Wilhelm Raabe
Hastenbeck
Wilhelm Raabe

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Dreizehntes Kapitel

Sie hielten sich noch eine geraume Weile fest und stumm umfaßt, das an der Heerstraße gefundene Kind und die auf der Heerstraße verlorengegangene Greisin. Aber dann stieß doch die letztere ihren lieblichen Gast wie erschreckt von sich und rief:

»Du! 's ist mir, als hätte ich sie eben mal wieder rufen hören nach dir! Es hilft nichts – die Kanonen des Königs Fritz habe ich nicht, um dir und deinem Schatz hier in meinem Turm in Sicherheit Quartier bieten zu können; also geh doch jetzt lieber. Je weniger Lärm und Geschrei jetzt um euch zwei arme Seelen ist, desto besser ist's, wie ich dir da meine Meinung schon gesagt habe. Denk eben, 's ist ein Übergang wie 's Fegefeuer, wie sie drüben im Katholischen sagen, und jetzt hilf die Leiter herunterlassen und lauf nach Hause. Das Feld ist frei, und der Nebel kommt uns auch wieder zur Hilfe. Je weniger Güte und Barmherzigkeit unser Herrgott in meinem Leben mir zu kosten gegeben hat, desto mehr davon schöpfe er dir auf den Teller! Lauf, lauf, Krabbe; wahrhaftigen Gottes, ich höre sie vom Dorf bis nach hierher nach dir zetern, deine Frau Mutter!« . . .

Das war ein Irrtum.

Die Frau Pastorin hatte diesmal ihr Pflegekind nicht zu einer Arbeit vermißt, hatte nicht nach dem Bienchen von Boffzen gerufen. Im Gegenteil, wäre es ihr an diesem düsteren Nachmittag um die Hand gewesen, so würde sie es sogar unter dem ersten besten Vorwand so weit als möglich vom Hause weggeschickt haben.

Es gibt viele Redensarten für die Betäubung, die den Menschen überkommt, wenn ihm etwas begegnet, dessen er sich durchaus nicht vermutend war.

Da ist der Stein vom Dache, der Blitz aus blauem Himmel, der Schlag vor den Kopf und so fort, so fort: Frau Johanne Holtnicker hatte die Auswahl, um ihrer Zerschmetterung Worte zu leihen gegenüber dem alten Weiblein auf der Küchenbank und dem Briefe, den es ihr aus Derenthal gebracht hatte.

Die Frau Pastorin hatte ihren Stein auf den Kopf, ihren Schlag vor die Stirn, ihren Blitz aus unseres Herrgotts grundgütigem Himmel weg, und wenn ihr Immeke im Landwehrturm der Wackerhahnschen die Knie um Mitleid bittend umklammert hatte, so würde das Pflegetöchterlein das jetzt noch heftiger der Mutter getan haben, aber aus Mitleid, wenn sie sie gesehen hätte über dem Brief, den ihr der Pastor und Neffe von Derenthal, Emanuel Störenfreden, in der Botenkiepe der Mutter Amelieth hatte zukommen lassen.

»Jesus Christus!« hatte die Ameliethsche zu Dörthe Krüger gesagt. »Was mag ihr unser geistlicher Herre denn da auf zu raten gegeben haben? Das war ja wie ein Dalschlag! Da sollen einem ja die Knie unterm Leibe bewern!« –

Der geistliche Herr von Boffzen war nicht zu Hause; in seiner Stube, an seinem Tisch saß die geistliche Frau über dem Schreiben des Günstlings, Schützlings, Lieblings ihrer Seele! Wenn jemals, um wieder eine landläufige Redensart zu gebrauchen, ein Mensch dem anderen das Dach über dem Kopfe abgedeckt hatte, so war es das fromme Kind Gottes zu Derenthal, unter dessen Dache sie so mütterlich und sonst verwandtschaftlich besorgt ihrem ihr von Gottes Wunderwagen zugefallenen Pflegekind im Drangsal der Zeiten eine sichere Heimstätte hatte bereiten wollen! Wenn jemals ein Träger des Familiennamens Störenfreden demselben Ehre gemacht hatte, so war's heute Ehrn Emanuel Störenfreden, der Pfarrer von Derenthal. Und da Vater Gellerts »Praktische Abhandlung von dem guten Geschmack in Briefen« erst Anno 1769 bei Kaspar Fritschen in Leipzig in Druck ausging, so können wir wohl dreist behaupten, daß der junge Mann und geistliche Seelenhirt alles in seinem Schreiben aus sich selber gezogen hatte. –

»Madame und hochzuverehrende Frau Tante!

