Wilhelm Raabe
Deutscher Adel
Wilhelm Raabe

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Elftes Kapitel

In diesem Kapitel handelt es sich hauptsächlich um Mutter und Sohn, und ist es ein vornehmes Hauptstück. Zwei von den guten Naturen der armen Erde finden sich darin zu ihrer Freude noch einmal zusammen und haben wahrlich ihr Genügen aneinander, wenigstens für einen Teil der Zeit, oder wie ihr es nennen wollt: Stunden, Tage, Wochen. Der große Quirl im Brei kommt ja nie zur Ruhe, und so wird auch wohl doch von allen möglichen sonstigen Dingen die Rede sein müssen – von Freunden und Vaterland, von Frauenliebe (Fräulein Natalie Ferrari!) und dergleichen. Ingleichen von der schönen Gegend, der Landschaft, welche die junge Frau Done von ihren ersten lustigen Sprüngen an begleitet.

Wir, das kriegsgewohnte, eiserne Geschlecht der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, wir, denen die Weltgeschichte eine ganz hübsche Musterkarte ihrer Schlachtenstücke donnernd um die Ohren schlug, wir kennen auch zur Genüge unsere Säle voll eiserner Bettstellen, Krankenwärter, barmherziger Schwestern, bleicher Gesichter und blutiger Lappen. Wir fahren aber auf dem Strahl der Morgensonne, welcher durch die verhangenen hohen Fenster dringt, in diesen Kapitelsaal der Komturei der seligen Deutschherren. Er ist uns, Gott sei Dank, nicht weniger realistisch als die Nacht, das Seufzen, Stöhnen und Sterben und der Eitergeruch.

»Mein lieber Junge!«...

»Du? Du! O, das ist schön!... Wie schön ist das – und um so schöner, als es gar nicht nötig war. Bist du wirklich da? Bist du gekommen? Hatte ich es dir nicht strengstens verboten, dir irgendwelche Sorgen um mich zu machen? Was macht dein Rheumatismus? Ging es denn gar nicht anders, mußtest du mir deine glückliche Hand – du weißt doch, dir geht nie was aus! – auch hierher bringen? Ich gebe dir mein Wort darauf, wenn ich dich in dem nichtswürdigen Katzenjammer herzitiert habe, so geschah es ganz ohne mein Wissen. Lieber Doktor, ich erlaube mir, Ihnen meine Mutter vorzustellen, das Genie der Liebenswürdigkeit, das auch nur alle Jahrhunderte einmal erscheint wie alle sonstigen Genialitäten. Also diese Belagerung von Paris ist dir auf die Länge auch langweilig geworden, Mama? Wedehop, was soll ich Ihnen sagen? Wie soll ich Ihnen danken? Versuchen Sie es um Gottes willen nicht, jemals Ihr Guthaben völlig von mir einziehen zu wollen. Und nun, wie geht es euch allen? Was macht unsere Gasse? Wie befindet sich Freund Achtermann? Wie – geht es –«

»Hörst du jetzt endlich auf!« schluchzte die alte Dame. »Nun hören Sie ihn nur, meine Herren! Ist es nicht gerade, als ob wir einzig und allein deshalb hierher gekommen seien, um ihn ganz unnötig aufzuregen? Was geht dich mein – unser Befinden an, du heilloser Bursche? Hast du mir immer noch nicht genug Angst und Sorge gemacht? Natalie ist wohl und auch in Angst und Sorge um dich! Nicht wahr, weiter wolltest du doch nichts wissen? O – ich würde dir die Nachricht auch nicht vorenthalten haben; jetzt sei vernünftig und leg dich wieder hin. Ich fahre sonst auf der Stelle wieder nach Hause.«

