Wilhelm Raabe
Deutscher Adel
Wilhelm Raabe

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Zweites Kapitel

Fräulein Natalie erzählte; – wir aber haben ja doch wohl die Geschichte angefangen zu erzählen, und so behalten wir für eine Weile noch das Wort und sagen noch ein wenig weiter von dem Leihbibliothekar Karl Achtermann, obgleich er eigentlich nicht die Hauptperson in unserm diesmaligen Berichte ist.

Vor allen Dingen ist zu bemerken, daß er eine Privatwohnung, ziemlich eine halbe Meile von seinem Geschäftslokal gelegen, innehatte, ein drittes Stockwerk, in welchem er »mein Mann« – der »Vater Achtermann« und der »Papa« war und sowohl als Mann wie als Papa ein staatsbürgerlich häusliches Behagen genoß, das nichts zu wünschen übrig ließ – nämlich für die schadenfrohe, heimtückische, grinsende Nachbarschaft, die nicht selten Gelegenheit hatte zu bemerken:

»Uh, diesmal haben sie ihn aber mal wieder gehabt!«

Sie – sie, das waren Frau und Fräulein Achtermann. Erstere eine Matrone von fünfzig, letztere ein Kind – eine Tochter von achtundzwanzig Jahren; der Papa Achtermann selbst hatte seinen sechzigsten Geburtstag ganz in der Stille im März des laufenden Jahres begangen. Ganz in der Stille; denn daß sich jemand anders darum bekümmern konnte, war ihm eine so fremde Idee, daß sie ihm nicht einmal im Traume kam.

Den Taufnamen der Mutter haben wir trotz aller angewandten Mühen nicht in Erfahrung bringen können, und so bleibt sie uns leider bis auf den letzten Bogen dieser Geschichte die Frau Achtermann und wird höchstens dann und wann zur anmutigen Abwechslung oder in erregten Seelenmomenten zur »Madam«. Die Tochter war wirklich und wahrhaftig auf den Namen Meta getauft worden und hört also auch durch das ganze Buch darauf.

»Meta – fervidis
Evitata rotis,

alter Freund«, sagte Wedehop, den wir auch erst einige Seiten später genauer kennenlernen werden, zu dem Leihbibliothekar. »Ich weiß wahrhaftig nicht, was die jungen Leute gegen das junge Mädchen haben; aber sicher ist es, nimm es mir nicht übel, Achtermann, sie pflegen in ziemlich weitem Bogen drum herumzugehen; und Zeit wird es freilich, daß endlich einer von ihnen sich näher wagt, wenn auch auf die Gefahr hin, gründlich dabei auf den Sand gesetzt zu werden. Nun, du weißt: was ich dazu tun kann, der – rosigen Zauberin einen passenden Mann zu verschaffen, das tue ich, und so brauchst du die Hoffnung immerhin noch nicht ganz aufzugeben, sie ebenso glücklich – und – selbständig verheiratet zu wissen wie – wie – ihre gute Mama.«

»O, halte du wenigstens dich nicht über uns auf, Wedehop!« seufzte dann Achtermann, und der Hausfreund ging und übersetzte grimmig aus den neuern und neuesten Sprachen der Unterhaltung und des Berufs seines Volkes zur Weltliteratur wegen weiter.

Es gab vielleicht in der ganzen Stadt keinen zweiten Menschen, dessen Leben in so regelmäßiger Abwechslung von Ormuzd und Ahriman beherrscht wurde als das des Leihbibliothekars Achtermann. Bis auf den Sonntag und die hohen Feiertage, die Ahriman allein zugehörten, teilten sich das lichte und das dunkle Prinzip in das Dasein des Mannes mit fast peinlicher Achtung vor dem Prinzip des Rechtes und der Billigkeit. Von acht Uhr morgens an, wo er die Schwelle seines Geschäftslokales überschritt, bis zehn Uhr abends, wo er, nach langem Marsche durch die Stadt, wieder im Schoße seiner Familie sich vorfand, hielt das gute Grundwesen seine freundliche Hand über den Alten und lebte er im Lichte an dem dunkelsten Wintertage. Aber von zehn Uhr abends bis morgens siebenundeinhalb Uhr ließ sich Ahrimanes – nichts dreinreden. Um die letztangegebene Stunde erst ging Achtermann wieder vom Hause weg, und es war unbedingt schade, daß Zoroaster ihn nicht kennen und auf seinem Wege ihm das Geleit geben konnte: es würde dem weisen Perser wahrlich ein Vergnügen gewesen sein, ein fortlaufendes Abonnement bei ihm zu nehmen. Wir anderen unter den Gestirnen des Tages und der Nacht wandelnden Menschenkinder, denken wir uns aus unseren scheckigen Existenzen in die seinige hinein und – beneiden wir ihn, selbst in den Momenten, in welchen wir ihn auf diesen Blättern am meisten zu bedauern haben werden. Es öffnen wahrlich nicht alle, die eine Tür hinter sich zuziehen, eine andere, die in ein unbeschränktes Reich der Wunder, der Märchen und des Behagens führt und das alte Zauberwort: »Hinter mir Nacht, vor mir Tag!«, ganz und gar wahr macht!...