Niemalen in meinem Leben ist es mir so schwer gemacht worden, die Feder aufzunehmen zu einem Briefe wie zu diesem. Wie soll ich sagen, was ich der Frau Base und lieben Mutter heute sagen muß? Wie wird es mir gezeiget, daß Scheiden Leiden bringet! Wie lasset es sich aber zu Papiere bringen?

Die Frau Tante wird fragen: weshalb redet Er nicht, lieber Herr Vetter und Sohn? Wozu des Papieres, der Tinte und der Feder, um Seinen demnächstigen christlichen Schwiegereltern, Seinem Vater und Seiner Mutter, in Anbetracht des Fehlens der leiblichen Eltern, Sein Anliegen kundzutun?

Siehe, das ist es auch dieses Mal, mit dem ich habe mich abkämpfen müssen mein Leben lang! Es ist, daß mir das mündliche Wort nicht gegeben ist, wo es mir am nötigsten wäre in eigener Angelegenheit, von Kindesbeinen an bis in die jetzt vorhandene schwere und unruhvolle Stunde. Daß der gnädige Gott es mir nicht versaget hat, das Wort auf der Kanzel und im Amtsberuf in der Gemeinde, das ist ein Trost, der mir heute wenig hilfet.

Hochwürden Herr Abt Jerusalem, zu dessen Füßen in Vorbereitung zum heiligen Predigtamt zu sitzen ich Anno 53 das hohe Glück hatte, helfe mir jetzo, zu dem Mutterherzen meiner liebwertesten Frau Tante zu sprechen! –

Ich komme heute durch dieses zu der Frau Mutter Mademoiselle Tochters wegen und bitte herzlich, es aufzunehmen als einen festen Beschluß nach reiflicher Überlegung und Einkehr in das eigene Gemüt zwischen Zeit und Ewigkeit. Siehe aber auch Sankt Matthäus im neunzehnten Kapitel, Vers drei bis zwölf. Saget doch der Herr selber: ›Das Wort fasset nicht jedermann, sondern dem es gegeben ist.‹ Und ferner aber: ›Wer es fassen mag, der fasse es.‹ –

Es kann nicht geschehen, Madame, daß aus Dero lieber Pflegetochter und mir ein christlich Ehepaar werde, ein Leib und eine Seele, nicht zu scheiden durch Menschengesetz, der Tod scheide es denn!

Ich habe gerungen darum, in meiner Einsamkeit hier im Wald, schwer und bitter; doch nun weiß ich und habe es gefasset: es kann nicht so werden, wie es der Herzenswunsch der Frau Mutter gewesen ist; ich führete mit Mamsell Johanna kein Eheweib nach dem Wort in mein Haus: ›Und werden die zwei ein Fleisch sein!‹ –

Der Frau Pfarrerin liebes Kind hat anders und selbst gewählet für sein irdisch Leben als wir beide, die Frau Mutter und ich. Es hat nicht mich gewählet, und wir zwei, die Frau Tante und ich, wollen nicht die sein, so zwischen das träten, was, nach meiner Meinung jetzo, doch wohl der liebe Gott zusammengegeben hat.

Als ich in der vergangenen Woche zuletzt in Boffzen anwesend gewesen bin, da habe ich mir mein Urtel geholt in dieser Sache: es ist in Derenthal unter meinem Dach kein Unterkommen für Jungfrau Johanna, aber vielleicht wohl einmal für sie und ihren wahrhaften Liebhaber und Liebsten, sollte die Not der Tage sie dahin führen.

Die Frau Mutter hat ihrem Kinde in dieser schweren Zeit zu einer Ruhestatt verhelfen wollen, und ich bin wahrlich auch von Herzen gewillet gewesen, ihr dazu zu helfen; habe es auch als die höchste mir in diesem Erdenjammertal bestimmte Glückseligkeit geachtet; gerade wegen der Angst der Zeit und der Zeit Gewitterdonner rundum. Wie den höchsten Schatz der Erde hätte ich das Glück in Sicherheit gebracht und mir die Braut heimgeholet. Jetzo aber kann ich nur wie ein leiblicher Sohn zu den Eltern kommen und für Jungfrau Johanna Holtnicker und Monsieur Wille bitten wie für Schwester und Bruder! Und wären alle Schätze der Welt mein und könnte ich in obwaltendem Kriegessturm turmhohe Mauern aufbauen: was hülfe es mir, so ich zu diesen Schätzen und hinter diese Mauern ein widerstrebend Eheweib, ein Herz, das einem anderen zugehört, zerrete und zöge – ein armes Herz, das nicht mir gehörete für Zeit und Ewigkeit?