»Imstande wäre sie dazu«, murmelte der glückliche Sohn lächelnd. »O du Sparterin, ist je eine spartanische Mutter so mit ihrem Kinde umgegangen, wenn es sich an der Tischecke gestoßen hatte? Nun höre sie einer! Ich bin gar nicht sicher, daß sie nicht schon acht Nächte durch auf einer Fußdecke da vor der Tür geschlafen hat. So geben Sie mir doch endlich Ihre Hand, Doktor Wedehop; von allen Erdgeborenen waren Sie derjenige, welchen ich mir zum Cavaliere servente da für die alte Frau herausgesucht hätte. Was soll ich tun –«

»Ein vernünftiger Kerl sein, Ulrich«, sagte Wedehop, »ein paar ruhige Worte mit sich reden lassen und sonst nicht den übrigen armen Teufeln hier rechts und links die Ruhe nehmen.«

»Das ischt au wahr«, meinte Winckelspinner. »Es ischt drauße ein recht schöner Morgen, aber die Sonne ischt darum doch nicht dem einen so wie dem andern aufgegange!«

Sie blickten alle nach rechts und nach links den weiten gewölbten Saal mit seinen gotischen Pfeilern und Fenstern entlang, und Herr Ulrich Schenck legte wirklich den Kopf wieder verhältnismäßig ruhig auf sein Kissen und hielt nur die Hand seiner Mutter um so fester.

Glücklicherweise fletschte auf dem nächsten Bett ein gleichfalls allgemach wieder auf die Beine kommender Turko der Frau Professorin zutunlich vergnüglich die Zähne entgegen, und so vermochte sie es, nachdem sie dem Schwarzen gleichfalls zutunlich zugenickt hatte, die sonstigen Schrecknisse zu überwinden und, zu dem Sohne sich niederbeugend, ihm zuzuflüstern:

»Sie läßt dich grüßen. Sie hat unsern Wassermann zu sich genommen; und – ihr Vater ist auch aus Amerika nach Hause gekommen.«

»Und mein nichtsnutziger Brief?«

»Kam grade zur richtigen Stunde, mein lieber, lieber Ulrich. Ich habe ihn ihr zu ihren übrigen Sorgen mit nach Hause gegeben. Liege still! Ich glaube sicher, sie findet aus dem dummen Gekritzel ihr Stück Sonnenschein heraus, und du kannst es nicht vor ihr verantworten, wenn du – jetzt nicht stilliegst.«

Das konnte ihm jetzt nun gar nicht einfallen. Zuerst wenigstens richtete er sich noch einmal auf dem gesunden Ellenbogen empor und rief nach dem Bettgestell zur Linken hin:

»Toupelard!«

»Eh bin, môsieu Schenck?« klang es matt, aber mit dem allerechtesten Akzent von Lutetia Parisiorum zurück.

»Je vous donne ma sacrée parole, on dansera à vos noces, comme aux miennes, mon ami.«

»Croire et atteindre!... Mais par avance tous mes remerciments, môsieu Schenck.«

Der Doktor Winckelspinner trat auch an das nächste Bett hinüber und legte die kühle Hand auf die nächste heiße Stirn:

»Liege Se jetzt au nur still, Monsieur Toupelard, ich bitte Sie. Attendre heißt's, wenn nachher vom atteindre die Rede sein soll.«

Er sagte das wiederum in seinem allerhübschesten« Französisch; allein der junge Pariser Voltigeur verstand ihn doch, und der zerschmetterte Fuß des armen Jungen half dazu auch wohl mit. Er blieb liegen, wie er lag, und summte nur in seinem Fieber zwischen den Zähnen durch:

Sous l'herbe verte où je repose
Me viendront des parfums de rose...

