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Zehntes Kapitel.
Verlassen.

Nun die zwei letzten der Cölestiner allein im Väterhofe verblieben und – so weit an ihnen war – ein geruhig Leben führten, ist hiervon ein besonder Ereignis auch nicht zu vermelden. Uttmann hatte im Laufe der folgenden Jahre noch manch ein Geschäft auszutragen, manch ein Rügengericht oder Ehding zu halten, manch Verhandeln mit dem Landvogte auszuführen. Daneben war er gelehrter Studien eifrig beflissen; ist doch noch heutigen Tages in Zittau's Stadtbücherei eines der Bücher aus seinem Besitze Oybin-Chronik von Dr. A. Moschkau S. 143. Nicht wenige alte Werke aus jener Zeit sind leider durch Brand im Siebenjährigen Kriege vernichtet. vorhanden, das durch des Priors eigenhändige Glossen in Luthers Kommentar zum Briefe Pauli an die Galater davon zeuget.

Gottschalk, der Gelehrte und Jugendfreund, widmete sich mit Hingebung dem Unterrichte. Im Kloster war er nicht dazu gekommen; die Oybiner Cölestiner hatten dort um des Seelenheiles anderer willen Tag und Nacht » chori frequentiam, großes Singen und Arbeit«. Nun ihm mehr Muße vergönnt war, wirkte er in Segen. Nicht wenige Jünglinge, so in den Geist der Vorzeit durch alte Sprachen zu dringen begehrten, lauschten seiner Gelehrsamkeit und verdankten ihm reiches Wissen und edle Anschauung des Lebens. Das schöne Band, das ihn und den M. Heidenreich umschlang, war trotz entgegengesetzter Bekenntnisse so fest, daß selbst dieser eifrige Protestant seinen Sohn Esaias in Gottschalks Schule gab. Oybin-Chronik von Dr. A. Moschkau S. 144.

Nichts ist nützlicher und schöner, als wenn ein vielgelahrter weiser Mann nach Abschluß ereignisvoller Tätigkeit damit umgeht, das Erfahrene zu sichten, zu wägen, und das Gute davon der Mitwelt vorlegt zu deren Nutz und Frommen. Es ist einem Flusse gleich, der in seiner Jugend dahin stürzt und rauscht; der sich an manch einer Felsklippe bricht, dann aber gemäßigt in die Ebene tritt und ruhig dem unendlichen Meere zufließt, also, daß sich die Menschen mit Zuversicht gern von ihm tragen lassen.

Das Leben der Außenwelt gestaltete sich wohl oft gar stürmisch. Da aber nicht gemeint ist, eine Chronika der Stadt und des Oybiner Klosters niederzuschreiben, dies vielmehr von weit kundigeren geschehen, so verbleibet, besondrer Ereignisse nur insoweit zu gedenken, als diese mit den Personen, so mit den Mönchen in Berührung gekommen, verknüpft waren. –

Markus Verschwinden anno 1547 wurde in der Stadt wohl bald bekannt, aber auch – mit Ausnahme weniger – bald vergessen. Schwere Drangsale suchten die Stadt heim. Den Oberlausitzer Sechsstädten, deren Festhalten an der Reformation man bei Hofe längst erfahren, wurde vom König Ferdinand befohlen, 500 Mann Kriegsvolk zu gestellen, um seinen Bruder, den Kaiser Karl V., in dessen Kriege wider den schmalkaldischen Bund zu unterstützen. E. F. Haupt: Brüder Nesen, Nikolaus von Dornspach usw. S. 40. Näheres über das Folgende (den Pönfall): ebenda S. 40 bis 46. So war denn auch Zittau gezwungen, dem Machtgebote nachzukommen. Aber es geschah mit zögerndem Widerwillen. Da nun nach zween Monaten, innerhalb derer die Schlacht bei Mühlberg die Schmalkaldischen aufs Haupt schlug, jener Kriegsmannen kein Bedürfnis mehr zu sein schien und nur der Adel noch mit seiner Reiterei hielt, zogen die Städtischen auf des letzteren Gutachten ihre Truppen wieder zurück. Darob erzürnte Ferdinand dermaßen, daß er unterm August selben Jahres auch an Zittau die Ladung ergehen ließ: Es sollten sich die gesamten Räte und zehn Geschworene in Prag einfinden um Rechenschaft.

