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5. Kapitel.

Vierzehn Tage waren nach dem Morde in Wilmersdorf verstrichen, ohne daß man in der Untersuchung um ein Haar weiter gekommen wäre.

Weder Herr von Salbach noch Dühms hatten irgendein neues Moment entdecken können, und auch der Verdacht gegen Rosa von Gordon, der absolut nichts Verdächtiges nachgewiesen werden konnte, mußte nach und nach fallen gelassen werden, denn es war der roten Frieda nicht möglich gewesen, Dühms irgend etwas Verdächtiges zu melden.

Allerdings hatte sie von dem nächtlichen Ausgang Rosas Meldung gemacht, nach welchem die Beobachtung noch schärfer gehandhabt wurde. Aber bei diesem einen Verschwinden schien sie es bewenden zu lassen. Rosa lebte regelmäßig wie eine Uhr und führte ein so ruhiges Leben, das Frieda bisher nicht für möglich gehalten hätte.

Bald jedoch sollte sie den Schlüssel zu diesem Geheimnis haben, dank einem Briefe, den Rosa in ihrem Toilettenzimmer zufällig hatte liegen lassen.

Frieda äußerte sich in ihrem Bericht darüber folgendermaßen:

Eine Person, die sich Beppo unterschrieb, erinnerte Rosa von Gordon an ihre Verbindungen und an ihr Liebesglück in Venedig, sprach von der Absicht, sie zu heiraten, von der Weigerung seiner Familie, dazu die Einwilligung zu geben. Nun aber befände er sich endlich durch den Tod seines Vaters, des Grafen von Ostia, in der Lage, über sein Vermögen frei verfügen zu können. Sobald die Erbschaftsangelegenheiten geordnet wären, würde er nach Berlin eilen, um sie vor den Altar zu führen. Er hoffe, daß ihr in der letzten Zeit nichts abgegangen wäre, und daß sie ihm nicht zürne, daß er, da er sich noch immer als ihren Bräutigam betrachtete, es gewagt habe, sie zu unterstützen. Denn was ihm gehöre, gehöre doch auch ihr, seiner zukünftigen Frau.

Dieser acht Seiten lange Brief war für Frieda der Schlüssel für die geheimnisvolle Existenz ihrer Herrin.

Sowohl Salbach als auch Dühms mußten diesen Folgerungen recht geben, denn sie waren ganz logisch. Was den gefundenen Brief anbelangte, so erklärte er den Punkt, welcher den Behörden im Leben Rosas dunkel gewesen war; man kannte jetzt die Quellen, aus denen Rosa schöpfte, um ihr luxuriöses Leben zu bestreiten. Die Behörden zogen in Rom Erkundigungen über diesen Grafen von Ostia ein und erfuhren, daß tatsächlich ein Graf Ostia auf einer seiner Besitzungen in Sizilien gestorben sei.

Anstatt daß die Untersuchung Belastungen gegen Rosa sammelte, hatte sie Entlastungsmaterial geliefert, so daß man sich bald genötigt sah, die Bewachung der Dame einzustellen.

Als die Kammerjungfer Rosas, deren Platz, als sie damals zu ihrer erkrankten Mutter gereist war, die rote Frieda eingenommen hatte, wieder zurückgekehrt war, verließ Frieda ihre Stellung, um auf freiem Fuße zu bleiben, immerhin aber observiert von der Kriminal- und Sittenpolizei.

Dühms jedoch unterließ es nicht, seine Beamten in allen verdächtigen Kneipen und Verbrecherwinkeln nachforschen zu lassen und namentlich Wilmersdorf einer unausgesetzten Beobachtung zu unterziehen.

So gelang es ihm auch, herauszubekommen, daß die Aufwartefrau des Hauptmanns Meinert, die Frau Müller, über die man bisher nur Gutes erfahren hatte, in gewisser Hinsicht manches zu wünschen übrig ließ: sie stand seit längerer Zeit in Verbindung mit einem Manne von etwa 50 Jahren, der ab und zu auf ganz kurze Zeit in Wilmersdorf auftauchte und sich dann mit ihr in ihrer Wohnung in der Ludwigskirchstraße einschloß. Niemand kannte das Subjekt und niemand wußte, woher es kam und wohin es ging.