Ah, ah, encore un petit verre, m'sieu Schenck.«

»Den bringe wir übermorgen naus«, sagte der Doktor leise zu Wedehop. »Da handelt es sich bei der Hochgradigkeit der Körpertemperatur um keine andere Verbindung mehr als mit der kühlen Mutter Erde; – weiß der Teufel, 's ischt mir leid genu'! Wie es mit dem andern steht, hast du nun selber gesehn; wann kein Rückfall eintritt, dürfen wir ihn dreist uns in acht Tagen ins Privatloschis herüberhole. Wir nehme ihn diesmal noch mit hinüber in das neue Deutsche Reich. Jetzt aber nehmt für heute Abschied, ihr beide – ich meine Sie, Frau Professere, und den Herrn Sohn. Ihr Stüble ist fein sauber von meiner Alten hergerichtet, Sie junger Preiß, – auch die Aussicht auf des Nachbars Hopfestange ist recht angenehm, wie die Kenner behaupte. Ich komme gege Mittag und gege Abend noch einmal wieder wie gewöhnlich; aber die › Sie‹, von der vorhi die Rede war, wolle wir heute lieber doch noch, mit aller Höflichkeit es zu sage, aus dem Spiel lassen. Die Frau Mutter kann mir ja auf dem Heimwege wenigstens mitteile, wie sie – das Freile meine i – mit Vorname heißt.«

»Natalie!« murmelte der verwundete Verliebte in sein Kopfkissen.

»I guck a mal! Das verspricht scho was! Sie hatt' ich aber gar nicht gefragt, Schenck. Also, bhüt Gott, und liege Sie still, morge früh so um dieselbige Stunde bringe ich die Mama wieder zur zweiten Visit. Natalie! A ganz edler Name. In Tettnang sitzt mir a alte Tante, die ihn auch an sich trägt, der man ihn aber, weiß Gott, nicht mehr ansieht. A wahres Untier, sage ich Ihne. Na, grüß Gott also, Schenck.« –

Acht Tage später waren sie alle drei – Mutter, Sohn und Wedehop – glücklich unter dem gastlichen Dache des Hauses Winckelspinner untergekrochen. Die Lazarettverwaltung hatte gar nichts dagegen einzuwenden gehabt, daß der Rekonvaleszent dorthin übersiedle. Viel überzählige Betten gab es augenblicklich noch nicht in der Komturei der Deutschherren.

Zwar wollte sich die Pariser Epicier-Kugel noch immer nicht finden lassen und noch weniger höflich von selber zur Ehre der chirurgischen Wissenschaft zum Vorschein kommen; aber saß sie auch wohl, so stellte der Patient sich doch gleichfalls allgemach wieder ein wenig fester auf den Füßen.

»Sie werden sich vielleicht noch recht häufig über das Wurfgeschoß wundern, Freundle«, meinte Winckelspinner. »Das sind solche Sachen. Finden wir es, so finden wir es nicht immer da, wo wir es vermute. Spaziert's aus eigenem Antrieb hervor, so geht es auch häufig seinen eigenen Weg. Sitzt es gar zu behaglich im volle Fleisch und zwischen Ihr Knochegestell – no, nachher finde es vielleicht Ihre Erbe sechzig Jahre später und setze darüber a heroische Notiz ins Blättle – so ohngfähr ums Jahr eintausendneunhundertundeinunddreißig, wenn i recht rechne.«

»Ich danke Ihnen recht freundlich für sämtliche tröstliche Aussichten, teurer Hospes, vorzüglich aber für diese letzte«, meinte der Königlich Preußische Unteroffizier. »Vor allen Dingen aber darf ich heute mich wieder von der Mama und der Mama Natur in den Mantel nehmen lassen und mit Fräulein Anna und Fräulein Sophiele den ewigen Äther aus erster Quelle schlürfen?«

»Habe wenig dagege einzuwenden. Nur lieber noch nicht da vorn am Bach – der Donau, sondern besser hinten im Gartenhäusle. Zugwind und Feuchtigkeit würden Ihren ›moralischen Ernst‹, wie die Frau Mutter sich ausdrückt, freilich noch höher heben vermittelst eines recht braven Rheumatismus zu allem übrigen; aber ich meine doch, die letzten tonischen Mittel verspare wir au bis zuletzt – nit etwa?!«

Dieses kleine, in eine »Klinge« des Berges hinter dem Hause des Doktors Winckelspinner eingenistete Gartenhaus gab in der Tat einen merkwürdig guten Schutz vor allerlei bösen Winden. Man hätte es den Abhängen der Rauhen Alb nicht zutrauen sollen!