Da gab's denn große Trübsal bei den Bürgern. Unter Führung Conrads von Nesen und Dornspachs langten die Befohlenen, unter ihnen Schönlein, am 30. August in Prag an. Wie sehr auch der Landvogt Berta von Duba sich hier für die Städter verwendete, wie kräftig er gegen Feindlichgesinnte auch auftrat – die Entscheidung ihres Schicksales brachte strenge Haft in der Harnischkammer. Nach einiger Zeit wurde Nesen, wohl um seines Adels willen, wieder entlassen; ingleichen folgte Nikolaus von Dornspach ihm bald nach. Die übrigen Zittauer verblieben bis auf weiteres noch in Haft. Die Stadt aber mußte 20 000 Gülden Buße zahlen. Das wäre wohl leicht zu verwinden gewesen, denn die Stadt war durch emsige ehrliche Arbeit reich und darob vom lausitzer Adel oft feindlich beneidet worden. Das Herzeleid aber ließ sich nicht so leicht überwinden.

Christine erkrankte vor Sorge um den in der Haft siech gewordenen Bruder. Im folgenden Jahre brach ihr das Herz; Gertrude allein drückte ihr voll Kummer die Augen zu. Und als der Vater blaß und elend endlich zurückkam, jammerte ihn des Verlustes also, daß er sich im Jahre 1549 hinlegte und seiner Gattin und der Schwester nachfolgte. Sein letztes Wort an die alleinstehende geliebte Tochter war: »Trudchen, mein liebes Trudchen, fürchte dich nicht! derselbe Heiland, der dir ins Herz gezogen, hat auch das meinige ergriffen. Das danke ich dir, der Christine und – dem Markus. So du ihn dereinst wiedersehen solltest: Sage ihm, ich hätt' segnend und dankbar seiner gedacht.«

Das zog mitten durch der Verwaisten Schmerz wie ein Lichtstrahl des Heilandes. Ihre Augen erglänzten vor Freude ob der Sinneswandlung des Vaters und des Mannes, der ja auch geschrieben hatte: »Wenn anders Gott es zuläßt, hoffe ich auf ein froh Wiedersehen.« Sie beugte sich nieder und küßte weinend den Vater auf die Stirn. Unter Küssen der Verlassenen war er selig entschlafen. –

Es wurde vieles anders. Der Landvogt erhielt von Ferdinand Verweis über Verweis ob mancher Bedrückung der Dörfler, so sich darum an den König gewendet. Er ward des Amtes müde und gab es ab. Oybin-Chronik von Dr. A. Moschkau S. 250. Die Stadt erhielt im nämlichen Jahre manch eine schöne Besitzung wieder zurück, E. F. Haupt: Brüder Nesen, Nikolaus von Dornspach usw. S. 49. auch das in jenem »Pönfalle« entzogene, wichtige Recht zur Anstellung von Geistlichen. E. F. Haupt: Brüder Nesen, Nikolaus von Dornspach usw. S. 37. Manche Besitzwunde fing an zu heilen; Gertrudes Herzenswunde blutete fort. Da, wo hinter dem Oybiner Klosterkretscham der Erdboden sanft emporsteigt, ließ sie sich ein klein und sauber Häuschen bauen; im Jahre 1550 bezog sie es. Von da aus sieht man die schöne Klosterkirche; dort hinauf schaute sie alle Tage, und wenn abends der Mond hell ins Tal schien und sie des mondbeglänzten Gemäuers wahrnahm, war es ihr, als ob eine schöne Mannesstimme darinnen erklänge, die ein Lied sänge zu Ehren der Maria.

In ihrer Verlassenheit war der bejahrte Gottschalk, der Freund ihres Vaters, der einzige, bei dem sie Trost suchte und fand. Gottschalk spendete ihn gütig wie ein Vater und nicht zürnend ob Gertrudes und ihres Vaters Glaubenswandlung. Sonst aber verließ sie ihr Haus nur, um zu spenden, wo Not war, wo Müttern und Kindern Pflege fehlte in den umliegenden Dörfern.

