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Ein Tagebuch.
Ach, die reizenden Zeitgenossen! Wie barmherzig sie einem ins Gesicht lügen. »Vortrefflich sehen Sie aus. In der Tat, Sie sehen – unberufen – viel besser aus als das letztemal! Kein Vergleich!«
Danke schön für die freundliche Erinnerung. Weiß zwar ohnehin, daß ich krank bin.
Mein gütiger Arzt pflegte immer zu sagen: »Schwächliche und kränkliche Leute werden älter als starkgesunde, weil sie auf ihre Gesundheit nicht sündigen.« Seit einiger Zeit bringt er den Trost in anderer Form. »Bei gewissenhafter Diät läßt sich immer noch ein Weilchen gewinnen.«
Wie alt ich bin? Just in den besten Jahren. In den besten! Ich spüre es in allen Gliedern. Mindestens fünfzig Jahre hätte ich noch auf dem Kerbholz, wenn's der Ewigkeit-Herr nicht übers Knie abbricht und ein Kreuzl draus macht. Aber mein eigener Adam will mir untreu werden. Ich hätte ihn zu sehr vernachlässigt, hätte es allfort mit der Seele gehalten. Wenn die Seele lustig sein wollte, habe der Leib Wein trinken müssen und den Katzenjammer bestreiten; wenn der Seele ums Lieben war oder ums Hassen, habe sie Feuer in den Leib geworfen, daß er sich verzehrte. Und wenn sie, diese herrische Seele, in langen Nächten ihre närrischen Gedankenfäden spann und wob, mußte der arme Leib dabei hocken, zusammengekauert, schlafdurstig und gebrochen. Man möge nur einmal andere, etwa vierfüßige Leiber betrachten, die ließen sich derlei Knechtungen nicht gefallen, die stampften mit ihren vier Pfoten das bißchen Seele einfach in den Dreck – basta. Aber, so opponiert der Leib weiter, nun wäre seine Geduld zur Rüste, er wolle zusperren vor Torschluß, und ich könnte mit der obdachlosen Seele gerade einmal davonfliegen, in den Himmel hinauf zu den so begeistert besungenen Göttern oder – anderswohin.
Jeden Tag mehrmals deutet er mir das an, der unliebenswürdig gewordene Körper. Ich glaube, es ist sein Ernst. Zum Satan, mir ist aber die Sache nicht gleichgültig. Ich bin noch nicht satt und ich mag die fragenden Blicke meiner Kinder, das heimliche Flennen meines Weibes nicht aushalten. Was hilft's? Ich will ins klare kommen. Muß es sein, na, Dagobert, dann fangen wir langsam an, einzupacken. Morgen will ich meinen Arzt an der Gurgel packen: Blut oder Wahrheit! Der soll mir nicht auskneifen. Heute will ich mich noch der lieben Unwissenheit freuen. Sie macht ja glücklich, sagt man. Wenn ich dem Spiegel glauben wollte! Diese Grobiane mit den blutleeren Quecksilberrücken zeigen ja allemal um mindestens fünfundzwanzig Prozent zu jämmerlich.
* * *
Sapperlot, Dagobert, was ist denn das für eine Aufführung? Siebenschläfer! Schickt es sich auch, am Tage der Urteilsverkündung so sorglos zu schlafen? – Mehr als Sterben kann mir nicht leicht passieren. Das dürfte abends mein letzter Gedanke gewesen sein. Das wäre schon gar schön, wenn dieses Leben mit seinen täglichen zehn Plagen kein Ende hätte! Da müßten alle Wissenschaften und anderen kulturellen Kräfte schnell zusammenhalten, um einen ausgiebigen Tod zu erfinden. Das wäre die größte Errungenschaft des Jahrhunderts, der Erfinder des Todes würde unsterblich weiden, und die künftigen Kalender würden eine Zeitrechnung einführen: »Seit der Erfindung des Todes so und so viele Jahre.«
Meinem Doktor Balsam hätte es wohl zuzutrauen sein mögen, wenn ihm nicht Kain zuvorgekommen wäre. Er macht sich ein Vergnügen daraus, dem Patienten, der ihn darum fragt: zu versichern: »Lieber Freund, ich kann Ihnen zu Ihrer vollsten Beruhigung mitteilen, daß Sie keine drei Monat' mehr leben!« Und er hält Wort! Mir ist kein Fall bekannt, daß ein Kranker sich gestattet hätte, das Maximum zu überschreiten. Und zu diesem verläßlichen Mann will ich nun gehen. Wenn er auch heute wieder Hypochonder zu mir sagen sollte, dann schreibe ich mich von jetzt ab: Dagobert Hypochonder, und ein Manupropria dazu, so groß wie der Schweif eines Lindwurms.
* * *
Ich war schon bei ihm. Ich komme schon zurück. Ich weiß es schon.
Im Vorzimmer habe ich eine volle Stunde warten müssen. Da gab es genügend Zeit zum Sichausschnaufen von der Treppe, die nicht weniger als dreizehn Stufen hat. Meine Mitwartenden hatten es alle so dringend, hineinzukommen und gesund zu werden. »Bitte,« habe ich gesagt, »will schon warten.« Diese Wartezimmer der Ärzte! Jodoformduft, schwellende Sammetsessel und Spucknapf daneben. Und Teppiche, daß sich die Bakterien passabel einnisten können. Alles luftdicht verschlossen, natürlich, weil die lieben Kranken kein offenes Fenster vertragen können und es vorziehen, die ausgeatmete Luft der Mitkranken in sich zu saugen, als den frischen freien Tageshauch zu trinken. Ob das Ordinationszimmer wohl allemal soviel gutmacht, als das Wartezimmer schadet? Auf dem runden Tisch lagen illustrierte Zeitschriften herum, abgegriffen und schmutzig, auch ein alter Jahrgang der »Fliegenden Blätter« war vorhanden. Da kann man sich ja unterhalten. Hätte mich auch. Guten Morgen! sagten seine Schergen, als sie in die Zelle traten, um den Delinquenten zum Galgen zu führen. – Sah der freundliche Doktor Balsam, als er die Tür öffnete, meine werte Person und bedeutete den übrigen höflich, er müsse mit mir die Reihenfolge stören, denn ich wäre nicht in der Lage zu warten.
Im Ordinationszimmer mußte ich mich auf das rote Sofa setzen. Der Doktor steht hoch, stramm vor mir da, stemmt den Arm in die Seite, strotzt vor Behagen. Man sieht es, wieviel Gesundheit der zu vergeben hat. Dann setzt er sich mir gegenüber, legt seine wulstige Hand auf meine abgezehrte und sagt: »Es steht ja recht leidlich, nicht wahr?«
Ich entziehe ihm die Hand, klammere die Finger ineinander und beginne mein banges Anliegen vorzubringen: »Doktor! Ich will auf die Polizei, wo die gefundenen Sachen abgegeben werden. Ich habe meine Geduld verloren. Schon zwei Jahre lang so krank sein –« Da versagte der Atem.
»Sind Sie denn wieder so gelaufen?« fragt er mit aller erheuchelten Einfalt.
»Sie müssen mich heute noch einmal untersuchen, Doktor, und zwar gründlich. Ich glaube – mit mir ist's aus.«
»Ei, warum nicht gar!« lacht er auf.
»Ich will es nun gerade einmal wissen, wie es steht. Ich will mein Haus bestellen.«
»Das soll jeder bestellen und jederzeit bestellt haben. Sie sagten mir doch, daß Sie schon vor Jahren, in gesunden Tagen, das Testament gemacht haben.«
»Sapperlot, ja! Ein Mann mit regelmäßiger Frau, dito Kindern wird viel Testament machen! Dem stünde nichts mehr im Wege, Doktor. Allein die Familie – sie will vorbereitet sein. Und mich wird die Wahrheit nur stärken, so wie mich die Ungewißheit lahm gemacht hat und noch verrückt machen würde. Helfen können Sie mir nicht, Herr. Alles, was Sie mir tun können, was ich von Ihnen verlange: Prüfen Sie nochmals genau meinen Zustand und sagen mir, wie es steht.«
Er fühlt mir den Puls. Es pocht sein eigenes Blut an den Fingerspitzen, »Sie sind heute etwas aufgeregt. Das Fieber ist mäßig. Entkleiden Sie einmal den Oberkörper.«
Und dann beginnt er das bekannte Spiel. Er klopft an der Brust und horcht. Er klopft am Schlüsselbein, hinter den Achseln, an den Seitenrippen, legt seine bebartete Wange dran und horcht. Kein Wort sagt er. An einzelne Stellen legt er neuerdings sein Blatt und klopft. Ein Mehlsack kann nicht tonloser sein. Er befiehlt, tief Atem zu holen, und legt wieder sein kaltes Ohr an. Dann richtet er sich auf und sagt: »Na!« Sonst nichts. Bei der gebückten Stellung ist ihm das Blut ins Gesicht gekommen.
»Wie steht's?« frage ich etwas kleinlaut.
»Ich kann nur wiederholen, daß Sie sehr acht geben müssen.«
»Geben Sie mir Monate? Wochen?«
Da sagt der Doktor: »Und wenn jetzt der gesundeste Mensch vor mich tritt und will wissen, wieviel Lebenszeit ich ihm gebe, so sage ich: »Herr, nicht einen Tag. Das menschliche Leben ist wie ein Schatten, heißt es in der Schrift.«
»Um Bibelsprüche zu hören, geht man nicht zum Arzt.«
»Allerdings muß ich Ihnen sagen, Herr Dagobert, daß Ihr Übel in ein neues Stadium getreten ist. Doch wenn es nicht weiter greift. – Um ein, zwei Wochen, gottlob, handelt es sich noch nicht.«
»Also um Monate?«
Er schweigt.
»Ich danke Ihnen, Doktor. Eine größere Deutlichkeit will ich Ihnen ersparen. Sie können sehen, daß mein Puls jetzt nicht anders geht wie vor einigen Minuten.«
Jetzt springt er über auf den Buchbinder Artor. »Sie wissen, daß der Mann an einem schweren Herzleiden laboriert. Wenn er in vierundzwanzig Stunden noch lebt, so hat die medizinische Wissenschaft einen beispiellosen Erfolg zu verzeichnen. Vierundzwanzig Stunden, sage ich! Dagegen werden Sie noch ein Methusalemalter erreichen.«
Mit diesem Trost war die Ordination geschlossen.
