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Nach reiflicher Überlegung beschloß Friederike, den Präsidenten im Palais aufzusuchen, ohne sich vorher anzumelden.
Am Morgen nach ihrer Rückkehr von Pondenats begleitete Pirnitz sie bis an die breite Marmortreppe, die zur Galerie Harlay hinaufführt.
Friederike bebte vor innerer Erregung.
»O Romaine, muß es denn wirklich sein? – Noch nie in meinem Leben ist mir etwas so schwer geworden wie dieser Schritt.«
»Ja, ich weiß, daß es ein schwerer Gang für Sie ist,« erwiderte die Heilige. – »Jede andre wie Sie hätte den Gedanken daran von vornherein abgewiesen. Aber Sie dürfen jetzt nicht mehr zurück.
– Seien Sie stark, Friederike – denken Sie daran, daß Geneviève sonst wahrscheinlich verurteilt wird – und daß Sie es verhindern können.«
»Ich danke Ihnen – ich werde thun, was meine Pflicht ist.«
»Wo und wann sollen wir uns wieder treffen?« fragte Pirnitz, »ich muß Daisy beim Anwalt abholen. Wir haben dort noch etwas wegen der Kaution zu besprechen.«
»Kommen Sie mit Daisy in die Galerie Harlay. Wahrscheinlich werden Sie früher fertig sein als ich. Im günstigen Fall können wir dann alle zusammen zu Geneviève gehen und ihr die frohe Nachricht bringen.«
Friederike drückte ihrer Freundin noch einmal die Hand, dann stieg sie die Marmortreppe hinauf.
Im Palais fragte sie einen Diener, ob der Präsident d'Ulzac zu sprechen wäre.
»Der Herr Präsident wird erst gegen elf Uhr kommen.«
»Dann muß ich so lange warten.«
Sie wurde in ein kleines Wartezimmer mit roten Plüschmöbeln geführt. Ein paar Minuten später erschien der Diener wieder und überreichte ihr eine Liste, in die sie ihren Namen eintragen mußte. Dann saß sie da und wartete. Es schlug halb elf – dann elf. Das Wartezimmer füllte sich allmählich.
Dann ging plötzlich die Thür auf, und der Diener rief herein:
»Mlle. Legay-Sûrier!«
Friederike hatte schon erwartet, daß der Präsident sie gleich empfangen würde, wenn er ihren Namen las.
Sie stand auf und folgte dem Diener durch einen halbdunklen Gang, der zum Privatzimmer des Präsidenten führte. Dann öffnete er wieder eine Thür und wiederholte noch einmal ihren Namen:
»Mlle. Legay-Sûrier!«
Und nun stand sie mitten in dem großen, hellen Zimmer, dessen Wände mit den Porträts verschiedener hochgestellter Persönlichkeiten geschmückt waren. Monsieur d'Ulzac saß am Schreibtisch, den ganze Stöße von Akten bedeckten. Bei ihrem Eintritt erhob er sich.
Sie sah den hochgewachsenen, elegant gekleideten Mann mit den edelgeschnittenen Zügen und dem leichtergrauten Bart vor sich stehen, – sie sah, wie er seine Bewegung niederzukämpfen suchte, wie seine Lippen verräterisch zuckten – und in diesem Augenblick sagte sie sich: »Nein, ich muß fest bleiben, ich will nicht, daß er gerührt wird.« –
Sie warf ihm einen so strengen Blick zu, daß er sich rasch wieder faßte; er schien zu fühlen, daß ihr Wille der stärkere war.
Es entstand eine kurze Pause. Dann entschloß Friederike sich, zu sprechen:
»Herr Präsident, ich bin gekommen, um zu Gunsten einer unschuldig Verurteilten an Ihr Gerechtigkeitsgefühl zu appellieren.«
»Setzen Sie sich, Mademoiselle,« sagte er mit fester Stimme. Er hatte seine Selbstbeherrschung wiedergefunden.
Friederike nahm Platz. In kurzen, klaren Worten setzte sie ihm auseinander, daß es sich um Geneviève Soubize handle. Sie bat nicht um Schonung für eine Verbrecherin, sie wollte ihn nur darüber aufklären, inwieweit hier von einer wirklichen Schuld die Rede sein konnte.
Sie erzählte ihm von Geneviève und Daisy, – sie sprach davon, wie das Unternehmen zu stande gekommen und wie es sich weiter entwickelt habe, und berichtigte die falschen Ansichten, welche die feindlichen Zeitungen verbreitet hatten.
Der Präsident hörte anscheinend mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Dann und wann nickte er mit dem Kopfe.
