Wilhelm Raabe
Deutscher Adel
Wilhelm Raabe

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Drittes Kapitel

Der verständige Mensch, der Mensch des Begriffs, des Prinzips, des Systems, ändere es einmal! Wenn er es aber nicht zu ändern vermag, so tröste er sich mit uns, wenn ihm in den Begriff Regen die Sonne hineinscheint oder wenn es ihm in den Begriff Schnee hineinregnet: Wir können es auch nicht ändern!

»Wenn Sie wünschen, daß ich ein Wort von alledem begreifen soll, Fräulein, so setzen Sie sich vor allen Dingen erst mal ruhig hin. Der Köter ist auch wie verrückt – gerade, als ob er noch nicht in den Jahren wäre, wo der heutige Mensch anfängt, eine Glatze sich zuzulegen!« brummte Achtermann. Die junge Dame warf aber nur ihre Notenmappe auf den ihr angebotenen Stuhl, faßte beide Hände des Alten und rief:

»Sie haben ganz recht! Es ist auch eigentlich nur eine Geschichte zum Sich-Hinsetzen und Vor-Verdruß-Weinen. Eine Schändlichkeit ist es; und wenn die Frau Professorin nicht wirklich und wahrhaftig drüber gelacht hätte, so würde ich sicherlich nicht lachend über die Straße mich vom Winde haben herblasen lassen. Setzen kann ich mich nicht; aber – ruhig will ich sein! – Wahrhaftig, wie ein Rezitativ vom alten Bach oder Händel will ich es Euch vortragen: Von Kapharsalama eil ich herbei und bring euch überschwenglich Glück!... überschwenglich Glück? Danke freundlichst! Da habe ich ein halb Stündchen Zeit zum Atemschöpfen und denke, das lachst du einmal wieder mit der Mama Schenck weg – das Wetter ist auch ganz dazu geeignet, und – dem Herrn Ulrich vor Paris wird doch während der Zeit ganz gewiß nichts Schlimmes passieren. So lasse ich auch mich wie ein Schneefräulein aus dem Märchenbuch drüben die Treppe hinaufblasen, und es läßt sich auch ganz an, wie ich es mir hübsch und behaglich vorphantasiert habe. Die Frau Professorin liegt mit ihrer roten Wolldecke zugedeckt auf dem Sofa, Wassermann unter dem Tische und Droysens Yorck, aus Ihrer Bibliothek natürlich, Achtermann, aufgeschlagen und umgeklappt auf dem Tische. – ›Sieh, das ist nett von dir, Mädchen!‹ sagt die Mama; ›das Buch laß nur liegen, das ist nichts für deine Schnüffelnase; aber einen Bratapfel darfst du dir aus dem Ofen holen. Mädchen, was bringst du für eine Kälte mit!‹ – ›Den Bratapfel nehme ich mit Dank; aber weshalb das Buch nichts für mich ist, möchte ich doch gern wissen! He, wohl weil meine Herren Ahnen vor soundso viel ungezählten Generationen richtige schwarzgelockte Italiener waren und Rom eroberten oder verteidigten, he? Bin ich Ihnen vielleicht noch immer nicht blond genug geworden im Laufe der Jahrhunderte, gnädige Frau?‹ – ›Stachlig genug bist du vom Baum gefallen, du allerliebste Kastanie‹, lacht die Mama; ›das Buch aber vom General Yorck kriegt Achtermann nicht eher wieder in die Hände, bis ich meinen armen Jungen wieder gesund zu Hause habe. Er, mein Ulrich, hat mir ihn, ich meine den alten Yorck, noch herübergeholt kurz vor dem Ausmarsche. Was die Römerinnen und Spartanerinnen gelesen haben, während ihre Söhne im Felde standen, weiß ich nicht; aber ich käme um vor nervöser Aufregung an dem Herrn von Podbielski mit seinem ewigen: Nichts Neues vor Paris! ohne den General Yorck und die Zeitung jeden Morgen.‹ – ›Und ich? Ich bin Ihnen wohl zu gar nichts mehr nütze, Frau Professorin?‹ frage ich kläglich, und damit sind wir denn gottlob in die richtige Tonlage hineingefallen und rücken dichter zusammen und sind so behaglich und römisch und spartanisch, als es uns als zwei armen, angsthaften deutschen Frauenzimmern im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts nur irgend möglich ist.«

»Hören Sie, Fräulein Natalie, wissen möchte ich wohl, von wem Sie eigentlich das Erzählen gelernt haben«, sagte an dieser Stelle der Leihbibliothekar und fügte hinzu: »Unsereiner lernt es allmählich, sich darauf zu verstehen.«

