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In Wilmersdorf, dort, wo die Güntzelstraße aufhört, den großen, stattlichen Charakter zu tragen und die Straße ein gartenähnliches Aussehen annimmt, steht, von einer alten, niedrigen Mauer umgeben, ein kleines, villenartiges Häuschen inmitten eines etwa 400 Quadratmeter großen Gartens.
Dort lebte Hauptmann Paul Meinert in glücklichster Harmonie mit seiner Tochter Toni seit mehreren Jahren, von der Welt vollkommen zurückgezogen, bloß der Pflege seines Kindes und seines Gartens sich widmend.
Paul und sein Bruder Julius waren beide gebürtige Berliner und hatten nach ihrer Großjährigkeit, nach dem Tode ihrer Eltern, jeder etwa 50 000 M. geerbt. Während jedoch Julius, der Aeltere, ein etwas nüchterner und gesetzter Mensch, sein Geld in einem Handelshause anlegte, in dem er selbst eine Stellung innehatte, gelang es Paul, in verhältnismäßig kurzer Zeit sein ganzes Kapital als flotter Lebemann durchzubringen, so daß er sich auf einmal vor dem Ruin sah.
Das kleine Vermögen seiner verstorbenen Frau reichte jedoch nicht aus, einem Mädchen unserer modernen Zeit die Zukunft zu sichern. Er selbst, der flotte Offizier von einst, hatte sich nach dem Tode seiner Gattin allerdings vollkommen verändert. Sein früherer Leichtsinn war geschwunden. Der frühere Lebemann, nachdem ihn die Tropen gebräunt und abgehärtet hatten, nachdem er viele Enttäuschungen und viele Strapazen durchgemacht hatte, besaß heute keine Leidenschaften mehr außer der einen: sein Kind.
Obwohl er mit seiner kleinen Pension und den spärlichen Zinsen des Vermögens seiner Frau einfach und bescheiden lebte, war er doch nicht um die Zukunft seiner Tochter besorgt. Wenn ihre Kinderzeit auch etwas freudlos verlaufen sollte, erwartete sie doch heute oder morgen eine ziemlich ansehnliche Mitgift, da sie voraussichtlich ihren Onkel Julius, der weder verheiratet war, noch sonstige nähere Verwandte hatte, nach dessen Tode beerben würde.
Doch dieser, als er starb, hinterließ sein ganzes Vermögen einer gewissen Rosa Calmus, welche sich als sogenannte Künstlerin Rosa von Gordon nannte, einer Frau, die nicht in dem besten Ruf stand und einige Zeit als Star des Wintergartens viel von sich reden gemacht hatte.
Während der vertrauensselige Hauptmann sein ganzes Leben seiner Tochter widmete und keine Zeit hatte, seinen Bruder zu überwachen, hatte sich jene Rosa von Gordon allmählich in das intime Leben seines Bruders geschlichen. Jung, geistreich, eine blendend schöne und selten elegante Erscheinung, war es ihr gelungen, den schon ziemlich angejahrten Herrn zu umgarnen, der törichterweise erst in dem Augenblick zu leben begann, als er sich hätte mit dem erworbenen Vermögen zurückziehen können. Die Enttäuschung des Hauptmanns war ungeheuer. Nicht seinetwegen – denn seine Bedürfnisse waren äußerst bescheiden; er brauchte kein Vermögen. Doch für seine Toni hatte er ein Kapital erträumt, welches sie für alle Zukunft sichern sollte.
Alle Rechtsanwälte, die er in dieser Sache zu Rate zog, und sogar selbst der Rechtsanwalt seines Bruders, Doktor Herbert, der über das Testament ebenso entrüstet war wie er selbst, bestärkten ihn in seiner Absicht, das Testament annullieren zu lassen, und behaupteten, daß er seinen Prozeß gewinnen müsse.
Und tatsächlich gewann er ihn auch in erster Instanz.
Rosa von Gordon jedoch, die sich einen solchen Fang nicht entgehen lassen wollte, legte gegen das Urteil Berufung ein und gewann nun ihrerseits den Prozeß ganz wider aller Erwarten.