Nur zweimal erhielt sie Besuch in ihrer Einsamkeit. Ihr Vetter Veit kam und wollte das Marienbild des Klosters wiederhaben. Der Amtmann Siegismund von Döbschütz gab es ihm ohne weiteres. Dessen Seele war zurzeit weich gestimmt; er hatte tags zuvor seinen alten Bruder Peter auf dem Klosterfriedhofe begraben, Oybin-Chronik von Dr. A. Moschkau S. 249. allwo noch heute der große Grabstein mit dem Manne in Ritterrüstung zu sehen ist.

Als der Vetter das Bild herabgetragen und sah, wie sein trauernd Bäschen innig Verlangen danach trug, jammerte ihn der Verlassnen; er schenkte ihr das Bild mitsamt dem Rahmen.

Der andre Besuch war der Kloster und Burgschreiber Wünsch. Der zog sein schönstes Kleid an, ging hinab zu Gertruden und begehrte ihre Hand. Die schlug sie ihm ab und Wünsch ging erbost und in seiner Eitelkeit gekränkt wieder hinauf in seine Schreibstube.

Hier gab's viel zu schaffen. Der Kaiser löste Schloß und Stift aus und zahlte an Berka von Duba die Pfandsumme zurück. Die Oberverwaltung übertrug er danach dem kaiserlichen Hauptmanne Jakob von Hag. Oybin-Chronik von Dr. A. Moschkau S. 251. Der setzte die alten Befestigungen in Stand und machte aus dem Kloster wieder eine Burg. Oybin-Chronik von Dr. A. Moschkau S. 252. Viele Schreiberei hing hiemit zusammen; auch galt es, als am 4. Jänner 1552 der Amtmann von Döbschütz seinem Bruder nachgefolgt, Oybin-Chronik von Dr. A. Moschkau S. 249. vor dem von Hag Rechenschaft abzulegen. Das war nicht so leicht, denn Wünsch hatte manch ein Sümmchen unterschlagen und ging derhalb daran, durch Fälschung der Ziffern alles auf den alten Amtmann zu schieben, was in der Rechnung nicht geheuer war. Darüber vergaß Wünsch einstweilen, daß er von Gertruden so kurzweg einen Korb gekriegt. Erst später ward er nachdrücklichst daran erinnert.

Während er so in seiner Klause im Amtshause auf'm Oybin saß, Blätter aus den Büchern schnitt und Zahlen radierte, wanderte Simon auf Zittau zu, um sodann eines Auftrages gemäß im nahen Grottau Auszüge aus Kirchenbüchern zu machen. Vor ihm schritt ein Mann mit umgehängter Ledertasche; dem schloß er sich an. War doch das Alleingehen um selbige Zeit oft ein mißlich Ding der Wölfe wegen, so sich aus den Gebirgswäldern ins Freie wagten. Und Simon war furchtsam. Zwar erweckte ihm das ruppige, finstere Aussehen jenes Mannes mit der großen Schmarre im Gesicht kein sonderlich Zutrauen; aber er erfuhr von dem, daß er einen dicken Brief zu besorgen habe, und weil man zu solchen Boten gemeiniglich zuverlässige Leute zu wählen pflegte, so ließ er sein Mißtrauen fahren. Es währete nicht lange, so lockte er dem Boten eine Nachricht nach der andern heraus. Er erfuhr, daß der Mann aus Senftenberg, dort den Brief erhalten habe zur Weiterbeförderung. Der ihn nach Senftenberg gebracht, sei aus dem Anhaltischen gekommen. Das war nun nichts Sonderliches. Als Simon aber weiter herauslockte, daß der Brief an den Burgschreiber Hans Wünsch gerichtet sei; als er darauf den Brief sah und meinte, Markus' Schriftzüge zu erkennen, ward er gierig, des Näheren zu erfahren. Der Mann schien in der Stadt Zittau nicht unbekannt zu sein; er wußte genau, wo der Väterhof lag. Dort suchte er den Wünsch. Warum er nun die Dunkelheit abwarten wollte, ehe er sich in die Stadt begab, war für Simon nicht begreiflich, erledigte sich auch, als der Bote erfuhr, Wünsch sei auf'm Oybin. Da erbot sich Simon, ihn unter Meidung der Stadt über Hörnitz und Olbersdorf an den Ort der Bestimmung zu führen. Das war dem Manne willkommen.