Der Leihbibliothekar Karl Achtermann war Leihbibliothekar aus Beruf.

»Wenn er nicht solch ein Phantastikus wäre, hätte er es auch gar nicht so lange ausgehalten!« sagte die Nachbarschaft, und ein Körnlein Wahrheit mochte auch hier wohl der öffentlichen Meinung zum Grunde liegen.

Achtermann verlieh seine Bücher nicht bloß, sondern er las sie zum größten Teil selber, ehe er sie verlieh. Daß er ein ästhetisches Gewissen besaß, konnte man nicht behaupten; aber er gab darin seiner Nation nicht das mindeste nach. Was will der geplagte Mensch mehr, wenn die Wände um ihn her leben und der Sonnenstrahl, der durch das Fenster fällt, voll ist von Gestalten?!

»So sind die Leute immer gewesen, und so sind sie heute noch«, seufzte Achtermann. »Seit unser Cervantes durch einen Barbier und einen in Salamanka graduierten spanischen Pastor in der Bücherstube zu Argamosilla hat aufräumen lassen, haben die Barbiere hier die Oberhand behalten; und so hat es sich wieder einmal erwiesen, daß kein kluger Mann irgendwas Gescheites aufs Tapet bringt für den Sonntag, ohne daß sich die Menschheit eine elenddumme Plage für jeglichen Alltag, den Gott werden läßt, daraus zurechtschneidet. Lies einmal das Kapitel nach in dem Ritter Don Quijote, Ulrich; und dann nimm dir nur ja recht zu Herzen, was uns eben der Herr Lizentiat – wollte sagen, der Herr Doktor und Professor der Ästhetik Mohn, der da jetzt vor der Tür seinen Regenschirm aufspannt, anzuhören gegeben hat. Er hat vollkommen recht, der Herr Doktor! Nimm Vernunft an, da es noch Zeit ist, mein Sohn; laß die Hände von all dem Blödsinn hier rund um uns her; und vor allen Dingen komme mir nicht wieder und sitze da nicht halbe Tage lang auf meiner Bücherleiter, um deine Phantasie zu vergiften und für den realen Tag durch und durch unbrauchbar zu werden.«

»Der Tropf hat glücklicherweise seinen linken Gummischuh vergessen. Morgen früh werde ich ihm mit demselben mitten in seiner Schulstube irgendeine kleine Freude und jedenfalls eine Überraschung bereiten!« lachte der junge Mensch auf der Bücherleiter: es war aber volle acht Jahre her, seit jener fröhliche Sommerregen herunterkam, vor dem sich der Professor der Ästhetik Dr. Mohn durch Regenschirm und Gummischuhe zu sichern gesucht hatte. Für uns von besonderem Interesse ist das Faktum, daß der Tag ein Sonnabend war, dem naturgemäß ein Sonntag folgte. An jenem Sonntage vor acht Jahren nämlich taten der Leihbibliothekar Achtermann und der Student von der Bücherleiter eine sehr edle Tat. Sie erretteten Wassermann vom Ersaufen, und sie adoptierten ihn.

»Die Steuer zahle ich; aber du nimmst das unglückselige Wesen mit nach Hause, Ulrich. Deine Mama wird nichts dagegen haben; ich aber wäre verloren, wenn ich das winselnde Geschöpf daheim aus der Tasche zöge und mir eine Tassenschale voll Milch von meiner Frau dafür ausbäte.«

Wie angenehm so ein schöner Sommertag, an dem man noch dazu eine gute Tat verübt hat, aussieht! Frau und Fräulein Achtermann hatten aus einem sicherlich stichhaltigen Grunde, der ihr eigen Vergnügen betraf, den Gatten und Vater seinem eigenen überlassen. Von der Stadt her klangen die Glocken, welche zur Morgenkirche einluden, und die Szene fand an einem der Kanäle statt, die in weiterer Entfernung von der Stadt die Ebene durchgleiten und dann und wann aus grünlichen Fettaugen auf schleimiger Oberfläche die kümmerlichen Föhrenbestände wie in ekelnder Verzweiflung anstarren.