Während sie sprach, blickte sie ihm ruhig und fest in die Augen, sie glaubte den Aufruhr zu fühlen, der in seinem Innern tobte. Und er hörte in Wirklichkeit kaum auf das, was sie sprach. Ein Gemisch von Freude und Schmerz bewegte das Herz dieses Mannes, der sich trotz seines Reichtums und seiner hohen Stellung einsam und verlassen fühlte. Und gleichzeitig erfüllte ihn der Gedanke, daß dieses schöne, junge Mädchen, dessen edle Seele aus jedem Worte hervorleuchtete – seine Tochter war, mit nie geahntem Stolz.
Und er fühlte wohl, daß sie von seinen weichen Empfindungen nichts wissen wollte. Wie eine gewöhnliche Bittstellerin war sie zu ihm gekommen, einzig und allein, um für jemand anders Gerechtigkeit zu suchen. Und er litt unsagbar unter dem Bewußtsein, daß er ihrer unnahbaren Strenge ohnmächtig gegenüberstand, daß er sie durch nichts in ihrem Entschluß wankend zu machen vermochte.
Um sie wenigstens so lange wie möglich festzuhalten, um sie nicht noch weiter von sich zu entfernen, heuchelte er das lebhafteste Interesse für den Fall Soubize. Er schob die Akten beiseite und machte sich verschiedene Notizen.
Dann erkundigte er sich nach der Schule, nach den übrigen Lehrerinnen. Er wußte sämtliche Namen, da er sich lebhaft für das Unternehmen interessiert hatte, wie er sagte. Friederike gab ihm bereitwillig Auskunft.
»Und Ihre Schwester?«
»Lea ist in England. Sie wird sich wahrscheinlich demnächst verheiraten.«
»Und Sie, selbst?«
»Ich wohne mit Romaine Pirnitz und Daisy Craggs zusammen in der rue de la Sourdière.«
Ihre Stimme verriet nicht die geringste Bewegung, während sie die verhängnisvolle Adresse nannte. Aber sie sah, daß der Präsident tief bewegt war. Und sie wollte ihn nicht ansehn, um nicht selbst in diesem tragischen Moment die Fassung zu verlieren. So heftete sie ihre Blicke starr auf eines der Bilder, das ihr gegenüber an der Wand hing. Schließlich nahm sie sich gewaltsam zusammen und fragte:
»Darf ich darauf rechnen, Herr Präsident, daß Sie sich dieser Sache annehmen?«
Leise, mit unsichrer Stimme antwortete er:
»Ich verspreche Ihnen, daß ich mein Möglichstes thun werde. Und ich hoffe, es wird mir gelingen. – Jedenfalls ist es ein sehr interessanter Fall.«
»Gestatten Sie mir die Frage, auf welche Weise Sie Ihren Einfluß geltend machen wollen?«
»Eine direkte Einwirkung von meiner Seite ist in diesem Fall ausgeschlossen, da ein solcher Schritt mich stark kompromittieren würde. – Sie verstehen mich, nicht wahr? Aber ich werde mich an den Staatsanwalt wenden und ich denke erreichen zu können, daß die Untersuchung, wenigstens zum Teil, noch einmal wieder aufgenommen und auf Unzurechnungsfähigkeit der Angeklagten erkannt wird. Nur muß ich Sie um strengste Diskretion bitten. Mein Name darf in dieser Angelegenheit nicht genannt werden.«
»Immer diese Diplomatie,« dachte das junge Mädchen – »dieser Mangel an moralischem Mut. – Aber immerhin – wenn nur der Gerechtigkeit Genüge gethan wird.« –
»Ich möchte nur gern Geneviève so rasch wie möglich die gute Nachricht selbst überbringen,« sagte sie dann. »Können Sie mir nicht die Erlaubnis verschaffen, sie sprechen zu dürfen? – Ich werde absolut diskret sein,« fügte sie hinzu, »ich verspreche Ihnen, daß Ihr Name nicht genannt werden soll.«
Monsieur d'Ulzac gab nach, obgleich es ihm sichtlich nicht ganz recht war. Er schrieb ein paar Zeilen, steckte das Papier in ein Kouvert und reichte es ihr.
»Sie brauchen das nur bei dem Untersuchungsrichter, der mit dieser Angelegenheit betraut ist abzugeben. Er wird Ihnen dann die gewünschte Erlaubnis erwirken. – Aber ich bitte Sie noch einmal, nichts von mir zu erwähnen. Ich rechne auf Ihre Diskretion,« –
Seine Ängstlichkeit verstimmte Friederike. So antwortete sie nur:
»Ich danke Ihnen, Herr Präsident.«
Dann stand sie auf, Monsieur d'Ulzac erhob sich ebenfalls.
