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7. Kapitel.

Während dieses Vorfalles in Berlin befand sich Beppo in Italien auf Reisen, genau die Vorschriften des Calmus befolgend. Er litt unsagbar unter der Trennung von Rosa, der er täglich glühende Liebesbriefe schrieb, jeden seiner Briefe sorgsam überlesend, um ja kein gefährliches Wort demselben einzufügen.

Seine Haupttätigkeit bestand darin, die ihm von Calmus übergebenen Papiere auswendig zu lernen und sich in seine neue Rolle als Graf Ostia einzuleben.

Es gelang ihm auch, einen alten Herrn in Neapel aufzufinden, der den wirklichen Grafen von Ostia gekannt hatte, als er noch ganz klein war, und nun behauptete, den Sohn seines Jugendfreundes an der Aehnlichkeit mit ihm wiedererkannt zu haben. Er suchte sich so viel wie möglich Verbindungen unter dem Adel Italiens zu verschaffen, was ihm auch infolge seines liebenswürdigen Auftretens und seiner bestrickenden Persönlichkeit nicht allzu schwer gelang.

Inzwischen hatte er durch die Zeitungen erfahren, daß sowohl Calmus als auch Müller als die Mörder des Hauptmanns Meinert verhaftet worden waren. Mit furchtbarer Angst las er die Zeitungsberichte, da es doch möglich sein konnte, daß Calmus sich in irgend etwas verraten hätte. Doch als er Jagows Antworten las, erkannte er, wie felsenfest er sich auf diesen Mann verlassen konnte und welcher Meister der Verstellungskunst er war. Auch nirgends war der Name Calmus erwähnt, sondern der Angeschuldigte hieß überall Jagow und war Schreiber des Rechtsanwalts Dr. Herbert; nichts verriet demnach die Identität jener beiden Personen.

Nachdem er weitere Berichte abgewartet hatte, verließ er Mitte April Italien, um sich direkt nach Berlin zu begeben und im Hotel Bristol abzusteigen. Von da aus schickte er Rosa sofort eine Nachricht, worin er sie bat, ihn zu empfangen.

Um ihren Verlobten gleich offiziell einzuführen, bat sie alle ihre intimen Freunde und Bekannten zum Tee, bei welcher Gelegenheit man den Grafen von Ostia kennen lernte. Der Name des Grafen war bereits den meisten bekannt, und man wußte, daß er große Besitzungen in Sizilien habe. Nach der herzlichen Art und Weise, wie sie miteinander verkehrten, und den Reminiszenzen, die sie miteinander austauschten, schien die Fabel durchaus glaubwürdig, daß sie sich bereits als Kinder gekannt hätten. Durch diese Jugendliebe, der beide Teile treu geblieben waren, wurde der Nimbus Rosas nur noch mehr erhöht. Und schon vor der Hochzeit, welche Ende April festgesetzt war, wurden ihr Verlobter und sie bereits zu den Vollblutaristokraten gezählt.

Die Hochzeit Rosas war für gewisse Kreise ein kleines Ereignis. Selten hatte man ein kosmopolitischeres Publikum sehen können als damals in der Hedwigskirche. Auch die Zeitungen brachten Berichte darüber, daß der ehemalige Star des Wintergartens an dem und dem Tage eine offizielle Gräfin Ostia würde. Berichte, welche auch Frieda, dem gewesenen Kammermädchen und einstigen Spionin Rosas, zu Augen kamen.

Natürlich ließ es sich die rote Frieda nicht nehmen, der Traufeierlichkeit beizuwohnen.

