Wilhelm Raabe
Hastenbeck
Wilhelm Raabe

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Fünftes Kapitel

Es ist nicht zu verwundern, daß uns das Hirtenlied wunderlich anmutet – dies Hirtenlied aus dem Weltkriege des achtzehnten Säkulums, uns am Ende des neunzehnten Jahrhunderts – fin de siècle, wie wir uns nach angestammtem Gebrauch französisch ausdrücken – uns, die wir so viele Kriege erlebt haben und die wir innerlich so große Angst haben vor dem kommenden neuen, dem wieder nach unserer Meinung schrecklichsten!

Aber wir sind ihnen doch weit vorauf, den Leutchen mit Puderperücke, Haarbeutel und Zopf – den Flinten mit Feuersteinschlössern und dem eisernen Ladestock! Wenn wir Kinder zu Ende unseres Jahrhunderts im Dunkeln singen in unserer Angst, so singen wir nicht mehr von Daphnis und Chloe. Dazu haben wir uns gottlob doch zu sehr in uns selber gefestigt! Dazu haben wir doch zu sehr, wenn nicht in die Lehrbücher, so doch in die Zeitungsartikel unterm Strich über Pathologie und dergleichen hineingeguckt, uns durch nordisches Irren- und Krankenhäuslertum hypnotisieren lassen, in spiritistischen Spinnstuben Geister zitiert und Pariser Gassenkot zu germanischen »Aufstellsachen« geformt!

Was haben wir im neunzehnten Jahrhundert noch mit der Pansflöte des achtzehnten zu schaffen? Ja, wenn es noch ein Dudelsack gewesen wäre! Darauf könnten wir auch heute noch zurückgreifen, um unseren ethischen, ästhetischen und politischen Stimmungen Ausdruck zu geben. – – – – – –

Dürr und grauköpfig wie der sinnreiche Junker Don Quijote, den Leib voll, wenn nicht von Striemen, so doch von Narben, saß er jetzt aufrecht auf seinem Lager, der invalide Hauptmann Balthasar Uttenberger, die vom Felde bei Hastenbeck aufgehobenen Streckverse seines jungen Landsmanns in der Hand.

»Ich will dir die Geschichte des Daphnis und der Chloe singen; itzt da die Nacht zu ernsten Gesängen lockt. Hier sind dürre Reiser; sieh du indeß, daß das wärmende Feuer nicht erlöschet.

Klaget mir nach, ihr Felsenklüfte! Traurig töne mein Lied zurück, durch den Hain und vom Ufer!

Sanft glänzte der Mond, als Chloe am einsamen Ufer stund, sehnlich wartend; denn ein Nachen sollte den Daphnis über den Fluß bringen. Lange säumt mein Geliebter, so sprach sie; die Nachtigall schwieg und horchte die zärtlichen Accente . . . Ihr plätschernden Wellen, o spottet nicht des ungeduldigen Wartens des zärtlichsten Mädchens! Wo bist du itzt, Geliebter? Beflügelt Ungeduld nicht deine Füße? . . .

Du keusche Göttin, Luna oder Diana, mit dem nie fehlenden Bogen, streue von deinem sanften Glanz auf seinen Weg hin! O wenn du aus dem Nachen steigest, wie will ich dich umarmen! – – Aber itzt, gewiß itzt, itzt triegt ihr mich doch nicht, ihr Wellen! O schlaget sanft den Nachen, traget ihn sorgfältig auf eurem Rücken. Ach, ihr Nymphen, wenn ihr je geliebet habet, wenn ihr je wißt, was zärtliche Erwartung ist – – – – – –

Klaget mir nach, ihr Felsenklüfte! Traurig töne mein Lied zurück, durch den Hain und vom Ufer!