Den Heimweg trat ich durch die Gärten an. Der Herbstsonnentag schlief über den gilbenden Birken, von welchen manches Blatt träumerisch niedertänzelte auf die Astern. Der Herbst tat »Dukatenzählen«. – Nur noch Monate.
In meinem Leben nie hatte ich mich so leicht getragen als auf diesem Gang. Ich fühlte keinen Körper mehr, es war, als ob ich ihn beim Arzt vergessen hätte. Ein paar Bekannte, die mir begegneten, schauten durch mich in die leere Luft, ich glaube, einer ist sogar mitten durch mich hindurchgeschritten und hat über die Gelsen geschimpft. – Wie ich um die Straßenecke komme, ist in der Wohnung des Buchbinders Artor ein ungewöhnlicher Lärm. Türen gehen auf und zu, und mehrere Kinder weinen laut und so kläglich, daß mir übel wird. Er ist tot, der Vater, der Ernährer. – Nur noch Monate, Dagobert, und auch aus deinem Hause wird ein solches Weinen dringen.
Die Stufen zu meiner Wohnung hinauf erinnerten mich wohl daran, wieviel Erde noch an meiner Seele klebt. Im Zimmer helle Klänge. Das Goldköpfel griff in die Saiten und sang: »holder Mai, du lieber Knabe!« Der größere Junge lauerte über dem Buch: »Mythologie der Hellenen.« Der Kleinste, der mit Mutters Schere aus Papier just einen Altar schnitzte, ließ das Spiel und packte mich jubelnd am Bein, dem zitternden, wankenden. Gepfropft voll ist die Welt vor Schönheit und Freude . . . Mein Weib kam mir ruhig entgegen, aber ihr forschender Blick! Diese stumme, flehende Frage – sie ging mir durch Mark und Bein.
»Es ist wie im Juli,« sagte ich, dabei fröstelte mir. »Konrad, höre, Maikäfer bin ich keiner!« Denn der Kleine wollte mir vor Vergnügen über meine Heimkehr das Bein ausreißen.«
* * *
Der Tag war vorüber. Schon im Bette liegend, verglich ich den Morgen und den Abend – das Nichtwissen und das Wissen. Jetzt erst. Jetzt erst. – Meine Leutchen schliefen in der Nebenstube. Ich rang mit dem abscheulichsten Schmerze, der je seinen Zahn zerfleischend in ein Wesen geschlagen hat. – Sterben müssen! So früh, so lebensdurstig noch. Für immer und ewig von Weib und Kind gerissen. – Und unschuldig! Was hatte ich denn getan, als gelebt? – Wenn ein Mensch den anderen tötet, da durchglüht es die ganze Gesellschaft, und sie rastet nimmer, bis Gerechtigkeit gewaltet hat. Die Richter zittern vor der Möglichkeit eines Irrtums, vor einem Justizmord schreit die ganze Menschheit auf, als wäre sie ins Herz getroffen. Und ein Wesen mit demselben Rechtssinn wird langsam, bei vollem Bewußtsein hingemordet, und fromme Leute nennen das Ratschluß Gottes. Nennen es so, ist ihnen völlig recht und mucksen nicht unter dem Beile der grausamen Henkerin Natur. Man sollte doch lieber das Frommsein lernen anstatt andere Künste. – Die Fäuste wollte ich aufmachen und die Hände zum Gebet zusammenlegen; aber sie krampften sich wieder zur Faust.
Gegen Mitternacht kam der Brustkrampf. Qualvoll – Stunde um Stunde. Aller Trutz, alle Liebe war dahin, das ganze Leben bestand nur aus einem Wunsch: tot zu sein.
* * *
Durch die Fenster schien der Mond und legte seinen Silberäther auf das Bildnis meines Großvaters. Das hub leise an zu sprechen: »Du sollst nicht trotzig sein, Kind, der treue Gott ist's, der mit einer Laterne dir den letzten Weg erhellt, während andere, die sorglos hintanzen, plötzlich in die Grube stürzen. Du wirst nicht auf fremden Wegen zusammenbrechen, sondern im Kreise der Deinen einschlafen, du wirst nicht erst lebenssatt und seelenleer sterben, nachdem du schon lange die Leiche an dir herumgetragen. Das Beste hast du gelebt, die sonnige Jugend, die fruchtbare Manneszeit. Um dich vor dem Greisenalter zu retten, führt er dich hinüber so sachte und sanft, wie du jeden Abend einschlummerst. Und noch Gelegenheit zu haben, mit Ruhe und Bedacht zu schlichten, den Verbleibenden manches ratende Wort zu geben, manche Herzensangelegenheit zu ordnen. Dich beängstigt kein möglicher Verlust, dich erregt kein Gewinn. Im müden Körper Seelenfrieden. Sei doch dankbar, Kind.«
Also du meinst, Großpapa, daß ich mir aus dem Sterben ein Vergnügen machen soll. Gut. Ich werde frühen Feierabend halten und vom Sofa aus den Meinen behaglich zusehen. Arbeitet, sorget, kümmert euch, kränket euch – ich tue nicht mehr mit, ich habe jetzt ein wichtigeres Geschäft und bitte, mich nicht zu inkommodieren. Ich will bequem sterben.
* * *
Diesen Gesellen muß ich mir einmal recht angelegentlich in die Seele prägen, damit er im nächsten Leben gleich herzunehmen ist. Denn auch der Bildhauer muß in mein Inventar der Ewigkeit. Also halte still, Roderich Steinschnabel, alter Kerl mit den schwarzen Moseslocken und dem zweischweifigen Paulusbart! Das lebenglühende Gesicht mit den breiten Wangenknochen, auf denen immer die zwei sonnigen Scheibchen einer Freude sind. Wenn bei deiner Mutter Tod damals die hellen Tropfen nicht herabgerieselt wären, man hätte die Miene für ein seliges Lachen halten müssen. So vergnügt blüht es um die stattliche Nase und auf der breiten Stirn und um die buschigen Brauen, die wie zwei kühngeschwungene Bärte wuchern. Und dieser immer sprühende Phosphor des Auges! Wenn die Seele losbricht und das ungefüge, oft unklare Wort nicht ausreicht, so spricht er mit seinen Augenflammen, dieser glühende Mensch. Zwei italienische Blutstropfen hat er in sich und eine heidnische Seele. Alles ist gut, lautet sein Bekenntnis, mit Ausnahme von zwei Dingen. Die Steine des Anstoßes sind ihm die fabrikmäßig erzeugten Grabobelisken auf unseren Friedhöfen, und kein Märtyrer kann schwerer an seinem Kreuze tragen, als mein Steinschnabel an den gußeisernen Grabkreuzen trägt. In seinem Skizzenbuche keimt es immer, in seiner Werkstatt wachsen die weißen, heiteren Marmorgestalten, und sein Lebenszweck besteht darin, unsere Friedhöfe mit Schönheit zu schmücken.
»Denke dir, Dagobert!« kommt er heute lachend zu mir herein, »die Baronin hat meine Psyche abgelehnt. Sie wolle mir die Arbeit vergüten, habe sich aber entschlossen, auf die Familiengruft ein Ecce-homo-Bild stellen zu lassen. O Freund, wie anbetungswürdig groß ist doch die Einfalt!«
»Die Psyche wird wohl noch Anwert finden,« will ich ihn trösten.
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel der Buchbinder Artor. Der wird ja doch auch bißchen ein Grabmal haben wollen.«
»Der Artor? Ist er denn gestorben?«
»Gestern mittag.«
Steinschnabel schüttelt das große mähnige Haupt und sagt nachdenklich: »Merkwürdig, was es doch für Leute gibt. Gestern mittag ist er gestorben, und heute morgen sitzt er am offenen Fenster und putzt seine Brillen.«
»Ich sage dir, gestern mittag ist er gestorben.«
»Und ich sage dir, heute morgen putzte er seine Brillen.«
»Dann ist dieser Mensch pflichtvergessen. Der Arzt hatte ihm keinen Tag mehr gegeben.«
»Dann ist der Arzt ein Schmutzian. Die Tage reichen für alle, und jeder nehme sich ihrer, soviel er tragen kann.«
»Nein, ich hatte doch die Kinder weinen gehört, gestern, als er gestorben war.«
»Dieses Geheimnis will ich dir offenbaren,« sagt Steinschnabel. »Denn das Heulen ist auch anderen aufgefallen. Der Älteste hatte Geburtstag und bekam von der Frau Godl Lebkuchen. Die Hauskatze scheint dem Ältesten wohlgewogen zu sein, wollte den Festtag auch mitfeiern und fraß die Lebkuchen auf. Wie dann die Kinder feiern gehen wollten und nichts mehr da war, haben sie geheult, man kann's ihnen nicht verdenken.«
Muß gestehen, dieses Ereignis hat mich angenehm berührt. Den Lebkuchen will ich ersetzen, und Doktor Balsam irrt sich hoffentlich öfter.
»Wie weit bist du denn mit deiner Psyche?«
Sie kraucht bereits aus der Puppe hervor.«
»Kraucht sie?«
»In einem Monat kann sie flügge sein.«
»Schon? – Höre, Steinschnabelchen, vielleicht machen wir zwei ein Geschäft mitsammen. Wir sprechen noch davon.«
Denn es trat Frau Radegunde ein, mein flachsblondes Gespons mit dem hellen Rundgesicht und dem taubengrauen Kleid. Mein Weib und Steinschnabel sind wie Tag und Nacht. Ein bewölkter Tag und eine sternhelle Nacht. Denn Radegunde ist vielfach bewölkt; wettert's nicht, so regnet's, und regnet's nicht, so tröpfelt's. Wenn sie bisweilen auf zwei Tage zu ihrem alten Vater verreist, so halten es die Kinder und ich wie die Mäuse, wenn die Katze nicht daheim ist, da ist alles erlaubt. Das heißt, auf einer gewissen Ordnung bestehe ich. Wenn zum Beispiel bei Tisch der Konrad oder einer der anderen in die Suppenschüssel steigen will, so muß er vorher Schuhe und Strümpfe ausziehen, daß sie nicht naß werden. Aber nur am ersten Tage geht's so fidel her, am zweiten zählen wir schon sehnsüchtig die Stunden, bis sie heimkommt. Sogar die Dienstmagd wird nervös, wenn sie ein paar Tage die gnädige Frau nicht greinen hört. Der Wind treibt eben die Mühle, und wenn ich allein die Herrschaft führe, so ist nach acht Tagen das ganze Haus korrumpiert. Viel zu gut wäre ich, sagen die Leute; Radegunde weiß das besser – zu bequem bin ich, zu gleichgültig, zu patschig, kurz, um es mit einem einzigen allgemein verständlichen Worte auszudrücken – zu faul. Schleifen soll's, aber treten wolle ich nicht; dieses Sprichwort hat sie vom Scherenschleifer, sowie sie überhaupt gern drastische Bilder aus dem Leben nimmt, um mich zu kennzeichnen. – Nun, das alles war einmal, ist aber leider nicht mehr. Umwölkt ist die flachsblonde Kleine freilich noch, aber es donnert nicht mehr. Wie wenn es leise tauen täte am nebelichten Herbsttag, so ist es. So still traurig, so liebreich mit mir, daß einem angst und bange wird. Ich fürchte, sie weiß alles, ahnt es vielleicht schon länger als ich, wie es mit mir steht. Na, die soll mich erst kennen lernen! Ich mach's wie der Buchbinder und lasse mich von keinem Doktor Balsam, oder er möge heißen wie immer, auf den Kirchhof komplimentieren.