Ein Tapeziergehilfe, der in der Uhlandstraße beschäftigt war, gab an, daß er am Vortage des Verbrechens jene Frau Müller gegen acht Uhr abends aus dem Garten des Hauptmanns hatte treten sehen und dann bemerkt habe, wie sie hinter den Baustellen längere Zeit mit einem Menschen gegangen sei, dessen Signalement genau mit jenem übereinstimmte, welches von dem einen der beiden Männer gemacht wurde.

Derselbe Gehilfe erklärte, daß er am 25. morgens gegen sieben Uhr in der Frühe, ehe das Verbrechen entdeckt worden war, bemerkt habe, daß der Schlüssel in der Haustür steckte.

Der Beamte, welcher speziell mit der Bewachung der Aufwartefrau betraut war, behauptete, daß sie seit einiger Zeit unruhig und besorgt schiene, als ob sie jemand erwartete. Anstalt des Abends direkt nach Hause zu gehen, blieb sie fast täglich unter verschiedenen Vorwänden vor dem Hause, nach allen Richtungen hin ausspähend; oft sogar sah man sie gegen den Kurfürstendamm gehen, als ob sie jemand entgegengehen wollte: bald jedoch kehrte sie wieder zurück mit niedergeschlagenem Ausdruck, weil sie vermutlich die erwartete Person nicht getroffen hatte.

Dies war die Situation, als am 10. April gegen fünf Uhr nachmittags Dühms gemeldet wurde, daß eben ein unbekanntes Individuum Frau Müller besucht habe und sich mit ihr eingeschlossen hätte.

Sofort nach dieser Meldung begab sich Dühms nach Wilmersdorf, nach dem dortigen Polizeikommissariat.

Seine erste Frage galt der Beschreibung jenes Individuums, das sich mit Frau Müller eingeschlossen hatte. Das Signalement stimmte ganz genau mit jenem, das wir schon kennen: 50 Jahre alt, grauer Bart, lange Haare, ausdrucksvolle Augen, mittlere Gestalt, etwas herabhängenden Schultern, Arbeitskittel, weicher Hut.

Das stimmte alles; so sah auch erstens der Mann aus, den der Tapeziergehilfe auch damals, am Vorabend des Verbrechens in Gemeinschaft mit Frau Müller bemerkt hatte, zweitens: jenes Individuum, welches von anderen Zeugen einige Stunden vor der Mordtat mit derselben Frau Müller an der Ecke der Ludwigskirchstraße gesehen wurde; drittens: jener Mensch, der an der Ecke der Güntzel- und Uhlandstraße bei dem Neubau etwa um ein Uhr morgens bemerkt wurde, wie er etwas erregt auf- und abging; viertens: jene Person, welche eine Stunde später eine zweite Person hinter dem Neubau aufgesucht und mit derselben sich in der Richtung nach dem Kurfürstendamm entfernt hatte.

Dühms konnte sich eines befriedigten Lächelns nicht enthalten. Er hatte sich also nicht getäuscht, als er behauptete, daß es von vornherein zwei Schuldige gewesen waren.

Eben wurde ihm gemeldet, daß dieses Individuum wieder mit Frau Müller in einer Kneipe der Ludwigskirchstraße saß. Erhebungen hatten ergeben, daß das ihr Mann war, der wegen eines früheren Verbrechens aus Berlin ausgewiesen und sich in Brandenburg aufgehalten hatte.

Dühms beorderte sofort zwei Schutzleute, mit so wenig wie möglich Aufsehen die Verhaftung vorzunehmen und sich in der Ludwigskirchstraße mit jenem Kollegen zu vereinen, dem die Beobachtung der Frau Müller oblag.

Die beiden Kriminalbeamten nahmen eine Droschke und ließen sich nach jener Destillation fahren, in der sie zunächst mit dem Wirt einige heimliche Worte wechselten. Sie sahen sofort, daß Müller immer noch mit seiner Frau in einer Ecke saß und ganz ruhig sein Abendbrot verzehrte. Sie setzten sich an einen nahen Tisch und beobachteten die beiden, welche allerdings einen sehr harmlosen Eindruck machten.