Während Wünsch im Schweiße seines Angesichts sich mit den Büchern abquälte, meldete man ihm, daß zwei Männer ihn zu sprechen begehrten. Alsbald erkannte er Simon und hieß diesen und den Boten mit in die Schreibstube gehen. Hier öffnete er das überbrachte Schreiben und las; wurde mal blaß, mal rot und ging unruhig hin und her. Simon hatte des nicht acht; der saß an Wünschs Schreibtische und schien sich angelegentlich in die dort liegenden Wirtschaftsbücher vertieft zu haben. Erst als Wünsch zu ihm sagte: »Kommt mal mit ins Nebengemach,« sah er auf und folgte ihm. Dort las Simon einen Brief, den Markus an Wünsch gerichtet, worin er schrieb: »Ein dunkel Gerücht von dem Hinscheiden des Ratsherrn Schönlein sei ihm zu Ohren gedrungen. Falls es sich nicht bestätige, solle er ihm den Brief sicher und zwar selbst überbringen. Dafern es aber begründet, solle er das Schreiben der Jungfrau Gertrude Schönlein einhändigen. Ihm läge sehr viel daran« usw. Daraufhin sagte Simon zu Wünsch:

»Wisset Ihr noch, was ich Euch gesagt, als Markus von Zittau entwich? Ich sagte: Gebet acht! Der will evangelischer Pfarrer werden und dann die Gertrude ehelichen. Ich wette zehn gegen eins: in diesem Briefe wird's bekräftigt. Öffnet ihn und Ihr könnt's sehen.«

Wünsch zögerte, den Brief zu erbrechen; noch war ein Fünkchen Gutes in ihm, das ihn abhielt. Markus war ihm immer gewogen gewesen, hatte ihm ein warm Nest bereitet. Endlich entschloß er sich; im Lösen und Wiederanbringen von Siegeln war er ja ohnehin bewandert. Da fand er denn eine an Schönlein und Gertruden gerichtete Ansprache; die war gar lang. Gierig faßte Simon das Blatt an der einen Seite und las zugleich mit Wünsch. All die warmen Herzensergüsse des Markus von getreuer Freundschaft, die Schilderung der näheren Gründe zum Wegzuge, seiner inneren Klärung und der Anstellung als evangelischer Pfarrer, überflog er. Aufmerksamer wurde er, als Markus fortfuhr: »er habe lange gerungen. Da aber seine Liebe zu Gertruden nicht zu dämpfen gewesen, habe er sich dem Bugenhagen und Melanchthon entdeckt. Diese hätten ihm all und jedes Bedenken entnommen und geraten, nachdem und weil er der evangelischen Sache so rein sich ergeben, dem Wunsche des Herzens nachzukommen.« Und nun folgte, was Simon gierig suchte: Ein Heiratsantrag an Gertrud in bester, vollständigster Form.

»Nun?« frug Simon gedehnt.

»Das hat für mich keinen Wert mehr,« entgegnete Wünsch. »Vor etlicher Zeit hat sie mir kurz und bündig einen Korb gegeben. Ich will ihr den Brief einhändigen.«

»So!« sagte Simon. »Seid doch kein Narr. – Wenn Ihr den Brief unterschlagt und der Gertrude weiß machet, Markus sei wieder in ein Kloster gegangen, recht weit, etwa nach Sulmona, wird sie schließlich doch ja sagen, wenn Ihr Euern Antrag wiederholt. Eine alte Jungfer mag keine gern werden.«

»Nein, nein!« rief Wünsch, »das geht nicht an. Mit der Gertrude ist's aus. Auch ist Markus immer gut zu mir gewesen, hat mir mit vieler Mühe noch diese einträgliche Stelle verschafft. Da kann ich ihn nicht betrügen.«