Und hierzu möchte ich meiner Frau Pastorin, meiner liebwertesten Frau Muhme noch eines jetzo in anderer schwerer Sorge und Beängstigung an ihr Herz legen. Es sind die Leute, die es sich auch hier im Solling schon gegenseitig ins Ohr sagen: Der Pastor Störenfreden tue wohl dran, wenn er sich die Braut so bald als möglich in Sicherheit bringe. Man dürfe darüber nicht zu laut reden, und nicht bloß der Franzosen im Lande wegen. Nicht bloß der Franzos und der Engelländer, sondern auch Serenissimus, unser gnädigster Herr Herzog Karl, könnten wohl einmal ob des Gastes im Pfarrhause zu Boffzen mit dem Flintenkolben dort anklopfen lassen. Der Herr Pastor und Frau Pastorin schliefen selber schon wie mit dem Strick um den Hals, ihres Gastes wegen, den sie sich um Gottes Willen von der alten Frau im Landwehrturm ins Haus geholet hätten. Daß der Feind im Hause, der Schweizerfranzos, nicht schon lange ein Wort nach Höxter habe laufen lassen, das sei eigentlich ein Wunder; aber wer könne wissen, ob sie dort, jenseits der Weser, nicht die Ruten schon austeileten für den Fürstenberger Topfmaler und Fahnenflüchtigen aus des englischen Herrn Herzogs Vertrag mit dem Feind. O möchte die Frau Mutter ihres lieben Kindes wegen jetzo darüber in meiner Seele lesen können und Sorge tragen, daß nicht auch meinetwegen darob Schaden geschehe!

Welche Zeiten! welche Zeiten! Schwert, Spieß, Bogen, Hunger und Pestilenz rundum! Der Kriegeswagen Geroll nah und ferne! Des Herrn der Heeresscharen Hand schwer auf den Völkern: wer wollte da zu seinen Ängsten und Sorgen die Schuld auf sich nehmen, auseinanderzureißen, was sich von Herz zu Herz zusammengetan hat, der Welt Drangsal zu bestehen oder aneinandergeschlossen darin unterzugehen, in der Hoffnung, daß auch drüben sich wieder vereinigen werde, was sich hienieden zusammengeschlossen habe?

Ich vermag es nicht! Und so stehe es denn auch zuletzt hier geschrieben – wolle der gütige Gott dazu helfen, daß ich den Weg durch das Leben auch fürderhin noch allein gehen möge, wo nicht im Glücke, so doch im Frieden! Womit ich denn nun auch mich und die Frau Pastorin, ma tante, und den Herrn Vetter, meinen über alles hochgeehrten, werten und würdigen Herrn Amtsbruder senior, in des Höchsten Schutz und Obhand befehlen will – den Monsieur Wille aber und liebwerteste Mademoiselle Tochter in die herzliche Liebe und treue Fürsorge vom Herrn Vater und der Frau Mutter als unseres himmlischen Vaters bestellte beste Vertreter und Vormünder auf seinem Erdball in solcherlei Angelegenheiten und in solcherlei Zeit.

Und verbleibe ich hiermit meiner Frau Pastorin und Base und des Herrn Oncle treu gehorsamster Cousin, Neveu und ergebener Diener

Emanuel Störenfreden,        
Pastor zu Derenthal im Solling.«

Was eine Schwiegermutter vom heutigen Tage zu solch einem Absagebriefe gesagt haben würde, wird sie wissen: Mutter Holtnicker im Jahre siebenzehnhundertsiebenundfünfzig sagte nichts. Sie saß und suchte sich zu besinnen. Sie suchte sich nur zu besinnen auf das, was sie, wenn es Gottes Wille war, daß sie ihren Verstand und ihre fünf Sinne noch einmal gesund beieinanderkriegte, in einer Welt wie diese und zu einer Welt wie diese sagen konnte. – – –

