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Zwei blieben wach im Pfarrhause zu Boffzen in dieser Nacht, bis an die erste Morgendämmerung heran, wo sie noch auf kurze Zeit in den unruhigen Schlummer der Übermüdung fielen. Die beiden, derentwegen der Herrgott seinen Wunderwagen angehalten hatte, um sie da in beste Hut und Pflege zu geben: Pastor Holtnickers und des Fürstenberger Porzellanmalers Immeke und der Schweizerhauptmann Balthasar Uttenberger vom Regiment Lochmann.
Das Kind saß bis ans Morgengrauen auf seinem Bett, hielt im Dunkeln die Knie mit den Armen umschlungen und schluchzte eigentlich weiter nichts als:
»O Pold! Pold! Mein Pold!«
Der grauköpfige Reisläufer des Kantons Zürich dagegen hatte seine Blechlampe nicht ausgeblasen. Der Kabinettprediger Cober hatte heute abend keinen aufmerksameren Zuhörer gehabt in der kleinen Gemeinde als den alten wege-, schlachten- und lebensmüden Kriegsmann. Mit seinem Fieber in den Knochen lag er schlaflos, und das Idyllenbuch des Landsmanns lag dicht neben seinem Ellenbogen auch noch aufgeschlagen auf dem Tische.
»Der hätte meinen Pold, meinen lieben Pold nicht, ganz gewiß nicht an seine anderen, fremden, ausländischen Unmenschen und die Franzosen ausgeliefert und – o großer Gott, in die Spitzruten als Deserteur!« schluchzte Immeke auf ihrem Strohsack sitzend, und sie hatte recht: der alte, müde Landsknecht würde das nicht getan haben. Sie hatten zu sehr dafür ein Wohlgefallen aneinander gefunden und paßten dazu zu gut zueinander: das Pfarrtöchterlein von Boffzen und Hauptmann Balthasar Uttenberger vom Regiment Lochmann. Sie waren eben für die nächste Zeit vom lieben Gott nach der Schlacht bei Hastenbeck aufeinander angewiesen worden. Der Kabinettprediger Cober hat's ja: unseres Herrgotts Wunderwagen ladet seine Fahrgäste stets zur rechten Zeit und am richtigen Orte ab. –
Im Jahre der Schlacht bei Mollwitz hatte die Frau Pastorin von Boffzen ihr Boffzener Bienchen auf dem Leinpfade an ihrer Gartenhecke im Grase sitzend gefunden, nach ihrer Rechnung zwei- oder höchstens dreijährig, und hatte auf ihre Anfragen: »Woher? Wohin?«, eine Antwort erhalten, die sie nur zu dem Ruf bewegen konnte: »Aber Mann, Gottlieb, komm doch mal her und sieh dir diese Kreatur an!«
Es konnte deutsch sein, aber es konnte auch ebensogut slawonisch, kroatisch oder sonst aus dem Taternlager sein, was das Ding redete. Nur daß es Angst und Hunger hatte, war aus dem Kauderwelsch abzunehmen, auch auf des Herrn Pastors: Quis? quibus auxiliis? cur? quomodo? hin. Papiere hatte es gar nicht bei sich gehabt, auch, wie sich nachher beim ersten Abwaschen auswies, kein Zeichen an seinem lieblichen Leibe, sondern nur ein paar Wundmale von schlechter Behandlung, Striemen und blaue Flecke. Nach einer Mutter oder nur einer Pflegerin hatte es nicht verlangt, und da das allgemach versammelte Dorf Boffzen nichts von ihm wußte und noch weniger wissen wollte, was war da dem Pfarrhause übriggeblieben? Nichts weiter als aus gutem, christlichem Herzen erst das Nötigste und nachher das Beste an ihm zu tun. Ihm erst den Hunger zu stillen, dann es zu waschen und zu kämmen und ihm die Läuse abzusuchen und es – im Laufe der Jahre zum
Bienchen von Boffzen
heranzuziehen: wie die Figuren-, Blumen- und Blaumaler auf Schloß Fürstenberg, die das wissen mußten, auf ihren Künstlereid nahmen, zum feinsten, reinsten, hübschesten Mägdelein rechts und links von der Weser, soweit unser Herrgott in Ostfalen und Westfalen Blumen wachsen ließ.