Als sie die Braut in kostbarer Toilette, stolz ihren Myrtenkranz tragend, vor dem Altar stehen sah, dachte sie im Stillen bei sich:

»Ich hätte eigentlich lieber den guten Dühms hintergehen und mich mit Rosa von Gordon gut stellen sollen. Von einer schönen Frau kann man immer noch was profitieren. Besonders von so einer vom Brettl; im Handumdrehen ist sie Gräfin. Na, das kann sich ja alles wieder einlenken lassen! Schließlich, habe ich ihr doch nichts zuleide getan. Im Gegenteil.«

Darauf ließ sie ihren Blick auf Beppo fallen, der auf sie einen ganz gewaltigen Eindruck zu machen schien: »Schade, daß er so verliebt ist,« dachte sie sich unter einem Seufzer. »Ich habe mir allerdings das Versprechen gegeben, keine Dummheiten mehr zu machen. Aber mit dem …« Sie hielt inne, zog hinter dem Kirchenpfeiler einen kleinen Taschenspiegel heraus und besah sich aufmerksam. Trotz des Brausens der Orgel, der wallenden Weihrauchschleier, der feierlichen Stimmung, die im Gotteshause herrschte, kamen ihr – vielleicht instinktiv – keine anderen als rein weltliche Gedanken. Wie sie sich so im Spiegel anlächelte, mit ihren brennenden Augen, ihren etwas wollüstigen Lippen, tadellos chick gekleidet, konnte man sie ganz gut zu den geladenen Gästen zählen. Jedenfalls hätte keiner in ihr eine Vigilantin oder Kammerjungfer vermutet.

Nach beendeter Zeremonie begaben sich die Gäste und das Brautpaar nach dem Hotel Bristol. Ein eigentümlicher Zufall wollte es, daß sich Unter den Linden zwei Wagen begegneten: die elegante Equipage des Grafen von Ostia mit seiner jungen Frau und die »grüne Minna«, welche den Vater Rosas vom Polizeipräsidium nach Moabit überführte.

Obwohl mehrere Wochen verstrichen waren, hatte die Untersuchung absolut keine Fortschritte gemacht. Jagow beharrte bei seinem Leugnen, Müller gab überhaupt keine Antwort mehr. Obwohl der Untersuchungsrichter selbstverständlich den Aussagen Jagows über dessen Aufenthalt im Innern von Zentralafrika keinen Glauben schenkte, so hatte er es doch für seine Pflicht gehalten, bei allen Konsulaten Auskünfte über einen gewissen Jagow zu erlangen. Bisher hatte nur ein Konsulat geantwortet, daß es den Namen Jagow nicht kenne. Aller Wahrscheinlichkeit nach sollten die Antworten der anderen Konsulate ebenso ausfallen. Man konnte doch Jagow nicht ewig im Untersuchungsgefängnis lassen. Es war vielmehr anzunehmen, daß Jagow vielleicht bereits schon einmal mit den Behörden in Berührung gekommen war. Deshalb war es nicht unmöglich, daß er vielleicht von einem Strafgefangenen wiedererkannt würde.

Ueber diesen Punkt ging Herr von Salbach mit Dühms zu Rate, ob es nicht vielleicht von Vorteil wäre, wenn er, Dühms, in Begleitung Jagows einmal eine kleine Rundfahrt durch einige Strafanstalten machte, um zu konstatieren, ob nicht der eine oder der andere in Jagow ein Individuum erkenne, das gar nicht Jagow hieß, sondern unter einem anderen – dem wirklichen – Namen irgendein Verbrechen begangen hätte.

Der Staatsanwalt pflichtete dem Vorschlag Herrn von Salbachs vollkommen bei, jedoch unter der Modifikation, daß Jagow – da er bloß Untersuchungsgefangener war – als einfacher Besucher das Gefängnis sich nur ansehen, und daß Dühms darauf achten sollte, ob irgendein Sträfling mit ihm bekannt wäre.

Als Dühms dem Schreiber mitteilte, daß er ihn auf einem Rundgang durch die Strafanstalten in der Umgegend Berlins begleiten solle, schien diesen dieser Gedanke außerordentlich zu erfreuen.