»Von meinem Vater!« erwiderte die junge Dame, und eine Wolke legte sich dabei für einen Moment auf die heitere, von Gesundheit und dem Winterwetter leicht gerötete Stirn. »Die Ferrari haben stets ihre Worte gut zu setzen gewußt. An einem meiner Urgroßväter hat es schon der Alte Fritz gerühmt. Es steht in den Anekdoten von ihm, was sie sich gegenseitig gesagt haben. Unterbrechen Sie mich aber nicht, wenn Sie meine Geschichte zu Ende hören wollen, viele Zeit hab ich nicht mehr für Sie übrig, Herr Achtermann.«

Der Leihbibliothekar machte nur eine bittende und beschwörende Handbewegung, und Natalie erzählte weiter:

»Klopf, klopf geht es doch in alle guten Stunden und Augenblicke hinein – nicht wahr? Nicht wahr, da macht und kennt das Schicksal doch auch bei Ihnen keinen Unterschied der Person, Herr Achtermann?«

»Bei mir? Unterschied der Person? Ach du lieber Himmel! Wissen Sie, Fräulein, die Anekdotenbücher vom König Friedrich sind mir momentan nicht so recht gegenwärtig; aber das sage ich Ihnen, angenehm würde es mir sein, wenn Ihr Herr Urgroßvater den Alten Fritz gefragt hätte, ob je das Schicksal, was das Anklopfen anbetrifft, bei ihm einen Unterschied der Person gemacht habe. Es gereichte der Menschheit immerhin zum Trost, wenn da auch der hätte nein sagen müssen.«

»Point du tout, würde er gesagt haben. Gut; also wir sitzen aneinandergedrückt, als es an die Tür klopft. ›Sieh mal hin, Natalie, wer es ist‹, sagt die Frau Professorin; aber schon hat mir Wassermann die Mühe abgenommen, der Welt Elend und Abgeschmacktheit im Innern willkommen zu heißen. Auf allen vieren wütend festgestemmt, sieht er den Kerl an, der gar nicht gewartet hat, bis man ihn einlud einzutreten. – ›Herrgott, Trute; Sie wieder einmal?‹ ruft die Mama Schenck; ›ist denn noch nicht alles in Ordnung?‹ – ›Bis auf eine Kleinigkeit, Madam; – fünfzig Taler, Madam, – Schneidewind und Kompanie, Madam; aber ja auch nur pro forma, pro forma diesmal, Frau Professorin.‹ – Die Frau Professorin ist aufgestanden; ich, Natalie Ferrari, sitze fester als je in meinem Leben. Wassermann bellt sich fast die Seele aus dem Leibe, die Mama aber sagt ärgerlich: ›Zeigen Sie mir wenigstens Ihre Papiere, Trute.‹ – ›Mit dem größten Kummer und Verdruß, auf meiner Seelen Seligkeit, Madam!‹ ruft Trute; und ich und die Mama haben zitternd sozusagen nur eine Nase zwischen den dummen Stempelbogen. – ›Nun mache dir einmal einen vollständigen Begriff von dem – Ungeheuer – da – vor Paris!‹ ächzt die Frau Professorin. ›Das nennt man denn sein Vaterland verteidigen, wenn man vergnügt hingeht, über die Grenze rückt und seine Mutter so in den tagtäglichen Verdrießlichkeiten, die Ängste gar nicht gerechnet, sitzen läßt. Und das will denn nachher wohl gar noch von den Frau Müttern und allen möglichen weißgekleideten Jungfrauen unter Glockengeläut beim Siegerheimzug in Empfang genommen werden! Mädchen, ich sage dir, auf dich und mich soll er passen. Sie aber, Trute, Ihnen glaube ich es, daß es Ihnen leid tut. Da hängt der Schlüssel zu seiner Stube und Kammer hinter der Tür; habe die Freundlichkeit, Natalie, und begleite den guten Trute die Treppe hinauf, daß er sich noch einmal die leeren vier Wände ansieht – pro forma, das ist auch eine Redensart von dem bösen Jungen.‹«

»Fräulein, entschuldigen Sie«, sagte Achtermann, sich über seinen Tisch vorbeugend. »›Das Geheimnis der alten Mamsell‹, Frau Geheimrätin? Leider augenblicklich in allen vorhandenen Exemplaren nicht zu Hause. Darf ich Ihnen vorschlagen –«.