Dem Hauptmann wurde nun geraten, sich an das Reichsgericht in Leipzig zu wenden. Er war jedoch bereits zu sehr entmutigt, weshalb er die Angelegenheit ruhen ließ; er beschloß, fernerhin noch sparsamer zu leben, um vielleicht von seinen spärlichen Einkünften noch einige Ersparnisse beiseite legen zu können, damit im Falle eines Unglücks diese seiner Tochter blieben. Er gab seine Berliner Wohnung auf und mietete das kleine, verlassene Häuschen in Wilmersdorf, in einer Gegend, in der die Mieten noch spottbillig waren. So treffen wir sie an einem herrlichen Frühlingsmorgen am 24. März 1899 in ihrem bescheidenen Heim.
Schon seit längerer Zeit war der Hauptmann im Garten unten, mit seiner alten Militärmütze auf dem Kopf, mit großen Schritten den kleinen Kiesweg auf- und abschreitend. Trotz seines Alters sah er immer noch recht gut konserviert aus. Bald darauf erschien auch Toni, im ganzen Reiz ihrer jugendlichen Erscheinung. Sie zählte kaum siebzehn Jahre.
Nachdem sie ihm einen Gutenmorgenkuß gegeben hatte, ließ er sich von seinem Liebling in das Haus führen, seinen Arm um ihre schlanke Taille legend, indes sie den ihren um seinen Hals schlang. Nachdem sie das Haus betreten, setzten sie sich an ihren einfachen Nußbaumtisch, auf dem bereits der Kaffee und einige belegte Brötchen standen, die der alte Herr sofort mit lebhaftem Appetit in Angriff nahm.
Darauf wandte sich Toni an ihren Vater:
»Du gehst heute aus?«
»Jawohl,« erwiderte der Hauptmann, »und sogar den ganzen Tag.«
»Wie du nur bist, Papa, seit einiger Zeit … Ich erkenne dich gar nicht mehr … Tag für Tag gehst du jetzt aus und rennst in der Stadt herum …«
»Ich habe eben Geschäfte, mein Fräulein.«
»Das ist das letzte Mal, daß ich das gestatte, denn ich graule mich allein. Ich liebe nicht, Besuche zu empfangen wie gestern diesen Herrn.«
»Ich sage dir doch, daß ich ihn kenne. Ich hatte nur die Verabredung total vergessen.« Er ergriff seine Brieftasche.
Toni war rascher als er. »Ist noch etwas drinnen?«
»Leider nein,« seufzte er, indem er sie zu sich steckte und seinem Kinde zum Abschied die Stirn küßte.
Bei der Ludwigskirchstraße bog er ein, um in einen kleinen, unscheinbaren Laden zu treten, über welchem man das Schild eines Wohnungsvermietungsbüros lesen konnte. Nachdem er die Glastür geöffnet hatte, wandte sich Hauptmann Meinert an einen Herrn, welcher hinter einem Pult saß.
»Sie waren es jedenfalls, der gestern während meiner Abwesenheit bei mir vorgesprochen hat wegen der Wohnung, welche ich Sie bat, zu mieten?«
»Nein, Herr Hauptmann,« erwiderte der Angeredete, »ich muß tausendmal um Entschuldigung bitten, aber ich hatte wirklich keine Zeit. Uebrigens habe ich mit dem Betreffenden gesprochen, und er ist bereit Ihnen die Wohnung um den bewußten Preis zu vermieten.«
Meinert blieb noch einige Zeit in dem Büro, um noch andere Erkundigungen einzuziehen. Dann sah er nach der Uhr, worauf er Abschied nahm und dem Kurfürstendamm zuging. Unterwegs überlegte er, wer jener Besuch gestern gewesen sein konnte, da es doch nicht der Wohnungsvermittler gewesen war. Sollte Toni also mit ihrer Angst recht gehabt haben und sollte ein Fremder, etwa ein Bettler, seine Abwesenheit benutzt haben, um sich in das kleine Häuschen in der Güntzelstraße einzuschleichen und das Innere des Häuschens kennen zu lernen?
Er stieg in die Elektrische und fuhr nach der Lützowstraße zu seinem Rechtsanwalt Doktor Herbert.
In dem Zimmer, welches er zuerst betrat, saßen mehrere Schreiber. Das Zimmer des Rechtsanwalts sowie das des Bürovorstehers mündeten in diesen Raum; doch Doppeltüren und dicke Friesportieren verhinderten, daß irgend welches Geräusch aus diesen Zimmern in das Büro dringen konnte.
