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10. Kapitel.

Während sich Konrad und Rosa zwecks der Befreiung Müllers öfters trafen, setzte auch die rote Frieda ihrerseits den Verkehr mit Beppo fort, indem sie sich entweder als Fräulein Derois zu Herrn Weber begab oder ihren treuen kleinen Althoff – wenn nicht gerade etwas sehr wichtiges vorlag – zum Grafen Ostia schickte.

Beppo und Frieda hatten sich nämlich zusammengetan, um die Schwächen der Gesellschaft auszunutzen, d. h.: Beppo infolge seiner Verbindungen kundschaftete in Familien, die sich seinem Namen eröffneten, das Skelett im Hause aus, worauf er unter der Maske eines Herrn Weber, unterstützt von Frieda, die infamsten Erpressungen ausübte.

Dieser Plan war im Hirn der roten Frieda gereift, und es bedurfte ihrer ganzen Schlauheit und Ueberredung, Beppo für diesen Plan zu gewinnen. Da sie selbst das Haus Rosas nicht betreten konnte, bediente sie sich des kleinen Althoff, der sterblich in sie verliebt war, Rosa zu überwachen und über sie Dinge in Erfahrung zu bringen, die sie vor Beppo als Trumpf gegen seine eigene Gattin ausspielen konnte.

Beppo, der sehr bald die wertvollen Eigenschaften seines weiblichen Kompagnons erkannte, scheute sich nicht, auch seinerseits Frieda in ihrer Privatwohnung zu besuchen, meistens in Verkleidung, worin er ja bereits eine gewisse Vollendung erlangt hatte, manchmal aber auch als der, der er wirklich war.

Auch heute saß er wieder bei ihr.

»Das Geld kam gerade noch zur rechten Zeit,« seufzte Beppo, die Beine übereinanderschlagend. »Denn ich verbrauche ein wahnsinniges Geld.«

»Ihre Rosa ruiniert Sie,« bemerkte Frieda, ihm einen langen Blick zuwerfend. »Liebt sie Sie denn auch in dem Maße, daß die Opfer, die Sie ihr bringen, einigermaßen im Verhältnis zu ihrer Liebe stehen?«

»Weshalb fragen Sie mich das?« fragte er sie erbleichend und betrachtete Frieda mit angstvollem Blick.

Sie lächelte. »Du lieber Gott, ich konnte nicht ahnen, daß eine harmlose Frage Sie gleich so aufregen würde … Sollten Sie etwa bei Ihrer Frau ein Nachlassen ihrer Liebe bemerkt haben? Ich frage bloß deshalb, weil Sie mit einem Male ganz aus dem Häuschen zu sein scheinen.«

»Nein, nein – nicht im geringsten,« erwiderte Beppo rasch.

»Um so besser. Ich gratuliere. Denn ich sehe, daß Sie immer noch wahnsinnig in Ihre Frau verliebt sind.«

»Ja, immer noch.« Er blickte düster zu Boden. »Bloß um ihretwillen scheue ich kein Mittel, Geld zu erlangen und reich zu werden, damit ich ihr auch jede Laune, jeden kleinsten Wunsch erfüllen kann.«

Sie erhob sich, steckte sich eine Zigarette an, blies einige Ringe und bemerkte dann trocken:

»Gott, was sind die Männer doch dumm!«

»Was meinen Sie damit?« fragte er wieder besorgt.

»Ach, nur so! Fahren Sie nur weiter so fort. Sie ist ja auch wundervoll schön … das muß ihr ihr Feind lassen … Aber damit sind wir auch fertig. Ich an Ihrer Stelle würde etwas in förmlicher Beziehung weniger Vollendetes vorziehen, dafür etwas, was etwas mehr Intelligenz, Schlauheit in die Wagschale wirft. Aber das sind ja schließlich Geschmacksachen, über die sich nicht streiten läßt. Bekümmern wir uns lieber um Ihre persönliche Sicherheit. Gestern war mein Kleiner wieder mal bei Arnheim.«

»Nun und?«

»Er beschäftigt sich ununterbrochen mit Müller. Er rennt alle Augenblicke zum Untersuchungsrichter, zum Staatsanwalt, hat mit den Geschworenen sich in Verbindung gesetzt, von denen ihn der eine zum andern schickt, ohne ihm irgendwelche Anhaltspunkte geben zu können. Seit gestern aber erscheint Arnheim etwas zufriedener, als er je ausgesehen hatte.«

Beppo entschlüpfte ein leiser Ausruf der Ueberraschung, wobei er jäh die Farbe wechselte.