Steinschnabel war langsam von der Bank aufgestanden und hatte ihr mit leuchtendem Aug' entgegengelacht. Sie sagte nur: »Soviel sprechen soll er nicht.« Da gab mir der Freund einen erklecklichen Händedruck, grüßte die Frau mit einem leichten Scherzwort und ging weg.
* * *
Sie hat recht, ich spreche zu viel. Wenn sie mein Tagebuch zu Gesicht bekäme, dann wäre es auch dran, daß ich zuviel schreibe. Was bliebe mir schließlich übrig, als zu singen! Sie brummt, wenn ich einmal einen Vierzeiler summe, merke aber, daß es ihr heimlich wohltut. Und vollends scherzen! Sonst ist sie doch ein Feind von Kindereien bei Erwachsenen. Sie denkt wohl, je schlechter der Witz, je besser das Befinden. Und lacht und kraut mir mit zarten Fingern das Haar und lobt mich, daß ich ein liebes Lamm sei und ist so dankbar, daß ich wohler bin.
Ich hab' sie getäuscht auf muntere Art,
Das Klagen mir, ihnen die Tränen erspart.
Ich habe des Lebens buntes Panier
Noch einmal entfacht mit froher Begier.
Doch in den Nächten, einsam und still,
Da hab' ich beweint mein verwegenes Spiel.
Wie warm mein Leben, wie kalt das Grab –
An dieser Stelle hat sie mir das Büchlein richtig abgefangen, nachdem sie vorher mein Geheimnis Zeile für Zeile über die Achsel her gelesen. Dann ist eins geflennt worden.
Also auch das nicht. Ja, womit soll man sich denn eigentlich die Zeit vertreiben? – Kaum ein paar Monate noch, und die Zeit sich nicht zu vertreiben wissen. Welch ein Unglück, wenn Doktor Balsam mir hundert Jahre verschrieben hätte!
Eigentlich eine recht lange Zeit gab's, da ich unseres Herrgotts Spaß nicht verstanden habe. Das Leben, ich hatte es schrecklich ernst genommen. Mit grausamer Wichtigmacherei habe ich die kindischen Pläsierchen genossen oder ihnen nachgejagt, schwitzend und keuchend. Konrad, kleiner, mit deinem Seifenblasenspiel betreibst du ein viel vernünftigeres und sachlicheres Lebensglück, als ich es getan. Denn du plagst dich nicht dabei, freuest dich redlich an den bunten Kugeln, weißt, daß es Seifenblasen sind, und freuest dich sogar, wenn sie zerplatzen. »Wenn ihr nicht werdet wie die Kindlein!«
Ja, ja, bibelfest, das bin ich. Der Mensch braucht notwendig wie das Stück Brot einen Herrgott, dem er die Schuld geben kann, wenn er selber dumm ist. Freilich ist es einem gescheiten Herrgott schwer zu verzeihen, wenn er dumme Menschen erschafft – ich hätte, meint der Bildhauer, nämlich gerade noch so viel Religion, daß sie knapp ausreicht, um Gott zu lästern.
Die Stimmungen fliegen wie die Wolken im Herbstwind. Und schwankende Rohre, sagt Steinschnabel, brechen nicht. Jetzt frostiger Schatten, jetzt wieder Sonnenschein. Und wenn nur die Schmerzen schlummern, will man schon jauchzen vor lauter Wohlbefinden. Das Kranksein, so empfinde ich's in diesem Augenblick, hat auch sein Gutes. Mancher genießt das Leben nur halb, solange er es ganz hat, und genießt es erst ganz, wenn er's nur halb besitzt.
Eben läuten die Glocken für den Buchbinder. Diesmal ist es nicht die Katze, diesmal ist es der Tod. Doch schön, wenn man sich auf einen Arzt verlassen kann.
Und mich will er auch schon fort haben, der liebe Doktor Balsam. Die Riviera, meint er, oder wenigstens Arco am Gardasee. Den Winter über. Da habe ich ihm heute bedeutet: »Gelehrter Herr! Wenn Ihr keine anderen Anekdoten mehr wisset, als wie man einmal einen Todkranken in die Fremde geschleppt hat, damit er dort in einem Hotelzimmer unter Kellnerfräcken ruhig versterben kann, dann – mit Verstattung – seid Ihr mir nicht mehr ergötzlich genug.«
Ich hätte ihm noch gern mehr und Erklecklicheres gesagt, da setzte sein Verbündeter ein, der Brustkrampf, und erstickte die Sachen, die ihm vermeint gewesen.
Später unterhielt ich mich mit Radegunde über das merkwürdige Begräbnis des Kommerzienrates. Und unser kleiner Konrad setzte sich seine größten Augen ein – der will sie sicherlich wieder nachahmen, die erhabene Feierlichkeit. – Hundert Leute in auswendiger Trauer, die »Pompe funèbre« mit dem Leichenwagen aus Sammet und Spiegelglas, sechs Rappen daran mit Silberbeschlag, auf den Rappen sechs schwarze Reiter, mit Silber betreßt. Die hohe Geistlichkeit im Trauerornat. Beflorte Sänger und Musikanten, drei Kranzwagen und was eben alles dazu gehört, um einem Kommerzienrat ins Grab hinein das Kompliment zu machen. Nur eine Kleinigkeit fehlte. Aus Versehen war an einer Bahnstation der Waggon abgekoppelt worden, in dem der Sarg stand, und so hat sich zu dem feierlichen Begräbnis die Leiche nicht eingefunden. Der Herr Rat hatte nämlich auch die Mode mitgemacht, nach Italien sterben zu gehen, wie man dahin seine Hochzeitsreise tut, und so hatte er nun auf dem Rückweg den Anschluß versäumt.
»Ist es euch ein Vergnügen, dann können wir's auch so machen.«
Radegunde gab mir eins – ein ganz leichtes – auf die Wange und kramte am Nähtisch herum. Da merkte ich, wie die Sterbenden unbarmherzig sind. Es wird schwer halten, mit ihr das Notwendige zu besprechen. Da wird Steinschnabel mittun müssen.
* * *
Was dies Leben mir beschieden,
Es war gut, ich bin's zufrieden.
Könnt ich eines noch erwerben:
Nur daheim, daheim zu sterben.
Nicht auf fernen Wanderswegen
Möcht ich mich zur Ruhe legen.
Nirgends auf der ganzen Erde
Als daheim am eigenen Herde.
Vor des Todes grausen Schrecken
Will ich nimmer mich verstecken.
Wenn aus Augen, schmerzbefeuchtet,
Liebe mir zu Bette leuchtet.
Wenn die Meinen mich umgeben,
Atmend mein entschwindend Leben,
Und aus gottergebnem Sterben
Meines Herzens Frieden erben.
»Das gefällt mir recht gut,« sagte Steinschnabel, als ich ihm dieses Gedicht zu lesen gegeben, »nur in der achten Zeile hapert's, da hast du eine Silbe zuviel gespendet.«
Ich war nachgerade empört. Erst später kam es mir, daß er mit der Versmesserei die Rührung wird haben verbergen wollen. Denn dieser Schwächling kann keine Traurigkeit vertragen. Und ich? Ich weiß mir oft gar nichts Lustigeres, als traurig zu sein.
* * *
Bisweilen sieht man in der Nacht mehr als am Tage. Sie kommen alle, die Gedanken, denen lebensfrohe Leute auszuweichen pflegen, und die Bekannten, die vor uns schlafen gegangen sind. Sie machen ihre Einladung. Frau Hofrat muß auch jetzt noch ihre Schleppe haben und zerrt das Bartuch nach, und mit dem Japanischen fächelt sie gar kokett, dabei mit Recht ihr Antlitz verdeckend. Und draußen auf dem Meere gleiten die unzähligen Schiffe der ewigen Dunkelheit zu.
O Nacht, du heilige Urwesenheit! Wenn Gottes zornige Hand einst die Ampeln vom Himmelsgewölbe reißt, was vor allen Lichtern war, wird nach allen Lichtern sein – die Nacht. Der schlaflose Kranke in dunkler Stube hat Gelegenheit, sich bei Zeiten mit ihr vertraut zu machen.
* * *
Allerseelen! Ich bin auf den Friedhof gefahren zu meinem Grabe. Vom Eingange die Ecke links. Heute wildes Gekraute, vom Reif welk gesengt, wie gekocht auf der Erde liegend. Wenn wieder Allerseelen kommt, wird hier ein schönes Blumenbeet sein, in blauen Glastulpen brennende Kerzen. Davor kniet eine junge, schwarzgekleidete Frau, mit schwarz behandschuhter Hand ein weißes Tüchlein ins Gesicht pressend. – Dann kommen die Kinder, daß sie auch ein Vaterunser beten sollen. Mit munteren Augen und frischen Wangen denken sie dabei an Roß und Wagen, an Taschenfeitel und Mundharmoniken und an die Weidengerten, die sie sich auf dem Heimweg schneiden werden. – Ob die Seele nicht hinüberspringen könnte vom modernden Leib auf den leblustigen Knaben? Vielleicht. Fliegt nicht auch der Vogel, wenn der Baum umgehauen wird, auf einen anderen über? Wahrscheinlich stehe ich dann selbst an meinem Grabe und denke: da unten ruht mein Vater.