In dem Augenblick befand sich nur ein Schreiber vor dem Tisch und kopierte Akten.
Es war ein kleiner Mensch von gedrungener Gestalt mit abgearbeiteten, stark verwitterten Zügen, einer Nase, die dem Schnabel eines Raubvogels glich, ziemlich schlecht rasiert, mit wirren Haaren, die keine bestimmte Farbe hatten, während ein dichter, stacheliger Bart seine gekniffenen Lippen, die sich über gelben Zähnen schlossen, umrahmte. Es lag etwas Falsches, Bestialisches in dieser Physiognomie, die dabei eine gewisse Intelligenz aufwies; sein Lächeln war ziemlich verächtlich, beinahe sarkastisch, und die grauen, stechenden, mit grauen, dichten Brauen versehenen Augen gaben oft einen ganz eigentümlichen Schimmer von sich.
Der Hauptmann trat an den Schreiber heran und fragte, ob er Herrn Doktor Herbert sprechen könnte.
»Augenblicklich nicht,« erwiderte der Schreiber, mit einem Ruck den Kopf in die Höhe werfend, als hätte er sich mitten in der Arbeit überraschen lassen. »Der Herr Doktor ist augenblicklich beschäftigt.«
»Aber der Herr Doktor hat mich doch um halb vier Uhr bestellt, und es ist gerade halb vier.«
»Bedaure, es ist eben jemand beim Herrn Doktor drin. Sie müssen schon so freundlich sein, etwas zu warten.«
»So warten wir also,« ergab sich Meinert und setzte sich auf einen der Wartestühle.
Infolge seiner oftmaligen Besuche in diesem Büro hatte der Hauptmann öfters Gelegenheit gehabt, auch nähere Bekanntschaft mit den Angestellten des Büros zu schließen, weshalb sich auch bald zwischen Meinert und Jagow, wie der Schreiber hieß, eine kleine Konversation entspann.
»Nun, Herr Hauptmann,« begann der Schreiber, »heute ist also der große Tag.«
»Sie wissen also?«
»Das ist doch klar. Glauben Sie vielleicht, daß wir hier draußen nicht wissen, was drin beim Herrn Doktor vorgeht? Freilich schließt er sich mit seinen Klienten ein; aber das Geheimnis bleibt eben nicht lange Geheimnis. Aus dem Gespräch mit seinen Klienten resultiert immer ein Aktenstück. Die einen machen das Stenogramm, die anderen die Kopien; der wird aufs Gericht geschickt, um die Akten zu legalisieren oder zu registrieren, der andere, um eine Unterschrift zu holen, – und bald weiß das ganze Büro, vom Prinzipal angefangen bis zum kleinsten Schreiber, um was es sich handelt.«
Jagow hatte diese ganze Rede langsam und schwerfällig gesprochen, wie eine Person, die den Wunsch hegt, so lange wie möglich zu sprechen, sein Gegenüber zurückzuhalten und ihm die Zeit zu vertreiben. Seine Stimme war etwas kreischend und doch beinahe schleppend, wie die Stimme eines Buckligen; sie konnte schließlich auch nicht anders sein, denn wenn man Gelegenheit gehabt hätte, den Rock Jagows anzutasten, so hätte man einen kleinen, gut kachierten Höcker entdecken müssen.
»Und Ihre Tochter weiß noch immer nichts?« fragte der Schreiber nach einer kleinen Pause.
»Immer noch nichts,« erwiderte der Hauptmann. »Ich hatte den Mut, achtzehn Monate hindurch zu schweigen, sie auch nichts ahnen zu lassen. Ich wollte sie nicht meine Ungewißheit teilen lassen, welche nur zu leicht mit einer grausamen Enttäuschung hätte endigen können.«
»Aber jetzt, wenn Sie zurückkommen, werden Sie ihr doch die Nachricht mitteilen?« fragte Jagow.
»Natürlich, sowie alles zu Ende ist.«
»Da können Sie ganz ruhig sein; heute werden Sie damit zu Ende kommen. Ich habe den Herrn Doktor dahingehende Aufträge erteilen hören, alles ist bereit.«
Meinert antwortete nicht, aber seine Augen leuchteten auf, und sein verklärtes Gesicht verkündete, wie glücklich ihn diese Worte machten.