»Der schöne Arnheim scheint irgendwelche Hoffnung zu haben, Müller aus dem Zuchthause zu befreien. Ob er sich auf der Fährte des wirklich Schuldigen glaubt? Ich weiß es nicht. Er hat sich darüber zu Althoff mit keiner Silbe ausgelassen. Jedenfalls heißt es auf der Hut sein und nichts versäumen, was seine Abreise von Europa beschleunigen könnte. Denn bis jetzt – ehrlich gestanden – ist uns in diesem Punkte noch verflucht wenig geglückt.«

»Man trennt nicht so leicht zwei Menschen, die sich anbeten,« warf Beppo dazwischen, düster vor sich auf den Teppich blickend.

»Ach ja,« seufzte Frieda und warf ihm einen schmachtenden Blick zu. »Ich weiß. Und Sie wissen das nur noch besser.«

»Drohungen oder anonyme Briefe erzielen bei einem Charakter wie dem Arnheims keine Wirkung,« fuhr Beppo fort.

»Ja,« philosophierte Frieda. »Merkwürdig! Einige Frauen werden von Verleumdung nicht getroffen. Die haben wirklich Dusel. – Ja, unter anderm: haben Sie noch immer Ihr Absteigequartier?«

»Welches? Ich habe doch mehrere.«

»Ich meine das in der Kurfürstenstraße.«

»Jawohl. Immer noch.«

»Und Sie sagen, daß eine Verbindung Ihrer Wohnung mit dem Nachbarhause in der Kurfürstenstraße besteht, ohne daß einer dieser Verbindung gewahr werden könnte?«

»Das weiß niemand. Das waren früher Geschäftsräume, weshalb die beiden Häuser unter dem vorigen Besitzer durchbrochen worden waren. Die Verbindungstür ist ja jetzt von einer dünnen Tapete überklebt, und ein Schrank steht davor. Wie in Calderons ›Dame Kobold‹.«

»Schön. Also hängen Sie unten einen Zettel an, daß Sie die Wohnung vermieten wollen. Das haben Sie sich doch im Mietskontrakt vorbehalten?«

»Jawohl. – Doch wozu?«

»Das werden Sie schon sehen.«

* * *

Tiefatmend stand Scholten, genannt der lange Heinrich, vor dem düsteren Gefängnis, dessen Pforten sich hinter ihm geschlossen hatten, ihm die Freiheit wiedergebend.

Er war frei!

In der Tasche klimperten die harten Taler – vierzig an der Zahl – die er sich durch seine Gefängnisarbeit im Laufe der Jahre erworben und verdient hatte. Kein König dünkte sich in dem Augenblick froher und freier als er.

Siegesgewiß, doch etwas trunken von der frischen Luft, von dem klaren, blauen Winterhimmel, der sich hoch oben über ihm wölbte, ging er nach dem Wedding hinunter, mit einer gewissen Provinzial-Neugierde die Auslagen und Schaukästen betrachtend. Zwei Jahre Gefängnis wollen schon etwas heißen. Einige Male lief er Gefahr, von der Elektrischen überfahren zu werden; doch wenn sich der rasch bremsende Wagenführer auch darob ärgerte und fluchte, lachte doch der lange Heinrich stillvergnügt vor sich hin, mit einer gewissen Freude, daß sich auch andere Menschen ärgern konnten als er.

Am verführerischsten erschienen ihm die Eckdestillationen. In seiner Freiheitsfreude hätte er am liebsten alle die darin sitzenden Gäste eingeladen, auf seine Rechnung ein Glas Bier zu trinken. Doch die Vorsicht und Erfahrung rieten ihm, den Leuten lieber nicht zu verraten, daß er so viel Geld bei sich hatte. Jedenfalls hatte er nicht das Geld bloß dazu, damit es ihm einer – seine Trunkenheit ausnützend – wegnahm. Wohl war er noch nicht trunken. Er wollte auch gar nicht trunken werden; denn er hatte heute noch viel vor.