Wie es auch sei, am besten, daß es nicht nach Menschenwitz und Menschenwillen geht – da wäre es sicherlich verfahren.
* * *
Heute bin ich zum Steinschnabel in die Werkstatt gefahren. Denn die Nacht war wieder schlimm gewesen, aber ich will die Plagen nicht immer aufschreiben, sie graben sich schon selber ein. Das stete Sandbrünnlein in der Uhr rieselt ganz zart, und doch schüttert davor mein ganzer Leib, als stünde er an einem donnernden Wasserfall.
Die Hammerschläge der Steinmetze klingen, und ich stehe mitten im Olymp. Die weißen Göttergestalten ringsum warten nur auf ein schönheitsfrohes Geschlecht, um herauszutreten ins Leben, in die Kirchen und Tempel, auf die Straßen und Friedhöfe. In einem besonderen, lichten Raum mit Glaswänden arbeitet der Meister. Er hat den grauen Linnenkittel an und das weiße Käppchen auf, unter welchem zu allen Seiten das Löwengelock hervorquillt, grau vor Gipsstaub. Er steht an seiner Psyche, der Mädchengestalt mit den Schmetterlingsflügeln. Alle Sprödigkeit des Materials ist überwunden, in leuchtender Schönheit, zart und schmiegsam schwebt sie, man glaubt Wärme aus diesen Gliedern hervorströmen zu fühlen.
»Ich brauche sie nur zu küssen,« sagt Steinschnabel, »und sie ist lebendig.«
Er wurde bei dieser geplanten Lebenserweckung leider gestört. Obschon die Steinmetze im Vorraum laut riefen, der Meister sei augenblicklich nicht zu sprechen, trippelte es doch herein, das Blondlockel. Ein kleines Herrchen war's, die nagelneuen, gestreiften Hosen an den Knöcheln waren aufgestülpt, aus den kurzen Hemdärmeln standen weit die steifen Manschetten mit mächtigen Perlmutterknöpfen hervor, der hohe Hemdkragen schraubte den kleinen, wohlrasierten Kopf empor. Auf dem Näschen ritt ein goldener Zwicker. Das ganze eckige Kerlchen schaukelte ein wenig. Mit seitlings gehobenem und rechtwinklig gekrümmtem Arm reichte er die Hand und näselte: »'n Tag, Meister, 'n Tag!« Und dann begann er Spreu zu sprechen, kurzgehackten, spießigen Spreu. Das Korn darin war, daß er ein schönes, sinnreiches Grabmal wünsche für seine verstorbene Schwiegermama. Er denke sich aufs Grab schwarze Marmorplatte, weißes Hautrelief: lebensgroßes Totengerippe mit Hippe und Sanduhr.
»Kolossal sinnig, nicht wahr?«
»Für Frau Schwiegermama. Gewiß,« spottete mein Steinschnabel, und sein Auge blinzelte unter dem Busch. »Gut, will die Arbeit besorgen. Der Stein soll wohl recht schwer sein?«
»He, he. Charmante Dame gewesen,« lächelte der Herr. Damit war das Geschäft abgemacht.
Als das Gigerl davon war, sagte ich zum Meister: »Mensch, wie kannst du eine solche Arbeit übernehmen?«
»Ich habe sie ja nicht übernommen,« lachte Steinschnabel. »Dieses lebensgroße Totengerippe werden meine Lehrjungen herstellen.«
Die »charmante Dame« hatte dem Herrn Schwiegersohn nämlich eine halbe Million hinterlassen. Nicht jede Schwiegermama ist so liebenswürdig. Doch begreift man, daß auf solch ein Grab nicht etwas Sinnbildliches taugt, das durch einen Kuß lebendig wird.
»Schnabel,« sagte ich endlich, »weil wir schon bei Sanduhr und Hippe sind, ich komme heute mit einem großen Anliegen zu dir. Die Sache – du gestattest schon, daß ich mich auf den Balken setze und an die Wand lehne,« denn mir war zum Umsinken. »Die Sache ist die. Ich habe, wie du weißt, drei Kinder.«
Er zählte lustig an den Fingern ab: »Richard – Konrad – Frida. Es stimmt.«
»Nun höre. Ich tue nicht lange um, Freund. Meine Kinder werden einen Vormund brauchen. Wen soll ich mir denken als den Beschützer meiner Familie? Es kann kein anderer sein als du.«
Er hatte sich mir gegenübergesetzt, trommelte mit den Fingern auf dem Balken, schaute mich an und sagte: »So, so! Hm, hm!« Und setzte ruhig und leise bei: »Wann erwartest du denn schon?«
Diese Bemerkung in dieser Form machte mich verwirrt, da verbesserte er sich rasch: »Ah, ja so! Ich bin zerstreut. Dachte an Gevatterschaft.«
An die Mauer hingesunken, trocknete ich mir mit dem Taschentuch die feuchte Stirn: »Du siehst ja, wie es mit mir steht.«
Er faßte meine Hand. Das Feuer seines Auges glühte warm auf mich her. »Dagobert, wenn es dich beruhigt: Wo du mich brauchen kannst im Leben oder im Tod, ich stehe zu deiner Verfügung. Hast du aber in dieser von dir bemerkten Angelegenheit mit deiner Frau gesprochen? Ich meine, ob es ihr wohl recht sein würde? Mir scheint nämlich, und du mußt es ja auch schon wahr getan haben, daß der Bildhauer Steinschnabel nicht ihr besonderer Günstling ist.«
»Ach Gott, Roderich, du kennst ja ihre Art. Allerdings, der Sache wegen gesprochen habe ich mit ihr noch nicht. Wenn ich vom Sterben rede, da hält sie mir nicht stand, da zankt sie, daß man Gott nicht versuchen solle, und behauptet, daß ich sie weit überleben würde. Wenn sie wüßte, was mir der Arzt gesagt hat! Glaubt ihr denn, ich hätte nicht den Drang, mich darüber auszusprechen? Ihr müßt es doch so gut wie ich selbst merken, was es bei mir geschlagen hat. Was soll denn diese verdammte Vertuscherei! Verneint mein Leiden, wenn ihr könnt, mir ist's recht, ich lebe gern, Gott weiß es. Und wenn ihr das nicht könnt! Laßt mich die furchtbare Wahrheit doch nicht so allein tragen!«
Weil ich keuchend und mit gerungenen Händen vor ihm niedersinke, so richtet er mich erschrocken auf: »Um Gottes willen, Dagobert, welche Erregung! Deine lebhafte Phantasie –«
»Laß die Phantasie. Höre, was Doktor Balsam gesagt hat. Er tat's auf mein Bitten, nach einer gewissenhaften Diagnose. Weißt du, was er gesagt hat? Daß ich nach zwei Monaten sterben muß.«
»Das hätte er dir gesagt?«
»Der eine Monat ist schon vorüber.«
»Verzeihe, lieber Freund,« sprach hierauf Steinschnabel, »so redet kein Arzt zum Kranken. Er mag gesagt haben, daß dein Leiden noch ziemlich lange dauern kann, daß es überhaupt schwer heilbar sei, ja daß man unter Umständen gefaßt sein müsse, schon in wenigen Monaten das Los aller Erdenkinder –«
»Und das ist nicht genug? Ist es nicht genug, wenn der Arzt so zum Kranken spricht? Ein Tor, der's nicht versteht.«
»Übrigens,« sagte der Bildhauer und legte seine Hand auf die meinige. »Es ist ja nicht zu leugnen, daß du krank bist. Aber ist denn noch nie ein Schwerkranker gesund geworden? Hat sich noch nie ein Arzt geirrt?«
»Darum,« war mein Geständnis, »habe ich die letzte Hoffnung auch noch nicht aufgegeben. Ohne jeden Funken von Hoffnung lebt selbst der Resignierteste nicht einen Tag. Weil es aber weitaus wahrscheinlicher ist, daß mein Leiden gewöhnlichen Verlauf nimmt, so muß ich eben mein Haus bestellen. Und du sollst mich beruhigen und sagen, daß du im Fall meines Todes die Vormundschaft über meine drei Kinder übernimmst.«
Er drückte mir frisch die Hände: »Abgemacht.« –
Es ist ja nicht zu leugnen, daß du krank bist. Auch der Schnabel sagt's. Na ja. Schwerkranke, die im Bette liegen, das ist in Ordnung. Aber Schwerkranke, die umherwandeln wie ein Schatten ohne Mann, das sind Gespenster.
Allerlei muß der Mensch lernen, seines Fortkommens wegen, warum nicht auch die Kunst zu sterben. Der richtige Kursus dauert achtzig oder neunzig Jahre lang. Dann kann man's und schickt sich willig drein. Mancher Arme, Verlassene kann es schon früher, obschon es für ihn auf Erden immer noch zu hoffen gebe, während beim blasierten Reichen alles aus ist. Nicht leben können und nicht sterben wollen – das muß eine Hundeexistenz sein. Ich hätte noch soviel zugute gehabt.
Und immer solche Gedanken! Seltsam, daß bei einer Aufbahrung das Vorzimmer unheimlicher ist als der Raum, wo die Leiche liegt. Und daß an einem Toten die Kleider das grauenhafteste sind. Also nur das Drum und Dran.
In meiner Kindheit machte es mir den größten Spaß, Gestorbene anzuschauen und Leichenbegängnisse mitzumachen. Die Totenschädel auf dem Traueraltare lachen so lustig. – Das ist die göttliche Einfalt des Kindes. Später ist man »tief gerührt« oder gar »erschüttert«. Und man jammert sich in eine flotte Desperation hinein, die eher ein Vergnügen als ein Leid genannt werden könnte. Es kommt nicht selten vor, daß Fernerstehenden ein Todesfall viel ungeheuerlicher erscheint als den nächsten Angehörigen. Und daß sie sich dann ordentlich wundern, diese in ruhiger Gelassenheit zu finden. – Wo also ist die Schrecknis des Todes, wenn nicht in nächster Nähe?
»O Tod!« rief jener Pfarrer aus bei der Leichenrede, »o Tod, wo ist dein Stachel?«
Ein Handwerksbursche, der sich hinter dem Strauche barg, antwortete: »Lassen Sie das, Hochwürden. Wir brauchen es nicht zu wissen.«
* * *
Es ist Winterszeit, und ich komme rasch zur Tiefe. Der Gang durch die drei Zimmer bedeutet eine Fußreise, vor deren Antritt ich das Testament machen würde, wenn es nicht schon geschehen wäre. Die Füße wollen den Körper nicht mehr tragen, und er ist doch so leicht geworden. Schwer ist nur das Herz.