»So?!« sagte Simon lauernd. »Und vor großen Betrügereien in den Büchern scheut man nicht zurück?«

Über den Umfang der Fälschungen hatte Simon keine volle Gewißheit; er vermutete nur aus den aufgeschlagenen Seiten des Buches, daß jene nicht gering sein konnten. Er hatte sich nicht geirrt. Wünschs Antlitz färbte sich kreideweiß; kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, nun er sich von einem Manne entdeckt fand, zu dem er im stillen nie so recht Vertrauen hatte fassen können. Simons Enthüllung kam ihm mit einem Schlage so plötzlich, daß er aller Schlauheit vergaß. Er bat den lauernden Mitwisser dringend um Geheimhaltung und bot ihm eine hohe Summe an. Die verwarf der innerlich frohlockende Simon; aber er forderte, Wünsch solle an Markus einen Brief voll Freundlichkeit und dankbarer Ergebung schreiben, worin er ihm mitzuteilen hätte, daß Schönlein längst verstorben, daß er den Brief durch besondren Boten der Gertrude zugeschickt, denn diese sei tief in Böhmen drin glücklich verheiratet und um der Heirat willen in den Schoß der katholischen Kirche zurückgekehrt.

Wünsch stand Todesqualen aus. So lange niemand um seine Betrügereien wußte, wäre es ihm wohl möglich gewesen, sie durch Fälschungen zu vertuschen. Jetzt aber stand alles auf dem Spiele. Als daher Simon weiter sagte: »Nun Wünsch! entschließt Euch! Ihr erspart mir einen Gang zum Schloßhauptmann von Hag« – da ging er mit schlotternden Knien zurück in die Schreibstube, um Papier, Tinte und Feder zu holen. Daß der Bote nicht mehr im Gemache, fiel ihm in der Erregung nicht auf.

So diktierte ihm nun Simon einen feinen, lieblichen Brief, so unschuldig und natürlich, daß dem Schreiber ob solch verruchter Verschlagenheit zu grauen begann.

Der Brief war fertig und ward mit dem kaiserlichen Pitschier wohl verschlossen. Simons Augen leuchteten tückisch-freundlich wie die einer Katze. Triumphierend nahm er den Brief selbst mit; von Görlitz aus fand sich manch sichere Gelegenheit ins Anhaltische.

Das war der Ausgang seiner lang gehegten Rache ob der harten Worte des Markus im Väterhofe anno 1524. –

Erst als Simon mit dem Versprechen des Stillschweigens geschieden, fiel dem Burgschreiber die Abwesenheit des Boten auf. Er suchte ihn allenthalben; niemand wollte den Mann gesehen haben. Auf dem Hofe traf Wünsch den Schloßhauptmann; der begehrte wiederholt der Bücher und verlangte barsch, morgen früh solle er sie ihm bringen. Als aber Wünsch zurückgekehrt, merkte er bald, daß die zu Fälschungen nötige Besonnenheit ihm abgegangen. Dazu die kurze Frist bis morgen! – Er setzte sich vor das Buch, einen Anlauf zu nehmen. Die Zahlen tanzten vor seinen Augen herum wie glühende Kobolde. Schweißtriefend wandt er sich hin und her, versuchte er, wieder zu schreiben. Aber da trat ein Dämon an seine Seite und zeigte ihm ein Bild, darauf ein Galgen mit einem Knochengerippe gemalt war. Entsetzt sprang er auf und ging hin und her, bis ihm wie ein Blitz ein rettender Gedanke durch das Hirn flog: er konnte das Fehlende in der Hauptsache durch sein unehrlich zusammengescharrtes Bargeld decken. Schnell öffnete er die Schublade – – sie war leer. »Bestohlen!« rief er verzweifelt aus und brach vor der Lade zusammen. Darauf sann er abermals, wie zu helfen sei – vergebens! – Ein andrer Dämon trat auf und zeigte ihm das Bild des Markus mit dem verruchten Briefe Simons in der Hand; darunter die Worte geschrieben: »O Wünsch! wie habe ich dir wohlgetan und du dankest mir so?«

