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III

Seit die bedrängte Lage der Schule für das ganze Stadtviertel zum Tagesgespräch geworden war, konnte man sich auch den Schülerinnen nicht mehr verheimlichen. Die ganze Kinderschar war in großer Erregung. Keines von ihnen dachte daran, gegen die Schule Partei zu nehmen. Im Gegenteil, sie überboten einander in den phantastischsten Plänen, wie sie dieselbe retten wollten.

Von den Lehrerinnen waren es hauptsächlich Geneviève Soubize und Daisy Craggs, die sich gegen die Unterdrückungsgelüste der Männer empörten. Sie wären jeden Augenblick bereit gewesen, mit der Gesellschaft zu brechen, um sich nicht von ihr tyrannisieren zu lassen. In Daisy regte sich manchmal wieder der Revolutionsgeist, der sie in ihrer Jugend beseelt hatte, und Geneviève machte kein Hehl ans ihren anarchistischen Neigungen.

Schon als kleines Mädchen hatte sie begeistert Daisys Erzählungen von den irischen Aufständen gelauscht. Dann war es hauptsächlich die Lektüre von Grave und Kropotkin, die sie immer tiefer in den Geist des Anarchismus eindringen ließ.

Später hatte sie dann, um etwas mehr zu verdienen, eine Stelle als Gesellschafterin angenommen bei einer gewissen Lady Jackson, in deren Hause sie gezwungen war, jede freie Meinungsäußerung zu unterdrücken. Der Freund dieser Dame, Sir James Bartlett, der Geneviève fast täglich dort traf, war der Typus des feudalen Großgrundbesitzers, der in seinem bodenlosen Egoismus nur sich selbst und seinesgleichen die Existenzberechtigung zuerkannte.

Das häufige Zusammensein mit diesen beiden Menschen hatte sie noch mehr in ihrem Freiheitsdrange, in ihrem Verlangen nach einem sozialen Ausgleich bestärkt.

Friederike und Pirnitz pflegten sie gewöhnlich zur Mäßigung zu ermahnen, aber jetzt, inmitten der allgemeinen Erregung, that sie ihren Gefühlen keinen Zwang mehr an und ereiferte sich immer heftiger gegen die konventionelle Heuchelei, gegen die Herrschaft der Kapitalisten, gegen die Unterdrückung aller Freiheitsbestrebungen.

Daisy und Geneviève hatten sich fast noch mehr an einander geschlossen, seit sie in der Schule wohnten. Beiden war es schwer geworden, ihre alte Wohnung zu verlassen und sich dem streng geregelten Leben, das die Disziplin ihnen auferlegte, zu bequemen. Man hatte ihnen zwei schöne geräumige Zimmer angewiesen, die durch eine Thür mit einander verbunden waren, und doch sehnten sie sich oft nach der alten, lustigen Bohêmewirtschaft in der Avenue de Sigur zurück. Geneviéve konnte sich nicht recht an die Beschränkung ihrer persönlichen Freiheit gewöhnen, sie haßte alles, was einem System ähnlich sah. Besonders in letzter Zeit, seit die Lage der Schule immer bedenklicher wurde, hatte ihre Erregbarkeit sich in einer Weise gesteigert, daß Daisy sich manchmal ernste Sorgen machte.

Die Situation wurde indessen immer schwieriger. Mlle. de Sainte-Parade lag hoffnungslos darnieder, und die Gläubiger der alten Dame hatten den Agenten Quignonnet damit beauftragt, ihre Forderungen einzutreiben. Ein paar Tage nach der Unterredung mit Friederike traf ein Schreiben von Duramberty ein, in dem er der Administration mitteilte, die Kaution sei im Namen der Gläubiger beschlagnahmt worden. Er selbst, Duramberty, halte es für überflüssig, diesen völlig berechtigten Forderungen entgegenzutreten. Dagegen wollte er der Administration drei Monate Frist geben, um die vollständige Summe zu ersetzen, die Hälfte sei binnen eines Monats zu deponieren.

Am selben Tage noch brachte die Semaine de Saint-Charles einen Artikel über die gegenwärtige finanzielle Lage der Schule, der dazu angethan war, den Kredit derselben aufs schwerste zu schädigen.

Friederike, Pirnitz und Mlle. Heurteau versuchten alles mögliche, um Geld herbeizuschaffen. Sie gingen zu den Eltern einiger Schülerinnen, zu verschiedenen andern Persönlichkeiten, die sich anscheinend lebhaft für das Unternehmen interessierten. Aber alles war umsonst. Geneviéve hatte sich sogar entschlossen, ihren einstigen Lehrer, Professor Bonchardon, aufzusuchen, der leitender Arzt an der Frauenklinik war. Aber sie kam ganz empört zurück:

»Dieser verwünschte, alte Kerl hat sich nicht einmal geschämt, schlechte Witze über uns zu machen.«