* * *
Wenn ich des Morgens erwache, fällt mein Blick auf das marmorne Haupt meines geliebten Friedrich Schiller, den ich mir nicht als Greis denken kann. Wer jung stirbt, hinterläßt der Welt ein ewiges Bild der Jugend.
Mein Sterbezimmer hat mir die Radegunde schon vorwegs ausgestattet mit schönen Bildwerken, mit grünen Blatt- und Nadelsträuchern, mit frischen Blumen.
»Mitten im Dezember ein Garten, der auf die Bahre wartet.« Das Wort muß mir entschlüpft sein, denn nun brach das Wetter los. – Ob ich denn alles mißdeuten müsse? Dieweilen sie mir das Zimmer angenehm machen wolle, glaube man, sie bereite schon auf den Tod vor? Ob sie denn noch nicht genug gepeinigt sei? – Und weinte zum Herzbrechen. – Da habe ich zu mir gesagt: Schlechter Kerl! Tut sie nicht alles, daß dir wohl sei, daß du getröstet seiest? Fällt nicht durch die Fenster Luft und Sonnenschein, aber so, daß mein Haupt beschützt bleibt? Rückt sie mir nicht täglich hundertmal die Kissen, die Sessel zurecht? Stehen nicht beständig Labsale bereit? Kommt eine Zeitung, ein Buch unaufgeschnitten auf den Tisch? Verliert sich ein Sacktuch, ohne daß ein anderes schon bereit ist? Und trällert sie, die sonst so ernste, nicht ein heiteres Liedel, während sie vielleicht aufschreien möchte vor Bange? – Und du? Du wirst nicht müde, sie zu quälen mit deinen Todesphantasien. Hast du nicht in niedrigsten Volksschichten Familienväter gesehen, die sterbend noch die Ihrigen beruhigen und trösten und bis zum letzten Atemzug leugnen, daß sie sterben. Jämmerlicher Mitleidshascher! Wo du froh sein solltest, daß dein tapferes Weib nicht mit Klagen, vielmehr mit stetem Sorgen und Wohltun ihr Mitleid beweist!
Heute. Sie meint, ich schlafe, rückt mir leise die Klingel nahe und entfernt sich auf Zehenspitzen ins Nebenzimmer zu ihrem Nähtisch. Aber ich wache und rufe: »Gunde!«
Sofort ist sie am Bette.
»Wo sind die Kinder?«
»Richard und Frida sind in der Schule,« berichtet sie.
»Und Konrad?«
»Der? Ich weiß nicht. Ich glaube, im Stöckel ist er.«
Das Stöckel ist eine Art Gartenhaus und Rumpelkammer, wo Geräte aufbewahrt sind und alte Gewandtruhen stehen.
»Was macht er im Stöckel? Er wird sich erkälten.«
»Weißt du, er ist ein guter, dummer Junge. Von der Kirche hat er's –«
Da klingelt es. Ein angenehmer Besuch. Der Steuerbote. Er bringt eine Vorladung. Es sei im Einbekenntnis wieder einmal was nicht in Ordnung. Möglich! Ich habe bei dem letzten Einbekenntnis gleich die Betriebskosten des kommenden Jahres abgezogen, fünfhundert Kronen fürs Begräbnis. Daran haben die Herren natürlich wieder was auszusetzen.
»Frau,« sagte ich nachher. »Ich werde den Steinschnabel bitten müssen, daß er für mich den Gang macht.«
Weil sie darauf nichts sagt, sondern sachte mein Gewand herrichtet, falls ich das Aufstehen versuchen wolle, so fahre ich fort: »Sage mir einmal, Gunde, hast du gegen den Schnabel etwas?«
Die Hosen über den Arm gelegt, steht sie da und schaut mich an. »Ich? Gegen den Bildhauer? Wie meinst du das?«
»Ich meine, weil wir ihn noch öfter zu brauchen haben werden. Ein herzensguter Mensch. Man kann sich auf ihn verlassen. Man kann ihm schon was anvertrauen. Ich sage dir, Gunde, der Schnabel ist ein braver Kerl, durch und durch!«
Fast betroffen antwortete sie: »Mein Gott, das hat ja niemand bestritten.«
»Siehe, das freut mich, Weib, daß du nichts gegen ihn hast. Ich meine, daß er dir nicht zuwider ist. Möglich, daß wir ihn vielfach brauchen werden. Wenn's mit mir noch lange so fortgeht – es dürften uns auch Veränderungen nicht ganz unvorbereitet treffen. Wenn ich einem meine Familie anvertrauen wollte, so wäre es der Schnabel.«
»Nun gut,« sagte sie, »wenn du stirbst, so soll Steinschnabel der Kinder Vormund sein.« Und ging zur Tür hinaus.
Hart und kalt wie Eisen hat mich das Wort getroffen. – Habe ich es nicht selber hervorgelockt? Kranke sind Egoisten, aber solche, die nicht mehr wissen, was sie wollen.
* * *
Weil der kleine Konrad heute wieder im Stöckel war, so wollte ich doch einmal sehen, was er dort treibt. Das muß ein besonderes Kinderspiel sein! Eine Beschäftigung, die ihn den Frost nicht fühlen läßt.
In den großen Filzpatschen und dem langen Schlafrock aus Wolle, den mir meine Gunde genäht hat, siffelte ich hinüber.
Unterwegs im Hof begegnet mir Richard, der gerade aus dem Gymnasium kommt, bei meinem Anblick hinter der Ecke abbiegen will, endlich aber doch auf mich zugeht. Er hat ein krebsrotes Gesicht und reibt mit der Faust an den Augen herum. Er getraue sich nicht zur Mutter, sie werde ihm das Mittagsmahl entziehen und Strafaufgaben verordnen. Denn er habe wieder einen Zensurschein bekommen.
Wacker, Junge! Nur gesunde und aufgeweckte Knaben bekommen Zensurscheine. Aus einem fleißigen Schüler ist noch selten ein bedeutender Mann geworden. Genies waren stets leichtsinnige Studenten. Nur so fort, junger Mann! – Just laut ausgerufen habe ich diese pädagogischen Grundsätze nicht, aber gedacht habe ich sie mit aller Redlichkeit. »Gib her den Wisch!« sage ich und stecke ihn in die Tasche. »Ich werde ihn schon unterschreiben.«
Er hüpft munter davon, und ich habe ihm wieder einen Tag der seligen Jugendzeit gerettet. Im Griechischen hatte der Junge das Malheur. Daß doch ein siebenfaches Blitz-Kreuz-Donnerwetter dieses verdammte Griechisch einmal aus unseren Schulen hinausfege!
Über die Schulnot der Kinder habe ich mich ja immer getröstet. Die Schwerlernenden sind gewöhnlich selbständige Naturen, für äußere Einflüsse wenig empfänglich. Leute, die mit der Theorie nicht viel anzufangen wissen, sind die eigentlichen Tatmenschen. Ich glaube, Richard ist beim unrichtigen Tor hinein. Er gehört in die Realschule.
Steinschnabel wollte sogar, daß dem Knaben, nachdem ihm schon einmal das Leben geschenkt worden sei, auch die Jugend geschenkt würde. Man soll, ist seine Meinung, die zwölfjährigen Knaben in den Wald hinausjagen, wo sie sich selber ihre Nahrung und ihre Felle erjagen müßten. Dabei würden sie tüchtiger als auf allen papiernen Hochschulen und wüßten, was Leben heißt. Das wird nicht wahr sein. Ich bin ein ganz papierner Mensch und weiß doch, was Leben heißt. Allerdings erst, seit es sterben heißt.
Wie glücklich ist doch noch der Konrad in seinem achten Lebensjahre! Aber im Stöckel ist es mäuschenstill. Ganz leise öffne ich ein Spältchen die Tür, um zu gucken, worin denn der Knabe so vertieft sein könne. Nun, da habe ich's gesehen. An der Wand über der alten Truhe steht hübsch aufrecht eine Blechpfanne. Sie wird meinen Vorfahren die Schmalznocken geröstet haben, ist aber jetzt vom Rost zerfressen. Auf dem schuppigen Boden dieser Pfanne ist mit Kreide eine Figur gezeichnet, eine Art Dreieck mit zwei Ringlein an der oberen Ecke. In den Ringlein Punkte, Augen, Nase und Mund darstellend, und das ganze eine Kopie der Maria mit dem Christkind von Zell. Auf der Truhe an beiden Seiten der Pfanne zwei brennende Kerzen. Zwischen diesen ist noch ein mit dem Sacktüchlein verhülltes Geheimnis. Und davor steht mein Konrad im Priesterornat aus Goldpapier. Die Arme leicht ausgestreckt, murmelt er Gebete. Tief versunken in seine Andacht. – Jetzt hob er sein verzücktes Auge zur Pfanne empor, jetzt machte er eine tiefe Kniebeugung, jetzt zog er feierlich das Sacktuch weg, und was enthüllt dastand – es war die Pfefferbüchse von der Küche. Als dieses geschehen war, faltete der kleine Zelebrant die Händchen und sprach leise und langsam: »Heilige Maria, Mutter Gottes! Lasse uns unseren lieben Vater wieder gesund werden!«
Da wäre ich wohl am liebsten hingestürzt und hätte ihn an die Brust gerissen. Nein. Leise habe ich die Tür wieder angelehnt, dann bin ich niedergekniet im Schnee, und wie der Knabe drinnen für den Vater die Messe las, so hat hier der Vater ein Gebet getan zu dem allmächtigen Gott für das Kind.
* * *
Es ist doch eigentlich merkwürdig, daß der eine stirbt und der andere leben bleibt. Dieser sieht jenen daliegen, eiszapfenkalt auf dem Schragen und frißt sein Heu mit demselben Appetit als früher, solange noch ihrer zwei waren. Die Liebe, wenn eine vorhanden ist, tut einen Schrei, im übrigen getröstet er sich und denkt an seinen Vorteil. Täglich Todesnachrichten, Leichenzüge, links und rechts sinken sie hin, die Bekannten – der Überlebende trottet seine gewohnten Wege und bleibt der windige Kleinigkeitskrämer.