Nachdem sich Mann und Frau erhoben und das Lokal verlassen hatten, trat ziemlich unauffällig der eine der beiden Schutzleute an Müller heran und flüsterte ihm leise zu, ohne eine seiner Bewegungen aus dem Auge zu lassen:

»Ich bin Kriminalbeamter. Sie sind Müller, dem das Betreten Berlins verboten ist. Ich habe Sie zu verhaften. Folgen Sie mir.«

Müller trat unwillkürlich einen Schritt zurück, worauf der Schuhmann ebenso gedämpft fortfuhr:

»Machen Sie keinen Lärm. Und leisten Sie keinen Widerstand; wir sind die Stärkeren. Steigen Sie mit mir in die Droschke, die vor dem Lokal sieht; das weitere wird sich finden.«

»Denn man los,« sagte Müller dumpfen Tones. Er wandte sich nach seiner Frau um, die zwar die Worte des Schutzmanns nicht verstanden, jedoch den Vorgang geahnt hatte, und sagte schlicht, ihr die Hand reichend: »Adje, Frau. Jetzt siehste woll, daß ick unrecht jehatt' habe, hierher zu kommen. Ick hätte lieber dort bleiben sollen.«

Ohne sich irgendwie zu widersetzen, folgte er den Schutzleuten, die ihm dann in der Droschke, der Vorsicht halber, Handschellen anlegten, indes Frau Müller auf Dühms' Befehl auf freiem Fuß belassen, jedoch immer weiter beobachtet wurde.

Am nächsten Tag gegen zwei Uhr wurde Müller dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Nachdem dieser in verschiedenen Akten nachgeschlagen hatte, hob er den Kopf und betrachtete sich genau den mutmaßlichen Mörder.

»Sie heißen doch Josef Müller, geboren in Berlin im Jahre 1862?«

»Jawohl, Herr Richter,« erwiderte der Gefragte.

»In Ihrer Jugend haben Sie sich in verschiedenen Berufen versucht,« fuhr der Richter fort, »bis Sie schließlich Gärtner wurden. In der ersten Zeit konnte man Ihnen nichts weiter vorwerfen. Aber vor einigen Jahren haben Sie dann bei einem Villenbesitzer in Schlachtensee, von dem Ihnen die Hausschlüssel anvertraut worden waren, einige tausend Mark gestohlen. Sie sind dafür zu zwei Jahren verurteilt worden und haben Ihre Strafe in Brandenburg abgesessen. Stimmt das?«

»Jawohl, Herr Rat!«

»Nachdem Sie Ihre Strafe abgebüßt hatten, hat man Ihnen Brandenburg als bleibenden Aufenthalt angewiesen?«

»Jawohl, Herr Rat!«

»Und doch haben Sie öfters Brandenburg verlassen und sind nach Berlin gekommen?«

»Zwee- bis dreimal, Herr Richter, um meene Frau zu sehen und een paar Stunden bei ihr zu bleiben. Ick bin aber jleich wieder zurückjekehrt.«

»Ich werde Ihrem Gedächtnis etwas zu Hilfe kommen,« sagte der Untersuchungsrichter. »Das vorletzte Mal waren Sie am 22. März in Wilmersdorf.«

»Det stimmt, Herr Richter.«

»Also binnen drei Wochen waren sie wenigstens zweimal in Berlin?«

»Ick wäre jestern ooch nich herjekommen, Herr Richter, wenn nich das Verbrechen in Wilmersdorf geschehen wäre,« erwiderte Müller äußerst ruhig und gefaßt.

Herr von Salbach blickte ihn verwundert an.

Der Mensch mußte kolossal gerissen sein, wenn er es wagte, als der Erste von dem Verbrechen zu sprechen. Salbach sagte sich, daß er mit diesem Menschen äußerst vorsichtig zu Werke gehen müßte.

»Inwiefern konnte das Verbrechen in der Güntzelstraße Ihr Kommen nach Berlin beeinflußt haben?«

»Det is doch sehr einfach, Herr Richter. Meine Frau hat mir von det allens jeschrieben und mir jesagt, daß sie darüber janz krank jeworden is. Und weil ick ihr wirklich sehr lieb habe und weil det arme Weib so jut zu mir is, hatte ick mir vorjenommen, ihr zu besuchen, um zu sehen, ob ihr schon besser ist, um ihr etwas uffzufrischen.«

Unwillkürlich hatte die Stimme Müllers einen weicheren Klang angenommen, sobald er von seiner Frau sprach, und Salbach, der doch Müller stark im Verdacht hatte, konnte nicht umhin, sich zu sagen, daß diese Bewegung äußerst natürlich schien; da jedoch die Untersuchungsrichter sehr oft mit großen Komödianten zu tun haben, verschwand auch dieser günstige Eindruck sehr bald wieder.