Ein umgestürzter Nachen schwamm daher, der Mond beschien die klägliche Geschichte. Am Ufer lag Chloe ohnmächtig, und eine schauernde Stille herrschte umher; aber sie erwachte wieder, ein schreckliches Erwachen! Sie saß am Ufer, bebend und sprachlos, und der Mond verbarg sich hinter den Wolken; ihre Brust bebte von Schluchzen und Seufzen; itzt schrie sie laut, und die Echo wiederholte der trauernden Gegend ihr Geschrey, und ein banges Winseln rauschte durch den Hain und die Gebüsche . . . Ach Daphnis! o ihr treulosen Wellen! ihr Nymphen! ach, ich Elende, ich zaudre, ich säume, den Tod in den Wellen zu suchen, die mir die Freude meines Lebens geraubt haben! So rief sie und sprang vom Ufer in den Fluß.

Klaget mir nach, ihr Felsenklüfte! Traurig töne mein Lied zurück, durch den Hain und vom Ufer!

Aber die Nymphen hatten den Wellen befohlen, sorgfältig sie auf dem Rücken zu tragen. Grausame Nymphen! rief sie, ach! zögert nicht meinen Tod! ach, verschlinget mich, Wellen! Aber die Wellen verschlangen sie nicht, sie trugen sie sanft auf dem Rücken zum Ufer eines kleinen Eylandes.

Daphnis hatte mit Schwimmen sich an das Eyland gerettet.« – – –

Das Buch mit der Kugelspur und den Blutflecken tat einen leisen Fall über den Bettrand weg; denn Hauptmann Uttenberger saß nicht mehr aufrecht wie das Immeken. Er lag, er schlief. – Gott sei Dank! Dessen Wunderwagen rollte weiter, nachdem er den Daphnis – den Blumenmaler Pold Wille im Landwehrturm bei der Wackerhahnschen abgeladen hatte. Es dämmerte der Morgen, es kam ein ereignisreicher Tag für das Pfarrhaus. Die einzige, die darin wach geblieben war, war doch nur das Boffzener Bienchen. Sie, die allen anderen noch den echten und gerechten Kinderschlaf hätte voraushaben sollen. Was bleibt aber den Kindern erspart an Schmerzen, Sorge und Angst? Was haben sie darin vor den Alten voraus als das größere Mitleid, was man mit ihnen hat?

Aus seinem Kinderschlaf ihr Immeken zu erwecken, verstand, wie wir auch bereits wissen, die Frau Pastorin vortrefflich. Es konnte da, wenn der Schlaf zu tief und gesund, einen ganzen Tag lang schlecht Wetter im Hause sein, wie schön die Sonne draußen auf Garten, Feld und Wiese auch scheinen mochte. An diesem trüben, nebeligen Herbstmorgen bedurfte es wahrlich keines Schüttelns und Rüttelns in dem Kämmerlein des Kindes; von allen im Hause die erste stand Hannchen in der nach dem Garten zu sich öffnenden Haustür und starrte in den undurchdringlichen Wesernebel hinein, in Schmerz, Sorgen und Angst, aber doch mit der Gewißheit: »Er lebt noch! Er ist wieder da! Der Krieg hat ihn mir doch gelassen, und die Wackerhahnsche hat ihn in ihrem Turm! Oh, wenn ich doch dem Herrn Vater sagen könnte, jetzt sagen könnte, wie mir zumute ist! Solange die Frau Mutter noch schläft! Ach Gott, und wenn du mir jetzt die Wackerhahnsche schicktest, daß sie mir Nachricht von ihm brächte, ehe die Frau Mutter aufwacht! Ach lieber Gott, wenn du doch so gut sein wolltest!«

Er war so gut. Er hatte ihr den Schatz erhalten bis hierher, dem König Fritz, dem Herzog von Cumberland, dem Marschall d'Estrées und dem Herzog von Richelieu zu Trotz – er schickte ihr auch die Wackerhahnsche, eine Stunde bevor die Frau Mutter erwachte und das Regiment in ihrer Welt, das heißt im Pfarrhause zu Boffzen, wieder übernahm, das Zepter mit fester Hand faßte und zuzeiten wohl auch damit zuschlug.