Er ging quer durch vom Wedding bis nach der Frankfurter Allee, bis er nach Lichtenberg kam. Es war augenscheinlich, daß er nicht planlos dahinwandelte, sondern ein bestimmtes Ziel vor Augen hatte.

Als er in der Dorfstraße angekommen war, sah er aufmerksam nach rechts und links, als ob er nach irgendeinem Schild oder einer Hausnummer suchte. Da er diese jedoch nicht fand, ging er in die nächste Landschaftsgärtnerei und erkundigte sich daselbst nach der Gärtnerei eines gewissen Fritz Raupach.

Der Gehilfe sah sich den Frager von oben bis unten an, da ihm dessen Berliner Dialekt mit dem tadellosen Anzug, den Scholten anhatte, etwas in Widerspruch zu stehen schien. Schollen war nämlich damals mit diesem neuen Anzug eingeliefert worden und hatte ihn heute wieder ausgefolgt bekommen.

»Der Raupach hat verkooft,« lautete die Antwort. »Der hat eene neue Krauterei in Zehlendorf anjefangen. Hier hat er nischt machen können. Dort aber soll et ihm janz jut jehn.«

Der lange Heinrich schien über diese Auskunft nicht sehr erbaut. Doch er mußte sich dem Unvermeidlichen fügen. Er fuhr mit der Elektrischen nach dem Potsdamer Platz und von dort mit der Wannseebahn nach Zehlendorf, wo er gegen Mittag ankam.

Bald hatte er auch die Gärtnerei Raupach gefunden. Er sah über das Gitter, das das Gartenterrain von der Straße trennte, und erblickte Fritz, wie er an den flachen Mistbeeten sich zu schaffen machte.

»Pst! Fritze! Raupach! Hörste nich?« rief er dem arbeitenden Gärtner zu.

Fritz Raupach sah sich um und erkannte sofort den Rufer. Unwillig runzelte er die Stirne, warf den Spaten auf die Erde und näherte sich verdrossen dem Zaune.

»Na, du scheinst dir ja jar nicht zu freuen, daß du mir siehst,« fuhr Heinrich weiter fort und grinste breit. »Un ick hab' mir schon so uff dir jefreut. Haste mir denn in die kurze Zeit verjessen?«

»Nein, nein. Ich habe dich nicht vergessen.«

»Na, denn jib mir doch wenigstens die Hand! Oder willste den dicken Willem spielen, weil ick von dort draußen kommen tu?«

»Halt's Maul!« herrschte ihn Fritze an.

»Na, na, hab' nur keene Bange nich. Ick will dir ja nich blamieren. Un ick will ja ooch nich, daß et die Leute von mir erfahren dun. Det is nischt for die Leute am Land. Wir können ooch ville jemietlicher uns eens erzählen, wenn ick rinkommen könnte.«

»So komm schon,« sagte der Gärtner seufzend, indem er sich in sein Schicksal ergab. Er öffnete eine kleine Zauntür und führte seinen Besucher in das an das Grundstück anstoßende kleine Häuschen, dessen eine Hälfte aus einem Treibhaus, die andere aus Stube und Küche bestand.

Nachdem sie die Küche betreten hatten, sah sich Schotten einige Male um und sagte dann. »Fein hast et hier. Sehr schön. Dazu noch die jute Luft … Je mehr ick et mir überlesen tu, desto mehr will ick mir dazu entschließen, ooch Krauter zu werden und uffm Land zu bleiben. Meene Olle is tot, und ick bin alleene. Willste mir helfen, mir wo unterzubringen?«

»Unmöglich. Jeder wird erfahren, woher du kommst.«

»Nee, nee, da kannste man ruhig sind; ick sage dir doch, daß ick for meine Gesundheit in die frische Luft muß. Ick war zu lange injeschlossen. Ick muß eene Arbeet for die Arme und Beene haben. Un Jeld auszujeben brauchste nich for mir. Ick kann et ruhig abwarten; ick hab' mir dort unten« – er zeigte mit der Hand in die Ferne –«hundertzwanzig Em verdient. Kannste sehen, wat ick forn Arbeeter jeworden bin. – Und wat de andere Schohse betrifft, so wird's keener nich erfahren. Und wenn's eener mal zu wissen kriegte, denn sagste, daß de nischt davon jewußt hast. Det jeht allens zu machen.«

