Wilhelm Raabe
Deutscher Adel
Wilhelm Raabe

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Achtzehntes Kapitel

Wir haben selber mitgesessen und wissen es ganz genau, wie weit in jener Krieges- und Siegeszeit das deutsche Volk in seinen Kneipen in den lichten Morgen und das neue Reich hinein saß. Unter den väterlichsten Regimenten war die Polizeistunde zu einem Mythos, einem fernst abliegenden Mythos geworden. Spätere Geschlechter werden es wahrscheinlich nicht für möglich halten; aber es war doch so: die Polizei saß mit und triumphierte, angenehm aufgeregt, gleich der übrigen germanischen Menschheit.

Wie alle übrigen Lokale der Stadt war auch Butzemanns Keller nach Mitternacht noch bis zum Überfließen voll, jedoch um diese Zeit voll einer anderen Gesellschaft als die, welche der Leihbibliothekar in der Stunde seines Mittagsessens dort traf. Butzemanns Moltke und Bismarck, sein Friedrich Karl und sein Steinmetz schliefen zu Hause den Schlaf ihrer Wichtigkeit. Sein Simson, Lasker und Virchow gleichfalls. Sein Zentrum lag auf seinem Zentrum, vorausgesetzt, daß es sich nicht auf die rechte oder die linke Seite gedreht hatte.

Unter den Enthusiasten der Zeit und Weltlage drängten sich andere Faktoren und Repräsentanten des öffentlichen Wesens und der Tagesgeschichte jetzt, d. h. nach Mitternacht, ein, bemächtigten sich der Plätze eines großen Teils jener solideren Elemente der politischen Bewegung, stemmten die Ellbogen auf und schrieen weniger nach der Speisekarte als nach Getränk, und zwar von den stärkeren Arten. Auch Damen wurden nunmehr wohl mitgebracht, und die Inhaber des Lokals, Vater und Sohn, sowie ihre Leute, hatten sicherlich einige Ursache, dann und wann auf ihre Bestecke oder auf den Überrock des letzten, ihnen genau bekannten Stammgastes am Nagel zu achten.

An manchem Tische ging es manchmal selbst dem sonst alles vertragen könnenden guten Kinde, Herrn Louis Butzemann, zu bunt her; und so war es denn durchaus dem Verkehr angemessen, als plötzlich dem Vater Butzemann inmitten dieses Getümmels die Arme hinter seinem Schenktische am Leibe herniedersanken und er stammelte:

»Zum Donnerwetter – Achtermann?! Träume ich das oder träumst du es?... Lou-ih! Gucke mich – ist denn dieses – aber Achtermann, Karl! Bist du es denn mit Leib und Seele, oder bist du 's als Geist allein?«

»Ja, Achtermann, Achtermann, Achtermann!« kreischte der Leihbibliothekar im Gegensatz zu dem Schenkwirte mit hocherhobenen Armen. »Wacht er oder schläft er? Träumt er das – Achtermann?! Das ist freilich die Frage. – Lachen Sie nur, meine Herren! Butzemann, er ist weg – fort – und ich Unglückseliger bin schuld daran!«

Der vierschrötige Kellerbesitzer hielt den zitternden alten Freund mit der einen Faust an der Schulter aufrecht. Mit der andern Hand holte er wie mechanisch eine Flasche vom Gestell zur Seite herab.

»Kerl?!... Karl?! Du bei mir um Klokke eins? Geht die Welt unter oder kommt mich hier eine neue herauf und läßt mir durch dich grüßen? Louis, ein Likörglas! Er rutscht mich hier unter der Hand zusammen. Rasch, Bengel; und schieb ihm einen Stuhl unter. Meine Herren, bitte, drängen Sie nicht zu sehr heran und herum. Es ist nichts weiter als ein guter Freund und Verwandter von mir, der mich auf einmal an Nachtwandelei zu leiden scheint.«

»Die Welt geht mir freilich unter, Butzemann«, stöhnte der Leihbibliothekar. »Hier hat er also seinen Weg nicht her genommen? Das war meine letzte Hoffnung – und – jetzt – kann – ich – auch verrückt werden. O Gott, ich wollte, ich wäre es schon!«