Das alte Ehepaar im dritten Stock. Sie hatten doch achtundvierzig Jahre lang füreinander gelebt. Er ringt mit dem Tode, die Frau hockt weinend daneben, muß zuschauen bei seinem Sterben und kann nicht helfen. Sie hatten stets ihre gemeinsame Liebe und ihr gesondertes Geld im Kasten. Nun sehe ich rabenschwarz, Gott verzeihe mir! – Sie labt ihn mit Essig, betet laut und merkt, daß sein Leib sich krampft und sein Auge starr wird. Sie eilt zur Lade um das Sterbelicht, da kommt ihr zufällig sein Kassenschlüssel in die Hand. Da ist er, denkt sie, für alle Fälle, und verbirgt ihn in ihrer Tasche. Dann krampft sie ihm das Kerzenlicht zwischen die Finger und horcht, ob er noch atmet. Als es aus seinen Mundwinkeln hervorschäumt, stockt ihr Gebet. Dann fährt sie mit dem Tuch über sein Antlitz, da sind auch gleich die Augenlider zu. Sie horcht. Nichts mehr. Sie huscht eilig zu seiner Kasse. Die Leiche ist noch kaum kalt, so nahen die Notare. Der Staat wie die Familie haschen mit gleicher Gier nach dem Glücksfall, und eins sucht das andere zu überlisten. Ist es gut bestellt, dann kommt die pompöse Trauer. Er war so gut, sie sind ihm so dankbar und können sich verlassen auf den Tod, der keinen wieder aufwachen läßt. – Nein, ein solches Totsein möchte ich nicht erleben.
Der Himmel hat mich vor dem Unangenehmsten behütet – als reicher Mann zu sterben. Es muß eine wahre Kalamität sein, das, was man mit Sorgen erworben, mit Schmerzen geliebt hat, von dem man weiß Gott was für Freude und Lust erhofft hat, auf einmal fremden Klauen überlassen zu müssen. Vor dem letzten Beraubtwerden schützt keine Polizei. Und nicht zu wissen, ob die klagenden Hinterbliebenen Freudentränen weinen oder Trauertränen lachen. Bei den Armen geht es redlicher her, wird geweint, so ist es echt, wird gelacht, so ist es auch echt – und der im Sarg ist stillvergnügt.
Wenn man nur schon so weit wäre! Wenn bloß einmal das mit dem Schnabel in Ordnung ist!
Mein Testament. Es sind herzensgute Worte drin, und doch – und doch – Ziffern wären besser. Gott und der Schnabel, die werden's schon machen.
* * *
In der Jugend studiert man Erwachsene, um klug zu werden. Im späteren Leben studiert man Kinder, um glücklich zu werden. Mein Siechtum gibt mir Muße, von der Einfalt Weisheit zu lernen. Wenn das Kind eines zerbrochenen Spielzeugs wegen weint, so können wir lachen. Das ist Überlegenheit. Wenn die Flammen auf unseren Dachfirsten prasseln, so jubeln die Kinder. Das ist auch Überlegenheit. Werdet wie die Kinder. Und steht es nicht irgendwo geschrieben, daß der Umgang mit Kindern gesund machen kann? Die Welt bedarf Männer, das Haus Kinder und der Sterbende lechzt nach einem Jungbrunnen.
In gesunden Tagen habe ich an meinen Kindern viel gesündigt. Die Kleinen wollten zu mir. »Kinder, ich habe keine Zeit!« Sie wollten mit mir spielen. »So laßt mich doch, es kommt Besuch!« Sie bitten, daß ich ihnen Märchen erzähle. »Aber Rangen, ihr seht ja, daß ich schreibe!« Immer für Fremde, nie für die, deren Kreis noch so klein ist, die niemanden haben als Vater und Mutter. Auf den Abend werden sie vertröstet. Sie bestehen darauf mit hartnäckiger Sehnsucht. Der Abend kommt. »Ich bin müde, und ihr gehört ins Bett! Am Sonntage wollen wir miteinander spazieren gehen.« Sie ergeben sich betrübt, zählen die Stunden bis zum Sonntag, bauen so zuversichtlich auf das Versprechen, als ob sie noch nie getäuscht worden wären. Am Sonntage wird man von Bekannten zu einem Essen geladen und sagt zu. So betrügst du das Kind um dich und dich um das Kind. Man kann unter einem Dache wohnen und doch um mehr als ein Weltmeer voneinander getrennt sein. Schicke deinen Sohn nach Australien, und du wirst die Bande, die dich an ihn knüpfen, inniger fühlen, als wenn euch eine zolldicke Zimmertür trennt. Freilich ist die Tür nur dünn, aber sie geht nicht auf. Eltern sind ihren Kindern lange nicht immer so treu, als sie glauben. Auf einmal sind diese erwachsen, und jetzt geht das Verwundern an über das Entfremdetsein der Kinder und daß es überhaupt keine Kinder mehr gebe.
Frida, das Mädel, ist stets die kleine würdige Schwester. Sie bemuttert die Knaben, brummt mit ihnen; ist anderseits wieder bereit, die Sünden der Brüder auf sich zu nehmen, wenn ein Strafgericht droht.
Von meiner Seite droht selten eins. Selbst als vor einigen Tagen die Gebrüder Dagobert gemeinsam eine Katze totwürgten, empfand ich zwar das Bestialische dieser Tat, polterte auch einige Flüche und Sittenregeln hervor, aber eigentlich zornig konnte ich nicht werden. Manchmal lechze ich nach einem jener Zornausbrüche, die in früherer Zeit mich oft so sehr erleichtert und erfrischt haben. Aber es glüht nichts mehr.
Radegunde jagte die Katzenmörder dreimal ums Haus herum, warf ihnen dann einen alten Handkorb nach, in dem sie das Tier zum Abdecker tragen sollten. Sie weigerten sich, es zu tun, sie vermochten eingestandenermaßen ihr Opfer nicht anzusehen, ein richtiges Verbrecherschauern ging über ihre Rücken.
»Ihr bösartigen Buben!« rief die Mutter ihnen zu, »als Merks werdet ihr mir drei Wochen lang täglich um diese Stunde ein Vaterunser beten!«
»Für die Katz?!« rief Steinschnabel dazwischen, der dem Auftritt beiwohnte. »Darf ich mich in den Handel mischen?«
»Und ob! Du bist ja künftig der Erzieher.«
»Ihr werdet die Jungen doch nicht mit dem Gebet des Herrn strafen wollen! – Laßt mich machen!«
Er rief die Knaben vor. Und welch eine Miene! Das Sonnenleuchten seiner Augen wurde zu förmlichen Blitzen, die jeden Augenblick einschlagen konnten. »Warum habt ihr das arme Tier getötet?«
Sie schwiegen, ließen die Köpfe hängen. Sie wüßten nicht warum.
»Böse Buben! Zur Strafe werdet ihr eine ganze Woche lang das Vaterunser nicht in den Mund nehmen. Verstanden das?«
Sie huben an zu brüllen. Konrad, der gewohnt war, allemal vor dem Schlafengehen mit frommer Innigkeit das Vaterunser zu beten, kniete nieder: »Lieber Onkel, verzeihe uns!«
Der Onkel wandte sich mit strenger Miene ab. Und zu uns: »Auch die Alten können sich's merken und es gelegentlich ihrem Beichtvater erzählen.«
* * *
Also ist es, daß mir die Krankheit meine Kinder näher führt. Aber mein Zustand scheint ihnen selbstverständlich, und sie haben keine Traurigkeit.
Gestern kam Onkel Steinschnabel – jetzt ist er natürlich schon immer der Onkel – und brachte dem Konrad ein sonderbares Spielzeug mit. Eine Sanduhr. Bei einem Antiquitätenhändler soll er sie erstanden haben, er bedurfte sie als Modell zur Sanduhr am Denkmal für jene »charmante Dame«. Das Dinge hat sehr zierlich geschnitzte Säulchen aus Elfenbein und zwei Glastrichter, die mit den engen Ausmündungen aneinanderstehen, so daß der feine, gelbe Sand, der im oberen Trichter ist, durch den engen Hals in den unteren läuft. Der Knabe hatte das laternenförmige Ding, das an allen acht Ecken mit niedlichen elfenbeinernen Totenschädelchen geziert ist, auf den Tisch gestellt und betrachtete den lebendigen Sand. Oben am Rande wie in der Tiefe rieseln die Körnchen ineinander, unversiegbar rinnt das dünne trockene Brünnlein hinab, und kaum merkt man, daß im oberen Trichter der Sand in sich zusammensinkt, während der im unteren sachte ansteigt.
»Wie lange denn, Onkel?« fragte der Knabe.
»Bis abends neun Uhr ist's abgelaufen,« antwortete Steinschnabel. Durch Mark und Bein ging mir das Wort.
»Und dann?« fragte der Knabe.
»Das sollst du sehen,« sagte der Schnabel. Die Kleinen umkreisen ihn jubelnd, geben aber doch immer ein bißchen acht, daß das Sonnenleuchten seines Auges nicht plötzlich zum Blitze wird. Dieses helle, ewig frohe Auge durchleuchtet gleichsam die ganze Wohnung, bis ins Gemach der Frau hinein. Er spielt mit den Kindern, als ob er selbst eins wäre, und was ihnen an Schabernack nicht einfällt, das fällt ihm ein. Sind sie müde vom Tollen, so setzen sie sich zusammen, und er erzählt ihnen Märchen oder Schwänke, daß alle wie die hellen Glöcklein lachen. Selbst Gunde, die ernsthafte, läßt bisweilen ihre Hand mit der Nähnadel auf dem Knie ruhen und betrachtet die Gruppe wohlgefällig. Mit dem Schnabel spricht sie wenig und er mit ihr nicht viel, aber manchmal schauen sie sich doch offen an, wenn auch sehr kurz, nur so blitzartig. Mich dünkt immer, zwischen ihnen ist noch nicht ganz das Vertrauen, wie es zwischen Freunden sein soll.
Ich bringe an diesem Tage etwas in Anregung.
Meine Gestalt richte ich auf, soweit es noch gehen will, so stelle ich mich vor ihn hin.