»Also Sie sind jetzt auch zur Frauenbewegung übergegangen, kleine Soubize? – Und eine Schule haben Sie gegründet? – Natürlich, ich habe es ja im Matin gelesen. – Die Frauenschule von Saint-Charles.– Aber mir scheint, Sie machen schlechte Geschäfte damit. – Das wundert mich übrigens nicht weiter – von solchen Sachen versteht ihr Frauen nun einmal nichts. – Nein, es ist wirklich schade um Sie, Sie waren eine von meinen besten Schülerinnen.« –

»So hätte er noch endlos weitergeredet, wenn ich ihm nicht einfach ins Wort gefallen wäre. Aber ich hab' mich vor ihn hingestellt und ihm gesagt: ›Bitte, hören Sie auf, wäre ich nicht Ihre Schülerin gewesen, so würde ich Ihnen einmal gehörig die Wahrheit sagen.‹ – Damit bin ich hinausgegangen, und er ist ganz verdutzt stehen geblieben.« –

Daisy war die einzige, die in dieser Richtung keine Schritte unternahm. Einmal wußte sie thatsächlich nicht, an wen sie sich hätte wenden sollen, und dann nahm die Sorge um Geneviéves Gesundheit sie momentan auch völlig in Anspruch, Den andern fiel es nur auf, daß Geneviéve nervös und leicht erregbar war, aber Daisy sah sie manchmal, wenn sie allein miteinander waren, in einem Zustand, der an Wahnsinn grenzte und gewöhnlich mit einem furchtbaren Nervenanfall endigte. Sie hatte schon als Kind und besonders während der Entwicklungszeit an solchen Anfällen gelitten, später waren sie fast gänzlich verschwunden, um dann, seitdem sie gezwungen war, im Schulgebäude zu wohnen, mit erneuter Heftigkeit wieder aufzutreten. Zum Glück kam es fast immer des Nachts, denn Daisy war stets bemüht, den Zustand ihres armen Pflegekindes vor den andern zu verbergen.

Als die Krämpfe immer häufiger und schlimmer wurden, konsultierte Daisy heimlich einen Specialisten.

»Es wäre entschieden das beste, wenn sie heiratete,« sagte der Arzt. – »Sie geben an, daß die Krisen nach Eintritt der Pubertät aufhörten. – Wenn sie jetzt wiederkommen, so ist das der beste Beweis, daß die Patientin eines regelmäßigen, geschlechtlichen Verkehrs bedarf.«

Daisy erzählte Geneviève weder von dieser Konsultation, noch von dem Rat, den der Arzt ihr gegeben hatte.

Aber in der nächsten Nacht kam wieder ein so heftiger Anfall, daß sie jeden Augenblick fürchtete, die andren Lehrerinnen möchten auf das laute Aufschreien des jungen Mädchens herbeieilen.

Gegen Mitternacht wurde es etwas besser, und Geneviève versank in tiefen Schlummer. Daisy saß neben ihrem Bett und dachte über ihr heutiges Gespräch mit dem Arzte nach.

»Heiraten! – heiraten!« brummte sie ärgerlich vor sich hin – »das ist das einzige Mittel, mit dem die Männer immer gleich bei der Hand sind. – Wenn ein junges Mädchen sich nicht ganz wohl fühlt, nur rasch einen Mann zu ihr ins Bett. Als ob zum Beispiel ich jemals einen Mann nötig gehabt hätte, und doch bin ich mein Leben lang ganz gesund gewesen.« – –

Sie beugte sich zu dem jungen Mädchen herab, faßte ihre schmale, weiße Hand und küßte sie.

»Nein, weiß Gott, es wäre gewiß nicht schwer, einen Mann für sie zu finden – sie ist so hübsch mit ihren weißen Schultern und ihren kindlichen Formen. Aber es wäre schade um sie, wenn sie irgend so einem Tölpel in die Hände fallen sollte. – Und was sollte aus mir werden, wenn ich mich von meiner geliebten Kleinen trennen müßte?«

Dann glaubte sie wieder die Worte des Arztes zu hören:

»Wenn Sie die Kleine nicht bald verheiraten, wird sie über kurz oder lang irgend einen dummen Streich begehen, der nicht wieder gut zu machen ist. Und was dann?« –

Daisy hatte ihn nicht gefragt, was er damit meinte. Sie konnte sich nicht recht vorstellen, was Geneviève denn imstande sein sollte, zu thun. – Ach, wenn sie doch auch so ihr Leiden überwinden könnte, wieder gesund werden, ohne zu heiraten, ohne sich von ihrer Pflegemutter zu trennen. – –

Daisy ließ sie am nächsten Morgen bis sieben schlafen. Um halb acht hatte Geneviève eine Chemiestunde zu geben. Den Rest des Vormittags brachte sie mit medizinischen Studien zu. Es war ihr höchster Wunsch, das ärztliche Examen zu bestehen, damit die Schule einen eigenen Doktor zur Verfügung hätte.