Der Hund war damals höchstens zwölf Wochen alt und trug einen Strick um den Hals, an welchem ein Stein befestigt gewesen war. Dieser Stein hatte sich jedoch glücklicherweise aus der Schlinge gelöst, und die dem Untergange geweihte Kreatur war demzufolge für diesmal noch dem allgemeinen Tier- und Menschenlose entgangen. Durch die doch vorhandene Strömung war das Geschöpf vom linken Ufer zum rechten hinübergetragen worden. Am linken Ufer aber stand der bisherige Herr über Leben und Tod des Viehs und warf mit Schimpfworten, Obszönitäten, Steinen und Erdklößen sowohl nach dem winselnd ans Land kriechenden Hunde wie nach dem Herrn Leihbibliothekar Achtermann und dem Sekundaner Ulrich Schenck, der das Tier eben am Rückenfell packte und es völlig aufs Trockene zog.

»Kümmern Sie sich gar nicht um den Lumpen, Herr Achtermann«, rief der Schüler. »Wäre der Graben nur zehn Fuß schmäler, so wäre ich bereits drüben scharf bei ihm und hätte dem Halunken die Seele zu zwei Dritteln aus dem Leibe getreten. Lassen Sie ihn nur schimpfen; nehmen Sie sich nur noch einen Moment lang vor seinen Würfen in acht; gleich habe ich unseren Fang in meinem Taschentuch, und wir können ruhig mit ihm dort in der Heide Kriegsrat halten, was wir weiter mit ihm beginnen sollen.«

Das letzte »ihm« galt natürlich nicht dem wutentbrannten Strolch drüben am Bache, sondern dem atemlosen, keuchenden, wimmernden Hundevieh am diesseitigen Ufer.

»Du – Herrgott! Der Kerl hat dich getroffen, Ulrich! Du blutest am Ohr! – – Kanaille! Mörder! Spitzbube!« schrie Achtermann, seinen Stock schüttelnd.

»Selber Kanaille – selber Spitzbube – Hundedieb! Hundedieb!« brüllte es von drüben zurück.

»Lassen Sie nur dem Hundemörder das Pläsier!« lachte der Sekundaner, kurz mit der Hand an der getroffenen Backe herfahrend. »So, Azorchen – Amichen – nicht weinen – nein, nicht weinen! Jetzt die vier Zipfel zusammen; – da haben wir dich in Sicherheit und – nun, Herr Achtermann, bringen wir uns langsam, ruhig und siegesbewußt ebenfalls in Sicherheit. Gut anderthalb Stunden hat der Kerl bis zur nächsten Brücke; o Herr Achtermann, wie wird sich Fräulein Meta freuen, wenn Sie ihr dieses allerliebste Tierchen hier im Taschentuch von unserem Morgenspaziergang mit nach Hause bringen!«

»Ich?« stammelte der Leihbibliothekar, und daran knüpfte sich denn im Fichtengehölze das, was vorhin bereits über Steuerbezahlen usw. gesagt worden ist.

»Nun, dann wird sich meine Mama freuen müssen über unsere gute Tat! Einer außer mir und Ihnen, Herr Achtermann, muß es; sonst könnten wir den schauderhaften Köter dreist sofort nur selber wieder ins Wasser werfen.«

»Ich kenne deine Mama, Ulrich! Und für den Maulkorb komme ich auch auf. Sei jetzt nur ein guter Junge und nimm Vernunft an. Daß ich mit dem Tier unterm Arm nach Hause komme, ist doch keine Menschenmöglichkeit. Du hast es gut, Ulrich, du hast noch keine – Gesichter in deinem Leben kennengelernt; aber – werde nur erst mal so alt als ich; dann wirst du auch vielleicht davon zu reden wissen!«

»Nun, ein Gesicht wird meine Mutter mir auch wohl schneiden, Herr Achtermann«, brummte Ulrich Schenck, und der Leihbibliothekar blieb stehen und sagte:

»Höre, mein Junge, das laß dir gefallen, solange dir der liebe Gott die Gnade schenken will. Weißt du, Ulrich, manchmal wäre es mir doch recht lieb, wenn ich ganz genau wüßte, daß wir beide nicht zuviel Allotria miteinander trieben!«

Es sind sieben bis acht Jahre seit dem schönen Sommersonntagmorgen vergangen, an dem Ulrich seiner freilich nicht von vornherein drauf gefaßten Mama das neue Familienmitglied im Taschentuche zutrug. Alle sind älter seit dem Tage geworden – der Hund, der Schüler, der Leihbibliothekar Achtermann und die Frau Professorin Schenck. Natalie Ferrari ist heute ein großes hübsches Mädchen, das völlig auf eigenen Füßen steht und auch stehen muß, was vor sieben oder acht Jahren alles auch noch nicht der Fall war. Das beste wird sein, daß wir sie jetzt, wo der Dezemberschnee des Jahres 1870 fort und fort lustig niederwirbelt, endlich ruhig ihren lachenden Bericht abstatten lassen über den Hund Wassermann, den städtischen Exekutor Trute und die Frau Professorin Schenck. Es hat sich überhaupt schon auf diesen ersten Seiten unseres Berichtes eine Erzählungsweise eingeschlichen, die uns durchaus nicht gefallen kann!


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