»Schnabel, sieh mich an. Glaubst du denn nicht, daß sich der Dagobert noch rechtzeitig um ein bißchen Unsterblichkeit umsehen soll?«
»Aber versteht sich, wozu ist man denn Philosoph!«
»Nun also. Warum zögerst du denn immer noch, mir einen Antrag zu machen? Wenn so ein Kerl schon in Fleisch und Knochen nicht halten will, so stellen wir ihn einfach aus Stein her.«
»Wirklich?« lachte er mich an. »Wäre es dir angenehm? Wird es dich nicht zu sehr ermüden? Wir können ja ganz kurze Sitzungen halten, und jeden zweiten Tag.«
»Gedenke der Sanduhr! Spute dich.«
»Wir wollen uns vortrefflich dabei unterhalten.«
»Na, weißt du, der Unterhaltung wegen gerade nicht, so gut du dich auf Kurzweil verstehst. Man sollte dich ja geradezu einsperren, du lieber Zeitvertreiber und Lebensverkürzer! Doch in diesem Fall ist's anders. Wenn einer weiß, die Witze sollen nur verhüten, daß die Visage des Modells nicht ganz in Apathie versumpft, dann zündet das Feuerwerk nicht.«
»Das ist abzuwarten. In der nächsten Woche beginnt die Schöpfung. Gott nahm Lehm. Material zweiter Güte. Wir wollen es mit Carrara-Marmor versuchen.«
»Sage mir, Vertrauter, hast du einen größeren Vorrat von dieser Gattung Geist? – dann lieber nicht. Wisse, allzuviel Spiritus ist Kranken nicht zuträglich.«
»Und schon gar, wenn es Fusel ist, nicht wahr? Na, Freund, du sollst nur nahrhaftes Getränk haben. Milch, wie ein Säugling an der Mutterbrust. Kind, altes, launenhaftes! Zeige deinem himmlischen Vater nur noch einmal ein frohes Gesicht.« Er nahm meinen Kopf zwischen seine Hände, von Aug' zu Aug' ging ein Strahl, der mein ganzes Wesen warm durchrieselte.
»Sei doch wieder einmal ein ganzer Mensch!« sprach er weiter, »erhebe dein Herz, und das Schicksal hat keine Macht über dich. Schau doch. Ob es Glück oder Unglück um dich gibt, das kommt auf dich selber an. Nach dem, wie du bist, gestaltet sich dein Geschick. Gewöhne dir doch einmal das Wünschen ab und die Ungeduld nach der Gesundheit. Verzichte gelassen auf sie, vielleicht hast du sie dann.«
»Mir schwillt das Herz bei deinen Worten!« rief ich entzückt aus.
»Das soll's aber nicht. Schwellen soll's nicht. Ich gedenke dir eine leidenschaftslose Heiterkeit ins Gesicht zu meißeln, dann sollst einmal sehen, was du für ein Bursche bist.«
Beim Abendessen ging's wieder gemütlich zu. Ich fühlte mich wohler als gewöhnlich, mein Weib legte mir das beste Stück Kalbsbraten auf den Teller und bat den Onkel, sich selber zu bedienen. Die Knaben stritten lustig über Raben. Richard behauptete, die Raben wären schwarz, Konrad versicherte, sie seien weiß. Der Schnabel schlichtete den Streit, Konrad habe recht, denn es gebe auch weiße Raben – wenigstens im Sprichwort. Richard hätte übrigens auch nicht ganz unrecht, weil die schwarzen Raben in der Mehrzahl seien.
Plötzlich wandelte mich eine Ohnmacht an; mein Weib bettete mich auf das Sofa und hielt mir ein in Weinessig getauchtes Tuch vor die Nase.
»Onkel!« rief Konrad, »die Sanduhr ist abgelaufen.«
Auf dem Schranke stand sie, wie ein Laternlein anzusehen, in dem kein Licht ist. Der obere Trichter war leer, der untere voll. – Aller Augen schauten hin, Konrads blickten erwartungsvoll auf den Onkel.
»Ist sie abgelaufen?« sagte dieser.
»Ja, Onkel, sie ist abgelaufen.«
»Na, dann macht man's immer so.«
Und stülpte die Sanduhr über, daß der volle Trichter oben war und das dünne trockene Brünnlein sachte begann, nach unten zu rieseln.
* * *
Zu blöde ist das. Über das Christfest habe ich heute weinen müssen – daß es so glückselig ist. Ja, mein Gott, wenn man auch in diesem Fall weint! Wann kommt man dann überhaupt zum Lachen! So nervös wäre ich! sagen sie. Was heißt das? Ist dann nicht auch ein morscher Strick nervös?
»O Weihnacht und kein Kind im Haus!« sang vor etlichen Tagen der Schnabel. In lustiger Melodie sang er es, aber die Stimme hatte einen Trauerschleier um.
»Kinder! Es sind ihrer ja im Hause!« sprach ich. »Du weißt doch, wohin du gehörst am Weihnachtsfeste!«
So ist er bei uns gewesen. Gunde war nicht sonderlich davon erbaut, sie möchte solche Feste allemal »ohne Zeugen« begehen, aber dann fällt's immer ein wenig herb hausbacken aus. Onkel Sonnenschein zerstreut das leichte Gewölk.
In solchen Tagen kommt alles wieder, was man je an solchen Tagen gesündigt hat. Die größte Weihnachtstugend, hatte ich immer geglaubt, bestünde im Geben. Tatsächlich besteht sie im Nehmen. In der Kunst, recht und liebreich und dankbar zu nehmen. Mein ganzes Herz legte ich in die Geschenke für mein Weib, und was sie gab, das war mir oft fast peinlich, weil ich nicht an ihre Liebe, sondern an ihre Opfer dachte. Heute mache ich das besser. Ich schenke nicht viel, lasse mich aber tapfer beschenken, und das macht meine Gunde froh und heiter, auch ohne den Onkel Sonnenschein.
Mein Nachbar, der alte Bankier Golding, hatte wieder seinen Anfall von Schenkwut. Zu Weihnachten pflegt er seinen Bekannten Körbe von Naschwaren, Spielwaren und Nippsachen ins Haus zu schicken. In hastiger Erregtheit bindet er schon tagelang vorher Pakete, windet Flaschen in Stroh und nagelt Kisten. Am Vorabend beschäftigt er neun Dienstmänner zum Austragen. Ist das Fest vorüber, dann hockt er sich zu seinen Geschäftsbüchern, rechnet und knausert, und seine Seele sitzt wieder ein ganzes Jahr lang im Arrest – der Wertheimerkasse. Meinen Leuten hat der Edle diesmal ein Fäßchen Heringe geschickt und mir ein Paar benagelte Bergschuhe mit Rucksack und Eispickel. Der Witz ist gut, aber – das Fleisch ist schwach.
Einst hatte ich halb Europa durchwandert mit meinem Haselstock, den ich mir als Student am Fuße der Wartburg geschnitten. Heute dient dieser Stock noch dazu, daß ich ein Kerzchen dran binde und mit ihm den Christbaum anzünde. Während solcher Tätigkeit begann der Christbaum sachte zu tanzen, das Zimmer begann zu tanzen – später fand ich mich liegend auf dem Fußteppich, Haupt und Kleider feucht von dem Wasser, das sie mir an den Leib gegossen hatten. Gunde labte mich wie immer mit Essig, der Schnabel löste mir die Schuhe von den Füßen, in schweigendem Verständnis waren sie eins, mir zu helfen. Die Kinder standen schluchzend umher und wimmerten: »Mein Vater! Mein Vater!«
Und das ist dies Jahr ihre Christbaumfreude gewesen.
Der Doktor ist geholt worden und hat mich wieder einmal gründlich untersucht, auch Herz und Nieren durchforscht. Gundes und des Bildhauers Augen hingen an seinem Munde, aber er hat nichts gesagt. Auf die Bemerkung meiner Frau, daß ich einmal Verlangen nach Früchtebrot geäußert hätte und ob sie mir unter Umständen davon geben dürfe, antwortete er fast barsch: »Ich bitte, Frau. Geben Sie ihm alles, was er wünscht!«
* * *
Am Tage der unschuldigen Kinder ist der Volkssitte entsprechend früh am Morgen Konrad an mein Bett gekommen, hat mit einem Birkenrutlein auf meine Decke losgeschlagen unter dem hellachenden Ruf: »Kindel auf! Kindel auf! – Frisch und g'sund! Frisch und g'sund!«
Ich wüßte auf Erden keinen Schlag, der so süß wäre als des lieben Kindes zarter Rutenstreich an diesem Lostage. Und ich wüßte keinen furchtbareren Schicksalsschlag als den nach Vater oder Mutter geführten Schlag eines ruchlosen Kindes.
* * *
Aus meiner Lade habe ich heute alte, heilige Sachen hervorgeholt. Das Myrtensträußchen vom Hochzeitstage. Das knistert, so dürr ist es. Wie fange ich es nur an, daß sie mir dieses Kleinod in den Sarg mitgeben? Ich fürchte mich vor der großen Einsamkeit im Grabe und möchte einen Segen bei mir haben. Aber man darf ja nicht ein Wort davon sprechen. Alle stecken ihren Kopf in den Sand und lassen mich allein mit meinem Sterben.
Ich will wieder einmal meinen letzten Willen schreiben.
Schreiben und immer schreiben! Das zagende Wort, sonst habe ich ja nichts mehr. Und Sterbende sollen bekennen und beichten.
* * *
Meiner Tage habe ich noch keinen toten König gesehen. Auch keinen toten Bettler. Nur tote Menschen. Ich kann nicht fassen, weshalb der eine Mensch ohne weiteres und der andere mit aller Umständlichkeit ins Grab geworfen wird. Mir ist es unfaßbar, daß der heilige Menschenleib dessen, der im Leben angesehen war, mit kindischem Takt entehrt werden muß. Vor der Majestät des Todes ist aller Prunk kurzweg lächerlich. Oder wäre es gerade der passende Abschluß für das Possenspiel des Weltlebens? Wenn der Tod nur auch einen Spaß verstünde!
Ich will für meine werte Person das Begräbnisprogramm aufstellen und selbiges an die Kasse kleben, damit sie es gleich finden.
Da liegt auf kaltem Bett die Lehmgestalt, die aus dem Menschen eine Sache geworden ist. Sie waschen das Antlitz und strählen das Haar, denn es ist der hohe Festtag gekommen. Vielleicht weht die abgeschiedene Seele, bevor sie den Flug weiter nimmt durch die Ewigkeiten, noch ein Weilchen ums Ruhebett und schaut verwundert die Gestalt an, in der sie gehaust hat. Manches Menschenantlitz ist in den ersten Stunden des Todes schöner, als es im Leben gewesen. Der Abschiedskuß der Seele.