Am Nachmittag wurde eine Sitzung abgehalten, um zu beraten, wie die Angelegenheit mit Duramberty geordnet werden sollte. Morgen war der Tag, wo die erste Hälfte der Kaution eingezahlt sein mußte. Alle waren in tief deprimierter Stimmung, niemand wagte, die Hoffnung auf eine günstige Wendung zu äußern. Friederike und Pirnitz meinten, das einzige, was man thun könne, sei, abzuwarten, ob Duramberty irgend welche Maßregeln ergreifen würde. Bis dahin würde man vielleicht wenigstens einen Teil der erforderlichen Summe herbeischaffen können.

»Auf jeden Fall kann er uns nicht ohne weiteres zwingen, die Schule zu verlassen,« bemerkte Friederike. »Wenn er uns den Gerichtsvollzieher schickt, so klagen wir. Ein derartiger Prozeß dauert Monate lang. Und bis dahin treiben wir das Geld irgendwie auf.«

»Ich wüßte noch eine andre Lösung,« erwiderte Mlle. Heurteau, »aber auf die wird wahrscheinlich keine von Ihnen eingehen wollen.«

»Die Schule an den Staat oder die Gemeinde verkaufen?« rief Friederike – »Niemals!«

»Man sieht aus Ihren Worten, daß Sie von diesen Dingen keine Ahnung haben,« entgegnete Heurteau. – »Wenn die Schule verstaatlicht würde, wären wir viel besser dran. – Man muß es nur verstehen, die Vorschriften geschickt zu umgehen.«

Aber Friederike unterbrach sie in so strengem Tone, daß sie tief errötete:

»Glauben Sie, daß wir damit unsern Schülerinnen ein gutes Beispiel geben würden? – Wir dürfen uns keinem Gesetz unterordnen, das nicht mit unsren Überzeugungen übereinstimmt.« –

Die Sitzung wurde aufgehoben, ohne daß man irgend einen Beschluß gefaßt hätte. Duramberty war der einzige Gläubiger, der gefährlich werden konnte. Aber wenn er den Gerichtsvollzieher schickte, würde man ihm einstweilen 80 000 Francs anbieten. Der Anwalt, den sie wegen dieser Angelegenheit befragt hatten, hielt es für wahrscheinlich, daß er darauf eingehen würde.

Geneviève war den Verhandlungen mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt, ohne an der Diskussion teilzunehmen. Daisy beunruhigte sich über ihr Stillschweigen und fragte sie wiederholt, was sie dazu meine. Aber Geneviève gab nur ausweichende Antworten.

Der Tag verging wie alle andern Tage. Die Lehrerinnen hatten beschlossen, sich durch die drohende Gefahr nicht von der Erfüllung ihrer gewohnten Pflichten abhalten zu lassen.

Als Daisy gegen sieben Uhr in ihr Zimmer trat, um wie gewöhnlich Geneviève zum Abendessen abzuholen, war diese nicht da. So ging Daisy denn allein hinunter, ohne sich jedoch weitere Gedanken darüber zu machen.

Aber im Eßsaal fand sie zuerst nur Mlle. Heurteau und Lea – dann kamen Friederike und Pirnitz. – Die Schülerinnen waren schon vollzählig versammelt. Daisy Craggs fragte alle, ob sie Geneviève nicht gesehen hätten, und erfuhr, daß sie ungefähr um halb sechs ausgegangen sei.

Die Mahlzeit begann. Als Geneviève immer noch nicht erschien, fing Daisy an, unruhig zu werden. Sie war nicht imstande, etwas zu essen. Schließlich stand sie auf und sagte leise zu Pirnitz:

»Ich will mich anziehen und nachsehen, wo Geneviève geblieben ist. – Gewiß ist ihr irgend etwas passiert. –

Aber Pirnitz faßte sie am Arme und hielt sie fest.

»Nein, Daisy, Sie müssen hier bleiben.«

»Aber warum denn?« –

»Es geht nicht, Daisy – alles, was wir thun und lassen, wird beobachtet. Bedenken Sie, was für einen Eindruck es machen würde, wenn Sie jetzt auf der Straße herumlaufen, um eine von den Lehrerinnen zu suchen. – Außerdem brauchen Sie wirklich noch keine Angst zu haben, Sie wissen, wie impulsiv Geneviève ist. Vielleicht ist sie auf den Einfall gekommen, noch einmal zu Professor Bonchardon zu gehen.« –

»Glauben Sie?« fragte Daisy, wieder etwas beruhigt. Es war ja schließlich nicht so unwahrscheinlich.

»Ja, sie hat davon gesprochen. – Sie würden sie übrigens auch schwerlich treffen, wenn Sie ihr jetzt nachgingen. Wahrscheinlich wird sie bei Bonchardon warten müssen und erst ziemlich spät zurückkommen.«

Daisy erwiderte nichts. Sie verließ den Eßsaal und ging die Treppe hinauf. Im Grunde ihres Herzens war sie empört, daß man ihr verbieten wollte, Geneviève zu suchen.

»Es ist grausam von Pirnitz – es ist einfach abscheulich. – Nein, ich habe genug von dieser Schule. Meinetwegen soll sie zum Teufel gehn.«

In ihrem Zimmer angelangt, schob sie den Riegel vor und trat ans Fenster.