Wir können sie so sitzen und suchen lassen; wir können ihr Pflegekind, von der Mahnung der Wackerhahnschen wie ein »gejagt Hühnchen« beflügelt, durch den Schnee seinen Weg zu dem Boffzener Pfarrhause zurückfinden lassen: mit dem Pastor Störenfreden in Derenthal sind wir noch nicht fertig. Den können wir noch nicht so lassen, wie wir ihn in seinem Briefe gefunden haben. –

Der ging um diese dämmerige Stunde zwischen seinem Ofen mit dem glühroten springenden braunschweigischen Pferd und den niederen Fenstern, an denen sich schon die ersten Eisblumen der Nachtkälte bildeten, auf und ab und atmete dann und wann tief auf, doch aus befreiter Brust wie ein Mann, dem eine schwere Bürde abgenommen worden war oder der sie sich vielmehr selber mit Aufbietung von viel Kraft von den Schultern abgestreift und hinter sich zu Boden niedergelegt hatte.

Wahrlich, kein übler Mann, dieser junge Pfarrherr und Schüler von des jungen Werthers Vater! Wohl einem guten Mütterchen als ein wackerer Schwiegersohn zu wünschen! Kein häßlicher Mann und kein schlechter Mensch! Dem Leibe nach wohlgestaltet, wenn auch etwas hager und gebückt in seinem geistlichen Schwarz – der Seele nach ein Kind von einem Menschen! . . . Ja, das letztere war es eben, was ihn bis heute abgehalten hatte, das zu verrichten, was auf die Frau Pastor Holtnicker im Boffzener Pfarrhause niederkam wie der über den Philistern zusammenbrechende Tempel des Gottes Dagon zu Gaza.

Ein gutes Kind und mit der Schwachheit behaftet, schwer »nein« sagen zu können: was braucht es da mehr, dem Menschen unruhige Tage und schlaflose Nächte zu schaffen? Ach, wie bald die Welt den herausfindet, der am wehrlosesten gegen sie ist, jeden, der gerade aus seinen Tugenden, dem zarten Gewissen, dem guten Herzen, der Schämigkeit, dem Mitleiden und der Lust zur Mitfreude heraus selber ihr die Hilfsmittel gibt, ihn nach ihrem Willen ab- und zuzurichten!

Ach, und wenn gar noch die Welt die Gestalt der lieben, braven, das Beste meinenden guten Tante, der Muhme Holtnicker, der Frau Pastor Holtnicker, annimmt und den fernen Vetter, Ehrn Emanuel Störenfreden, aus seinem Walddorfe herausholt und ihn auf sein Glück und – seine Pflicht und Schuldigkeit, nötigenfalls sogar wie auf Befehl von oben, vom Thron der höchsten Weltregierung her, mit der Nase stößt und so drauf festhält: was dann? . . .

Dann: dann und wann ein solches Atemholen nach Vollbringung einer guten Tat, nach Ausführung eines edlen Entschlusses wie das befreite Aufatmen Ehrn Emanuel Störenfredens, der zu den Füßen des Herrn Abts von Riddagshausen gesessen hatte, um sich zum heiligen Predigtamt, zu einem Berater und Trostsprecher, nicht in Werthers Leiden, sondern im Leid dieser armen Erde vorzubereiten und mit dem dazu notwendigen geistigen Werkzeug ausrüsten zu lassen von dem Vater des künftigen Legationssekretärs Karl Wilhelm Jerusalem am Reichskammergericht zu Wetzlar! – – – – –

Nun war er es von der Seele los. Er führte nicht das liebe Bienchen aus dem Boffzener Pfarrgarten als sein Weib in seine stille, gelehrte Klause. Rund um ihn her gewann alles in seiner engen Welt, in die sich die gute Tante und sorgliche Mutter, die Frau Pastorin von Boffzen, nur zu seinem Besten, für sein Glück besorgt, so gewalttätig zärtlich eingedrängt hatte, wieder das alte Gesicht. Denn trotz aller Gewissensbisse, seinem guten Gewissen gegenüber, wußte er es ja, daß er das Rechte vollbracht hatte, daß er auch seiner »Mademoiselle Braut«, der ihm bestimmten Maid, durch seinen Brief in der bitterbösen Zeit doch die schwersten Ketten von den Handgelenken lösete, daß er, wie sich selber, auch dem armen Hannchen Holtnicker zu einem freieren Atemzuge aus tiefster Brust und Seele verhalf!