Gute Freunde, liebe Verwandte reden häufig von den Annehmlichkeiten des Endlich-einmal-unter-sich-Seins; aber um wirklich einmal so recht unter sich zu sein, dazu gehört mehr als das, was zu einer guten und ernsthaften Stimmung im Verlaufe des gewöhnlichen Taglebens zusammentreffen kann. Wenn etwas aus den Erregungen, der Aufregung des Daseins herausgerissen werden muß, so sind das unbestritten die Momente, in denen Menschen – die besten Bekannten – erstaunt erfahren, wieviel sie einander wert sind.

So wie in diesen Tagen, bevor jenseits der Rauhen Alb die Reben anfingen zu weinen, war das selbst dieser Mutter und ihrem Taugenichts von Sohn noch nie so deutlich geworden.

»'s ist die Möglichkeit! Das letzte Wort behält man nie!« sagte, glücklicherweise lächelnd, jedesmal der von den zweien, der dasmal das letzte Wort behalten hatte.

Sie sprachen durchaus nicht im hohen Pathos miteinander. In einer Welt, wo soviel impotente Brutalität das erste und das letzte Wort behält, achteten sie zu ihrem eigenen Besten und Behagen auf jedes Leuchten aus der Tiefe oder von oben.

»Wo ein Stern steht, sehe ich keinen Käse, aber auch umgekehrt nicht jedesmal da einen Stern, wo ein Philister die Zunge herausstreckt oder eine Träne hinweint«, sagte der Füsilier.

»Wenn du nur endlich diese greulichen Bilder und Redensarten unterwegs ließest, Ulrich«, meinte dann seine Mutter. »Wenn ich nur wüßte, von wem du das hast?! Von deinem Vater gewiß nicht und von mir hoffentlich auch nicht.«

»Vielleicht doch wohl am meisten von dir«, meinte der Sohn lächelnd. »Du aber kamst als Kirsche in die Welt, ich als Nuß. Laß mir also nur deine Redensarten in meinen Einkleidungen – ich werde doch noch daraufhin Wirklicher Geheimer Hofrat und renne meinem braven deutschen Tyrannen den Dolch der Wahrheit in die Brust.«

»Jetzt bleib mir endlich mit deinem mythischen Geheimen Hofrat vom Leibe!« rief die Frau Professorin.

»Nanu?« fragte der Sohn mit unnachahmlichem Berliner Ausdruck. »Mythisch? – Ich versichere dich, Alte, Durchlaucht ist und bleibt mein künftiger ästhetischer Arbeitgeber. Ich wiederhole dir, vor Paris –«

»Und ich wiederhole dir, daß sie gesagt hat: ›Lächerlich lasse ich mich aber von ihm unter keinen Umständen machen, was ich auch sonst ihm zu Gefallen tun mag.‹«

Ein Strahl sonnigen Lichtes glänzte über das abgemagerte Gesicht des Füsiliers, ein gleichfalls unnachahmlicher Ausdruck von Schalkhaftigkeit und glückseligstem Selbstbewußtsein.