»Aber warum bleibt sie so lange weg, wenn sie nur zu Bonchardon gegangen ist?« –

Es fiel ihr wieder ein, daß Geneviève den ganzen Tag über so seltsam ruhig gewesen war. Sie mußte irgend etwas vorhaben. – Vielleicht hatte Pirnitz recht, daß sie doch noch einmal zu dem Professor gegangen war.

»Aber warum hat sie mir nichts davon gesagt?«

Es schlug – halb neun – neun – halb zehn. – Und nun war es Nacht, die Kinder waren längst schlafen gegangen. In tiefem Schweigen lag das große Schulhaus da. Daisy ging noch einmal zum Portier hinunter – aber niemand hatte etwas von Geneviève gesehen.

Einen Augenblick fühlte sie sich versucht, auf die dunkle Straße hinauszustürzen, – zu suchen – –

»Pirnitz hat es verboten.« –

So stieg sie langsam wieder die Treppe hinauf. Dann warf sie sich vor Genevièves Bett nieder und weinte.

Um dieselbe Zeit irrte Geneviève Soubize durch die breiten, stillen Straßen, die von der Place de l'Alma zu den Champs-Elysées führen.

Es war so, wie man Daisy gesagt hatte, sie war um halb sechs Uhr nachmittags fortgegangen, ohne irgend welchen Bescheid zu hinterlassen. Aber auf die Frage, wohin sie ginge, hätte sie wohl kaum gewußt, was sie antworten sollte. Sie war sich selbst nicht klar darüber, was sie thun wollte, sie fühlte sich wie von einem dunklen Instinkt vorwärts getrieben.

So lenkte sie ihre Schritte zuerst zur Fabrik Duramberty und fragte, ob der Chef zu sprechen sei. Nein, er war vor ungefähr fünf Minuten fortgegangen.

»Können Sie mir nicht sagen, wo er ist?« fragte sie, »ich habe ihm eine dringende Mitteilung zu machen.«

»Wahrscheinlich in seiner Privatwohnung, rue François Remier 6.«

Geneviève machte sich auf den Weg.

Es war ein herrlicher Sonnabend, ein leichter Nordwestwind kräuselte die Wellen der Seine. Ihr war so seltsam leicht und freudig zu Mute, sie fühlte ein lebhaftes Bedürfnis, sich zu bewegen, zu sprechen, irgend etwas zu vollbringen. Nur von Zeit zu Zeit empfand sie einen heftigen, zuckenden Schmerz im Nacken. Aber sie kannte dieses Gefühl schon und kümmerte sich nicht weiter darum. Es pflegte gewöhnlich einzutreten, wenn sie nachts einen Anfall gehabt hatte.

»Er muß zu Hause sein,« murmelte sie vor sich hin, als sie die Place de l'Alma erreicht hatte. Eben hatte die Uhr sieben geschlagen. Geneviève durchquerte den Platz, ging die Avenue Montaigne entlang, bis sie die rue François Remier erreicht hatte.

Nummer 6 war ein zweistöckiges, elegant aussehendes Haus, die schweren, eisernen Gitterthüren verschlossen.

Sie läutete. Als die Thür aufging, trat sie in den Vorplatz. Der Portier fragte, was sie wollte.

»Ich möchte Monsieur Duramberty sprechen.«

»Er ist nicht zu Hause. – Monsieur pflegt erst gegen elf, halb zwölf aus dem Klub zu kommen. Wenn Sie vielleicht etwas hinterlassen wollen?«

»Nein, danke schön, es ist nicht nötig.«

Geneviève trat wieder auf die Straße hinaus. Wie eine Somnambule ging sie weiter, durch die Avenue de Montaigne zurück, über die Place d'Alma. Es war nur ein Gedanke, den sie klar zu fassen vermochte: sie mußte Duramberty treffen, die Stunde abwarten, wo er aus seinem Klub kam. Langsam irrte sie immer wieder durch dieselben Straßen, unbekümmert um die Blicke der Vorübergehenden.

Dann wurde sie plötzlich müde und setzte sich auf eine Bank in der Avenue de l'Alma. Ihr Kopf begann zu schmerzen, sie konnte nicht mehr klar sehen – seltsame Gestalten schienen sich aus dem Dunkel hervorzuheben und dann wieder zu verschwinden.

Dicht neben ihr wurde eine Laterne angezündet. Der helle Lichtschein brachte sie plötzlich wieder zum Bewußtsein. Sie rieb sich die Augen, und ihre Gedanken konzentrierten sich wieder auf ihr Vorhaben. Dann kam ein Herr vorüber. Er blieb einen Augenblick stehen und setzte sich dann neben sie auf die Bank. Als sie sich immer noch nicht rührte, wollte er näher rücken. Geneviève stand rasch auf und ging weiter. –

Bald darauf stand sie wieder vor dem Hause, rue François Renner. Sie war mit einem Male wieder völlig bei klarer Besinnung.