»Können Sie mir vielleicht den Brief zeigen, den Ihnen Ihre Frau geschrieben hat, um Sie zu bestimmen, sie zu besuchen?«

Man hat mir jestern den Brief wegjenommen, Herr Richter, als man mir visitiert hat.«

»Das stimmt, da ist er,« erwiderte Salbach, die ihm eben von einem Amtsdiener überreichten Akten durchblätternd. »Lesen Sie ihn mir mal selbst vor.«

Müller las den Brief und man sah ihm an, welche Mühe er sich gab, seiner Stimme Festigkeit zu verleihen:´

 

»Lieber Mann!

Ein großes Unglück ist in der Güntzelstraße geschehen, wo ich Aufwarten tu. Mein Hauptmann ist in letzter Nacht umgebracht worden. Ich bin noch ganz krank vor Uffrejung. Das arme Fräulein, von die ich Dir schonst oft gesprochen habe, ist auch ganz krank! Die Mörder haben ihr das ganze Erbschaftsgeld genommen, so daß sie gar nichts hat. Der Richter hat mir gefragt. Aber ich weiß von nichts. Ich möchte Dir sehen und Dir sprechen. Da ist auch noch eine Schlüsselgeschichte, die ich mir nicht erklären kann und über der ich dich reden möchte. Ich habe immer Angst vor dem Gericht wegen Dir. Wenn Du kommen kannst ohne Gefahr, wäre ich sehr glücklich.

Deine geliebte Frau

Anna.«

  

Herr von Salbach ging einige Augenblicke im Zimmer auf und ab. Dieser Brief, den er bereits kannte, konnte leicht eigens deshalb geschrieben worden sein, um die Gerichte hinters Licht zu führen. Es war auf alle Fälle sehr geschickt, von jenem Schlüssel zu sprechen, über welchen er vor einigen Wochen die Aufwartefrau befragt hatte, ein Punkt, der auch heute noch nicht aufgeklärt war. In anderer Hinsicht jedoch war der Brief äußerst einfach gehalten, und es war gar nichts Wunderbares, daß eine Frau, deren Mann zwei Jahre im Zuchthaus gesessen, in diesem besorgten Ton an ihn schrieb.

Nach einigen Minuten stellte der Untersuchungsrichter sein Auf- und Abgehen ein, trat auf den Inkulpaten zu und sagte:

»Wenn Sie so leicht nach Berlin immer herüberkamen, weshalb haben Sie vierzehn Tage lang gewartet, die Bitte Ihrer Frau zu erfüllen?«

»Mein Jott,« sagte Müller, »ick hatte ja keen Jeld herzureisen … un denn hatte ick ooch Angst!«

»Angst? Wovor?«

»Weil doch ein Verbrechen in Wilmersdorf begangen worden ist, war es doch klar, daß man die Ueberwachung verschärft. Und da konnte ick doch viel leichter erkannt werden, daß ick mir unberechtigt in Berlin aufhalten tu. Deshalb habe ick auch so lange wie möglich gezögert, zu kommen.«

»Sie sind aber doch hergekommen. Jedenfalls war das erste, worüber Sie sich mit Ihrer Frau unterhalten haben, die Geschichte in der Güntzelstraße?«

»Jawohl, Herr Rat!«

»Und was hat sie Ihnen in betreff des Schlüssels mitgeteilt, den sie in ihrem Brief erwähnt?«

Müller hob den Kopf, sah dem Richter ehrlich in die Augen und fragte:

»Nicht wahr, Herr Rat, ick muß Ihnen doch die janze Wahrheit sagen?«

»Natürlich, Sie sind doch deshalb hier,« erwiderte Herr von Salbach, der mit dem Rücken gegen das Fenster saß und den Angeklagten, auf den das volle Licht fiel, nicht aus den Augen ließ.