»Schlürfe mich erst mal diesen Giftstoff; er wird dir guttun. So!... Nicht wahr? Jetzt fühlst du dir schon wohler. Ich nehme auch einen – der Harmonie wegen. Schön! Und nun äußere dir, Achtermann, und zwar verständnisvoll, wenn's auch zum letztenmal in deinem Leben sein sollte.«

Die Hände ringend, schluchzte der Leihbibliothekar:

»Wie er es möglich gemacht hat, wird mir in alle Ewigkeit ein Rätsel bleiben. Alexander Dumas père hat so was nicht erfunden, wenn ich auch immer noch ein Gefühl habe, als hätte ich es bloß irgendwo einmal gelesen. O Gott, o Gott, wäre es nur so! Aber es ist ja gräßlicherweise eine zu wirkliche Gewißheit! Ich saß in dem Lehnstuhl vor seinem Bette; Fräulein Natalie schlummerte in der Stube nebenan auf dem Sofa. Daß sie einen Totenschlaf schlief, war wohl natürlich; aber – ich! Ich! Ich! Ich armselige, nichtsnutzige Nachtmütze! Ja, ich unglückseliger Mensch, ich trage die Schuld, und alles, was auf diese entsetzliche Nacht folgen wird, fällt mir zu. – Jetzt weiß ich auch wieder, was mir träumte, während ich die Augen sperrangelweit hätte offenhalten sollen. Es war, als sei meine ganze Bibliothek rings um mich her lebendig geworden. Der Blumen Rache kennst du wohl nicht, Butzemann, – du auch nicht, mein guter Sohn Louis?! Was hilft es mir also, euch zu schildern, um wieviel beängstigender mein Traum war. O, und er hat denn auch mit etwas bei weitem Schrecklicherem als dem bloßen Tode durch Blütenduft geendigt. So hat er es fertiggebracht, in Rock und Hosen zu kommen –«

»Halt mal«, sprach Butzemann senior. »Fasse dir doch mal ein bißchen orthographischer. Wer hat dies fertiggebracht?«

»Paul Ferrari! Unser guter Paul!« jammerte der Leihbibliothekar. »Und er hat auch den Hausschlüssel an seinem Nagel hinter der Tür gefunden; und Wassermann – und das ist das Unbegreiflichste nach meiner grenzenlosen Unachtsamkeit! –, Wassermann hat keinen Muck von sich gegeben, sondern muß sich gleichfalls auf den Zehen mit fortgeschlichen haben, und als ich auffahre und um Hülfe schreien will, weil mir die ganze deutsche Literatur von fünfzehn bis dreißig auf den Hals fällt, da habe ich in Wahrheit Grund, um Hülfe zu schreien. Das Bett vor mir ist leer! Die Stubentür steht halb offen! Wassermann ist fort! Paul ist weg, und ich – ich stehe taumelnd und weiß weiter nichts, als das arme, unglückliche Kind, unsere Natalie, aus dem Schlafe durch mein Geschrei zu wecken!!!«

»Weiter blieb dir diesmal wirklich wohl nichts übrig!« brummte Butzemann nach einer geraumen Pause. »Halt noch mal 'nen Moment.«

Er stellte die Flasche mit dem »süßen Gift« wieder an ihren Platz und holte eine andere herab, die einen stärkern, bitterern Trank enthielt. Bedächtig füllte er sein Spitzglas, ließ den Inhalt langsam die Kehle hinabfließen und sprach:

»Für dir ist das nichts, Achtermann. Übrigens war die Idee, ihn hier zu suchen, eigentlich gar so übel nicht. Wenn du ganz von selber drauf gekommen bist, so mache ich dir mein Kompliment und hätte es dich, offen gestanden, nicht zugetraut. Recht hast du aber, Karl, die Sache will reiflich überlegt werden, also –«

Er goß sich noch ein Glas ein und ließ es dem andern nachgleiten.