Die Fenster des Hotels Duramberty waren geschlossen. Kein Lichtschein drang durch die Ritzen.

»Sollte er schon zu Hause sein?« dachte sie. Aber der Portier hatte gesagt: »Zwischen elf und halb zwölf!« Und es hatte eben erst halb elf geschlagen.

Sie suchte sich einen Beobachtungsposten, wo sie seine Rückkehr erwarten wollte. Zwei Häuser weiter fand sie eine Art Thorweg, der zu dem Anwesen eines Lohnkutschers führte. – – – Während sie so im Halbdunkel dastand und wartete, wurde sie sich erst völlig klar darüber, was sie thun wollte. Die Kopfschmerzen hatten aufgehört, ihr wurde so seltsam hell und leicht zu Mute. – Ja, Duramberty war der Feind, Duramberty wollte das große Werk zu Grunde richten – er verlangte 150 000 Francs, die sie ihm nicht geben konnten. Aber sie, Geneviève Soubize, wollte ihm Auge in Auge gegenübertreten. Und wenn er nicht nachgab, so mochte er demselben Schicksal anheimfallen wie alle Feinde und Unterdrücker des Volks, wie Burke und Cavendish, von denen Daisy ihr so oft erzählt hatte.

Ein eigentümliches Wollustgefühl durchrieselte ihren Körper bei diesem Gedanken. – Langsam zog sie einen blinkenden Gegenstand aus dem Busen, dessen Stahlklinge im Laternenschein blitzte. Es war ein Operationsmesser, das sie vorhin im Laboratorium zu sich gesteckt hatte, ehe sie das Haus verließ.

Jetzt rollte langsam ein Coupé die Straße entlang. Die beiden schimmernden Acetylenlaternen kamen immer näher. Rasch ließ sie das Messer wieder in ihre Taille gleiten. Der Wagen hielt vor dem Hause Nummer 6.

Duramberty stieg aus und rief dem Kutscher zu:

»Also morgen früh um acht.«

In diesem Augenblick trat Geneviève auf ihn zu:

»Monsieur –«

Der Fabrikant blickte sie erstaunt an. Er konnte ihre Züge durch den dichten Schleier nicht erkennen und hielt sie augenscheinlich für eine umherstreifende Dirne.

»Komische Manier, einen so um Mitternacht zu überfallen,« sagte er lachend. »Wo, zum Teufel, kommst du denn mit einem Male her?«

»Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Monsieur Duramberty.«

Sie schlug den Schleier zurück. Als er ihr hübsches Gesicht mit den rotblonden Locken sah, erkannte er sie sofort.

»O, entschuldigen Sie, Mademoiselle. Jetzt weiß ich, wer Sie sind. – Natürlich, Sie sind ja eine von den Lehrerinnen – – Sie verzeihen doch? Mit dem dichten Schleier – und um diese Zeit. – – Darauf war ich wirklich nicht gefaßt.«

»Gewiß, Monsieur, ich begreife vollkommen, daß Sie sich wundern. Ich war gegen sieben Uhr hier und hörte, daß Sie erst spät heimkämen. – Und da ich Sie absolut heute noch sprechen mußte, habe ich auf Sie gewartet.«

»Aber das war ganz richtig von Ihnen, es freut mich sehr,« entgegnete er. Dabei ließ er einen prüfenden Blick über ihren schlanken Körper und ihr zartes Gesicht gleiten.

»Sie haben mir also etwas zu sagen. Aber sehen Sie – hier in meiner Wohnung geht es nicht gut. Mein Diener ist noch auf und ich pflege niemals – – Damen mit nach Hause zu bringen. Ich würde Sie kompromittieren. Haben Sie etwas Zeit?«

»Soviel Sie wollen, Monsieur.«

»Dann will ich Ihnen einen Vorschlag machen. Ich habe ganz in der Nähe – in der rue la Trémoille – ein Absteigequartier, wo wir ungestört mit einander reden können.« –

Er hatte sie leicht am Arme gefaßt. Ihr Stolz empörte sich gegen die Art und Weise, wie er mit ihr sprach. Aber sie nahm sich gewaltsam zusammen, um ruhig zu bleiben.

»Ich muß ganz allein mit ihm sein.« –

»Gut, lassen Sie uns nur gehen,« sagte sie mit fester Stimme. Dann machte sie sich los und ging neben ihm her durch die stillen Straßen.

Ein Gefühl von tiefer Ruhe zog in ihr Herz ein.

»Es muß sein,« sagte sie sich, »es ist ein Akt der Gerechtigkeit.«

Er musterte sie währenddem verstohlen von der Seite und dachte:

»Das hätte ich doch nicht erwartet. – Die auserwählten Jungfrauen von Saint-Charles fangen an, liederlich zu werden. – Leider nicht alle. Aber was macht das? Die Kleine ist wirklich reizend.«

Als echter Pariser Lebemann wunderte er sich übrigens nicht weiter darüber. Ihm waren schon seltsamere Abenteuer passiert.