»Werde ich Sie nicht wiedersehn?« fragte er, ohne es selbst zu wollen.
»Nein, ich glaube nicht.«
Er blickte sie so traurig an, daß sie selbst tiefes Mitleid mit ihm fühlte. Und plötzlich stieg ein warmes, zärtliches Gefühl in ihr auf, ein instinktives, gleichsam physisches Bedürfnis, sich in seine Arme zu werfen.
Aber er schien diese plötzliche Anwandlung von Schwäche nicht zu bemerken. Wenigstens bemühte er sich in diesem Augenblick, den kühlen Ton, den sie ihm gegenüber angeschlagen hatte, festzuhalten.
»Wenn Sie jemals wieder ein Anliegen an mich haben sollten – –«
»Für mich selbst werde ich nie etwas von Ihnen verlangen,« erwiderte sie entschlossen. »Aber ich werde Ihnen immer dankbar sein, wenn Sie um meinetwillen andern helfen.«
Damit reichte sie ihm die Hand, die er einen Augenblick festhielt. Sie sah, daß seine Augen feucht wurden, trotz seiner äußeren Ruhe.
»Leben Sie wohl,« murmelte sie, »ich muß jetzt gleich zu Geneviève gehen, um sie zu beruhigen.«
»Wenn Sie jemals an mich denken sollten,« sagte er etwas zögernd, »so bitte ich Sie – –«
»Ich verspreche Ihnen, immer nur mit größtem Respekt an Sie zu denken.«
Als sie die Thür hinter sich geschlossen hatte, überwältigte die Gemütsbewegung sie derart, daß sie sich an der Mauer festhalten mußte, um nicht umzusinken. Ein dumpfes Schluchzen rang sich aus ihrer Brust. Ihr ganzes Leben kam ihr mit einem Male so einsam, die Zukunft so leer und freudlos vor. Willenlos überließ sie sich ihrem Schmerz.
»Mein Gott, wenn er jetzt herauskäme und mich sähe.«
Sie erschrak so über diesen Gedanken, daß sie zusammenfuhr.
Mit einem plötzlichen Entschluß raffte sie sich auf und verließ das Palais.
Sie wandte sich zuerst zum Untersuchungsrichter. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis die Formalitäten erfüllt waren. Als sie, mit den nötigen Papieren ausgerüstet, in die Galerie de Harlay zurückkehrte, sah sie Pirnitz und Daisy auf einer Bank sitzen.
In einer plötzlichen Aufwallung von Freude stürzte Friederike ihnen entgegen.
»Geneviève ist gerettet.«
Daisy wurde bleich vor Bewegung. Sie faßte Friederikens Hand und küßte sie.
Dann riefen sie einen Fiaker an.
Es war etwa zwei Uhr, als sie in Saint-Lazare ankamen. Nachdem sie den von Monsieur Fournier ausgestellten Schein abgegeben hatten, führte eine barmherzige Schwester sie in das Sprechzimmer.
»Können wir Geneviève Soubize allein sprechen?« fragte Friederike.
»O gewiß, wenn es Ihnen lieber ist. Die Wärterin kann draußen auf dem Gange bleiben, für den Fall, daß sie einen Anfall bekommen sollte. Aber Geneviève ist im ganzen sehr ruhig und leicht zu behandeln. Seit sie so schwer krank war, ist es mit den Nerven bedeutend besser.«
Kurze Zeit darauf trat Geneviève ein, von einer Krankenwärterin begleitet, die sich gleich wieder zurückzog.
Wie ein artiges, kleines Schulmädchen ging sie auf die drei zu und umarmte sie:
»Guten Tag, Romaine – guten Tag, Daisy – guten Tag, Friederike.«
Daisy drückte sie lange und zärtlich ans Herz. Pirnitz und Friederike, waren so erschüttert, daß sie kein Wort zu sprechen vermochten. Geneviève war kaum wiederzuerkennen in ihrer Gefängnistracht; eine grobe, weiße Mütze verbarg ihre roten Locken, sie war blaß und mager geworden, und ihre einstige Lebhaftigkeit war völlig geschwunden. Sie war ruhig, unheimlich ruhig.
Daisy erkundigte sich teilnehmend nach ihrer Gesundheit.