»Ach, das freut mich wirklich,« meinte Jagow. »Wenn man so lange eingesperrt gewesen ist, freut man sich, einmal frische Luft zu schöpfen. Und dann war es schon lange mein Wunsch, diese Strafanstalten mir genau von innen zu besehen. Ich hatte schon einmal die Absicht, um einen Passierschein bei den Behörden einzukommen. Das Polizeipräsidium geht aber sehr sparsam damit um. Heute aber glückt mir das unter den denkbar besten Verhältnissen. Ich bin Ihnen wirklich zu großem Dank verpflichtet, Herr Wachtmeister.«

»Schon gut, schon gut,« unterbrach ihn Dühms, Jagow in eine Droschke nötigend. »Etwas weniger Pathos, mein lieber Herr Jagow! Ihre Freude wird sich vielleicht bald legen. Sie kommen vielleicht mit hängenden Ohren wieder nach Hause zurück.«

»Ich habe mir wirklich nichts dabei gedacht, sondern wollte nur meine ehrliche Freude über die Partie äußern. Stellen Sie sich doch nur vor: ein so interessanter Ausflug und noch dazu an der Seite des berühmten Wachtmeisters Dühms, vor dem sich alle Türen öffnen!«

Dühms konnte sich eines Lächelns nicht erwehren; er liebte witzige Verbrecher, deren er sicher zu sein glaubte.

Sie fuhren zuerst nach der Strafanstalt Tegel hinaus. Der Direktor begleitete Dühms und Jagow durch sämtliche Arbeitssäle der riesigen Anstalt. Die Ankunft von Besuchern bietet für die Sträflinge immer etwas Zerstreuung. Sie unterbrechen gewöhnlich ihre Arbeit, um die Angekommenen neugierig zu mustern: die einen blicken ihnen offen und ehrlich ins Gesicht, die andern werfen nur verstohlene Blicke auf die Fremden. Aber jeder einzelne wäre imstande, sobald die Fremden die Anstalt verlassen haben, das genaue Porträt derselben zu entwerfen, und alle unterhielten sich untereinander über die eben Erschienenen.

Dühms hatte Jagow streng untersagt, die Hände in die Tasche zu stecken. »Ihre Hände sind zu schön, als daß man den Herren hier diesen Anblick entziehen sollte,« worauf der Schreiber gehorsam die beiden Hände über dem Hut faltete und denselben an den Oberkörper preßte. Mit Ausnahme dieser Beschränkung hatte Jagow vollkommene Bewegungsfreiheit und schritt durch die Arbeitssäle wie ein einflußreicher Besuch, dem man infolge einer Spezialerlaubnis die Honneurs im Gefängnis machte. Jedenfalls waren die Blicke, welche Jagow auf die Sträflinge warf, nicht minder neugierig als die der Sträflinge selbst, mit denen sie ihrerseits Jagow betrachteten.

Während des ganzen Rundganges war kein besonderer Zwischenfall eingetreten. Man mußte den Sträflingen etwas Zeit lassen, die Physiognomie Jagows in sich aufzunehmen und die einzelnen Bemerkungen belauschen, welche die Sträflinge untereinander nach dem Besuch machen würden. Jedenfalls hatte der Direktor der Strafanstalt den Aufsehern strengen Auftrag gegeben, ihm jede, auch die geringste Bemerkung, sofort zu hinterbringen.

Von Tegel aus fuhren sie nach Plötzensee, und Jagow konnte nicht umhin, die innere Einrichtung dieser Anstalt außerordentlich zu bewundern. Er äußerte sogar, daß es ihm gar nicht unlieb wäre, wenn er seine Tage in einer solchen Anstalt beschließen könnte – vorausgesetzt, daß er nicht freigesprochen würde, welche feste Ueberzeugung ihn immer noch beseelte.

»Werden wir nicht auch die Weibergefängnisse besichtigen?« fragte Jagow.

»Nein, das wäre zu grausam,« bemerkte Dühms. »Man hat nicht das Recht, diesen armen, unglücklichen Frauen das Herz so schwer zu machen, wenn man ihnen einen so verlockenden Vertreter des männlichen Geschlechts vorführt, wie Sie.«

»Na, na, ich hatte auch einmal meine Zeit,« erwiderte Jagow lächelnd, auf den Scherz eingehend.

»Wo war das?« fragte Dühms rasch, ihn mit seinen kleinen, listigen Augen durchbohrend.