Fritz brachte zwei Pullen Bier und zwei Gläser. Der Gedanke, daß sich der lange Heinrich hier niederlassen wollte, schien ihm nicht angenehm zu sein. Indem er mit ihm anstieß, sagte er. »Unser Handwerk würde dir nicht behagen. Das ist zu traurig. Man arbeitet immer allein.«

»Det will ick ja jerade. Ick will mir nich mehr zu wat Unrechtem verleiten lassen. Ick will nich mehr mit die andern zusammenkommen und mir verfiehren lassen. Bei dir brauche ick nischt zu fürchten. Hast ja frieher eenmal dein' Schmuh jemacht; doch jetzt machste sowat nich mehr. Siehste, Fritze, det Injespunntsein – det is zu hart for mir. Die andern, die haben wat jejen mir, weil ick een wenig jeredt hab', um mit zwee Jahr davonzukommen. Und denn hab' ick Manschetten vor't Zuchthaus, wie der arme Müller – –«

»Halt's Maul!« schrie ihn der Gärtner an, erbleichend und das Glas heftig auf den Tisch setzend, daß es klirrte.

»Na ja, is ja schon jut,« brummte der lange Heinrich. »Ick hab' et ja nich beese jemeint. Ick hab' jedacht, daß du det allens schon verjessen hast.«

»Das werde ich nie vergessen,« sprach Fritz düster vor sich hin.

Der entlassene Sträfling warf einen Taler auf den Tisch und rief. »Nee, Fritze, det derfste nich ibel nehmen: det Bier bezahl' ick. Du sollst keen Jeld nich for mir ausjeben. Ick bin dein Fremd – weeßte. Nu habe ick jerade Jeld – nu will ick ooch mein' juten Tag leben. Bring' noch een paar Pullekens, Fritze.« Dabei sang er vor sich hin. Des Trinkens entwöhnt, war ihm das Bier bereits etwas zu Kopf gestiegen.

Als Fritz noch einige Flaschen auf den Tisch stellte, ergriff Scholten seinen Arm und meinte plump tröstend. »Un wejen det mit Müllern – det is ja vorüber. Der hat seine Zeit in Frankfurt abjesessen – dafor kannst du ja nischt. Un wenn er jetzt noch eenmal sitzt, kannste noch eenmal nischt davor: denn det hat er doch janz alleene ausjefressen.«

»Was? Den Mord? Müller? Nee, das glaub' ich nicht,« stöhnte Fritz, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, den Kopf zwischen den Handflächen gepreßt.

»Also, du jloobst et nich? Siehste, siehste, Fritze, ick jloob' et ooch nich.«

»Warum glaubst du es nicht?« fragte Fritz hochblickend.

»Weil sein Aushelfer een janz verfluchter, jerissener Hund is, der ihn woll hat rinlejen wollen.«

»Jagow? Du hast ihn gekannt? Na ja, er wird ja mit dir eingesperrt gewesen sein.«

»Nee, wir beede waren jeder wo anders unterjebracht. Aber er hat uns mit'm Kriminalkommissar 'n Besuch jemacht, bevor sie ihn verurteilt haben, noch als Untersuchungsjefangener.«

»Wozu war denn der Besuch?« fragte Fritz erstaunt.

»Sie haben rausbekommen wollen, wer er is. Die von's Jericht haben jejloobt, daß er een' annern Namen hat.« –

»Und hat er einen?«

Der lange Heinrich nickte mit lachend zwinkernden Augen.

»Und du weißt ihn?«

Scholten nickte wieder.