»Wie du es anfaßtest, sehe ich; aber mir ist doch gegenwärtig das Fräulein die Hauptsache, Karl! Ihn werden wir auf die eine oder andere Weise schon wiederkriegen, aber – das Fräulein! Mich kränkt bei der ganzen Sache das liebe Fräulein – und noch dazu in diese nachtschlafende Stunde, wo keiner sein eigen Kind gern in Not weiß. Louis, vielleicht können wir dir hier endlich mal nützlich verwenden; doch davon später! Vor allen Dingen jetzt, Achtermann, was hast du mit dem Fräulein angefangen? Wo hast du es gelassen, währenddem du jetzt hier deinen Gefühlen Luft machst?«

»Das Fräulein?... Fräulein Natalie?! Das Fräulein sitzt auf dem Bezirkspolizeibüro. Es ist fürchterlich; und ich habe ihr versprochen, sie dort wieder abzuholen.«

»Das sieht dir ähnlich«, schnarrte Butzemann senior, die Faust schwer auf seinen Schenktisch fallen lassend. »Meine Herren, da Sie allesamt an uns teilgenommen haben und gesehen haben, daß auch der beste Restaurationsbesitzer mal seine Privataffären haben kann, so werden Sie mich gütigst in diesem Momang begreifen, wenn ich leider sagen muß: Polizeistunde, meine Herren und Damen!... Ich schließe die Bude für heute oder eigentlich für gestern; aber mit dem frühesten bitte ich mir wieder die Ehre aus! Butzemann ist mein Name. Sollte Ihnen unterwegs, was man nicht wissen kann, ein desolater ältlicher Herr in den schlechtesten Jahren und mit einem gelben Köter bei sich begegnen, so haben Sie eben genug gehört, um zu wissen, daß mich fünf Taler Finderlohn in diesem Falle nicht zuviel sein können. Louis, laß dir von den Herrschaften zahlen und schraub das Gas aus. Donner und Doria, das wird denn wohl wiedermal eine Nacht, in der Morpheus seine Arme vergeblich nach einem ausstreckt. Na, dafür ist man denn Wirt und weiß, was zu's Metier gehört. – Haben Sie alle gezahlt? Ja? Bon! Denn komm her, Louis mein Sohn; hole mich Hut und Stock und bringe dich deine Mütze mit. Dir traue ich für diese heillose Geschichte eine Nase zu wie keinem von uns! Nun ahne mich mal, mein Junge, wo er wohl am ersten seine Schritte hingelenkt haben kann, da er nicht hier bei uns hereingefallen ist.«

»Nach auswärts«, brummte und meinte verdrossen gröblich der freundliche Jüngling. »Der ist nach Amerika oder nach Mexiko wieder oder sonst wohin, aber so weit als möglich. Und wenn ich mich an seine Stelle hindenke, mit vernünftigem Verstande, so überschlüge ich drei Stationen zu Fuße, ehe ich auf der vierten das Billett zum Ausreißen per Dampfachse löste.«

Der Vater Butzemann betrachtete sich sein Kind, als ob er eine erkleckliche Summe für die Erlaubnis dazu gegeben hätte.

»Na?!« sagte er, und erst nach einer ziemlichen Weile fügte er hinzu: »Da wäre es mich doch lieb, wenn du so spät als möglich von diese deine Welterfahrnisse Gebrauch machen wolltest, mein Sohn!«

Für sich sprach er:

»Das ist mich ja ein wahrer Segen, daß ihn Achtermanns Meta da feste hat! Alle Teufel, da sollte man ja wirklich auf alle elterliche Gartenkultur verzichten!«

Lauter, doch immer noch sehr betroffen, wendete er sich an den Leihbibliothekar und meinte:

»Also wird es vor allen Dingen jetzt das erste sein müssen, daß wir die junge Dame wieder von deinem Revierleutnant abholen; denn was sie da eigentlich sitzen soll, sehe ich gar nicht ein.«

»Oh!« ächzte der Leihbibliothekar.

»Und du, Louis, du bleibst mich hier und bleibst mich wach, bis wir zurückkommen. Mit deine schönen Grundsätze mag ich dich diesmal doch lieber nicht zur Begleitung. Neue Gäste läßt du mich nicht mehr ein, und wenn sie dir noch so arg den Pariser Einzugsmarsch an die Tür trommeln. Hörst du?... Und jetzt komm, Achtermann. Ich denke, in der freien Luft wird dir auch wohl ein bißchen besser und frischer zumute werden.«

So traten sie hinaus in die dem Morgen zutreibende Nacht.