Nach einigen Augenblicken begann Jagow von neuem:
»Heute abend wird man in der Güntzelstraße wohl schwerlich früh zu Bette gehen. Nach einer so freudigen Botschaft bleibt man immer etwas länger auf.«
»Nein, nein,« erwiderte der Hauptmann lächelnd, »bei uns ist zu viel Ordnung; da wird nichts an unseren Gewohnheiten gerüttelt. Toni ist noch dazu eine außerordentliche Schlafratte, wie alle jungen Mädels in ihrem Alter, und was mich betrifft, um zehn Uhr – eins – zwei – drei – schließe ich die Augen und schlafe wie ein Murmeltier.«
»Und Sie wachen des Nachts nicht auf?« fragte Jagow.
»Wozu denn? Das Bett ist da, um zu schlafen. Ordnung muß in allem sein.«
»Aber das Geräusch von außen her?«
»Davor habe ich keine Angst. Wenn man alter Soldat ist so wie ich und ein paar Feldzüge mitgemacht hat, da ist man den ärgsten Spektakel gewöhnt. Außerdem ist es ja bei uns draußen so ruhig und still, kein Mensch weit und breit in der Nähe, kein Wagen …«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und der Rechtsanwalt erschien. Er warf einen Blick in das Zimmer und bemerkte Meinert, der sich alsbald erhoben hatte. –
»Wie! Sie sind hier, Herr Hauptmann?« sprach er ihn an. »Was machen Sie denn da, warum sind Sie denn nicht hereingekommen? Ich erwarte Sie schon seit einer Stunde!«
»Mir wurde gesagt, daß Sie beschäftigt wären,« erwiderte Meinert.
»Wer hat Ihnen das gesagt?«
»Ich, Herr Doktor,« sagte schüchtern der Schreiber. »Ich dachte … ich sah doch jemand eintreten …«
»Ach, einer meiner Freunde, der sofort wieder weggegangen ist … Kümmern Sie sich in Zukunft nur um die Sachen, die Sie angehen,« sagte der Rechtsanwalt unwillig, und, sich freundlicher an Meinert wendend, forderte er ihn auf: »Bitte, treten Sie nur näher, Herr Hauptmann.«
Meinert trat mit dem Rechtsanwalt in das Zimmer, und die beiden Doppeltüren schlossen sich sofort.
Jagow, ohne sich irgend etwas aus der Rüge des Rechtsanwalts zu machen, zog seine Uhr und konstatierte, daß es bereits vier Uhr durch war. Alle Augenblicke aber unterbrach er seine Arbeit, um neuerdings nach der Uhr zu sehen, und als abermals einige Minuten verronnen waren, blitzte in seinen Augen etwas wie eine satanische Freude auf; ein eigentümliches Lächeln spielte um seine Lippen.
Erst um fünf Uhr erschien Meinert, vom Rechtsanwalt gefolgt, der ihn bis an die Flurtüre brachte und ihm zum Abschied herzlich die Hand schüttelte.
Jagow hatte seinen Platz nicht verlassen; er schrieb ununterbrochen weiter und schien ganz in die Arbeit vertieft. Sobald Doktor Herbert sich wieder in sein Kabinett zurückbegeben hatte, eilte der Schreiber an das Fenster, welches in den Hof mündete, von dem aus er den Hauptmann sehen konnte, wie er denselben durchschritt. Langsamen Schrittes ging der Hauptmann dahin, den Oberkörper hoch aufgerichtet, sich mit einer gewissen Befriedigung in den Hüften wiegend. Sein Ueberrock jedoch war nicht mehr so stramm zugeknöpft wie heute morgen vom Hals bis zur Taille herab. In der Brusthöhe erweiterte sich derselbe ziemlich stark, und der Rock schien in der Höhe der rechten Brusttasche wie aufgebläht. Zu gleicher Zeit bemerkte Jagow, wie der Hauptmann nach seiner Brusttasche tastete, nach jener Stelle, wo der Rock erweitert schien. Er hatte jedenfalls auf seiner Brust ein wertvolles Objekt, das er ab und zu betastete, wie, um sich zu vergewissern, daß es noch da sei.
Mit einem unbeschreiblichen Ausdruck rieb sich Jagow die Hände, setzte sich wieder an seinen Tisch und fuhr mit seiner Arbeit fort.