»Ja, sehen Sie, Herr Rat, det is et ja, was mir so am Herzen liegt, und was meine Frau janz krank macht. Ick hab' ihr ja ooch jleich ordentlich den Kopp jewaschen, daß sie nich von selbst früher jeredt hat. Aber denn ist es wieder auch nicht ihre Schuld – sehen Sie, Herr Richter, – sondern die meinichte. Durch det, wat mir passiert is, is sie so verschüchtert … An dem Abend vor dem Verbrechen, gegen zehn Uhr, als sie det Haus von dem Herrn Hauptmann verlassen hat, erinnert sie sich noch janz jenau, daß sie die Jartentüre abgesperrt und den Schlüssel abjezogen hat.«

»Da tut sie auch sehr gut daran,« erwiderte Herr von Salbach, »denn eine Freundin des Hauses, ein Fräulein Romanowski, hat bemerkt, wie Ihre Frau die Tür abgeschlossen und den Schlüssel auch wirklich abgezogen hat.«

»Na, denn sehen Se et ja, Herr Rat … aber der Schlüssel, den sie in die Tasche von ihre Schürze jestochen hat, war am nächsten Morjen nich' mehr in die Schürze.«

»Wirklich? Schau, schau. Und wie erklärt sie sich das Verschwinden des Schlüssels?«

»Sie kann sich det eben jar nich erklären, Herr Rat; sie versteht det jar nich.«

»Und wann hat sie das Verschwinden des Schlüssels bemerkt?«

»Erst am nächsten Morjen, als sie sich ihre Schürze wieder umjebunden hat.«

»Trotzdem hat sie sich den nächsten Morgen aber wieder nach der Güntzelstraße begeben und das Haus wieder aufgeschlossen.«

»Jawohl, Herr Rat, weil sie den Schlüssel wieder int Schloß jefunden hat, als sie in der Frühe an der Gartentüre anjekommen is.«

»Ach …, sie hat mich aber recht lange fragen lassen, ohne mir darüber auch nur einen Ton zu sagen – ohne daß es ihr eingefallen wäre, mir über einen so wesentlichen Punkt auch nur die geringste Aufklärung zu geben.«

»Det müssen ihr der Herr Untersuchungsrichter nich krumm nehmen,« erwiderte Müller. »Dazu is sie zu dämlich, inzusehen, was det for 'ne Wichtigkeit haben tut. Sie hat sich damals nich jetraut, wat darüber zu sagen, weil sie sich nich jleich so jenau daran hat erinnern können, ob sie nich doch vielleicht den Schlüssel hatte stecken lassen.«

Der Untersuchungsrichter sah Müller noch schärfer an als vorher, worauf er sagte:

»Glauben Sie nicht vielmehr, daß sie sich, oder, sagen wir lieber, daß Sie sich für Ihre Frau entschlossen haben, diese Erklärung abzugeben, weil ein Zeuge erklärt hat, daß er die Schlüssel gegen sieben Uhr in der Frühe bereits hat im Schloß stecken sehen, also noch vor dem Kommen Ihrer Frau? Wenn Sie nichts sagen würden oder Ihre Frau nichts sagt, dann wäre einfach ein anderer gekommen, welcher das angeben könnte, und vielleicht kommt daher das verspätete Geständnis.«

»Aber, Herr Rat,« fragte Müller, der vollkommen seine Haltung bewahrt hatte, »wat for een Interesse sollten wir denn daran haben …«

»Nun, das Interesse, nicht in Verdacht zu kommen,« erwiderte der Untersuchungsrichter, ihn unterbrechend.

»In wat for eenen Verdacht?«

»In den Verdacht, daß Ihre Frau Ihnen den Schlüssel gegeben hat, oder daß Sie sich ihn haben geben lassen, oder daß Sie ihn ihr entwendet haben.«

»Ihn jenommen haben? Also hat man mir im Verdacht? Aber wenn mir eener den Schlüssel jejeben hätte oder ick ihn jenommen hätte, wer hätte mir denn verhindern können, ihn wieder zurückzubringen?«

Diese Reflexion war instinktiv; sie entstand folgerichtig aus dem Verdacht, der eben ausgesprochen worden war.

Er wurde jedoch vom Richter falsch verstanden, der darin eine im voraus vorbereitete Phrase zu erkennen glaubte, eine Art von präparierter Verteidigung.