»Gott, damals, als ich mich mit den Almehs in Guinea, mit den Nubierinnen im Sudan und mit verschiedenen Negerinnen abgab.«

»Immer das verfluchte Afrika!« rief der Kriminalbeamte ungeduldig. »Ich kenne das Steckenpferd. Es wäre viel netter von Ihnen, wenn Sie einmal mit der alten Leier aufhören und mir etwas von Ihren Berliner Abenteuern erzählen würden.«

»Leider nicht möglich, da ich fast mein ganzes Leben dort in Afrika zugebracht habe. Und Sie werden auch sehen, daß keiner von den Sträflingen mich wiedererkennen wird.«

»Der Mensch ist gerade so wenig aufgeregt wie eine Halbweltdame, wenn sie über die Linden spazieren fährt,« flüsterte der Direktor der Anstalt Dühms leise ins Ohr.

»Das stimmt! Jedenfalls ist er weniger aufgeregt als ich,« gab Dühms leise zur Antwort.

»Sie wollen aufgeregt sein?«

»Ich muß offen gestehen, daß ich anfange nervös zu werden. So eine beharrliche Verstocktheit und Verstellung ist mir noch nicht vorgekommen. Denn daß der Kerl der Mörder ist, darauf lege ich meine Hand ins Feuer.«

Während dieses leise geführten Zwiegesprächs waren sie in den Saal gekommen, in dem die Sträflinge Schuhe anfertigten. Es waren vielleicht zwölf Unglückliche in demselben anwesend. Sobald die drei Personen eintraten, sahen sie alle von ihrer Arbeit auf.

»Nur weiter arbeiten!« rief ihnen der Direktor zu.

Außer einem, der stehen geblieben war und Jagow mit stieren Augen anstarrte, gehorchten sie alle dem Befehl. Das starre Anschauen dieses einen Menschen war Dühms sofort aufgefallen. Er faßte Jagow scharf ins Auge und bemerkte, daß dieser von einer gewissen Unruhe erfaßt wurde. Er war unwillkürlich etwas bleicher geworden, und seine Finger, welche sich in die Krempe seines Hutes einkrallten, zuckten nervös.

»Na, da hätten wir ja was!« sagte Dühms, erleichtert aufseufzend, und wandte sich an den Sträfling: »Warum starren Sie denn den Herrn immerfort an? Kennen Sie ihn vielleicht?« Da der Sträfling sowohl Dühms wie auch den Direktor unsicher ansah und wahrscheinlich vermutete, daß Jagow auch eine offizielle Persönlichkeit wäre, beruhigte ihn Dühms sofort über diesen Punkt und fuhr weiter fort: »Sprechen Sie nur! Brauchen nichts zu fürchten. Der da zwischen uns ist auch nichts weiter als ein Untersuchungsgefangener. Er wurde bloß zu dem Zweck hierhergeführt, weil ich gehört habe, daß Sie einmal mit ihm in Verbindung gestanden haben!«

»Det is wohl wahr,« erwiderte der Sträfling. »Aber det is schon lange her.«

»Das tut nichts! Reden Sie nur. Sagen Sie, was Sie wissen. Ich verpflichte mich, Ihnen irgendeine Erleichterung zu verschaffen, wenn Sie offen und ehrlich auf meine Fragen antworten.«

Die Augen des Sträflings leuchteten auf. Vielleicht bekam er etwas besseres Essen! Danach hatte er sich schon lange gesehnt.

»Ick will antworten!«

Jagow wollte ihn unterbrechen.

»Kein Wort! Oder …« rief ihm Dühms streng zu.

Jagow schwieg. Nicht etwa aus Furcht: doch überlegte er, es sei vielleicht besser, wenn der Sträfling seine Stimme nicht hörte. Er hatte immer noch einige Hoffnung, von ihm nicht erkannt zu werden.

»Wie heißen Sie?« fragte Dühms.

»Scholten, genannt der lange Heinrich,« erwiderte der Sträfling.