»Ah! is das 'ne Erquickung!« seufzte Butzemann, die kühle Luft mit Behagen einziehend. »Das weiß doch nur so'n unterirdischer Kellerkosake, als wie unsereiner nach seinem vollen Gehalt geeicht, zu würdigen!«

Den Leihbibliothekar aber fröstelte in seinem Fieber, und er schauderte zusammen und schüttelte sich.

»Eine ganz verfluchte Geschichte ist es«, brummte Butzemann. »Grenzt ziemlich nahe an die von die Nähnadel im Heuwagen! Da suche mich mal jemand, der nicht sein gut Dutzend Ulanenregimenter sich vorauf auf alle Wege zum Umgucken schicken kann. Na, die Vorsehung und die Güte Gottes sind auch was wert in solchen Fällen. Das habe ich wenigstens immer gefunden! Marsch, Alter! Das Fräulein, das Fräulein! Ich kriege es nicht fertig, sie mir in diese nichtswürdige Situation hereinzudenken, und wenn der Revierleutnant noch so höflich ist und ihr sogar, zum Henker, seinen Stuhl angeboten hat, was mich weniger glaublich als möglich vorkommt.«

Ihre Schritte hallten beängstigend hohl wider in den menschenleeren Straßen. Der Leihbibliothekar hätte wohl jeden Nachtwächter, der ihnen aufstieß, nach dem Flüchtling ausforschen mögen; aber Butzemann meinte ganz richtig:

»Das hilft dich zu gar nichts, Achtermann. Die haben auf ganz was anderes zu passen als darauf, daß du deine Pflicht und Krankenwacht verschläfst. Die Vorsehung – ich sage, die Vorsehung – das ist das einzige, was uns jetzt aus der Patsche helfen kann.«

In demselbigen Augenblick sprach an einer Straßenecke, um die sie eben biegen wollten, eine rauhe, sozusagen gesättigte Stimme im zitierenden Pathos:

»Die Sonn erscheint hier, wo mein Degen hinweist;
– – –
Zwei Monde noch, und höher gegen Norden
Steigt ihre Flamm empor, und grade hier
Steht hinterm Kapitol der hohe Ost.«

Im grauen Morgendunst deutete eine breitschulterige Schattengestalt mit dem Wanderstabe auf den schattenhaft sich vom grauen Himmelsgewölbe abhebenden Rathausturm, und Achtermann stieß einen Schrei aus:

»Wedehop!... Oh, die Vorsehung!«

»Wie?... Wo? was?« schallte es zurück. »Täuschen mich meine Sinne? Träume ich das oder träumt mich ein anderer? Achtermann!«

Zwei andere Gestalten traten rasch um die Ecke.

»Madame mère, ist das ein Wüstengesicht im Sande der Mark, oder kann so etwas wirklich sein? Ulrich, ich bitte dich!... Und Butzemann auch?!«

»Ja, Butzemann auch, Doktor! Das ist nochmal recht hübsch von Ihnen, daß sich das so macht. Achtermann hier nennt es eben die Vorsehung, Frau Professorin. Wie Sie und der junge Herr da es nennen wollen, steht bei Ihnen; aber nett ist das von Ihnen – da ist kein Zweifel!«

Es war ein Glück, daß die Mutter und der nervenschwache Sohn im Schein der Gassenlaterne und in diesem Morgennebel nicht bloß auf die verstörten Mienen ihres alten Freundes Achtermann stießen, sondern daß sie vom einen auf den andern sehen konnten, nämlich auch unserm Freunde aus dem Keller in das gutmütige, breite, stoisch-philosophische Gesicht. Mit Interjektionen war hier aber nichts weiter auszurichten.

Sie trafen sich an dieser Straßenecke, wie es von Anfang an oder dem, was der kurzsichtige Mensch so nennt, bestimmt war. Worüber noch Tage, Wochen, Monate, ja Jahre lang von ihnen allen gesprochen werden sollte, das hatten sie fürs erste in den Raum von fünf Minuten kurz zusammenzufassen; und was in dieser Hinsicht eigentlich unmöglich war, das erwies sich wieder einmal als das Selbstverständlichste und Natürlichste. Sie brauchten nicht einmal fünf Minuten, um sich gegenseitig das Notwendige mitzuteilen.


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