Unter linder, doch nach Bedarf auch scharfer Zucht war's dann aufgewachsen, nachdem es vorher noch einige Schreiberei über es zwischen Ehrn Gottlieb Holtnicker und dem Konsistorium zu Wolfenbüttel gegeben hatte. Kein Mensch brachte es aus des Geschöpfes Kauderwelsch heraus, ob es schon getauft worden sei und auf was für ein Bekenntnis, und: »Wenn sich bis zum Winter keiner zu ihm meldet und ich mich seiner dann annehmen soll, als ob es ganz mir gehörte, so muß es auch mit mir in einem Kirchenstuhl sitzen können. Schreib das mal den Herren nach Wolfenbüttel und laß dir was Schriftliches darüber geben, Holtnicker«, hatte die Frau Pastorin von Boffzen gesagt.
Ob unser Herrgott das verlangt hatte, als er das Kind von seinem Wunderwagen vor dem Pfarrhause von Boffzen abgeladen hatte, bleibe ihm anheimgestellt. Was das Konsistorium zu Wolfenbüttel anbetrifft, so kam das über obwaltende Bedenken, wie gesagt, nach kurzer Überlegung zu der Resolution: »Was tut's am Ende! Doppelt genäht hält besser in jedem Fall.« Daß es sich etwas anders ausdrückte, stellen wir ihm anheim. Das Resultat des letzten »Schriftlichen« im Kurialstil, was es von sich gab, war, daß eines Tages Ehrn Gottlieb Holtnicker und sein gutes Weib ihren Wildling und Findling zwischen sich, jedes ein Händchen haltend, in ihre Kirche geführt haben und daß es daraus hervorgegangen ist als Johanne Gottliebe Holtnicker.
Die Arrogation oder Adoption hatte vermittelst eines Ministerialschreibens Serenissimus, Herzog Karl von Braunschweig, landesväterlich gestattet, da er, natürlich nach Einsichtnahme der Sachlage, zu der Überzeugung gekommen sein mußte, daß das Ding in den besten Händen sei und sich wohl niemand mehr mit besserem Rechte zu ihm melden würde.
Daß das letztere nicht ganz der Fall sein konnte, daß das zivile und das kanonische Recht hier dem Naturrecht gegenüber nicht ausreichten, das berichten wir eben wahrheitsliebend auf diesen Blättern; aber fürs erste, das heißt für längere, liebe, glückliche Jahre meldete sich doch niemand mit stärkerem Recht zu dem hübschen herrenlosen Gut als der »Herr Vater« und die »Frau Mutter« vom Pfarrhofe zu Boffzen, die es vom Wege der wilden Welt auflasen und es sich ins Haus trugen. Wohl sechzehn Jahre lang hätte das »angenommene« Kind seine kleinen, schwieligen Hände nur den Adoptiveltern bei jedem ihrer Schritte unter die Füße schieben mögen, bis Serenissimus, Herzog Karl – seine noch jetzt berühmte Porzellanfabrik auf Schloß Fürstenberg gründete.
