»Aber wir werden Torquay kaum mehr erreichen, ehe das Gewitter kommt,« sagte sie immer noch strahlend.
»Nein, wir wollen auch jetzt nicht nach Torquay zurück. Wir flüchten uns zu Bissie und warten es dort ab.
Hand in Hand liefen sie den schmalen Fußweg hinauf. Ein brausender Wirbelwind fegte jetzt über das Strandplateau hin und die ersten kalten Regentropfen schlugen ihnen ins Gesicht.
Bei der Hütte angelangt klopfte Georg an die Thür. Sie schien verschlossen zu sein. Inzwischen begann ein heftiger Platzregen niederzurauschen, Georg schützte Lea, so gut er konnte.
»He, Bissie!« dabei schlug er mit der geballten Faust gegen die Thüre. Endlich hörte man drinnen schwerfällige, schleppende Schritte, und eine alte Frau mit runzligem, verwittertem Gesicht machte ihnen auf.
»O, Sie sind es, Sir! Aber daß Sie bei dem Wetter draußen sind!«
»Mutter Kate,« sagte Georg, – haben Sie ein warmes Zimmer und etwas heißen Thee? Meine Frau ist ganz durchnäßt.«
»Ich werde gleich Feuer anzünden, Sir, wir haben heute keins, weil Sonntag ist.«
»Gut, aber machen Sie rasch.«
Georg bestand darauf, daß Lea ihr Kleid und ihre Stiefel auszog und sich ins Bett legte. Sie gehorchte lächelnd, um ihn zu beruhigen.
»Wo ist Bissie?« fragte Georg.
»Er ist fortgegangen, aber er wird gewiß bald wiederkommen.«
Dann ging sie in die Küche, um Feuer zu machen. Zwischendurch schleppte sie die verschiedenen Requisiten für den Thee herbei und ordnete alles auf dem runden Tisch, der mit einer groben weißen Serviette bedeckt war.
Georg saß neben Lea und hielt ihre Hand. Er sah, daß ihre Augen fieberhaft glänzten. Aber der Puls war ruhig und regelmäßig, und ihre Haut fühlte sich kühl und frisch an.
»Ich möchte dich der Obhut der Alten anvertrauen,« sagte er dann, »und rasch nach Torquay laufen, um einen Wagen zu holen.«
»Nein, nein, geh nicht fort von mir,« bat sie flehend, »wir sind hier zu gut geborgen. Wenn Bissie zurückkommt, kannst du ihn schicken.«
Er blieb. Draußen tobte jetzt das Gewitter. Der Regen schlug gegen die Fenster.
Es dauerte lange, bis der Thee fertig war.
Plötzlich flog ein Zucken über Leas Gesicht. Ihre Finger umklammerten krampfhaft die Hand ihres Mannes. Dann schlugen ihre Zähne aufeinander und sie begann am ganzen Körper zu zittern. Georg beugte sich erschrocken über sie.
»Kate, Kate, eilen Sie sich. – Rasch den Thee.«
Es vergingen noch ein paar Minuten, dann brachte sie ihn.
Der Schüttelfrost hatte sich inzwischen gelegt. Aber Lea bebte noch am ganzen Körper, während sie das heiße Getränk hinunterschluckte, und dicke Schweißtropfen perlten auf ihrer Stirn.
»Mir ist schon besser,« sagte sie – »bitte, bitte, ängstige dich nicht.«
Sie versuchte sogar, über den schlechten Thee zu scherzen, um ihn zu beruhigen.
Dann erschien Bissie. Als er Georg und Lea sah, blieb er einen Augenblick stehen, aber ohne ein Wort zu sagen. »Bissie,« sagte die Alte, »Sir Georg und seine Frau sind vom Regen überrascht worden. Du mußt einen Wagen für sie holen.«
»Gut,« sagte der Alte.
»Aber rasch, Bissie,« sagte Georg, »da ist Geld.«
Er machte sich sofort auf den Weg. Lea fühlte sich jetzt wirklich besser. Allmählich schlief sie ein. Von namenloser Angst erfüllt, saß Georg an ihrem Bett, ohne ihre Hand loszulassen. Die Alte kam herein, um den Tisch abzuräumen, aber Georg schickte sie wieder hinaus. Das Unwetter hatte nachgelassen und war in ruhigen, gleichmäßigen Regen übergegangen.
Nach einiger Zeit schlug Lea lächelnd die Augen auf.
»Mir ist wieder ganz wohl,« sagte sie noch einmal, um Georg zu beruhigen.
Dann plauderten sie miteinander. Im Laufe des Gesprächs fragte Lea:
»Sag' mal, was betreibt Bissie eigentlich? Die Alte sagte vorhin, er hätte jetzt wieder Arbeit.«
Georg zögerte einen Augenblick:
»Bissie ist Totengräber.«
Lea schien seine Antwort ganz ruhig aufzunehmen und sprach von andren Dingen. Dann bat sie Georg, einmal aus dem Fenster zu schauen, wie es mit dem Wetter stände. Die Alte erschien auf der Schwelle und sagte:
»Der Wagen kommt.«
Und nun beugte Lea sich zu Georg hinüber und flüsterte ihm ins Ohr:
»Georg, wenn ich hier sterben sollte, so möchte ich auf unserm Felsen begraben werden, angesichts des Meeres.«