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In der Gaststube des »Weißen Bären« waren viele Gäste, namentlich Händler und Fuhrleute versammelt. Sie alle ließen ihre Gespräche im Stich, als die Türe aufging und der Weringer dröhnenden Schrittes und seine Peitsche wie ein Kavallerieoffizier seinen Säbel unterm Arm, hereintrat.
Er blieb einen Augenblick stehen, überschaute schweigend die Gäste und ging dann wie der unbedingte Herr der Stube nach der Vorderecke, wo die Kellnerin mit großer hast ein Extratischchen deckte. Hier lehnte er seine wertvolle und, wie es hieß, »gefeite« Peitsche an den Wanduhrkasten, legte seinen Hut ab und trat an die Kammertüre, wo für ihn und seinen Sohn ein besonderer Waschtisch bereit stand.
Die Gespräche wurden wieder aufgenommen, aber die große Gestalt Weringers blieb doch das Ziel der meisten Augen. Hier und dort neigten sich zwei Köpfe zusammen und sagte leise:
»Auch der Mann hat sein Ziel durch die Eisenbahn; er ist ihr eben keiner zu reich und keiner zu groß.«
Wieder andere widmeten Weringers Peitsche ihre Aufmerksamkeit, von der man sagte, dass sie des Mannes Glück am allermeisten befördert habe.
»Die möcht' ich erben«, bemerkte ein Zweispänner leise – »wenn er sie über sine Rosse hält, überfrisst sich keines und schadet keinem ein kalter Trunk; sie hat auch Schlangenzungen im Stiel und eine Natternzunge im Geflecht.«
Während solcher Reden hatte der Weringer sich Hände, Gesicht und Hals gewaschen und die Haare in Ordnung gebracht, nun setzte er ein rundes Lederkäppchen auf und ließ sich an dem Extratischchen nieder.
Er merkte nicht, dass sein wettergebräuntes Jupitergesicht mit den ernsten Stirnfalten und dem kraftvollen Kinn bereits der Gegenstand einer seltsamen Prüfung geworden war; denn vor dem Eckfenster schlich ein Mann in Seiltänzerkostüm herum, der von Zeit zu Zeit einen scharfen Blick hinein warf und zu überlegen schien, was für ihn von diesem Angesicht zu erwarten sei. Vielleicht war es die Bemerkung, dass der Weringer ein überraschend schönes, blaues Auge habe, was die Zweifel des Spähers endlich zum Weichen brachte; denn der Weringer hatte kaum mit seinem Sohne das »Deichselfrühstück« begonnen, als der Geselle vor dem Extratischchen erschien, sich flüchtig verneigte, in der rechten Hand Würfel, in der linken ein Spiel Karten zeigte und mit einem Schwall von Redensarten die Künste rühmte, die er zu produzieren sofort die Ehre haben werde. Ohne Weiteres schleppte er nun einen Tisch herbei und gab einem Frauenzimmer, welches sich mit einer Harfe neben ihm aufgestellt hatte, das Zeichen zum Anfang.
Die Harfe schlug an; alle Augen waren auf den Weringer gerichtet; er hatte ja noch zu entscheiden, ob ihm die ganze Geschichte genehm sei oder nicht. Georg erwartete ein abwehrendes Urteil, zum großen Behagen der Gäste aber ließ der Weringer den Künstler gewähren. Er wollte offenbar für heiter gelten und war heute nicht unempfänglich für die Huldigung, welche ihm in Gegenwart so vieler Gäste gebracht ward.
Bald hatten die Würfel- und Kartenkünste ihre gute Wirkung getan; nun gab der wunderbare Mann auch einige »Rauchkünste« zum Besten, die alles übertrafen, was man je gesehen.
Er gestaltete zuerst einen Ring aus dem Rauche, den er ruhig von sich hauchte, diesem ließ er dann einen zweiten und dritten, dann immer schneller einen vierten, fünften und sechsten folgen, die alle schön in Reih' und Glied wie eine lautlose Geisterprozession nach einem Winkel der Stubendecke schwebten; dann gestaltete er einen großen, qualmenden Ring, durch den er einen kleineren hauchte, welchen er aber sofort durch den ersten wieder zurückzog; allgemeiner Jubel. Ein Viehhändler hatte an einem Tisch in der Nähe des Künstlers Platz genommen und öffnete eben mit dickem Behagen den Deckel seines Glases, als unversehens ein Rauchring behände auf ihn zuflog und sich ohne Verlaub in das offene Glas hinabsenkte. Der Händler warf erschrocken den Deckel zu und ließ das Trinken – erhöhtes Freudengeschrei. Dann wurde es lautlos stille; alles blickte auf den Künstler; man war auf das Unglaublichste gefasst. Der bewunderte Mann sah die versammelten Gäste eine Weile an, blickte dann starr vor sich hin, tat einen langen, kräftigen Zug aus dem Pfeifenrohr, und siehe da, ein großer Ring entwickelte sich langsam aus seinem Munde, durch den großen Ring spazierte ein zweiter, durch den zweiten ein dritter; aber sogleich schnupfte er den dritten durch den zweiten, den zweiten durch den ersten zurück – und ließ beide zu den Ohren wieder heraus …
Der Weringer aber nahm seine Zeit wahr, bezahlte den Künstler und brach auf.