»Wie lange?«

»Ick hab nur zwee Jahre abgekriegt.«

»Sie haben aber schon Zuchthaus gehabt? Haben Sie vielleicht den Herrn in einem Zuchthaus kennengelernt?«

»Nee. Es is ville länger her, als ich noch janz jung war.«

Diesmal war Jagow aschfahl geworden. Seine ganze Fassung und seine ironische Kaltblütigkeit waren mit einem Male verschwunden.

»Also bitte, rasch: wo haben Sie den Herrn kennengelernt?«

»In Berlin.«

»Mann war das?«

»Vor über zwanzig Jahren.«

»Was für eine Beschäftigung hatte der Herr?«

»Ick weeß nich, ob er überhaupt eene jehabt hat.«

»Wovon hat er denn gelebt?«

»Von nischt nich … so wie ick. Manchmal haben wir zusammen einen Zug ausbaldowert.«

»Wo hat er gewohnt?«

»Nirgends … und überall … bald in Schlafstelle, denn auch oft bei Mutter Irün.«

»Na, ihr müßt euch doch irgendwo getroffen haben?«

»Jawoll. Bald uff de Straße, bald in eener Destille, bald am Arbeitsmarkt – er hat Stellung jesucht so wie ick. Denn ick habe arbeeten wollen, ick habe wollen … Ick wär' een ehrlicher Kerl jeblieben, wenn ick nur etwas Arbeet jefunden hätte, wenn ick nur so ville jehabt hätte, um mir een Stück Brot zu koofen.«

»Ja, ja, ich weiß schon, ich kenne das alte Lied. Aber hier handelt es sich nicht um Sie, sondern um Ihren ›ehemaligen Herrn Kollegen‹! Wie heißt er?«

Tiefes Stillschweigen.

Der Sträfling drehte, anstatt zu antworten, seine Mütze in der Hand und starrte vor sich hin ins Leere, als ob er sich an etwas erinnern wollte. Jagow seinerseits fixierte ihn, jedoch mit einem Blick, der dem Unschuldigsten einen Schauer verursacht hätte. Seine Fassungslosigkeit war vorüber. Mit dem Gefühl der Gefahr war ihm die Ruhe wiedergekommen – die Ruhe eines wilden Tieres, welches zum Sprunge bereit ist, sich auf seine Beute zu stürzen, sobald sie eine Bewegung macht.

Er dachte sogar einen Moment daran. In dem nächsten Augenblick vielleicht sprach jener den Namen Calmus aus, und damit war dann sein Verwandtschaftliches Verhältnis zu Rosa, der Erbin des Julius Meinert, entdeckt, jener Rosa, die sich kürzlich mit dem jungen Grafen Ostia vermählt hatte. War es nicht einfacher, sich auf den Sträfling zu stürzen, um ihm, ehe sie alle sich dessen versahen, mit seinen riesigen Händen die Kehle zuzuschnüren, wie er den andern erdrosselt hatte? Was lag ihm jetzt daran? Wenn er ihn erdrosselte, so war wenigstens Rosa gerettet, wußte wenigstens keiner, wer er war! Und wenn der lange Heinrich sprach, war nicht nur er, sondern auch sie verloren.

Doch Jagow blieb ruhig; denn er hoffte noch immer. Er sagte sich, daß man in soviel Jahren leicht einen Namen vergessen könnte. Man konnte sich wohl an die Züge und an das Gesicht eines Menschen erinnern, aber nicht an den Namen. Dazu kam ihm noch zu Hilfe, daß der Sträfling immer noch nach dem Namen suchte. Die ungeheure Willenskraft, die ihn beseelte, konnte er dazu benutzen, Scholten derart zu hypnotisieren, daß er nicht imstande war zu sprechen. Man konnte sehen, wie der lange Heinrich wiederholt scheue Seitenblicke auf Jagow warf und wie ihn dieser mit seinen starren Tigeraugen fixierte.

»Ich kann nicht! Ich kann nicht!« stöhnte der lange Heinrich.

»Warum können Sie nicht?« fragte Dühms. »Sie haben ihn doch sofort wiedererkannt? Sie sind doch sicher, sich nicht zu täuschen? Sie erinnern sich an alle Umstände, unter denen Sie ihn kennengelernt haben, und wissen seinen Namen nicht?« fügte Dühms eindringlich, beinahe drohenden Tones hinzu.