»Kann ich denn dafür, Mama? – ›Sagen Sie, Schenck‹, sagt in Bonn eines Abends ein ganz netter Kerl zu mir, ›meinen Kornak (weißt du, Mama, das ist so'n Indier, so'n indischer Elefantenkutscher und deutscher Bärenführer), meinen Kornak bin ich für morgen glücklich los; er poussiert beim Gouverneur die verwitwete Gräfin Ingelstrom; ich habe seit vorgestern offizielles Zahnweh; würden Sie viel dagegen einzuwenden haben, wenn ich Ihnen jetzt einen dummen Jungen aufbrummte?‹ – ›Ich würde mir ein Vergnügen daraus machen, Durchlaucht, Sie so glänzend als möglich abzuführen, verlassen Sie sich drauf‹, erwidere ich, – ›übrigens sind Sie gefordert, Herr, ohne weitere alberne Redensarten.‹ – Es war das erstemal, daß mir ein deutscher Fürstensohn die Hand drückte, und zwar zärtlich. Der Kornak, Hauptmann von Mullkamp, hat aber nicht bloß einmal das Licht halten müssen, wenn vierzehn Tage später noch der Medizinalrat abends kam, um noch einmal nach der Naht zu sehen. Unser neuliches Wiederzusammentreffen unter dem Mont Avron würde hoffentlich nur noch Natalie ergötzen, weil ich es der bis jetzt noch nicht mündlich schildern konnte. Heiter und wohlaffektioniert aber war's, das mußt du doch selber sagen. Einen zweiten Schmiß vor Paris wie den Bonnenser von mir besah der fürstliche Jüngling natürlich nicht, sie gaben da zu gut auf ihn acht nach gemachter Erfahrung. Aber nett war's doch, daß er, als ich den meinigen erhalten hatte und auf dem Rücken lag, kam, sich meine Adresse im Vaterlande ausbat und die Versicherung hinzufügte: ›Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, Schenck, Sie sollen mich nicht umsonst gezeichnet haben. Warten Sie nur gefälligst, bis Jules Favre Vernunft angenommen hat – den alten Thiers haben wir schon so weit, meint man, unter uns gesagt, drüben in der Präfektur in Versailles. In Deutschland sprechen wir uns wieder, und ich werde Ihnen die Bonner Quarte ganz gehörig anstreichen. Daß Papa unsern edlen Mullkamp zum Major gemacht, aber doch lieber bei sich zu Hause behalten hat, wird Sie selbst in Ihrem jetzigen Zustande heiter anmuten.‹«

»Ja, in deinem damaligen Zustande, armer Junge! Was magst du dir wohl alles in den letzten Wochen zusammengeträumt und -gefiebert haben? Was würdest du angefangen haben, wenn du in diesem Fieber und diesem Geträume nicht mich und meine liebe Natalie gehabt hättest?«

Der Sohn nahm leise mit der Linken die Hand der Mutter, die Rechte hing ihm noch immer, und leider noch für eine ziemlich lange Zeit, als recht unnütze Beilage in ihren Windeln und Binden am Leibe.

»Sieh einmal, es läuft merklich schon wie ein grüner Schein da über die Wälder an den Bergen. Ein wenig früher wird's doch hierzulande Frühling als bei uns.«

»Glaubst du? Ach, ich wollte nur, wir könnten einen Streifen von dem Sonnenschein dort von der Wiese, wo die Donau so hübsch um die Ecke kommt, aufnehmen, zusammenwickeln und nach Norden schicken.«

»Das kannst du vor vielen Erdgeborenen immer noch am leichtesten, Mama! Setze dich und schreib ihr einen Brief und laß mich dabei dir über die Schulter sehen. Ich bin fest überzeugt, meinem liebenswürdigen Pariser Freunde würde es selber leid sein, wenn er eine Ahnung davon hätte, wie unbequem mir sein Blei gerade jetzt in der rechten Schulter sitzt. Feine Leute sind die Franzosen – hätte der Halunke eine Ahnung von meinen germanischen Seelenzuständen gehabt, so würde er gewißlich mit Vergnügen seinen Schuß mehr nach rechts hin abgegeben haben.«

»Ach, wenn wir sie doch hier hätten! Ich meine, auch diese Berlinerin müßte unseren Freunden hier im tiefsten Herzensgrunde gefallen.«

»Wenn du schreibst, Mama, so gib dem alten Achtermann einen Wink von meiner herzinnigen Neigung, ihm den Hals umzudrehen. Kann er nicht einen um den andern Tag uns Nachricht von dort geben? Gefühl hat der Kerl gar nicht. Das hat der graue Sünder längst über seiner eigenen Bibliothek ausgeweint.«

»Lästere nicht, Ulrich«, rief die Frau Professorin, »da kommt das Sophiele und hält was Weißes in die Luft. Lieb Mädchen, nimm dir Zeit!«

Es war das älteste Winckelspinnerle – Dr. Winckelspinners Älteste, die den Schreibebrief, der gerade eben jetzt vom Leihbibliothekar Achtermann anlangte, in Sprüngen den nordischen Gästen in das Gartenhaus zutrug.