»Sie sollen der Zeit gedenken, da noch ein Weringer die Straße fuhr«, dachte er, als er vom Wirt begleitet und von allen Gästen mit den Augen gefolgt, hinausschritt und seinen acht Häuptern das Zeichen zum Aufbruch gab. Er selbst führte die Zügel, und seine Peitsche zischelte und knallte den Parademarsch zum prächtigen Schritt der Tiere.
Georg hatte seine stille Freude an dem Vater. Die Ehren, welche ihm überall zuteilwurden, schmeichelten ihm, und die ungewöhnliche Heiterkeit, die er jetzt an ihm gewahrte, legte er wieder zu Gunsten seiner Liebe aus.
Wirklich blieb der Weringer, wenigstens dem Scheine nach, fortan in trefflicher Stimmung.
Er sprach viel mit seinem Sohne, sprach selbst von Zeiten, wo er die Straße nicht mehr befahren werde, war mildtätig gegen arme Wanderer und ließ manchen eine Strecke weit ins »Herrenwägelchen« sitzen, das am Lastwagen nachlief.«
Bei Helldorf wollte der Weringer eben wieder von Hartung zu reden beginnen, als er durch den sonderbarsten Auftritt in seinem Vorhaben gestört wurde.
Schon eine gute Weile hatte sich aus einem nach der Straße mündenden Hohlwege ein dumpfer Lärm vernehmen lassen, der nun näher kam und sehr bedeutsam anwuchs. Bald erschienen einzelne Köpfe, dann die ganzen Körper von Landleuten, die aufgeregt und schreiend der Straße zugingen; ihnen folgten in hellen Haufen Greise, Weiber und Kinder, diesen zwei Gerichtsdiener, welche in ihrer Mitte ein junges Frauenzimmer von entsetzlichem Aussehen führten. Es war nicht groß, hübsch und üppig gewachsen, auch das Gesicht war von Natur schön und regelmäßig angelegt, aber furchtbare Leidenschaften hatte es fahl und fleischlos gemacht, die Augen rollten und sprühten Feuer wie im Wahnsinn, dabei warf das seltsame Geschöpf den Kopf empor, schüttelte eine lange Mähne aufgelösten Haares im Nacken und versuchte von Zeit zu Zeit unter heftigen Zuckungen und dumpfem Geheul ihre Hände loszubekommen, wogegen die beiden Gerichtsdiener mit Gewalt und das herumdrängende Volk durch Geschrei sich verwahrten.
Dieser absonderliche Zug war knapp vor den Pferden über die Straße gegangen, als der Weringer einen jungen Mann in städtischer Kleidung und mit hübschen, blauen Augen stehen und zur Rückkehr in den nahegelegenen Ort sich anschicken sah.
Er sprach ihn an und fragte ihn, was denn das zu bedeuten habe.
Der junge Mann, offenbar der Lehrer des Orts, schien die Frage nicht ungern zu vernehmen, gab dem Weringer eine Strecke das Geleit und erzählte, dass die Person, welche man eben in Verhaft bringe, sich für eine zeitweise vom Teufel besessene, zeitweise, wenn dieser in ihr sich müde gerappelt, von den Engeln begünstigte ausgebe. Mit Hilfe der Letzteren wollte sie von Zeit zu Zeit heilige Visionen haben und die Macht, Künftiges vorherzusagen. Diese Person nun sei vor einigen Tagen wie dahergeschneit in den Ort gekommen, habe sich bei einer zweideutigen alten Frau eingemietet, habe sofort mit Zuckungen und Geheul ihr Wesen begonnen, worauf ein schlafähnlicher Zustand erfolgt sei, während welchem sie ohne Weiteres über die Zukunft des Dorfes und einiger Personen allerlei ausgesagt. Das Volk, im Anfange überrascht, sei wirklich eine Weile stutzig gewesen und habe nicht gewusst, was es tun oder sagen solle; aber bald sei der gesunde Sinn gegen den Unsinn erwacht – man habe angefangen zu zweifeln, zu schelten; habe endlich Aufruhr erregt und das Haus der Alten stürmen wollen, bis das Amt sich ins Mittel gelegt und die ungerufene Prophetin ins Examen geholt habe, was soeben geschehen.