»Jott, Herr Kommissar,« erwiderte der lange Heinrich, »ick kann nich dafür, det is meine Schuld nich,« fügte er weinerlich hinzu. »Ick habe so ville Menschen jekannt. Ach,« rief er aufleuchtenden Auges, »jetzt kann ick mir erinnern …«

Jetzt machte Jagow eine rasche Bewegung. Dühms packte seinen Arm und drückte ihn mit derartiger Kraft, daß Jagow unwillkürlich aufschrie. Doch der Gedankengang des Sträflings war unterbrochen.

»Warum schweigen Sie?« fragte Dühms streng. »Haben Sie Angst? Ich stehe Ihnen dafür, daß er ihnen nichts tun wird.«

»Ick habe keene Angst nich, Herr Kommissar,« erwiderte der Sträfling. »Ick habe keene Angst, wenn Sie da sind. Wenn ick sage, ick kann mir nich mehr erinnern, so war et nich, daß ick mir an den Namen nich mehr erinnern kann, sondern an seinen Spitznamen.«

»Und wie war der?«

»Man hat ihn öfters den Puckel-Aujust« jenannt – aber ohne daß er pucklig war,« fügte er rasch und ängstlich hinzu.

»Und warum wurde er so genannt?«

»Weil er im Rücken so wat wie Beulen jehabt hat, die er immer hat verstecken wollen. Aber einige von uns haben et doch jewußt.«

Die Hand des Kriminalbeamten betastete Jagows Rücken, worauf Dühms fortfuhr: »Das stimmt, Sie haben sich nicht getäuscht. Sie haben ihn wiedererkannt; Sie sollen Ihre Belohnung haben.«

»Ich danke ooch recht schön,« erwiderte der Sträfling dankbaren Blickes.

»Und wenn Sie eine noch größere Belohnung haben wollen, so erinnern Sie sich an seinen Namen. Strengen Sie Ihr Gedächtnis an.«

»Ick kann nich. Ick kann nich. Aber er hat doch heute sicher einen Namen; vielleicht wird mich der darauf führen, wenn der Herr Kommissar sagen will, wie er sich jetzt nennt.«

»Augenblicklich nennt er sich Jagow.«

»Jagow … Jagow …« wiederholte Heinrich kopfschüttelnd. »Nein, det war nich der Name; det weeß ick bestimmt. Er war weicher, so wie, wie … wie …«

»Na, wie denn?« wiederholte Dühms, Heinrich beim Arm packend. »Sie sind vielleicht auf der richtigen Spur, suchen Sie nur!«

Abermals ein langes Stillschweigen. Schließlich ließ Heinrich den Kopf mutlos sinken und sagte:

»Ick wer' nie darauf kommen. Ick jeb's uff.«

Jagow atmete auf, doch Dühms kam ein Gedanke:

»Hat Ihr Kamerad damals einen Bart getragen?«

»Nein, und der Bart hat mir auch etwas gestört, wie er einjetreten ist, da bin ick rausjekommen …«

»Der stört Sie vielleicht auch jetzt, und wenn Sie ihn ohne Bart sehen würden, würde Ihnen der Name vielleicht leichter einfallen.«

»Det kann schon sind,« erwiderte der lange Heinrich.

Dühms wandte sich an Jagow mit seiner ironischen Liebenswürdigkeit und sagte zu ihm:

»Würden Sie vielleicht die Liebenswürdigkeit haben, in unserem und Ihrem eigenen Interesse Ihren Bart zu opfern? Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie wieder einmal einen Ton reden würden. Sie waren ja heute in der Frühe so gesprächig, und jetzt bringen Sie die Zähne nicht voneinander.«

Jagow, der seine ganze Fassung wiedergewonnen hatte, gab ihm zur Antwort: »Ich habe keinen Grund, zu schweigen.«

»Nun, Sie wissen ja, worum es sich handelt. Wollen Sie sich vielleicht rasieren lassen? Der Herr Direktor wird sofort den Strafanstaltsbarbier kommen lassen, wenn Sie einwilligen.«

»Man tut vielleicht unrecht daran, sich so zu beeilen. Man hat heute noch nicht das Recht, mir den Bart abzunehmen. Ich bin nur Untersuchungsgefangener, aber noch keineswegs verurteilt.«

»Deshalb bitten wir Sie auch um Ihre Erlaubnis,« sagte Dühms so liebenswürdig wie möglich.