»Und hast du ihn genannt?«

»Nee. Er is ja doch unterm Namen Jagow abjeurteilt worden.«

»Warum hast du geschwiegen?«

Ein unwillkürlicher Schauder durchrieselte Scholten. »Weil er mir erwürgt hätte, wenn ick een' Ton jesagt hätte. Ick hatt' zu ville Angst.«

»Aber dann, als er zum Tode verurteilt war?«

»Na, ick hab' mir so bei mir jedacht: een Kerl wie der – den bejnadijen sie vielleicht doch noch. Det Aas is ja zu schlau. Und ick hab' recht behalten: bejnadigt haben se ihn.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Hast du denn, als Jagow weg war, mit den anderen über ihn gesprochen?«

»Na, so dumm! Wozu denn? Kann man wissen, wat noch mal passiert? Wenn ick mal int Zuchthaus kommen sollte, will ick den Jagow lieber zum Freund als zum Feind haben. – Man muß nur überlejen könn' in de Welt. Umsonst kommt man nich so ville herum als wie ick.«

Scholten hatte inzwischen dem Bier immer mehr zugesprochen, ohne die Wirkung selbst gewahr zu werden. Fritz schienen diese Enthüllungen jedenfalls außerordentlich zu interessieren; denn er füllte ununterbrochen des langen Heinrichs Glas, ohne selbst von dem seinigen zu trinken. Es war, als ob er absichtlich Scholten betrunken machen wollte.

»Also hast du Jagow früher ziemlich genau gekannt?«

»Na un ob – det will ick meenen,« versicherte der lange Heinrich, der bereits zu lallen anfing. »Wir haben sozusagen im – im Jeschäft anjefangen. Un damals schon war er so'n – so'n Jauner. Keener hat'n so juten Zug ausbaldowert als er! Un 'n Kopp hat er – 'n Dickkopp … dajejen kommt keener nich an. Nischt zu machen. Ick hab's eenmal versucht. Ick hab' jegloobt, 't war alle mit mir. Det hat mir vorsichtig jemacht.«

Er tat einige starke Züge aus der Flasche, schnalzte mit der Zunge und erzählte weiter. »Un schlau war er – schlau! Nie is man mit ihm abjefaßt worden! Wenn ick ihn nich verlassen hätte, wär et mit mir ganz anders jekommen. Anstatt ihm zu foljen, so um die Jesetzparagraphen rumzujehn, bin ick meine eijenen Weje jejangen un – rinjeflogen. Aber feste. Erst eene Strafe, denn wieder eene – na un so weiter.«

Er machte eine Pause. Der Kopf fiel ihm schon etwas auf die Brust, und blöde starrte er vor sich hin: »Aber nu hat's jeschnappt. Ick will 'n anständijer Mensch wer'n. Nu mach' ick sowat nich mehr mit.«

»Und warum hast du dich von ihm getrennt?« fragte Fritz forschend weiter, der einen Plan zu verfolgen schien.

»Weil er uff'n Jedanken jekommen is, in fremde Jejenden zu reisen, wohin ick ihm nich hab' folgen können. Un denn – Jott doch, ick war noch 'n forscher, junger Kerl damals – hab' ick mir in Berlin zu jut amesiert.«

»Und seit seiner Abreise hast du ihn nie wieder gesehen gehabt?«

»Nee, nie mehr,« gestand Scholten gerührt und weinerlich. »Er is nich mehr nach Berlin jekommen. Oder wenn er hier war, bin ick injespunnt gewesen – uff Staatsunkosten.«

»Aber du hast ihn trotzdem gleich wiedererkannt, als du ihn jetzt im Gefängnis wiedergesehen hast?«

»Lange hat et nich jedauert. – – Ick hab' mir jleich jesagt: det is doch dein Kolleje von frieher … Aber Sein Name is mir doch nich injefallen … Ick hab' nachjesonnen, weeß Jott wie lang … Nischt ze machen! Er hat in sein Jesicht wat jehabt, wat mir jestört hat, immer denn, als mir jerade der Name infallen wollt'. Weeßte, wat schuld war? Sein niederträchtijer Bart. Der Kommissar – ooch so'n janz feiner – hat det doch jleich rausjehatt' und hatt'n barbieren lassen. – – Und da …«

»Und da?« forschte Fritz, der kein Wort verlor.