Außer sich und fassungslos lief er im Gemache hin und her. Draußen meldete eine matte Morgendämmerung bereits den neuen Tag an; es ward heller und heller. Jetzt glaubte er auf der hölzernen Stiege die sporenklirrenden Tritte des Schloßhauptmanns zu hören – da raffte er sich auf, huschte zu einer Seitentür hinaus und rannte verzweifelt bis zum Kreuzgang an das große Fenster, so noch jetzt zu sehen. Dort nahm er einen Anlauf und stürzte sich hinab in die Schlucht. Oybin-Chronik von Dr. A. Moschkau S. 253. Sein Körper fiel von Fels zu Fels und kam zerschmettert in die Tiefe des Hausgrundes zu liegen. Hans Runge, der Förster, und Tobias Kunz, der Schaffner, fanden selben Morgens den entstellten Leichnam hart am Weiher. Dort ward er eingescharrt; auf Bitte des Zittauer Rates sodann auf'm Oybin begraben. Oybin-Chronik von Dr. A. Moschkau S. 253

Wenige Tage darauf wanderte Zeisig ins Oybiner Tal, Haselnüsse zu suchen. Als er von Wünschs gräßlichem Ende hörte, ward er betrübt und sagte zu Just: »O wäre er doch damals in den Fluten ertrunken! seine Seele wär nit so befleckt nach droben kommen!« Darauf wendete er sich ergriffen zurück, durch das nußreiche Gehölz gehend. Dort fiel ihm die verwirrte Reißholzdecke einer Wolfsgrube auf, so in dasiger Gegend gegraben war. Oybin-Chronik von Dr. A. Moschkau S. 253. Der Meinung, einen verhungerten Isegrimm darin zu finden, schaute er hinab. Statt dessen erblickte er einen toten Menschen. Vorsichtig band er einen langen Strick an den nächsten Baum und ließ sich hinab in die Grube. Der Mann unten hatte das Genick gebrochen. Als Zeisig ihn faßte und aufzuheben begann, hielt er plötzlich wie gelähmt damit inne; er erkannte in dem Leichnam ganz deutlich den Kerl mit der Schmarre, mit dem er vor vielen Jahren nach Kloster Mariental gewandert, den Brandstifter, welchem Hübner geflissentlich ein zeisiggrün Wams angezogen hatte. Auf Zeisigs Rufen kam Just herbei; der erkannte ihn als den Boten, der mit Simon zum Oybin hinaufgestiegen. Das in einer Ledertasche vorgefundene Geld nahm er zu sich und trugs zum Schloßhauptmann.

Seit Sabines Tode ohnehin dem Tiefsinne ergeben, ward der Kräutermann durch die letzten Ereignisse so erschüttert, daß er gleichgiltig und stumpf wurde gegen das Leben, gegen alle Welt. Ein neuer Schöppe mußte gewählt werden; Zeisigs Irrsinn nahm immer mehr zu. –

Jahr für Jahr brachte der Stadt und dem Oybin etwas Neues, Erfreuliches und Trübes, wie das so im Leben wechselt.

Maximilians Ahnung war vor drei Jahren in Erfüllung gegangen: Sein Bruder, der Erzherzog Ferdinand, hatte sich mit der schönen Philippine Welser heimlich trauen lassen. Als dies der hohen Familie kund ward, gab's ein groß Entrüsten. Doch das legte sich allmählich und Ferdinand ward sogar zum Statthalter von Böhmen ernannt. Als solcher und auf Empfehlung seines Bruders, der den Tag auf'm Oybin nicht vergessen konnte, machte sich Ferdinand auf und besuchte anno 1553 die Klosterfeste. Oybin-Chronik von Dr. A. Moschkau S. 252. Nur Jakob von Hag empfing ihn und durfte ihn bewirten. Uttmann blieb aus; er wollte mit dem von Hag nichts zu schaffen haben. Der hatte argen Zwist mit ihm angesponnen wegen verschiedentlicher Stiftssachen und liegender Gründe. Oybin-Chronik von Dr. A. Moschkau S. 254. Der Prior ward solch unaufhörlichen Streites des Lebens müde. Sein Wunsch, abzuscheiden, sollte ihm bald erfüllt werden.