Was er vorschlug, kümmert uns nicht – wir haben es zu eilig dazu und Fräulein Natalie ebenfalls. Die Geheimrätin ging durch das abnehmende Schneegeriesel, und Natalie fuhr fort:

»Ich sage Ihnen, Achtermann, es ist wahrhaftig die allerhöchste Zeit, daß wir wieder ein einiges Reich und vor allen Dingen einen Kaiser an die Spitze bekommen, damit man endlich einmal ganz genau und nicht bloß der Redensart nach erfährt, wo er wirklich sein Recht verloren hat! Übrigens, was denken Sie von meiner Situation mit dem Stubenschlüssel des jungen Herrn Schenck in der Hand und Trute und Wassermann hinter mir auf der Treppe? – ›Nehmen Sie es nur nicht übel, daß ich Sie umsonst bemühe, Fräulein‹, sagt Trute. – ›O es ist mir ein wahres Vergnügen‹, sage ich, und so kommen wir unter dem Dache an, und Wassermann kennt die betreffende Tür ganz genau und zeigt sie mir, indem er winselnd an ihr kratzt. – ›Ich kenne den Schlüssel, Fräulein, geben Sie mir das Bund. Ich weiß auch mit dem Schlosse Bescheid‹, verständigt mich dieser gefühllose städtische Zwangsmensch Trute, und lachen muß ich doch trotz meines Ärgers. Nicht wahr, Achtermann, Sie haben ihn ja wohl mit erzogen, diesen Herrn Ulrich? Uh, die Frau Professorin kann Ihnen nicht dankbar genug dafür sein, Achtermann! – Nun, da waren wir drin! Und ich muß sagen, ich habe doch die Hände in die Seiten stemmen müssen. ›Ja, sehen Sie, Fräulein, Sie lachen‹, sagt Trute, ›und ich kann es Ihnen auch eigentlich nicht verdenken; aber was soll ich denn tun? frage ich Sie.‹ – Wissen Sie, Achtermann, ein leerer Raum klingt hohl selbst im Sommer, aber ein leerer Raum, in welchem im Winter nicht geheizt ist, klingt noch viel hohler, aber dabei, wie ich gefunden habe, heller als im Sommer, was wohl in unserer eigenen Gänsehaut seinen Grund haben wird. Jammerschade war es, daß Trute aus der lächerlichen Öde heraus nicht nach Paris telegraphieren konnte. Ich sehe mir die Kohlenzeichnungen auf den Kalkwänden an und die literarischen und ästhetischen Anmerkungen drunter, drüber und dazwischen. – ›I, so soll denn doch –‹, schreit plötzlich Trute, ›bitt ich Sie, Fräulein, bin ich denn das? Soll ich denn das sein? Und worauf reite ich denn? Habe ich je in meinem Leben auf einem Kater geritten? Herrje, und nun gucken Sie mal her – Ihnen wie aus dem Gesichte geschnitten, Fräulein! – Na, ärgern Sie sich nur nicht auch; Ihnen hat er doch wenigstens nicht zu einer Fratze und Vogelscheuche veridealisiert. Das lasse ich mir schon gefallen, wenn man hinschwebt wie eine griechische Göttin. Nämlich, ich bin doch drei Jahre lang Aufseher im Neuen Museum gewesen und muß das kennen! Nein, aber jetzt hört doch alles auf! Den Herrn von Mühler, Exzellenz, kenne ich doch auch von meiner Aufseherschaft im Neuen Museum her – das ist er – das soll er sein, der links von der Ofenröhre! Sapperment, würde der sich freuen, wenn er sich so sehen könnte! Na, na, ich sage nichts mehr, als daß man die ganze Stadt herrufen sollte, um gegen Entree diese Fresken zu zeigen –‹«

»O ja, es ist eine sehr gemischte Gesellschaft«, unterbrach Achtermann. »Rechts von der Kammertür sitze ich mit Frau und Tochter. Meine Frau möchte ich nicht sehen, wenn sie sich da in der Auffassung erblicken würde; und für meine Meta sage ich auch nicht gut, daß sie es für eine Schmeichelei nehmen würde. Aber fanden Sie nicht, daß er mich recht gut getroffen hat, Fräulein Natalie?«

»Sie werden sich doch nicht einbilden, daß ich den Schmierereien noch einen Blick geschenkt habe, nachdem ich mir ebenfalls die Ehre drunter gegeben fand. Ich nenne das einfach eine Unverschämtheit und habe das auch der Frau Professorin gesagt. Narrenhände und so weiter, wie Sie wissen, Achtermann, wenn Sie Ihre Bücher gleichfalls mit Randzeichnungen und sonstigen Notizen zurückkriegen. Und wenn ich auf meine Kosten dem Herrn Ulrich Schenck seine Wände weißen lassen soll, morgen wird dem Skandal ein Ende gemacht!«

»O Sie werden doch nicht, Fräulein?!« rief der Leihbibliothekar.