»Da plötzlich is er mir denn injefallen. Aber reden hab' ick nich können, keenen Ton nich. Det hättste ooch nich können, wenn er dir so angekiekt hätte wie mir. Den Blick wer' ich nich so leicht verjessen. Ick seh'n immer noch vor mir … so … so.« Ihn schauderte. Er spie auf die Dielen. Um sich zu erholen, trank er wieder einen Schluck, der ihm von neuem Fassung verlieh.

»Na, denn hab' ick den Dummen jemacht, als wenn ick mir nich erinnern könnte. Ooch hab' ick et nich bereut«

Da der Gärtner schwieg, fragte Scholten mit weinerlicher Stimme und schräg geneigtem Kopfe. »Un meenste nich, Fritze, daß dein oller Freind Heinrich recht jehatt hat?«

»Freilich, freilich. Es war sehr schlau von dir, der Polizei und den anderen Sträflingen gegenüber seinen Namen zu verheimlichen. Nur hättest du aus deinem Schweigen Vorteil für dich ziehen können.«

Scholten sah ihn, nur noch halb verstehend, mit verschwommenen Augen an. »Du meenst, ick hätt' dem Jagow zeigen sollen, daß ick sein' wahren Namen weeß?«

»Natürlich.«

»Ja, ja! Det hab' ick mir ooch schon jedacht. Aber denn hab' ick überlegt, daß vielleicht ooch mal 'n anderer sein' richtijen Namen rausfinden un 'n ausquatschen könnte. Denn jibt er mir die Schuld dafor. So hab' ick jemeent, et is schlauer, ick mach' ooch for Jagow'n den Dummen.«

Fritze wandte sich um und stellte zwei neue Bierflaschen auf den Tisch, seinem Gegenüber einschenkend, um ihn dann zu fragen. »Wirst du auch mir gegenüber den Unwissenden spielen?«

»Dir?« Aber Fritze! Een' so alten Freind hab' ick nischt zu verschweigen. Ick jehör' dir doch im Leben un im Dod,« rief er, die Arme ausbreitend. Er trank abermals ein Glas Bier herunter: doch anstatt den Namen zu nennen, schien er sich doch noch etwas zu überlegen. Er sah den Gärtner von der Seite an:

»Doch wat willste denn mit sein' Namen? Er hat 'n Namen wie 'n anderer. Da hast du doch nischt von.«

»Das kann man nicht wissen … Du hast selbst gesagt, Müller könnte ein Interesse daran haben, ihn zu erfahren.«

»Det is wahr. Aber Müller is doch jetzt beim Deibel. Wozu also …?«

»Vielleicht um wiederzukommen.«

»Wiederkommen? Det is jut! Det is jut!« Er schlug sich mit der Handfläche auf die Schenkel. »Wer soll 'n denn wiederkommen lassen?«

»Leute, die sich für ihn interessieren. Einflußreiche Personen.«

»Kennt er denn solche Leute?«

»Aber ich kenne vielleicht solche.«

»Det kann schon sind,« meinte Scholten, seinen Freund mit einem gewissen Respekt anblickend. »Du arbeetst ooch hier nur bei die feinen Leite, bei Herrschaften. Hier wohnt lauter vornehmet Volk! Fritze! Mein lieber, oller Fritze! Ick verlass' dir nich mehr. Du mußt mir hier Arbeet verschaffen. Ick bin so doll hinterher – hinter die Natur –« versicherte er elegisch.

Augenblicklich war er jedoch nur hinter dem Bier her, von dem er abermals ein Glas hinunterstürzte.

»Und trotz alledem sagst du mir seinen Namen nicht?«

Scholten nickte beruhigend. »Ick wer'n dir schon sagen. – Aber du versprichst mir, daß de wat for mir dun willst! Du wirst mir in 'n jutet, feinet Haus unterbringen! Kannst janz ruhig sind. Ick wer' mir nischt zuschulden kommen lassen. Ick will ooch nich mehr die Abwesenheit der Herrschaft ausnutzen, wie wir beede et damals in Wannsee getan haben. Du darfst mir die Bitte nich abschlagen, Fritze. Ick war doch immer jut zu dir; keen Mensch hat wat davon erfahren, daß der Müller allens hat for uns ausfressen müssen.«