Dieses hätte er ja wohl tun können; aber daß er dort oben auf dem Berge über dem Dorfe auch dem Blumenmaler Pold Wille von der Wendenstraße in der Stadt Braunschweig einen Platz im Malersaal gab, hätte er nur verantworten können, wenn er vorher die Pastorin von Boffzen, Frau Johanne Holtnicker, um ihre Meinung und ihren Rat angegangen wäre und dem braven jungen Menschen ans Herz gelegt hätte, ihr um Himmels willen ja nicht in den Weg zu laufen bei allem, was ihr Kind und das fromme Kind Gottes, Pastor Emanuel Störenfreden zu Derenthal, anbetraf. –
Was ist denn Recht auf dieser Erde, wenn es für ein gutes da immer noch ein besseres, stärkeres gibt? Ja, wenn das noch eine Doktorfrage wäre und nur von und vor Kanzeln und Kathedern gelöst zu werden brauchte! Ach, Immeke von Boffzen, du bist die erste nicht, die nachts wach auf dem Bette sitzt und die Hände über die Frage ringt, wem von allen, die sie in der Welt am liebsten hat, sie das höchste Unrecht antun soll: »Ach, Pold, ach, Pold! ach, Frau Mutter, liebste beste Frau Mutter! Nun liegt er im Fieber im Landwehrturm bei der Wackerhahnschen, und ich weiß nicht, ob es der Frau Mutter wegen nicht ein Unrecht ist, daß ich in meinen Gedanken nur bei ihm bin und nicht beim jungen Herrn Pastor Störenfreden! Ich kann ja nichts dafür, daß ich ihn liebhaben muß, wenn er auch nur einen Blumenkranz um mich malen kann, wenn ein anderer von seinen künstlichen Kumpanen mich selber mit meinem Gesichte auf eine Tasse oder einen Teller oben auf dem Schlosse gemalt hat! Ich kann ja nichts dafür, daß er nichts in der Welt weiter hat als diese seine Kunst und daß mich unser lieber Herrgott doch nur für ihn hier bei meinem liebsten Vater und meiner lieben Mutter aus seinem Wunderwagen abgeladen hat! Was kann ich denn dafür, lieber Gott, liebste Frau Mutter, daß ich so schlecht bin und der Herr Pastor Störenfreden viel, viel, viel zu gut für mich ist?«
*
»Einer wird geboren gegen der Sonnen Aufgang, bei ihrem Niedergang muß er sterben. Ein anderer will sich setzen gegen Mittag, das Geschick führet ihn wunderbar gegen Mitternacht«: wann hatte je der Kabinettprediger Cober einem alten Schweizer Reisläufer mit dem Bedürfnis nach Ruhe so das Heimweh ins Herz hineingepredigt als wie dem andern schlaflosen Gast im Pfarrhause zu Boffzen? –
Ach, in dieser Nacht am wenigsten hätte der den Deserteur von Kloster Zeven, den Blumenmaler von Schloß Fürstenberg dem französischen Kommandanten von Höxter in die Spitzruten geliefert! Da hatte Immeke von Boffzen ganz recht: vor ihrem Freund, dem Schweizer Reisläufer Balthasar Uttenberger, hätte der Ausreißer des Herzogs von Cumberland und, leider auch, Serenissimi des Herzogs Karl Durchlaucht dreist mit unterkriechen dürfen im Boffzener Pastorenhaus. Und das Kind wußte noch nicht einmal ganz zu seinem Troste, wozu es, grade es, dem Alten in seinem wilden, verwirrten Kriegsleben geworden war, seit sie ihn, ein paar Wochen nach der Schlacht bei Hastenbeck, von des Kabinettpredigers Cober Wunderwagen heruntergehoben und dem Boffzener Pastorenhause für Leben und Tod zur Pflege dagelassen hatten. In seinem Fieber – ihnen einerlei, ob auf den Mist, in die Grube oder zum Wiedereintritt in die Front Seiner Allerchristlichsten Majestät wohlbezahlten und getreuen Schweizerregiments Lochmann! Es ist nicht einerlei, unter was für Gesichtern man wieder zu seinem Bewußtsein kommt, wenn man einmal eine Zeitlang wenig oder nichts von sich gewußt hat, und noch dazu auf einem Bagagewagen im Nachzuge des Herrn Marschalls von Estrées. Hauptmann Balthasar Uttenberger aber, noch einmal im großen Erdenlazarett zu sich selber kommend auf seinen Kriegszügen, hatte sich im Boffzener Pfarrhause zum erstenmal seit seiner Kinderzeit wieder im Frieden gefunden, mit dem Boffzener Bienchen zur Pflegerin und dem Salomon Geßner neben der Nachtlampe an seinem Bette zum wunderlichen Tröster.