Deshalb fuhr er auch strengen Tones fort:

»Wenn Sie den Schlüssel zurückgebracht hätten, hätten Sie Gefahr laufen können, entdeckt zu werden. Es war also viel einfacher, den Schlüssel im Schloß stecken zu lassen, wo ihn Ihre Frau doch am nächsten Morgen finden würde, und so rasch wie möglich nach Brandenburg zurückzukehren, um ein Alibi nachweisen zu können.

Müller war noch bleicher geworden und stammelte in höchster Verwirrung: »Ein Alibi …? So hat man denn mir in Verdacht?«

Anstatt ihm zu antworten, sagte ihm Herr von Salbach auf den Kopf zu: »Sie gestehen es ja selber ein, daß Sie am 22. März nach Berlin gekommen waren. Es wäre überflüssig zu leugnen, denn man hat Sie am Abend gesehen, wie Sie mit Ihrer Frau in der Nähe der Ludwigskirchstraße auf und ab gingen. Nachdem Sie sie verlassen hatten, was haben Sie da getan?«

»Ick bin noch in derselben Nacht abgereist.«

»Mit der Eisenbahn vermutlich?«

»Jawohl, Herr Rat.«

»Und wann sind Sie wieder in Brandenburg eingetroffen?«

»Es wird wohl gegen Einzen jewesen sind.«

»Also muß man Sie an den nächsten und an den folgenden Tagen auf dem Bau gesehen haben, auf dem Sie gewöhnlich arbeiten?«

»Nein,« erwiderte der Angeklagte bebend, »ick bin die Zeit über nich ausjejangen.«

»Ah, und warum?«

»Ick war krank. Ick hatte det Fieber … Seitdem ick injespunnt war, hab' ick die Krankheit weg … Man wird es dem Herrn Richter ooch sagen können, daß det stimmt … Wenn mir die Krankheit packt, denn kann ick mir überhaupt nich rühren und habe Schmerzen im janzen Körper. Denn wußte ick ooch, daß zu der Zeit mit der Arbeit ausjesetzt worden is; so wäre ick doch umsonsten nach'm Bau jejangen.«

»Umsonst?« fragte Herr von Salbach. »Gestehen Sie lieber, daß es Ihnen im Gegenteil äußerst wichtig gewesen wäre, wenn Sie hätten beweisen können, daß man Sie am 22. abends und am nächsten Morgen in aller Frühe in Brandenburg gesehen hätte.«

»Det is ja mein Pech. Und um mir zu erholen, bin ick im Bett jeblieben,« erwiderte mit tiefer Traurigkeit, beinahe mit stumpfer Resignation der Unglückliche.

»Und sind Sie nicht vom Arzt besucht worden?«

»Ick habe keenen eijenen Arzt. Dazu is unsereener zu arm. Und der von die Krankenkasse kommt ja nich ins Haus zu unsereenen. Und wat die mir injejeben haben, det is allens Quatsch, det nützt keenen von uns nich. Die Natur muß sich von alleene helfen.«

»Und kein Kamerad oder Freund ist in der Zeit zu Ihnen gekommen?«

»Ick habe keene Kameraden, Herr Rat … Und mit die Freundschaft … det is ooch so eene Sache. Mir haben sie alle uff'n Kieker. Damals, als der Strik war, habe ick nich ausjesetzt, und det haben se mir alle krumm jenommen. Und wat die anständijen Menschen sind, die wollen ja von so een' nischt wissen, der 'mal im Jefängnis jewest ist.«

Das alles war mit wirklich tief empfundenem Schmerz, in einer Art willenloser Hypnose gesprochen. Man konnte herausfühlen, daß der unglückliche Mensch, der bereits einmal mit den Gerichten zu tun gehabt hatte, unter diesem neuen Schlage völlig zusammengebrochen war.