Fritz Raupach wollte ihm zu schweigen befehlen, als der lange Heinrich bereits fortfuhr. »Wenn ick damals hätt' reden wollen, als ick wejen wat anders jesessen habe, hätten sie mir ooch nich mehr jejeben. Im Jejenteil. Det hätten se mir anjerechnet. Aber ick bin een anständijer Mensch, ick bin dein Freund und hab' nich reden wollen. »Der arme Fritze,« hab' ick mir jedacht, »lebt jetzt ruhig und stille; ick will 'n nich stören.« So wat tut der lange Heinrich nich. Der weeß, wat Freindschaft heeßt.«

Fritze erhob sich, ging um den Tisch herum, legte ihm die Hände auf die Schultern und sagte. »Sag' lieber, du hast mich nicht verraten, um bei mir immer einen Zufluchtsort, ein schützendes Dach zu haben … Jedesmal, wenn du aus dem Gefängnis kommst, suchst du mich auf und bittest mich um Hilfe. Und damit ich dir ja helfe und dir deine Bitte ja nicht abschlage, erinnerst du mich jedesmal dann wieder an die gräßliche Vergangenheit.«

»Aber Fritze! Oller Freund! Wie kannste denn sowat von mir jlooben?« stotterte Scholten. »Ick hab' ja vielleicht een wenig zu ville jedrunken …«

»Du hast sogar sehr viel getrunken,« unterbrach ihn der Gärtner. »Aber deine Trunkenheit läßt dich trotzdem dein Interesse nicht aus den Augen lassen. Du sagst ganz genau das, was du sagen willst. Schließlich schadet ja das auch weiter nichts. Ich werde versuchen, dich noch einmal unterzubringen, ohne dich jedoch aus den Augen zu lassen.«

»Det is janz ieberflüssig,« lallte Scholten schwerfällig. »Ick bin jetzt een an … an … anständiger Mensch jeworden.«

Fritz trat an das Spind, holte sich daraus seinen Sonntagsanzug hervor und begann sich langsam umzukleiden, seine braune Manchesterhose und graue Gartenjoppe ablegend. Um dies zu motivieren, sagte er:

»Ich kleide mich nur um, um nach der Kolonie hineinzugehen und mich für dich nach etwas umzusehen.«

»Det … det is nett von dir … Und der … derweilen will ick … ick etwas schlafen … 'n bisken p... p... pennen.«

»Wie du willst, doch zuvor sage mir noch den richtigen Namen des Jagow.«

»Nu kiek eener mal an. Hab' ick dir 'n noch nich jenannt?«

»Nein.«

»Det is doch k... komisch. Det 's wirklich k... komisch. Nee, ick will dir 'n nennen, wennste wieder zurück bist. Jetzt … jetzt erinnere ick mir 'n jar nich mehr. Ick bin so miede.«

Fritz ging auf Scholten los und schüttelte und rüttelte ihn am Arm. »Du wirst nicht eher einschlafen, ehe du mir ihn genannt hast,« rief er in befehlendem Tone. »Wie ist sein Name? Ich will ihn wissen.«

»Und … und … du wirst ihm … nie sagen, daß ick 'n dir jenannt habe?«

»Nein doch, nein!«

»Also er heeßt … C... C... Calmus.«

»Das ist alles?«

Scholten nickte grunzend. »Allens. Nu aber laß mir pennen.«

»Schlafe meinetwegen bis morgen mittag. Ich schließe dich ein. Wenn jemand klopfen sollte, mach nicht auf.«

»Nee … ick … ick mach' nich … uff,« lallte Heinrich, der sich quer über den Tisch legte, nicht mehr wissend, was er tat.

Fritz Raupach schloß die Tür hinter sich ab, durchschritt seinen Garten und ging – anstatt sich nach der Villenkolonie zu wenden – in der Richtung nach dem Bahnhof, um den nächsten Zug zu benutzen und nach Berlin zu fahren.

Dicht am Bahnhof trat er in einen Friseurladen, ließ sich rasieren, den Schnurrbart brennen und frisieren, um dann in die Stadt hineinzugehen, bis er in einer bestimmten Straße, nach welcher er niemand gefragt hatte, vor einem Hause stehen blieb. Es war dies das Haus, in dem die rote Frieda wohnte.


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