Von Gottes Wunderwagen stammte das Kind, vom Feld bei Hastenbeck das Büchlein mit der Kugelspur und den Blutflecken auf dem zerfetzten Umschlage. Er, der Hauptmann, hatte dabeigestanden, als sie auf dem belachenswürdigen Siegesplan den neu aus der Heimat zum Regiment gekommenen Landsmann zwischen den Ackerfurchen hin und her wendeten, um ihm das zu entnehmen, was von ihm und an ihm ihnen noch brauchbar erschien beim Weitermarsch, ehe sie den Kameraden zu den anderen in die Grube legten. Er hatte das Ding im Gedränge von dem zerstampften Felde aufgehoben, nachdem mehr als einer es verächtlich aus der Hand hatte fallen lassen. Im Gedränge hatte er es nur mechanisch in den Sack geschoben und war selber weitergeschoben worden bis zum nächsten Wachtfeuer im eben begonnenen Weltkrieg: Salomon Geßners Idyllen in der Tasche wie die ganze übrige Welt! – –
Wie die ganze übrige Welt, die ganze »feine Welt«, wie sich der Herr von Archenholz ausdrücken würde. Die ganze feine Welt, soweit sie um die Mitte dieses achtzehnten Jahrhunderts lesen konnte und von der Musen lieblichen Künsten einige Erfahrung hatte!
Wer weiß heute noch von dem Poeten, der zum erstenmal das Wort »deutsche Dichtung« in die Weltliteratur brachte? Mit lächelndem Achselzucken sehen sie heute, wenn sie hinsehen, auf den Mann, der mit deutschem Wort rund um die Erde die Völker in seinen Bann zwang, auf den armen Salomon Geßner aus Zürich, dem von seiner heimischen Zensurbehörde die Erlaubnis zum Druck von »Daphnis und Chloe« nur unter der Bedingung gegeben worden war, daß weder der Name des Verfassers noch der Druckort genannt werde! Daß das Motto: Me juvat in gremio doctae legisse puellae, gestrichen werde und – daß der junge Mensch so bald als möglich verheiratet werde, um in christlich-bürgerlich-ordentlich-ehrbare Haus- und Pantoffelzucht zu kommen und dadurch fürderhin von solcherlei heidnisch-liederlich-obszöner Poeten-Spiegelfechterei abgebracht zu werden! –
Ja, wohl haben Dichter und Bücher ihre Schicksale; aber was würde es nützen, wenn wir an dieser Stelle auch das Unserige hierüber vorbringen wollten? Halten wir uns an das Schicksal des zerlesenen, blutbefleckten Hirtenliedes des lieben Schweizer Poeten, das jetzt wieder beim Schimmer der trüben Lampe in der Knochenhand des alten Schweizer Kriegsknechts zittert und ihm durch die lange, fieberische schlaflose nordische Herbstnacht in den neuen Tag hinüberhilft!
Sie hatten in dem Kriegssommer siebenzehnhundertsiebenundfünfzig nach der Schlacht bei Hastenbeck den Salomon Geßner zusammen gelesen im Pastorhause zu Boffzen an der Weser: Immeke von Boffzen und Hauptmann Balthasar Uttenberger, hinter dem Rücken der Frau Mutter, unter dem Lächeln und Kopfschütteln des Herrn Vaters. Wir werden schon noch erfahren, was auch von Schloß Fürstenberg her mit leuchtenden Augen, lachendem Munde und klopfendem Herzen bei dem neuen Ton im Welt-Dichterwalde aufgehorcht hat; augenblicklich aber geben wir nur dem Salomon Geßner das Wort, wie wir es vorhin dem Kabinettprediger Cober gegeben haben:
»Sey mir gegrüßt; hätt ich dich zu finden geglaubt, ich hätte nicht so lange gezaudert, den lodernden Flammen zu folgen, die im Dunkeln so schön ins Thal glänzen. Aber höre, Mirtil! itzt da des Mondes düstrer Schimmer und die einsame Nacht zu ernsten Gesängen uns lockt, höre, Mirtil! ich schenke dir eine schöne Lampe, die mein künstlicher Vater aus Erde gebildet hat; eine Schlange mit Flügeln und Füßen, die den Mund weit aufsperrt, aus dem das kleine Licht brennt; den Schweif ringelt sie empor, bequem zur Handhabe. Dies schenk ich dir, wenn du mir die Geschichte des Daphnis und der Chloe singest.«