»O, mir ist jetzt wieder ganz wohl. Und sie haben mich hier sehr gut gepflegt. Ihr könnt euch gar nicht denken, was ich für Kopfweh gehabt habe.«
»Ist es denn jetzt besser damit, Geneviève?« fragte Pirnitz. »Haben Sie gar kein Kopfweh mehr?«
»Nein – aber mein Gehirn ist ganz wie zusammengefroren. Könnt ihr euch vorstellen, wie ich es meine? Es ist so, als ob man eine kalte, schwere Masse hinter der Stirn hätte. Es ist recht dumm. Ich glaube, ich kann noch lange nicht arbeiten.« –
Sie saß regungslos auf ihrem Stuhl und sagte alles halb resigniert, halb geistesabwesend vor sich hin. Die arme Daisy mußte sich krampfhaft zusammennehmen, um nicht zu weinen.
Pirnitz fragte sie leise:
»Glauben Sie, daß ich es ihr sagen kann?«
»Versuchen Sie es. – Wenn ich mit ihr über das, was sie gethan hat, sprechen wollte, hat sie nur unzusammenhängende Sachen geredet.«
»Wir bringen Ihnen heute eine frohe Nachricht, Geneviève,« sagte die Heilige.
»Ah – was für eine denn?«
»Es ist so gut wie sicher, daß Sie nicht vor die Geschworenen kommen, daß Sie demnächst auf freien Fuß gesetzt werden.«
Geneviève blickte Pirnitz gespannt an, sie schien nicht recht zu verstehen, was sie meinte.
»Geneviève,« wiederholte Pirnitz, »freuen Sie sich denn nicht darüber?« –
Sie schien angestrengt nachzudenken und blickte alle der Reihe nach an.
Dann fragte sie ganz schüchtern:
»Muß ich jetzt Stunde geben?«
Daisy brach in Thränen aus. Als Geneviève das sah, stürzte sie auf sie zu und umarmte sie:
»Nein, weine nicht, Daisy – wir wollen zusammen heimgehn. – Wir haben ja unsre schönen, hellen Zimmer in der Schule.« –
»Ja, ja, mein Kind,« stammelte Daisy.
»O ja,« fuhr Geneviève fort, »wir werden so glücklich miteinander sein. Es ist sogar viel besser, wenn wir in der Schule wohnen. Es ist ein großes, edles Werk, das wir zu erfüllen haben. Wir wollen die Kinder zu freien, selbständigen Frauen heranbilden, die ohne Männer existieren können.«
Sie reckte sich empor und fuhr fort, wie wenn sie zu einer Versammlung spräche:
»Die Frau muß in erster Linie Mensch sein, mit freiem Willen und unter eigner Verantwortung. Und deshalb muß sie vor allem unabhängig dastehn, sich selbst ihr Brot verdienen können. Wir wollen unsre Schülerinnen durch guten Unterricht befähigen, sich von der Tyrannei des andern Geschlechts zu befreien. Nur auf diesem Wege kann die Gleichberechtigung der Geschlechter erreicht werden. – Sie haben dieselben Rechte wie die Männer – sie müssen sich dessen nur bewußt werden.«
Geneviève hielt einen Augenblick inne und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als ob sie ihre Gedanken sammeln wollte.
»Ja, die Männer – die Männer haben uns Jahrhunderte lang tyrannisiert. Die Frau, die des Mannes nicht entbehren kann, ist ein verächtliches Geschöpf. Das Weib der Zukunft, die neue Frau, muß eine Auserwählte sein, die jungfräuliche Priesterin der Moral.– – Sie wird – – sie wird – –«
Wieder hielt sie inne und blickte ihre Freundinnen verstört an. Daisy faßte sie am Arm. Pirnitz und Friederike traten aus die beiden zu:
»Ich hab' immer noch etwas – Kopfweh,« sagte Geneviève stockend und griff sich an die Schläfen. »O, laß uns heimgehn, Daisy, ich bin so müde.« –
Daisy zog sie sanft auf ihren Schoß und suchte sie zu beschwichtigen wie ein kleines Kind.
Friederike konnte diesen Anblick nicht mehr ertragen, ihr war zu Mute, wie einem Gläubigen, der seine Heiligtümer geschändet sieht, während sie diese unbewußte Parodie ihrer höchsten Ideale aus dem, Munde einer Irrsinnigen mit anhören mußte.
»Romaine, lassen Sie uns gehen.«
In diesem Augenblick trat die Schwester wieder ein, um Geneviève abzuholen. Geneviève ließ sich ohne ein Wort zu sagen hinausführen.
Als sie verschwunden war, blieben die andern noch eine Zeitlang in trübem Stillschweigen sitzen.
Dann brachen sie ebenfalls auf.