Jagow dachte einen Augenblick nach und sagte dann:

»Tun Sie, was Sie wollen. Ich kenne diesen Menschen nicht und habe ihn nie gesehen. Er täuscht sich. Ich habe nie einen anderen Namen getragen als den Namen Jagow. Wenn er mir einen anderen aufbindet, so hat er ihn eben einfach erfunden. Sie können mir ruhig den Bart schneiden lassen, ich fürchte mich nicht.«

Der Barbier der Anstalt wurde sofort geholt und Jagow in einer Ecke des Saales, den Sträflingen den Rücken zukehrend, rasiert. Nachdem der Bart verschwunden war, ging Dühms mit seinem Gefangenen zurück zu dem Sträfling, stellte Jagow direkt unter das Fenster und befahl Scholten, ihm plötzlich und unerwartet ins Gesicht zu sehen.

Der lange Heinrich erbleichte. Waren ihm die Erinnerungen wiedergekommen, oder war es einzig und allein der gräßliche Ausdruck der Augen, mit dem ihn Jagow fixierte? Dühms bemerkte sofort seine Verwirrung und wandte sich deshalb an Jagow.

»Warum sehen Sie denn den Sträfling so drohend an?« – Jagow antwortete nicht. »Senken Sie doch gefälligst einen Augenblick Ihre Blicke,« befahl Dühms streng. Jagow gehorchte ihm nicht; seine Augen blieben auf Scholten geheftet, fixierend, drohend, weit aufgerissen.

Was lag ihm daran, dem Wachtmeister in diesem Augenblick ungehorsam zu sein! Was lag ihm daran, wenn die Verdachtsmomente gegen ihn irgend welche Bestätigung fanden! Wenn er verriet, daß er Furcht hatte, seinen wirklichen Namen enthüllt zu sehen, wenn dieser Name nun doch bekannt wurde? Hatte er doch einst zu Beppo gesagt, er gebe sein Leben gern her, er opferte gern den Jagow, wenn nur der Calmus nicht entdeckt würde.

Der Sträfling, dessen Grauen vor Jagows Blick sich von Minute zu Minute steigerte, verharrte immer noch in Schweigen. Da sagte Dühms:

»Ich sehe, daß Sie Angst haben.«

»Ja,« murmelte der Sträfling.

»Und wenn ich Ihnen eine Sprechstunde mit Ihrer Frau verschaffe – den Wunsch, den Sie, seitdem Sie in der Anstalt sind, hegen?« fügte der Direktor der Anstalt hinzu.

Alle diese Versprechungen jedoch konnten Heinrich nicht zum Sprechen bewegen. Sein Blick war auf die langen Spinnenfinger Jagows gefallen: er sah im Geist, wie sie sich um seinen Hals legten, ihm die Luftröhre zuschnürten, fester, immer fester, so daß ihm jetzt in Wirklichkeit ein Röcheln aus der Kehle drang.

»Nun?« sagte Dühms, indem er einen letzten Versuch anstellte.

»Ick erinnere mir nicht, ick kann nich. Ick weeß nischt. Mir fällt der Name nich in,« stotterte der Sträfling.

Dühms wartete noch einige Augenblicke und gab schließlich den Kampf auf. »Na, denn nicht!« rief er übler Laune. »Dann vorwärts!«

Der Blick Jagows wurde sanfter, und der lange Heinrich konnte darin einen Dank, ja beinahe ein Versprechen lesen.