Anno 1555 gab's in Zittau ein groß Sterben. Joh. Friedr. Seidel: Zittawische Cancelley und Summarisches Zeitregister Auch Uttmann erlag der tückisch umherziehenden Krankheit. Am 2. Sebtember Oybin-Chronik von Dr. A. Moschkau S. 255. drückte ihm der trauernde Gottschalk im Väterhofe die Augen zu. Die auf ihn übergehende Priorwürde Oybin-Chronik von Dr. A. Moschkau S. 255 konnte ihn nicht entschädigen; der Gedanke, nunmehr der letzte der Väter vom Oybin zu sein, drückte ihn nieder. Nur seine emsige Tätigkeit in der Heranbildung der Jugend milderte das Schmerzliche der Vereinsamung, und so er mit Gertruden zusammensaß, war ihm ein Labsal, von deren Vater, von vergangenen Zeiten zu sprechen, gleichwie er auch so gern der schönen stillen Stunden gedachte, so er mit dem M. Heidenreich verlebt. Nur Dogmen, nicht Herzensstimmen schieden ihn von diesem, und Gottschalk war so großen Geistes, die dogmata unterzuordnen. Wie oft hatte er im Gespräche mit dem Magister das auch in unser Jahrhundert laut mahnende Wort Luciani weiter ausgeführt: »Nicht Überladung mit totem Wissen, sondern Läuterung und Stärkung des sittlichen Gefühls ist der höchste Zweck der Erziehung;« wie oft Vridanks Reim gedacht: »Arme Hoffahrt ist ein Spott, reiche Demut minnet Gott,« oder des Lutherschen Ausspruches: »Es ist etwas Ausgemachtes, daß die Vernunft unter allen Sachen das Vornehmste und von allen Dingen dieses Lebens das Beste, ja etwas Göttliches ist.« Und wenn ja einmal das Gespräch abglitt auf Kirchengezänk, da hatte Gottschalk stets lächelnd zu Heidenreich gesagt: »Lassen wir das! hier gehen wir auseinander!« Der Vereinigungspunkt der beiden Männer war nächst der Wissenschaft doch dasselbe, was Martin von Jauer dereinst dem Markus vorhielt: das Haupt, Jesus Christus; der da gesagt hat: »Wenn Ihr Euch nur zu Eueren Brüdern freundlich tut, was tut Ihr Sonderliches?«

So kann es denn auch nicht verwunderlich erscheinen wenn der seiner Kirche treu gebliebene Prior Gottschalk der protestantischen Stadt Görlitz auf deren Umschau nach einem guten evangelischen Prediger dringend empfahl, seinen Schüler: des Magisters Heidenreich Sohn Esaias zu erwählen? C. A. Peschek: Geschichte der Cölestiner des Oybin's S. 28. Wie denn auch in Görlitz's Annalen noch heut geschrieben zu finden ist. C. A. Peschek: Geschichte der Cölestiner des Oybin's S. 93: »Schreiben des Görlitzer Rats an Balthasar Gottschalk, auf der Väter Hofe, Cölestinerordens, wegen Esaias Heidenreich«:
»Wir haben Euer wohlmeinlich Schreiben, M. Esaiam Heidenrich betreffende, verstanden; und ist andem, daß wir einen frommen gelehrten Prediger zur Versorgung unserer Pfarrkirche jetzo bedürfen, und weil wir durch euer Schreiben vermerken, daß gemeldter M. Esaias sich zum Predigeramt gebrauchen zu lassen Willens und aber wir seine Person nicht kennen, auch der Unsern niemand zuvor seine Predigten gehört, auch nicht wissen mögen, wie gedachtem Magistro die Predigten in unsrer Pfarrkirche zustehen möchten, demnach dieselbe groß und weit und einer harten Aussprache bedürfen: so ist an euch unsre freundliche Bitte, wollet mit mehrgemeldtem Magister Heidenreich von unsertwegen handeln, daß er sich als heute über acht Tage allher gen Görlitz auf unsre Unkosten verfügen wollte und folgenden Freitags und Sonntags allhier in der Pfarrkirche zwei Predigten thun; damit wir und unsre Gemeinde ihn hören mögen. Alsdann wenn sichs befinden würde, daß ihm, in unsrer Pfarrkirche zu predigen fügen wollte, und uns, ihn zum Prediger anzunehmen, wollten wir mit ihm ferner daraus handeln. Das wir Euch usw. Letzter Januarii 1555.«