Aus dem Nebel kam sie heran, die Wackerhahnsche, vordem das schönste Mädchen im Ort, jetzt die Dorfhexe – doch hiervon, und wie sie aussah und wie sie hausete, wird wohl besser und ausführlicher im nächsten Kapitel die Rede sein. Jetzt haben wir's erst mit der Angst des jetzigen schönsten Mädchens im Dorfe zu tun, die dem Greuel von altem Weibe in den Wesernebel hinein entgegenläuft und es mit beiden Händen faßt:

»Wo ist er? Hat Sie ihn bei sich? Lebt er? Wo hat Sie ihn? Was soll ich Ihr tun? Was soll ich Ihr geben für ein Wort von ihm?«

»Laß mir nur die Jacke heil, die hält so schon schlecht genug zusammen.«

»Hat Sie ihn bei sich am Leben – um Gottes Barmherzigkeit willen, liebste Frau Förstern –«

»In der Schürze kann ich ihn nicht dir zutragen, Kind; bei mir hab ich ihn, den armen Tropf. Fußlahm, flügellahm – ein sauberer Feldsoldat – paßt ganz zu seinem glorreichen englischen Herrn Herzog von Kummerland! Jawohl, wie einen Engel und ein Kind im Schlafe hab ich ihn in meinem Turm – so reiß mir doch den Ärmel nicht vom Leibe! Das Fieber ist wohl schlimm, nu, aber ich habe manch einen aus Schlimmerem heraus wieder in Reih und Glied treten sehen. Jetzt nehme Sie Vernunft an, Jungfer Holtnicker; denn dazu hab ich ihn auf meinem Stroh in seinem Elend allein gelassen und bin hier, um mit Ihr zu ratschlagen, was nun mit ihm werden soll, wenn wir ihn am Leben behalten, daß er uns nicht noch nachher als fahnenflüchtig krepiert, einerlei ob unter den Spitzruten seines angestammten Landesvaters Herzog Karl, des Cumberländers oder denen des französischen Halunkenherzogs, dem er jetzt ebenso wie den anderen als Deserteur durch die Lappen gegangen ist.«

Der Nebel schien immer dichter zu werden. In stummer, ratloser Verzweiflung rang Immeke von Boffzen die Hände, als sie plötzlich einen leisen Ellenbogenstoß in ihrer Seite spürte.

Es war der gute Knecht Börries, der als der zweite im Pastorhause zu des Tages Sorgen und Unruhe aufgewacht und von seinem Kuhstall her leise zu dem Immeken und der Wackerhahnschen getreten war.

Und wie gestern abend, so gab er auch jetzt wieder seine Meinung zur Sache, nachdem sich sein Mamsellchen von ihrem neuen Schrecken über sein unvermutet Anstoßen zusammengefaßt hatte.

»Mamsell Hannchen«, sagte der treue Knecht, »vor einer Stunde reget sich die Frau Mutter wohl nicht, und für unser Dortchen, das sich eben erst den Unterrock zubindet, stehe ich ein. Es weiß, was es an mir alles hat für jetzt und für später im Leben; aber es weiß auch, daß ich ihm alle Knochen im Leibe kurz und klein schlage, wenn es das Maul nicht hält. Und ich halte Wacht, daß vom Dorf aus kein Verrat und Alarm geschieht. Gehe Sie selber mit der Frau Förstern, Jüngferchen, und sehe Sie selber nach Ihrem jungen Herrn vom Fürstenberger Schloß. Auch der Nebel hält wohl noch eine Stunde, und dann ist Sie wieder zu Hause und hat Ihr Herz so leicht oder schwer, wie's der Herrgott will, in Sicherheit, und wenn Sie nachher nicht mit der Frau Mutter, die denn auch wohl zu Beinen sein wird, über die Sache reden will, nu, so – redet Sie nachher mit dem Herrn Vater, und wie sich mit dem in Liebe reden läßt, das weiß ja das ganze Dorf. Das ist mein schlechter Rat.«

»Ein guter Rat ist es, Börries«, sagte die Wackerhahnsche. –

»Klaget mir nach, ihr Felsenklüfte! Traurig töne mein Lied zurück, durch den Hain und vom Ufer!« – –

 


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