Ja, wenn er in dem Behagen der Erlösung doch mit Schauder an die Mutter dachte, so tröstete ihn lieblichst das Bild der Tochter, wie es vor ihm aufstieg mit seiner Angst und Abneigung vor ihm und seiner Hilflosigkeit, die der seinigen so sehr glich in dem Verkehr der letzten Jahre zwischen Derenthal und Boffzen, einerlei, ob unter den Frühlings- und Sommerblumen im Pfarrgarten, unter den Erntegarben oder am Winterabend am warmen Ofen vor dem trefflichen Kabinettprediger Cober aus Altenburg.

»Das arme Kindlein!« seufzte der junge Prediger von Derenthal, auf seinem nachdenklichen Wege auf und ab unter der niederen schwarzen Balkendecke seiner Studierstube schreitend. »Wie lieblich war es in seinem Gehorsam gegen die Mutter, in seiner Angst, in seiner Scheu, in seinem Abscheu vor mir unachtsamen, blöden Toren! Was mußte erst kommen, mir die Augen und Ohren zu öffnen? Stolzen Rat mußten die Könige halten, der Krieg mit Mann und Roß und Wagen mußte einbrechen, der Herr aus der Höhe dem Pastor von Derenthal ins Ohr brüllen, ehe der mit Blindheit und Taubheit Geschlagene sah und hörte, der –«

Was für ein schmückend Beiwort der junge geistliche Herr sich beilegte – und gottlob jetzt schon lächelnd –, wollen wir nicht kundmachen.

»Gesegnet sei mir Seine Königliche Hoheit, der Herzog von Cumberland, gesegnet sei Dero Konvention von Kloster Zeven; aber dreimal gesegnet sei die Frau Försterin Wackerhahn in ihrem Wachtturm, die den armen, törichten Emanuel Störenfreden durch ihre barmherzige Hilfeleistung davor bewahret hat, zu der Verschuldung Adams und Evas auch die seinige in die Waagschale zu tun! Welch ein Freund möchte ich nun den lieben jungen Freunden werden in Not und Gefahren! Wie gern möchte ich nun mit befreiter Seele und losgebundenen Händen weiter helfen zu ihrem Glück – ja, ja, ja, ja!« . . .

Es strich ihm etwas um die Beine und schnurrte dazu. Er beugte sich und streichelte seinen Kater und hatte schon wieder behaglich Sinn für das Knistern und Funkensprühen aus dem würdig schwarzen Sammetpelz dieses Hausfreundes. Er hatte ein fröhlich liebkosend Wort für ihn, auf welches hin aber sofort ein zweiter Hausgenosse unter dem Sorgenstuhl am Ofen hervorkam und sein Teil von dem endlich wiedergekehrten Behagen des Pfarrhauses zu Derenthal forderte. Seine Vorderpfoten legte Spitz, der weiße Spitz, vor dem besten Schüler des Vaters des jungen Werthers nieder, hob das Hinterteil desto höher, reckte und dehnte sich, gähnte und richtete sich dann an ihm empor, mit leisem, schnüffelndem Gewinsel andeutend, daß auch er noch vorhanden sei.

»Ja, ja, ja, ja, ja, ja!« sagte Ehrn Emanuel, »auch ihr könnt dafür Zeugnis ablegen, daß ich nicht schuld daran gewesen bin. Doch nun – ja, ja, ihr! nun werden wir wie früher im Frieden des Herrn miteinander und – mit denen da auskommen und unser Genügen haben!«

Bei dem letzten Worte strich er im Auf- und Abwandeln liebkosend über die Rücken der zerlesenen Bände auf den Brettern seines für seinen Erdenwinkel, das Weser- und Sollingdorf Derenthal, wahrlich nicht unbeträchtlichen Büchervorrats, hier und da einen würdigen Folianten in Schweinsleder mit besonderer Zärtlichkeit berührend.

Nun hob er aus dem untersten Fach einen der schwersten heraus und empor, trug ihn auf den Tisch zu der Lampe und schlug ihn auf – –

Flavius Josephus: De bello Judaico!

Des Flavius Josephus sieben Bücher vom Jüdischen Kriege! . . . Kein anderes Buch aus seiner Bibliothek konnte er, bis die Ameliethsche aus Boffzen von ihrem Botengange zurück war, gebrauchen, wenn er die trotz seiner erlöseten Brust doch in seinem Blute vorhandene Unruhe durch Studium oder lectura niederdrücken wollte. Similia similibus!