»Aber es ist kaum anzunehmen, daß sie mir hier um Mitternacht auflauert, blos weil sie Lust hat, eine Nacht mit mir beisammen zu sein – da muß noch etwas andres dahinter stecken. Ich möchte nur wissen, was die Damen sich da ausgedacht haben, um mich zu fangen.«

In der rue la Trémoille angelangt, blieb er vor einem Hause stehen und läutete.

Sie traten zusammen ein. Duramberty rief einen Namen in die Portierloge hinein:

»Monsieur Legrand.«

Dann führte er sie in ein Zimmer, das gleich links im Parterre gelegen war, und drehte das elektrische Licht auf.

Geneviève sah sich um, die Wände warm mit lichtblauer Seite drapiert und mit teilweise ziemlich lasciven Bildern geschmückt. In der Ecke stand ein niedriges Bett. Das Ganze machte den Eindruck eines Boudoirs.

Duramberty stand dicht vor ihr und sah sie lächelnd an. Sie hatte ihn noch nie so in der Nähe gesehen. Er kam ihr größer, männlicher, sympathischer vor, als sie gedacht hatte. Besonders fiel ihr der schön geschnittene Mund mit dem leichten, dunklen Schnurrbart auf.

»Aber setzen Sie sich doch. Legen Sie Ihren Umhang ab – Sie wollen nicht. Gut, so lassen Sie es. Aber darf ich Ihnen nicht eine kleine Erfrischung anbieten? Wir sind so rasch gegangen.« –

Er trat an einen Schrank, bückte sich und nahm eine Flasche Champagner heraus.

Geneviève saß auf einem niedrigen Stuhl und sah ihm zu. Heimlich tastete sie nach ihrem Messer.

»Jetzt wär' es leicht zu machen, wenn ich wollte.« – Und wieder durchrieselte sie jenes eigentümliche Wohlgefühl.

Duramberty richtete sich wieder auf. Er stellte zwei Gläser auf den Tisch und öffnete die Flasche.

»Trinken Sie, Mademoiselle.«

»Nein, danke, noch nicht. – Erst muß ich mit Ihnen sprechen.«

Er setzte das volle Glas hin und ließ sich resigniert nieder.

»So, jetzt wird sie mir die Geschichte ihrer Tugend erzählen. Und dann die Bedingungen. – Also sprechen Sie, Mademoiselle.«

Geneviève wurde plötzlich verwirrt. Sie war in diesem Augenblick mit einem Male wieder das wohlerzogene junge Mädchen. Die Umgebung, in der sie sich befand, dieser Mann, der ihr da gegenüber saß – die vollen Sektgläser – alles das erfüllte sie mit Abscheu. Sie schwieg.

»Nun,« sagte Duramberty, »ist es so schwer, darüber zu sprechen? Sie brauchen sich nicht zu fürchten, Sie sehen doch, daß ich kein Menschenfresser bin, wie Ihre Freundinnen behaupten.«

»Monsieur Duramberty,« begann sie zögernd. »Sie dürfen unsre Schule nicht zu Grunde richten.«

Duramberty vermochte sein Erstaunen nicht zu verbergen, daß sie so ungeschickt damit herausplatzte. Etwas mehr Diplomatie hatte er denn doch erwartet.

»Ihre Schule? Also das ist es. Aber ich will Ihrer Schule doch nichts zuleide thun.«

»Wir können die 150 000 Francs momentan nicht einzahlen – es ist unmöglich. – Aber wenn Sie Geduld haben wollen, – etwas warten – Sie wissen, daß Ihr Geld nicht verloren ist – – –«

Sie sprach leise, fast in bittendem Ton, und dabei fühlte sie, daß sie ganz anders hätte sprechen müssen. Sie fühlte, daß er sie nicht ernst nahm, denn er lächelte immer noch. Diese feierliche, geschäftliche Unterhaltung kontrastierte so komisch mit der ganzen Umgebung – mit den frivolen Bildern an der Wand, dem Bett im Hintergrunde – daß er sich Mühe geben mußte, um nicht laut aufzulachen. Geneviève merkte es plötzlich und hielt inne.

»Sie wollen uns also keine Frist geben?«

»Das hab' ich nicht gesagt.«

»Aber?«

Er gab sich jetzt keine Mühe mehr, ernst zu bleiben, sondern lachte hell heraus.

»Mein liebes Kind. Sie gabeln mich da um Mitternacht auf – in dem Moment, wo ich nach Hause komme und schlafen gehen will, auf offener Straße – einzig und allein, um mich mit Geschäftsangelegenheiten zu elenden. – Ich muß mir die Sache doch erst einmal überlegen. – Es hängt davon ab –«

»Wovon?«

»Von allem möglichen. Jedenfalls habe ich gar nichts dagegen, mit einem so hübschen Mädchen wie mit Ihnen zu unterhandeln. Das nimmt mich entschieden zu Ihren Gunsten ein. – Hat etwa Mlle. Sûrier Sie hergeschickt?«

Er rückte seinen Sessel etwas näher.