Im darauffolgenden Jahre pachtete die Stadt Zittau die Oybinischen Klostergüter? Oybin-Chronik von Dr. A. Moschkau S. 255 bis 257. Die des Schlosses Oybin übertrug der Kaiser pfandweise an Benno von Salza. Oybin-Chronik von Dr. A. Moschkau S. 255 bis 257. Der ließ danach flugs von Jesuiten Gottesdienst in der Klosterkirche halten? Oybin-Chronik von Dr. A. Moschkau S. 255 bis 257. Wollen des besser nicht weiter gedenken, sondern uns lieber noch den Männern kürzlich zuwenden, so der Stadt Stolz und Freude waren und sind bis auf den heutigen Tag.

Konrad von Nesen führte ein kräftig Regiment. Sein eifriges Wirken galt nicht allein der Vergrößerung des Stadtvermögens; denn sein Sinnen und Trachten war fort und fort auf Kräftigung der neuen Lehre nach außen und innen, im Herzen, gerichtet. Darum trauerte die ganze Stadt in dem schlimmen Jahre 1560 gar sehr und doppelt: der Tod hatte am 19. April den teueren Ratgeber Melanchthon hinweggerafft; am 25. Junius folgte ihm sein Freund Nesen nach. E. F. Haupt: Brüder Nesen, Nikolaus von Dornspach usw. S. 55. – R. von Nesen ward in der Johanniskirche beigesetzt. Droben macht viel Lobsingen und Preisen ob des Wiedersehens und der Herrlichkeit des neuen, eigentlichen Lebens geschehen sein. Auf der Erden aber fiel um beide manch eine Träne.

Auch Berka von der Duba, der frühere Landvogt, starb. Oybin-Chronik von Dr. A. Moschkau – E. F. Haupt: Brüder Nesen, Nikolaus von Dornspach usw. Etliche Jahre später kam an Salzas Stelle der Hermann Ygel von Hartenreut; Oybin-Chronik von Dr. A. Moschkau S. 258. der schaffte Kanonen auf den Oybin und soviel Pulver, als gälte es, sich gegen das ganze römische Reich zu verteidigen. Mit ihm hatte Nesens Nachfolger, der Bürgermeister von Dornspach, manch harten Streit auszufechten.

Die Klosterkirche auf'm Oybin sah keine Gottesdienste mehr in ihren Mauern; im Jahre 1568 ward sie sogar ganz geräumt. Oybin-Chronik von Dr. A. Moschkau S. 258. Zu Beginn des Frühjahres warf Gottschalk noch einen traurigen Blick in den leeren Raum. Wie viel und vieles hatte er darin erlebt! – Alle waren sie fort, die dort dem Herrn gedient nach bestem Wissen und Wollen. Da legte auch er sich nieder und folgte am 19. Mai Oybin-Chronik von Dr. A. Moschkau S. 143. den vorausgegangenen Brüdern. Gertrud weinte an seinem Grabe mit all den Vielen, so ihn trotz des Unterschiedes der Bekenntnisse gar lieb gehabt. Sie weinte dem ehrlichen väterlichen Manne nach und dem Freunde eines, der nicht wiederkehren wollte; längst hatte sie es aufgegeben. Von den einundfünfzig Jahren ihres Lebens hatte sie deren einundzwanzig um ihn geweint, so viel, daß der Quell der Tränen schier vertrocknet schien. Und wenn die Einsame noch aufblickte zum Kloster droben, so war es mit einem stillen Gebete wie um einen lieben, selig Verstorbenen.

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