»Ja«, fuhr der junge Mann nach einer Pause fort – »es sind nun freilich bei uns die Zeiten nicht mehr, wo man derlei Wahnsinn und Betrug für etwas nehmen mag. In einem Land, wo man Eisenbahnen baut und Dampfmaschinen aufstellt, muss es wohl auch mit den Köpfen vorwärts gehen, und Gott sei Dank belohnt sich unsere Mühe hier. Vor fünfzehn Jahren wäre diese Frauenzimmer noch als halbe Heilige verehrt und gepflegt worden, heute wandert sie als gefährliche Landstreicherin vor Gericht!«
Das stille Lächeln, welches bei diesen Worten um den Mund des Sprechers spielte, schien das behagliche Bewusstsein anzudeuten, dass der Lehrer des Ortes an diesem Triumphe der Vernunft nicht wenig Anteil habe. Er blieb jetzt stehen, rückte die Mütze und ging angenehme Fahrt wünschend vergnügt feldein.
Georg erwartete nun einige scharfe Bemerkungen im Sinne des Lehrers von seinem Vater, der sonst bei solchen Dingen nicht ganz säuberlich seine Meinung zu sagen pflegte; aber es gehörte eben auch zu der seltsamen Umwandlung des Mannes, dass er jetzo schwieg und auch später nicht mehr auf die Sache zu sprechen kam.
Die Fahrt des Vormittags ging nun ohne Störung und in guter Stimmung vorüber.
In Dürwangen, wo Mittag gehalten wurde, traf man eine Hochzeit, und der Weringer gab seinem Sohn in bester Laune einen Wink, ein Tänzchen mitzumachen; aber Georg verspürte wenig Lust dazu; seine Liebeshoffnung lechzte nach neuer Nahrung aus dem Munde seines Vaters, und es waren Stunden vergangen, ohne dass sie ihm gewährt worden. Der Weringer merkte das wohl und beschloss auch, seinen Sohn durch einige wichtige Andeutungen wieder aufzurichten.
In dieser Absicht lenkte er während der Nachmittagsfahrt eben die Rede wieder auf den Hartung, als ein ziemlich ernster Zwischenfall abermals dem guten Willen in die Quere kam.
Ein Einspänner, der zu viel Last genommen und außerdem den lustig blasende Trompeter einer Seiltänzerbande hatte aufhocken lassen, versuchte bei Bürglen umsonst einen Bug der Straße zu erreichen; ein elender, blinder Schimmel hatte alles getan, um seiner Pflicht zu genügen, jetzt blieb er stehen und waffnete sich mit übermenschlicher Geduld, um dieses Jammertal unter den letzten Schlägen des Schicksals zu verlassen. Mit ruhiger Wehmut ließ er es geschehen, dass sein viehmäßiger Herr schäumend und fluchend die äußersten Quälmittel suchte, mit dem Peitschenstiel und den Fäusten nach den Augenhöhle, Schläfen und Weichen des armen Tieres stieß, um es vorwärts zu bringen; doch vergebens. Der Schimmel schauerte nur dann und wann am ganze Körper, ließ den Kopf sinken und – waren es Schweißtropfen oder Tränen unter den Augenhöhlen – schien zu denken: »Ich bin arm und alt; für jahrelange Plagen ist jetzt das mein Lohn!«
Ungefähr zwanzig Schritte war indessen der Weringer in die Nähe gekommen, als plötzlich die Trompete, dann der Trompeter vom Wagen flog, dann der Fuhrmann ergriffen, gerüttelt, aufgehoben und wieder zu Boden gestoßen, endlich kurz und klein gehauen und in den nahen Straßengraben geworfen wurde; eine Donnerstimme begleitete den ganzen, feierlichen Akt.
Der arme Schimmel wollte eben erschrocken den Zusammenhang des ganzes Falles in Erwägung ziehen, als er selbst mit seinem Wagen ins Schlepptau genommen, auf die Höhe der Straße bugsiert und dort ruhig stehen gelassen wurde.
»Ich hätte noch saubere Wirtschaft gemacht auf dieser Straße«, sagte der Weringer weiterfahrend – »aber man hat mir nicht mehr Zeit gelassen.« Seine Fäuste ballten sich noch wiederholt, und seine Lippen zitterten vor Empörung. Und in der Tat hatte er früher oft mit solchen Gesellen kurzen Prozess gemacht und die Straße von einer Menge Untaten dieser Art gereinigt.
Das nächste Lächeln spielt erst wieder um Weringers Lippen, als gegen Abend die Schatten länger wurden und Delsburg am Fuße eines Hügels vor ihm lag.
Einen Blick auf seinen ziemlich betrübt daherschreitenden Sohn werfend, dachte er: »Sei getrost, mein Junge, Dein Glück ist näher als Du glaubst; – ich habe nicht mehr nötig, Dich mit Worten aufzurichten.«
Und wirklich traten fast im selben Augenblicke so wunderbare und entscheidende Umstände ein, dass ein weit bedächtigeres Herz als das Georgs aufs Heftigste ergriffen wäre …