»Niemand hat mich hergeschickt. Kein Mensch weiß, daß ich hier bin.«

»Aha.«

Es war ihm nicht entgangen, daß bei den letzten Worten ein eigentümlicher Glanz in ihren Augen aufzuckte. Er fing an, mißtrauisch zu werden.

»Hysterisches Frauenzimmer,« dachte er. »Man muß sich etwas in acht nehmen.«

Er beobachtete von jetzt an jede Bewegung, die sie machte. Aber dieses seltsame junge Mädchen erregte seine Sinnlichkeit, und er war entschlossen, das tête-à-tête nicht ungenutzt vorübergehen zu lassen. Die Gefahr, die er instinktiv ahnte, reizte sein Verlangen nur noch mehr.

Er faßte ihre linke Hand. Sie ließ es geschehen. Mit der rechten tastete sie nervös nach der Stelle, wo das Messer sich befand. Dabei merkte sie nicht, daß Duramberty sich auch nicht die geringste Bewegung entgehen ließ. Dann beugte er sich über ihre Hand und liebkoste sie mit den Lippen.

Geneviève seufzte tief auf.

»Lassen Sie mich – ich bitte Sie, lassen Sie mich.«

Er gehorchte. Es dauerte einen Augenblick, bis sie ihre Selbstbeherrschung wiedergefunden hatte. So sehr hatte diese Liebkosung, – die erste, die ein Mann ihr hatte zu teil werden lassen – ihren armen, neuropathischen Organismus in Aufruhr versetzt. Als sie wieder sprechen konnte, sagte sie:

»Wollen Sie also den Termin hinausschieben? Uns etwas Schriftliches geben?«

»Entweder habe ich eine Wahnsinnige vor mir, oder die ganze Geschichte ist irgend ein Coup, den diese raffinierten Weiber gegen mich ausgeheckt haben,« dachte er.

»Ich verpflichte mich zu nichts,« sagte er dann, diesmal in trocknem Geschäftston. »Ihre Freundinnen sollen nur Vertrauen zu mir haben. Aber selbstverständlich werde ich die nötigen Maßregeln treffen, um mein Eigentum zu sichern.« –

Duramberty blickte sie scharf an und sah, wie sie rot und wieder blaß wurde – wie ihre rechte Hand unter dem leichten Umhang irgend einen Gegenstand zu umklammern schien. Er entschloß sich, sie bis zum Äußersten zu treiben, um endlich einmal zu erfahren, was sie bei ihm wollte. So stand er denn auf und fügte kühl hinzu:

»Ich will jetzt nichts mehr davon hören Mademoiselle, ich werde handeln, wie es mir gefällt.«

Er stand dicht vor ihr. Sie hatte das unklare Gefühl, daß sie in dieser Stellung gegen den kräftig gebauten Mann im Nachteil sei. Aber die Verzweiflung verdunkelte ihr Bewußtsein, ein sinnloses Verlangen überkam sie, irgend einen gewaltsamen Schritt zu wagen und dann fortzustürzen aus diesem Zimmer. – – Wie eine wilde Katze warf sie sich plötzlich auf ihn, mit der linken Hand krallte sie sich in dem Ausschnitt seiner Weste fest, während sie mit der rechten das Messer hielt und wie rasend auf ihn losstach. Duramberty taumelte zurück, trotz seiner Wachsamkeit hatte dieser plötzliche Angriff ihn überrascht. Während er versuchte, ihren Arm zu fassen und ihr das Messer zu entwinden, brachte sie ihm eine leichte Hautwunde am Halse und eine an der Hüfte bei. Aber dann ließ ihre Kraft nach, die kräftige Faust Durambertys umspannte ihre Rechte, – er faßte sie mit eisernem Griff bei der Schulter und schob sie vor sich her auf das Bett zu. Das Messer fiel lautlos auf den Pelz, der vor dem Bett ausgebreitet lag. Willenlos ließ sie die Arme sinken, ihr Widerstand war gebrochen, sie empfand nur noch eine seltsame, wohlige Abspannung. – Dann wußte sie überhaupt nicht mehr, was mit ihr geschah. Wie im Traum ließ sie alles mit sich geschehen. – –

Eine halbe Stunde später stand Geneviève dicht bei der Tür und suchte, so gut es eben ging, ihre derangierte Kleidung und ihre Frisur wieder in Ordnung zu bringen.

Sie weinte still vor sich hin und wandte das Gesicht hartnäckig der Wand zu. Duramberty ging nervös im Zimmer auf und ab und blickte sie von Zeit zu Zeit von der Seite an.

»Aber ich bitte Sie, mein Kind, seien Sie nicht so verzweifelt. Ich versichere, daß kein Mensch etwas davon erfahren wird. Sagen Sie mir nur, ob ich irgend etwas für Sie tun kann.« –

Sie antwortete auf keine seiner Fragen.