Nun stützte er über den Greueln, die der gütige Titus über die Stadt Jerusalem brachte, die feine schmale Stirn auf beide Hände, und wenn sich draußen in seinem geistlichen Junggesellenhaushalt etwas rührte, etwa ein Schritt seiner Stubentür nahe kam, sah er auf und mit rückwärts zuckenden Ellbogen von seinem Stuhl aus herum.

Er versuchte es, dem Josephus durch den Tobakskasten zu Hilfe zu kommen. Er stopfte die irdene Pfeife und brannte sie an. Sie ging ihm aus und ließ ihn seinem Gedankenspiel und dem steigenden Zweifel, ob er eigentlich mit einem guten oder einem schlechten Gewissen dasitze und auf die Rückkehr der Ameliethschen warte. Je weiter der Abend vorschritt, desto mehr vernahm er es durch das Rauschen des Windes im nahen Walde, aber nicht mehr aus dem Flavius Josephus, sondern aus der Beschreibung der Zerstörung Jerusalems im braunschweigischen Gesangbuche:

»O ein Geschrei vom Morgen! O ein Geschrei vom Abend! O ein Geschrei über ganz Jerusalem und den Tempel! O ein – Geschrei – über – Bräutigam und Braut!«

Plötzlich fuhr er auf, mit beiden Händen sich auf die Lehnen seines Armstuhls stützend. Draußen auf dem Flur ein Geschrei – die Winnefeldsche und die Ameliethsche in aufgeregtester Verhandlung ob des Einbruchs der letzteren mit stürmender Hand in sein stilles Gemach!

»Herr Paster –«, es war die Winnefeldsche, die Eurykleia des in Gott ruhenden Vorgängers, die das Haupt in die Tür stecken wollte, aber von der Ameliethschen vom Türgriff weggerissen worden war, und letztere war's, die ins Zimmer kreischte: »Herr Paster! Herr Paster! Da bin ich! Da bin ich wieder. Es ist ein böser Weg bei dieser Winterszeit; aber ich will ihn lieber dreimal länger, schlimmer und böser haben, als so was Schriftliches wieder abgeben an die Frau Pastern Holtnicker, als Sie mir heute in die Kiepe getan haben!«

»Ameliethsche!?«

»Ja, ja. Unsereiner weiß es ja nicht, was der liebe Gott da wieder an Unglück hat passieren lassen, aber – das Gesichte, das Gesichte! Und – Dörthe Krüger und Börries und Mamsell Hannchen und ich haben eine Weile gedacht, sie wird an des Herrn Pasters Schreibtisch uns hin mit dem Herrn Paster seinen Brief in der Hand, und dann, dann, als sie uns doch endlich wieder zur Besinnung kommt, da sagt sie nur wie eine Tote –«

»Nun?« ächzte das junge Wort Gottes von Derenthal.

»Ja, was sagt sie? Soviel ich aus ihr heraus verstanden habe, sagte sie nur: Es sei schon recht, für heute abend sollte ich dem Herrn Paster nur ein Kumpelment bestellen.«

Ehrn Emanuel Störenfreden schlug den Josephus zu, nahm den Kopf wiederum zwischen beide magere Hände und deutete nur mit dem einen Ellbogen nach der Tür. Als diese sich hinter den zwei Weibsleuten geschlossen hatte, erhob er sich aus seinem Stuhl, stand und erhob beide Arme mit ausgebreiteten Händen zur Stubendecke. Auf mittelalterlichen Bildern des Jüngsten Tages stehen so eben aus dem Grabe Auferstandene und recken so die Hände zum letzten Richter auf –

Rex tremendae majestatis,
Qui salvandos salvas gratis,
Salva me, fons pietatis!

Noch ein paarmal hat an diesem Abend die Winnefeldsche das sonderbarerweise jetzt merkwürdig freundlich blickende Pfarrköchinnengesicht in die Tür geschoben und angefragt: ob der Herr Pastor denn gar nicht zu Nacht zu essen beliebten?

Der junge geistliche Herr von Derenthal hatte an diesem Abend keine Lust und Neigung zu irdischer Nahrung. Um Mitternacht hat er noch gesessen, doch nicht mehr über des Flavius Josephus Buche vom Jüdischen Kriege, sondern wieder über dem Evangelisten, auf den er in seinem Briefe an die Pastorin von Boffzen zu seiner Rechtfertigung hingewiesen hatte:

Sankt Matthäus im Neunzehnten, Vers zwölf: – »und sind etliche, die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreichs willen. Wer es fassen mag, der fasse es.« – – –

 


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