»Ja, ich werde – darauf können Sie sich verlassen. Und Truten liegt auch daran, daß er seine Eselsohren verliert und von seinem Kater herunterkommt. Er kennt gottlob von seiner Aufseherschaft im Museum her mehr als einen geschickten Anstreicher; und, was das beste ist, die Mama hat gesagt: ›Ja, Kind, ich bin ganz deiner Meinung; morgen wollen wir dem Greuel ein Ende machen – er bedauerte es so schon häufig, daß er für seine – Ideen keinen Platz mehr finde. Wir wollen ihm eine Freude damit machen, Natalie, – morgen lassen wir weißen, Mädchen, daß er reines, freies Feld findet und von vorn anfangen kann, wenn er nach Hause kommt, der arme Junge.‹«

Es war zu bedauern, daß gerade in diesem Moment ein ganzer Haufen Lektürekunden kam und dem herzlichen Lachen des alten Achtermann ein Ende machte. Als die Leute abgefertigt waren, hatte die junge Dame natürlich »nur noch fünf Minuten lang Zeit« und sagte:

»Mit zwei eingetretenen Rohrstühlen, einem dreibeinigen Stehpult und einem Stiefelknecht vor dem Angesicht kann sich auch der grimmigste, abgefeimteste Stadtexekutor höchstens auf seinen Schein stellen und darauf herumtrampeln. Trute schob den seinigen wieder in die Brieftasche und sagte: ›Wenn es Ihnen gefällig ist, Fräulein, mir ist's recht, wenn wir wieder gehen. So leichten Herzens komme ich nicht von jeder Exekution weg, das sage ich Ihnen. Vergessen Sie aber um Gottes willen nicht, ja recht ordentlich zuzuschließen, auf daß uns nichts gestohlen werde; in Zahlen wäre der Verlust gar nicht zu taxieren.‹ Wir schlossen zu und stiegen wieder die Treppe hinunter. Als höflicher Mann nahm Trute natürlich auch von der Frau Professorin Abschied: ›Entschuldigen Sie nur gütigst, beste Madam; ich komme immer ja nur für andere, Frau Professorin.‹ Die Mama lacht in ihrer Weise; und in allseitigem Wohlgefallen würden wir nunmehr voneinander geschieden sein, wenn nur nicht gerade in diesem Moment dem Wassermann da eingefallen wäre, sich mausig zu machen. Es ist wirklich, als fiele es ihm jetzt ein, daß er sich, grade diesem guten Bekannten seines Herrn gegenüber, viel zu ruhig verhalten habe, und so kläfft er los und macht wahrhaftig Miene, dem guten Trute an den Hals zu fahren. – ›I, sehen Sie mal den Hund! In Paris wäre er viel wert; aber – weiß der Teufel (entschuldigen Sie, Achtermann), auch hier ist er ein Objekt, das ich mir zu gern mitnehmen möchte!‹ – ›Das werden Sie wohl bleiben lassen, Trute‹, sagt die Mama mit Grabesruhe; aber bei dem Mann in dem städtischen Uniformsrock erwachen mit einem Male alle schlechten Leidenschaften. Er kehrt sich nicht im geringsten weder an meine Entrüstung noch an die Grabesruhe der Mama Schenck. – ›Hier, mein Hündchen, mein gutes Tier – hier, hier, komm zum Onkel!‹ – Wer aber nicht kam, sondern nur wie toll unter dem Tischteppich hervorbellte, war Wassermann; wie Bazaine in Metz steckt er bald hier, bald da den Kopf unter der Decke hervor und tut – diesmal mit vollem Recht –, als ob er rein verrückt sei. Aber die Frau Professorin hat nun ihrerseits ihren Yorck von Wartenburg leise abermals auf den Tisch gelegt und ist von ihrem Sofa aufgestanden –«

»Und sagt hoffentlich ganz ohne Aufregung: ›Scheren Sie sich gefälligst zum alten Achtermann hinüber, Trute, und erkundigen Sie sich bei dem, ob man einen preußischen Wehrmann im Felde pfänden dürfe?‹ Nicht wahr, Fräulein?«

»›Nicht wahr, es hat sich wohl wieder einmal ein Liebhaber für das talentvolle Tier gefunden?‹ fragt die Frau Professorin. ›Nicht wahr, mein Sohn hat nicht umsonst anderthalb Jahre auf die Erziehung des Geschöpfes verwendet? Seien Sie aufrichtig, Trute; was hat man Ihnen mal wieder für es geboten? Öffne die Tür, Natalie, und schicke den Wassermann zum Nachbar Achtermann. Und im übrigen lassen Sie sich nicht eher hier wieder sehen, bis mein Sohn aus Paris zu Hause ist. Adieu, lieber Trute!‹ – Adieu, lieber Achtermann!«


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