Der Richter fühlte sich unwillkürlich ergriffen; nicht etwa durch die Antwort des Angeklagten, die ihn nicht vollständig befriedigte und auch nicht annähernd einen Beweis seiner Unschuld erbrachte. Aber Müller sprach so natürlich, sein ganzes Auftreten war so ungemein schlicht und bescheiden, seine Züge waren so sympathisch, daß sich der Richter gewaltsam sammeln mußte, um sich bewußt zu sein, daß er vor einem Menschen stand, der eines Mordes verdächtigt war. Alles sagte ihm: »Das ist er, das muß er ganz bestimmt sein …« Und gleichzeitig flüsterte eine geheimnisvolle leise Stimme in seinem Herzen: »Hüte dich, du bist auf falscher Fährte, du irrst dich!«

Leider sah er abermals in die Akten, um diese Stimme zu ersticken, und sämtliche Aussagen und Angaben verschiedener anderer Zeugen erschienen ihm derart überführend, daß er das Verhör von neuem und nur noch schärfer in Angriff nahm.

»Also, Sie können keinen einzigen Zeugen anführen, der aussagen könnte, daß Sie sich zu der bewußten Zeit in Brandenburg befunden haben?«

»Nein, Herr Richter,« erwiderte Müller, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte. »Für den Augenblick kann ick mir nich erinnern. Vielleicht, daß mir später noch wat infällt …«

»Hoffen wir es, in Ihrem Interesse. Doch ich zweifle daran. Wenn – wahrscheinlicherweise – Ihre Anwesenheit in Brandenburg nicht erwiesen werden kann, so kann man Ihnen doch beinahe mit Bestimmtheit Ihre Anwesenheit in Berlin nachweisen.«

»In Berlin? Herr Richter! Det ist unmöglich! Det kann keiner tun!« rief der gewesene Sträfling.

»Und doch ist es möglich … Am Abend des 24. … verstehen Sie … des 24. …« betonte der Untersuchungsrichter noch schärfer, »ist Ihnen ein Einwohner von Wilmersdorf um zehn Uhr abends an der Ecke der Uhlandstraße begegnet, in Begleitung Ihrer Frau, mit der Sie eifrig gesprochen haben sollen.«

»Ick? Ick?«

»Jawohl, Sie!«

»Mein Jott! … Mein Jott!« wiederholte Müller, ohne auch nur den Versuch zu machen, sich zu verteidigen.

»Es war vermutlich der Augenblick, in dem Sie von Ihrer Frau den Schlüssel der Meinert'schen Villa erlangt haben, oder, wenn Sie wollen, der Augenblick, wo Sie ihr den Schlüssel aus der Tasche genommen haben. Das wird sich noch später ergeben.«

»Herr Richter,« fragte der Angeklagte, den bei dem Gefühl der Gefahr, die er lief, ein Hauch von Energie wieder belebt hatte, »mir hat man erkannt – mir – Müllern?«

Herr von Salbach, der prinzipiell niemand, auch keinen Angeklagten täuschen wollte, erwiderte:

»Man hat nicht Sie wiedererkannt. Sie, den Müller, aus dem einfachen Grund, weil man Ihren Namen nicht kannte. Aber … ich habe hier mehrere Aussagen hier in den Akten, welche Sie auf das genaueste beschreiben und die alle gleich sind. Was haben Sie nun darauf zu erwidern?«

»Nichts, Herr Richter,« murmelte er halb stumpfsinnig vor sich hin. »Ick sehe schon, daß ick mir aus die Sache nich herausziehen kann. Det is nu mal mein Pech. Ick werde jerade so unschuldig rinfallen wie det erste Mal.«

Unmittelbar nach Abführung Müllers kam eine amtliche Depesche aus Brandenburg, dessen Polizeipräsidium von Herrn von Salbach gebeten worden war, die Wohnung Müllers zu durchsuchen. Die Depesche lautete:

»Die Polizeidirektion Brandenburg an Herrn von Salbach, Untersuchungsrichter, Berlin. Neue Haussuchung bei Müller. Dreitausend Mark in Scheinen unter den Dielen gefunden.«

Der Untersuchungsrichter übergab die Depesche dem Kriminalbeamten.

»Das ist allerdings nur ein sehr geringer Teil der gestohlenen Summe,« meinte Dühms. »Aber einstweilen müssen wir uns damit begnügen. Vielleicht hat Müller überhaupt nicht mehr erhalten. Das sieht man alle Augenblicke, daß der eine Verbrecher den größeren Teil für sich behält und dem andern bloß einen Happen zuwirft. Aber es wäre ganz gut, zu erfahren, welche Aufklärung Müller selbst über diese vorgefundenen dreitausend Mark gibt.«


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