Als sie die Arbeitsstätte wieder durchschritten, warfen die Sträflinge verwunderte Blicke auf den Herrn, welcher noch vor kurzem mit einem Vollbart eingetreten war und jetzt bartlos die Anstalt verließ. Aus Jagows Zügen war das Lächeln verschwunden, und selbst die ältesten Stammgäste der Anstalt fanden, daß der Kerl eine infame Physiognomie hätte. Mehrere sogar spuckten aus, sobald Jagow den Saal verlassen hatte.

In der Droschke, die Dühms und Jagow in Begleitung von zwei Schutzleuten wieder zurück nach Moabit führte, versank Jagow in dumpfes Brüten. Dühms konnte nicht umhin, Jagow gegenüber eine diesbezügliche Bemerkung fallen zu lassen.

Jagow jedoch erwiderte:

»Ich wundere mich, daß Sie mein Zartgefühl nicht anerkennen, Herr Kommissar. Unser Ausflug in die Anstalten hat durchaus kein Resultat ergeben, und ich hielt es für taktlos, eine Bemerkung darüber fallen zu lassen.«

»Sagen Sie lieber, daß Ihre Gedanken jetzt nicht mehr so heiter sind, alter Freund,« erwiderte Dühms.

»Wenn Ihr früherer Kollege sich auch augenblicklich nicht Ihres Namens entsinnen kann, so kann ihm dieser doch morgen einfallen, und dann sitzen Sie erst recht in der Tinte.«

»Ich bezweifle das letztere. Denn ich kann nur wiederholen, daß ich nie einen anderen Namen als den Namen Jagow getragen habe.«

»Das werden wir ja sehen. Inzwischen sind wir ja angelangt. Steigen Sie aus.«

Nachdem Jagow wieder in seine Untersuchungszelle zurückgeführt worden war, begab sich Dühms sofort zum Untersuchungsrichter und teilte ihm den Erfolg des Ausfluges nach den Strafanstalten mit.

Herr von Salbach empfing ihn sofort mit folgenden Worten:

»Nun, Herr Dühms, während Sie sich mit Jagow amüsierten, haben wir hier was Schönes durchgemacht.«

»Was ist denn geschehen?«

»Müller wollte sich umbringen.«

»Ist es noch rechtzeitig verhindert worden?«

»Zum Glück. Aber zwei Minuten später – und alles war vorbei. Er röchelte bereits.«

»Aufgehängt?«

Salbach nickte zustimmend.

»Na ja, ich sag's ja. Das verfluchte Aufbammeln hat man bei diesen Leuten immer zu gewärtigen. Die Zellenfenster sind zu niedrig, das sage ich ja immer. Jeder Mann von mittlerer Größe kann, wenn er auf einen Stuhl steigt, das Fenster leicht erreichen. Haben denn die Aufseher nicht aufgepaßt?«

»Freilich. Aber wahrscheinlich hat er einen unbewachten Augenblick benutzt; ich bin sofort geholt worden. Der Anstaltsarzt war schon bei Müller, als ich kam. Allmählich brachte man ihn wieder ins Bewußtsein.«

»Haben Sie ihn gleich vernommen? Wie hat er denn diesen Selbstmordversuch motiviert?«

»Er hat auf alle meine Fragen keine Antwort gegeben. Sie kennen ihn ja. Aber ehe er sich aufhing, hat er einen Zettel an seine Frau geschrieben. Weiß der Teufel, wie er zu Bleistift und Papier gekommen ist!« Damit reichte der Untersuchungsrichter Dühms einen kleinen Zettel, der mit den unbeholfenen Schriftzügen Müllers vollgeschrieben war.

Dühms las die wenigen Worte, die also lauteten:

 

»Liebes Weib! Was soll ick denn noch länger leben? Immer einjesperrt und immer einjesperrt, da will ick lieber janz uffhören. Jräm dir nich um mir, liebes Weib, Du wirst ja freigesprochen werden. Mir hätten sie ja doch verurteilt bei meinem Pech. Schon von wegen die Verjangenheit. Mancher kann nie herauskommen, und dem is besser, wenn er nich jeboren is. Lebe glücklich. Ich grüße Dich vor meinem Tode.

Dein getreuer Mann.«


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