»Es ist nichts mit ihr anzufangen,« dachte er, »um so schlimmer für sie.«

Aus dem gelben Pelze zu Füßen des Bettes sah er den Griff des Messers hervorschimmern. Er hob es auf und überreichte es ihr lächelnd:

»Sie haben etwas vergessen.«

Geneviève fühlte nicht einmal die Ironie, die in seinen Worten lag. Mechanisch ließ sie das Instrument in die Tasche gleiten.

»Danke. Bitte, lassen Sie mich hinaus,« war alles, was sie sagte.

Er geleitete sie bis an die Haustür und ließ sich selbst den Schlüssel geben, um zu öffnen.

Als Geneviève draußen war, fing sie an zu laufen, bis ihr der Atem ausging. Dann lehnte sie sich an eine Mauer und brach in Tränen aus. – Es war gegen zwei Uhr morgens.

Dann hörte sie Schritte, irgend jemand kam die Straße entlang und pfiff vor sich hin. Sie ging weiter, bis ans Seineufer, dann wieder zurück. Schließlich kam sie wieder bei der Bank an, wo sie vor ein paar Stunden gesessen hatte. Wie ein verwundetes Tier sank sie auf die Bank nieder.

Ein Gefühl von unerträglicher Scham überwältigte sie. Ihr graute vor ihrem eigenen Körper. In Gedanken durchlebte sie noch einmal die Scene der vergangenen Nacht.

Die ganze Tragikomik ihres Attentats kam ihr erst jetzt zum Bewußtsein. Es hatte damit geendet, daß die Rächerin dem Schuldigen in die Arme sank.

»Der Elende, er hat einfach seine Muskelkraft geltend gemacht« – versuchte sie sich einzureden. Aber ihr Gewissen protestierte dagegen: »Nein, du kannst nicht behaupten, daß er seine Kraft mißbraucht hat. – Du hast dich ihm hingegeben.« Und plötzlich fiel ihr mit Entsetzen ein, daß sie einen Augenblick lang sogar seine Liebkosungen erwidert hatte.

»Ich bin ein elendes, verworfenes Weib. Ich kann Daisy nie wieder unter die Augen treten – sie küssen – mit diesem Mund – niemals –«

Sie mußte diesen Makel wieder von sich abwaschen. Aber wie? –

Sterben?

Es war nicht weit bis zur Seine. Aber würde sie sich durch den Tod von ihrer Schmach reinigen? Nein, es gab nur einen Weg, um zu sühnen – wenn sie sich für eine große und gerechte Sache opferte. Und wieder erfaßte sie das heiße Verlangen, einen Akt der Rache zu vollbringen.

Sie dachte keinen Moment daran, zu Duramberty zurückzukehren, aber sie erwog mit kaltem Blick, wen sie jetzt töten, an wem sie ihre Schmach rächen könne. Sie wußte kein andres Mittel, um den Sturm, der in ihr tobte, zu beschwichtigen.

Ihr erschöpftes, übermüdetes Hirn beschwor eine Halluzination nach der andern herauf. Sie sah sich wieder als kleines Mädchen im Zimmer ihrer Eltern – sie sah, wie Vater und Mutter sich berauschten, sich schlugen. Oder wenn der Vater fort war und die Mutter irgend einen fremden Mann mitbrachte. – Dann war sie wieder im Asyl für verwahrloste Kinder und Daisy kam und nahm sie mit sich in die Avenue de Ségur. – Thränen liefen über ihre Wangen, als sie an die Liebe und die Fürsorge dachte, die ihr dort zu teil geworden war.

Und dann kam die Zeit, wo sie bei Lady Jackson Gesellschafterin war. Sie sah Sir James Burtlett wieder vor sich, den Freund – und wahrscheinlich auch den Geliebten – ihrer Herrin mit seinem roten, glattrasierten Gesicht und dem kahlen Schädel. Wie oft hatte sie damals halb im Scherz gedacht wenn sie das würdige Paar seine niederträchtig despotischen Ansichten aussprechen hörte: Man sollte die beiden zusammenkoppeln und sie in der Seine ertränken wie ein paar Katzen. Das müßte ein Genuß sein und ein gutes Werk obendrein.

Und jetzt, wo sie verzweifelt und entehrt, wie eine heruntergekommene Landstreicherin hier auf dieser Bank saß – ah, wenn sie die beiden jetzt unter der Hand gehabt hätte.

Es war geradezu ein empörender Gedanke, daß sie immer noch am Leben und frei waren und wahrscheinlich ebenso wie damals über die Unglücklichen und Enterbten dieser Erde loszogen.

»Die Alte wohnt gewiß noch immer in ihrem Entresol in der rue du Colisée – ihm bin ich neulich noch in den Champs-Elysées begegnet. – Ah, wenn ich sie jetzt erwischen könnte.«

Die Begier, zu morden, glühte wie ein hitziges Fieber in ihren Adern. Sie vergaß ihre Schande und ihre Einsamkeit. Ohne einen bestimmten Plan zu fassen, aber gleichsam von neuer Hoffnung belebt, erhob die Unglückliche sich wieder und ging langsam in der Richtung auf die Champs-Elysées zu.


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