Sobald sich der Hauptmann auf der Straße befand, überkam ihn ein Moment des Zögerns. Was sollte er tun? Sollte er zu Fuß gehen oder sollte er sich einen Wagen nehmen?
Während er mit sich zu Rate ging, fuhr seine rechte Hand wiederholt nach seiner Brusttasche, um daselbst einem fremden Gegenstand zu begegnen, der ihn bedrückte und gewissermaßen mit Angst erfüllte. Eine halbe Stunde später war er in der Güntzelstraße, wo er den Kutscher reichlich bezahlte. Er schritt rasch durch den Garten und betrat sein Häuschen.
Doch kaum hatte er einige Schritte in dem Hausflur gemacht, als seine Tochter, die ihn hatte kommen hören, ihm entgegenlief, ihm zärtliche Küsse auf die Wangen drückte und ihn in das kleine Eßzimmer zog.
»Komm, Väterchen, und bewundere mein Dessert!« rief sie ihm zu.
»Schilt nicht, Väterchen! Du sollst deine Lieblingsspeisen haben. Lulu ist eben im Begriff, sie in der Küche zu überwachen.«
Lulu war eine alte Jungfer von etwa 45 Jahren, Tonis beste und einzige Freundin.
Lulu Romanowski, wie ihr Name lautete, war dereinst mit Frau Meinert auf die intimste Weise befreundet gewesen, und als diese dann gestorben war, erklärte Lulu kategorisch, ihre kleine Toni, ihr Patenkind, nicht verlassen, sie sogar, im Falle der Vater sterben sollte, adoptieren zu wollen.
Sie war eine ganz kleine, zierliche Person, mit altmodisch herabfallenden Seitenlocken, die pechschwarz waren, trug ihr Haar in der Mitte gescheitelt, so daß sie ein Mittelding zwischen einer vergilbten Cléo de Mérode und einer Urgroßmutter des achtzehnten Jahrhunderts bildete. Trotz der Schönheit ihrer Augen und Zähne war es noch niemand eingefallen, sie hübsch zu finden, doch alle jene, die sie kannten, liebten und verehrten sie wegen ihrer opferwilligen Freundschaft und Ergebenheit.
Man hatte sich bereits zu Tisch gesetzt. Der Hauptmann saß seiner Tochter gegenüber, Lulu Romanowski zwischen ihnen beiden, und während Meinert mit lebhaftem Appetit den Speisen zusprach, sagte Toni:
»Nun, Papa, was ist's mit dem unheimlichen Geheimnis, das du mir zu Mittag entdecken wolltest?«
»Eine ganz kleine Ueberraschung,« gab ihr der Hauptmann zur Antwort. Darauf fuhr er mit der Hand in jene Tasche, welche seine Tochter bezeichnet hatte, und zog aus ihr langsam, beinahe mit einer gewissen Förmlichkeit, die Brieftasche und legte sie auf den Tisch.
Ohne sich zu beeilen, aber mit strahlenden Mienen, glänzenden Augen, löste er das Gummiband, welches das Portefeuille umschloß, öffnete die Tasche und entnahm ihr ein mächtig großes Paket funkelnagelneuer Banknoten.
»Was ist denn das?« fragte Toni, mit dem Oberkörper über den Tisch geneigt.
»Lauter Tausendmarkscheine,« erwiderte der Hauptmann mit anscheinender Ruhe.
»Papa … woher denn? Wem gehören die denn? Bist du irgendwo eingebrochen?«
»Nein, mein Fräulein, ich habe sie einfach von meinem Bruder geerbt.«
»Du? Aber Papa! Der Onkel hat doch eine Dame zur Erbin eingesetzt, und du hattest doch den Prozeß für immer verloren.«
»Doch nicht so für alle Zeiten,« erwiderte Meinert. »Auf den Rat mehrerer Freunde und mit ihrer Hilfe hatte ich mich entschlossen – nach langem Zögern freilich – doch noch an das Reichsgericht in Leipzig zu appellieren. Es haben sich bei der Abfassung des Testaments nach langem Suchen doch einige Formfehler ergeben, so daß schließlich das Testament umgestoßen und wir als die einzigen Erben gerichtlich anerkannt wurden. Allerdings ist viel Zeit darüber vergangen. In dieser Brieftasche sind nicht weniger als fünfmalhundertunddreißigtausend Mark enthalten; mit einem Wort: ein Vermögen.« – Tränen standen in seinen Augen; Tränen des Glückes.