Das frische Kind hätte sich dreist Zeit nehmen dürfen; und das sonnige Lachen um ihren Mund und die Äuglein stimmte ebensowenig zu dem Inhalt des Briefes wie der Sonnenschein auf der Wiese, wo die Frau Done um den Berghang hüpfte.

»Papa ist mit dem Herrn Doktor Wedehop zum Frühschoppe nach dem Hirsch, und der Herr Doktor hat gsagt, er wolle sich lieber von der Frau Professere erzähle lasse, was in dem Brief stehe; er habe jetzt keine Zeit, den Wuscht zu lese, und Mama läßt anfragen, ob dem Herrn Schenck sei Frühstückssüpple jetzt gefällig sei und recht käme? Den Papa würd's recht freue, wenn der Herr Schenck sich nit wieder so gar arg dagege wehre wollte.«

»Fräulein Sophie, Sie wissen doch, daß Sie und Ihre Mama mich zu allem bringen ohne die geringste Gegenwehr!« lachte der junge Invalide. Währenddem öffnete seine Mutter den Brief Achtermanns und überflog ihn flüchtig; – sie wußte also augenblicklich, wie es dort um und in den Menschen aussah, und sie sah ihren Sohn zögernd an.

Der Brief war an den Übersetzer gerichtet und lautete wie folgt:

»Mein guter Wedehop!

Daß es bei Euch dort droben von Tag zu Tag besser geht, ist mein einziger Trost in den Zuständen, in denen Ihr mich hier zurückgelassen habt. Ich bitte Dich dringend, wenn es irgend möglich ist, mir umgehend zu melden, wann Ihr mit unserm guten Ulrich hierher zurückzukehren hofft. Die Menschen holen noch immer ihre Lektürebücher bei mir, und gedruckte fremde Unruhe und fremdes Elend bleibt ihnen allfort interessant – ich habe noch nie so deutlich darüber nachgedacht, wie interessant doch dieses ist, als wie gerade jetzt. Also kurz und bündig – was beiläufig gesagt, wie Du sagst, durchaus nicht in mir liegt –, es geht kopfüber, kopfunter, sowohl in meinem engern Familienkreise als wie auch außerhalb desselbigen, wenn ich mich so ausdrücken darf, mein bester Freund. Ich erinnere mich als annähernd gleich voller Unruhe nur jener acht Tage, wo die Frau Professorin wegen Verreisung mit unserm Ulrich mir unsern braven Wassermann zur Obhut anvertraut hatte. Er kam mit einem heftigen Erbrechen ab, was damals meine Frau und meine Tochter Meta recht in Erstaunen gesetzt hat. Ich kostete ihm wie einem Prinzen aus dem ritterlichen Mittelalter alles vor und hätte eigentlich doch auch unwohl werden müssen. Die Sache ist mir heute noch unbegreiflich; – gottlob aber, daß ich wenigstens diesmal zu allem übrigen nicht auch auf den guten Hund zu achten habe.

Er befindet sich wohl und war heute mit unserm Freunde Paul Ferrari in meinem Geschäftslokal. – Dem guten armen Paul geht es leider nicht so gut wie ihm.

Du lieber Gott, in was für einer Welt leben wir doch! Da fange ich mit dem Geringsten an, mit mir und dem braven Wassermann. Was ist es mit uns am Ende, wenn's zum Schlimmsten kommt? Du liebster Himmel, und noch dazu bei solch einem Kriege, wie wir ihn eben durchgefochten haben!

Aber der arme Paul und seine Tochter! Unsere teure Natalie!... Seit sie am Tage Eurer Abreise mit ausgebreiteten Armen in mein Lokal kam und mir einen Kuß gab, weil sie ihren Vater wiederhatte, hat sie ihm gegenüber das Lächeln nicht ein einzigmal von den Lippen verloren: wenn ich an die Frau Professorin Schenck schriebe und nicht an Dich, mein guter Wedehop, so würde ich sagen, daß es eine Geschichte zum Weinen ist.