Die ohnedies so sensitive Lulu Romanowski brach sofort in ein derartiges Weinen aus, daß man den musikalischen Teil desselben mit dem Geheul eines Hundes vergleichen konnte, der eine Drehorgel hört. Toni jedoch vergoß keine einzige Träne; sie ging um den Tisch herum, setzte sich auf die Knie des alten Soldaten, schlang die Arme um seinen Nacken und sagte, ihr Gesicht dicht an seine Wange gepreßt:
»Also um deinen Prozeß verfolgen zu können, um mich zu bereichern, bist du so viel heimlich von Haus weggegangen? Und ich schlechte Person hatte dich im Verdacht, daß du mich allein ließest, bloß um im Café Zeitung zu lesen oder Skat zu klopfen. Ach, mein guter Papa, das werde ich mir niemals verzeihen!«
Sie nahm seinen lieben, grauen Kopf zwischen ihre beiden Hände, küßte ihm abwechselnd Stirn, Wangen, Mund und Augen, während Lulu, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, den Kopf zwischen beiden Händen, unausgesetzt weiter weinte und wie ein kleiner Terrier winselte.
»Siehst du, Kind,« fuhr der Hauptmann nach einigen Augenblicken fort, sobald sich die erste Erregung etwas gelegt hatte, »das ganze Geld gehört dir. Ich hatte heute die Absicht, das Geld erst in die Bank zu bringen; aber infolge eines, von einem Schreiber des Rechtsanwalts Dr. Herbert begangenen Mißverständnisses hat mich Dr. Herbert erst nach vier Uhr empfangen, und als ich ihn um fünf Uhr verließ, waren die Banken bereits geschlossen. Gleich morgen in der Frühe will ich das Geld der Deutschen Bank übergeben, und wir werden bald Coupons schneiden können, welche auf deinen Namen lauten, und deren Kapital dereinst für deine Mitgift bestimmt ist.«
»Die ganze, große Summe meine Mitgift?« rief Toni. »Und wovon willst du denn leben, wenn ich verheiratet bin?«
»Meine Pension hat uns beiden doch bisher genügt; da wird sie wohl auch für mich allein reichen.«
»Nein, nein, ich will, daß du reich sein sollst, immer reich. Wir werden das Geld für uns behalten, und ich werde niemals heiraten.«
»Schon gut, schon gut,« wehrte der Hauptmann ab. »Davon wollen wir später reden. Jedenfalls fürs erste wollen wir eine andere Wohnung nehmen, und zwar am Kurfürstendamm, in jenem Hause, das dir so gut gefallen hat.«
Darauf begannen die drei Wesen, welche sich so treu und zärtlich liebten, traulich nebeneinander sitzend, tausenderlei Pläne und Luftschlösser zu bauen.
Als es zehn Uhr abends war, ging die Aufwartefrau, welche man ausnahmsweise so spät zurückbehalten hatte, einen Wagen holen, und bald darauf nahm Lulu Abschied von ihren Freunden, mit dem Versprechen, sie morgen in der Frühe sofort wieder aufzusuchen.
Der Hauptmann verschloß das Haus und stieg dann in Begleitung Tonis in sein Zimmerchen hinauf. Dort oben plauderten sie noch etwa eine Stunde, unterhielten sich wie kleine Kinder mit dem Zählen ihres Geldes, worauf die Banknoten wieder in die Brieftasche wanderten, welche der Hauptmann unter seinem Kopfkissen verbarg. Bald darauf, nachdem sie sich innig gute Nacht gesagt hatten, trennten sich Vater und Tochter …
Am nächsten Morgen stand Toni Meinert bereits um acht Uhr auf und öffnete die Fensterladen, um vom Fenster aus ihrem Vater in den Garten hinab einen frischen guten Morgengruß zu senden.
Da sie ihn jedoch unten nicht sah, glaubte sie, er wäre noch nicht aufgestanden, durcheilte rasch den kleinen Salon und trat in das Schlafzimmer des alten Soldaten.
Doch plötzlich prallte sie zurück und stieß einen furchtbaren Schrei aus.