Ihr solltet sie nun in ihrem leeren Stübchen sitzen sehen – dem Papa gegenüber freundlich, wie keine Fürstin auf Erden sein kann. Und: er ist verrückt! Ich schreibe und unterstreiche das mit Schauder und Beben! Er ist bankerott an Leib und Seele, und er hat sich Wassermann zugewöhnt, und der Hund geht wirklich mit ihm, und wir suchen beide des Abends in den Kneipen, allwo er unsern Hund unseres Ulrichs Kunststücke aufführen läßt und dann den Gästen den Hut hinhält. Meiner guten Frau ist es leider nie ganz recht, daß dieses natürlich auch mein Leben und vorzüglich des Abends viel unregelmäßiger macht. Ich würde es wohl auch nicht durchführen, wenn nicht der Herr Louis Butzemann mir freundlicherweise eine große Hülfe wäre. Er ist sehr freundlich gegen mich und hat in der Tat einigen Einfluß auch auf meine Meta. Er kennt gottlob auch, ich möchte sagen aus Instinkt, die Orte, an denen unser armer Paul zu suchen ist. Wir geben uns die möglichste Mühe, ihn – ich meine unsern Jugendfreund – einzig und allein nach Butzemanns Keller zu gewöhnen; aber leider ist uns das noch nicht vollständig gelungen. Sein Kind! Sein armes, armes Kind! Laß diesen Brief Herrn Ulrich nicht lesen, Wedehop; ich ersuche Dich dringend darum! Aber was würde ich darum geben, wenn wir jetzt die Frau Professorin hier hätten! Ich weiß nicht, wie sie uns helfen könnte, aber helfen könnte sie uns, das ist gewiß. Ob Du also der Frau Professorin diesen Brief zur Lektüre übergeben willst, das stelle ich hiermit Deinem Ermessen anheim, lieber Wedehop. Ich schreibe da Worte, die nur das allerwenigste von dem ausdrücken, was ich eigentlich zu sagen habe, und gerade deshalb ist es mir gerade in diesem gegenwärtigen Moment um so klarer, wieviel die wirklichen Menschen auf dieser Erde durch ein Wort oder nur einen stummen Blick oder durch ein Achselzucken Gutes und Böses ausrichten können. Wenn wir jetzt wen hier nötig haben, so ist das unseres jungen Freundes Ulrich Mutter; denn sie allein geht überall frei durch – ich weiß keinen andern Ausdruck dafür und Ihr wahrscheinlich auch nicht. Nimm es mir nicht übel, daß ich auch dieses wieder unterstreiche, obgleich ich weiß, daß du dergleichen Aufforderungen zum Aufmerken auf geschriebene oder gedruckte Worte gerade nicht liebst. Ich brauche ja nur an die vielen Bücher zu denken, aus denen ich meine notdürftige Existenz ziehe, um klar vor Augen zu haben, wie viele Leute unnützlich schreiben und unterstreichen: ich weiß nicht, ob ich jetzt dumm rede; aber meiner augenblicklichen Überzeugung nach läßt sich eine Bergpredigt oft in ein einzig Wort fassen, und wer die Welt nicht bergetief unter sich liegen hat, der sollte eigentlich gar nicht reden, sondern sich lieber vor dem Echo fürchten, das ihm andernfalls möglicherweise entgegenschallen kann –«

Der Unteroffizier Ulrich Schenck legte, als er an dieser Stelle des Briefes, kurzatmig, mit zusammengebissenen Lippen, angelangt war, das Blatt nieder, und wir tun desgleichen. Was noch folgte, las der Unteroffizier freilich noch oft genug: Freund Achtermann schilderte ins genauere Nataliens Leben, Zustände und Hülfsmittel; uns aber liegt diesmal nichts daran, durch Tränen zu lachen, und – wir schreiben sein Schreiben nicht weiter ab.


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