Drei Tage lang liege der Leib noch im Lichte, damit denen, die in Liebe und Nachsicht ihn gewohnt waren, das Entschwinden nicht zu plötzlich sei. Die ihm gut gewesen, sollen an dem friedlichen Schläfer sehen, daß es auch so gut ist.
Das Schweigen des Toten! Nichts ist so beredt. Aber seine ganze Weltanschauung heißt: Mir ist alles eins. Nicht einmal Bahre und Grab kümmern ihn was, das sind Angelegenheiten der Überlebenden, die sie sich einrichten mögen nach ihrem Belieben. Je persönlicher dieses Belieben, je unabhängiger von Brauch und Sitte – je echter.
Die starre Gestalt in ein dunkles Gemach legen, zu Häupten eine Ampel anzünden und ein paar Kerzen und ihr ein einfaches Kreuz in die Hand geben. Das Sterben ist als eine religiöse Handlung zu betrachten, als ein Opfer seiner selbst dem Ewigen. Dann auf die Brust den Myrtenzweig. Sind Blumen da, so sollen sie nicht gebrochen, sollen lebendig sein. Was macht ein Toter mit toten Pflanzen? Erdreich will Lebendiges hegen.
Mit Heftigkeit lehne ich ab den Metallsarg, die gewölbte Gruft. Kein Kerker soll mich absperren vom Leben der frischen fruchtbaren Erde, die ein Anrecht auf mich hat, wie ich auf sie. Was sagte doch letzthin der Schnabel, als er mit Lehm umtat? »Wir wollen miteinander ja noch vieles schaffen, wir wollen die Zukunft noch überraschen mit dem, was wir können, die Erde und ich, der Wille!« Ein Sarg aus Fichtenholz, nicht angestrichen, denn die Farbe »konserviert«, das heißt in diesem Falle, sie hält lange tot, was tot ist. Ich will aber baldigst wieder anfangen. Am nettesten wäre es, den Leib bloß in Leinwand gewickelt der Erde zu übergeben.
Des Leichenbegängnisses wegen bin ich unbescheiden. Nicht von Tieren will ich gezogen werden, vielmehr von Menschen getragen. Auf zwei Bahrstangen, die auf den Schultern der Männer liegen. Kranzspenden verbeten. Grünzeug und buntes Bänderwerk in Haufen nachschleppen? Nein. Es ist ja wahr, was Roderich sagt, daß der Mensch, wenn er sein Innerstes heben will, zur Blume greift, eine Blume der Braut, eine Blume dem Toten. Allein die Vielheit des Straußes heißt Laub und die Vielheit der Blume heißt Heu. Ich habe Leichenzüge gesehen, deren Kränze ein kleines bürgerliches Vermögen ausgemacht haben. Und rechts und links am prunkvollen Toten darben Lebendige. Wenn jenen Armen, deren fleißige Hände vielleicht die Kränze wanden, noch der Ertrag zukäme! Nein, er kommt den Krämern zugute. Das Kränzeunwesen ist eine der dümmsten Sitten und grenzt in seiner jetzigen Unwahrhaftigkeit schon beinahe an – nein, ich will's nicht sagen.
Die Prunkgewinde, deren Schleifen stets mit dem Namen der Spender geschmückt sind, zeigen aller Welt, wer sich um die Trauer auch was kosten lassen kann. Kurz, ich hasse die Kränze, ich hasse sie aus Liebe zum Kranz; in der Masse erstickt das Symbol, nur der eine Kranz auf dem Sarge, von den Nächsten hingelegt, nimmt Weihe an. Was die Liebe tut, um sich zu genügen – Gott sei davor, daß ich es tadle!
Und nun die letzte Station: das Grab. Wem wird vor der Erde grauen – vor sich selber! Sagte das nicht Onkel Sonnenschein? Also intime Beziehungen. Ein tiefes eigenes Grab ohne Kündigungsfrist. Der Hügel ein Garten. Hier beginnt das Reich der Kränze, der lebendigen. In frischen Halmen gedenke ich wieder heraufzukommen, durch die Blume will ich zu Weib und Kindern sprechen: Auferstehung von den Toten, ewiges Leben.
* * *
Gesagt ist es ganz hübsch.
Doch im Halm, in der Blume fortzuleben, oder in einem Schmetterling, einem Vogel, oder im Tau, oder im Lehm – nein, das wäre mir zu lumpig. Mir schwant eine ganz andere Offenbarung, und wenn ich jetzt sehr gescheit philosophieren werde, so brauchst du, mein lieber Steinschnabel, mich deshalb nicht gleich für verrückt zu halten. In schlaflosen Nächten, wo das Ticktack der Uhr gleichsam mit unaufhörlichen Schritten von einer Ewigkeit zur anderen geht, da kommt's. Schon an der Pforte des Jenseits stehend, möchte man doch gern ein wenig durchs Schlüsselloch gucken – aber der Schlüssel steckt von innen. Da tut man ein übriges und – spinnt. In Spiel und Ernst spinnt man weiter und verstrickt sich sachte in das Hirngespinst, daß es schließlich ist, als hätte die Seele, die arme, ein Hemd aus Spinnweben an.
Wohlan! – Was ich heute schreibe, es wird morgen belächelt, übermorgen vergessen, nach hundert Jahren unverständlich, nach tausend Jahren selbstverständlich sein.
Es ist mir nicht möglich, das Leben zu lassen, es ist nicht möglich. Das ewige Sein, ich gebe es nicht hin, und müßte ich die Zukunft mit der Vergangenheit ausfüllen. Daß ich's nur sage: Unser Leben muß sich wiederholen. Denn der Wahn, daß wir just und eben jetzt ein Eintagsfliegenleben hätten, ist zu dumm. Ich bin, und das ist mir der allersicherste Beweis, daß ich war und sein werde. Daß wir täglich Leute um uns geboren werden und hinsterben sehen, beweist nichts, sie sind eine Erscheinung, sie kamen nach unserer Wahrnehmung her und gingen wieder fort. Das werden auch wir anderen so erscheinen, als wenn wir kämen und gingen. Als moderner kritischer Geist glaube ich nur das, was ich persönlich weiß und erfahren habe. Vom Geborenwerden weiß ich nichts, das Sterben habe ich nicht erfahren. So werde ich wohl immer sein. Nicht wahr, ich bin verrückt, wie ein Philosoph, oder philosophiere wie ein Verrückter!
Plaudern kann man ja davon, wir haben reichlich Zeit dazu, wir Bürger der Ewigkeit. Es kommt dicker: ich will ewig sein, ohne alt zu werden, ohne die Kette von Ursache und Wirkung bewußt fortschleppen zu müssen.
Seit Kindheit weiß ich, daß uns der liebe Gott einen Himmel bereitet hat. Der wird unsinnig schön sein! Weil man aber nicht weiß, wie und wo und wann, so ist das beängstigend. Und weil der Bauer nichts ißt als das, was er schon kennt, so möchte ich einen Himmel haben, den ich schon gewohnt bin. Und so werde ich den lieben Gott, wenn er just einmal in guter Laune ist, bitten: Herr! Willst du mir schon recht gut sein, so gib mir mein Leben wieder, das zu Ende will. Laß mich mein altes Leben wieder durchmachen. Nicht etwa, weil ich's besser machen wollte ein zweites Mal, sondern, weil's mir gerade so gefällt, wie es war und ist. Geht's oben an den Rand, so fange ich wieder unten an. Und allemal so herum. Gib mir's ganz genau wieder, wie es war, als ob es photographiert und phonographiert und typographiert wäre, mit allen Örtlichkeiten, Menschen, Freuden und Plagen, Dulden und Taten, Tugenden und Sünden. Die Sünden vergiß mir nicht, sie haben auch ihr Gutes! Ich will nichts vermissen, nicht das rotblumige Tuch am Busen meiner Mutter, das ich beiseite schob, wenn's zu trinken gab; nicht das blaue Kinderkittelchen mit den weißen Sternen; nicht das tönerne Milchschüßlein mit den gemalten Spiralringen; nicht ein einziges Bein vom roten Pferde, dem hölzernen, außer bis ich es selber kaputt mache; nicht ein Härchen von meinem ersten Bartanflug, an jedem hing ein Himmelreich. Alles, alles wieder, in derselben Reihenfolge, mit derselben Entwicklung in mir und weit ringsum. Es werde, wie's gewesen ist. Amen!
Nun mag es ja sein, daß der liebe Gott wundershalber nicht anders wie ein vernünftiger Mensch antwortet: »Aber Kind, was für Mucken! Soll ich deinetwegen die ganze Welt zurückschrauben um so und so viele Jahre? Soll ich alle Toten wieder erwecken, daß sie dein Gefolge seien? Soll ich den alten Zeitgeist wieder einführen, den sie unter vielen Plackereien endlich losgebracht haben? Nein, ein solcher Reaktionär ist der Alte doch nicht.«
Und wenn wir zwei beide schon einmal so im gemütlichen Gespräch wären miteinander, so würde ich nun bescheidentlich entgegnen: »Herr und Vater! Wie du jetzt gesprochen, das ist dein Ernst nicht. Es ist sicher nur ein liebenswürdiger Spott auf die menschliche Naseweisheit. Denn so klug reden nur die törichten Menschen. Wozu wärest du der Allmächtige, der alles kann! Und schließlich – an der Welt brauchst du ja gar nichts zu ändern, lasse in Gottesnamen alles, wie es ist, nur gib mir die Vorstellung, als ob alles so wäre, wie ich es meine. Nur ein Rädchen im Gehirn berühre mit deinem Finger, und es ist.«
Darauf wird der Herr mir wahrscheinlich auf die Achsel klopfen und sagen: »Laß das gut sein. Wie es zu machen ist, das weiß ich schon selber. Gehe jetzt an dein Tagewerk, wir sprechen noch davon.«
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O, so lebensdurstig, so lebensdurstig! Dieses Sein, das die vom Doktor Balsam gezogene Grenze bereits überschritten hat, auf Wucherzinsen möchte ich es anlegen im altrenommierten Bankhause Ewigkeit.
Der Winter geht zu Ende, und ich atme noch. Beim Buchbinder hat er sich auch geirrt, endlich aber doch recht behalten. Der Buchbinder wiederholt vielleicht just anderswo sein Leben, und ich springe morgen über oder – schnappe über.
Ach, Santa Maria! Wenn ich nur einmal noch einen Lebenswandel führen könnte, wie es Gott gefällig ist – nämlich auf zwei Füßen.
Vor ein paar Tagen sind wir ausgefahren, um frische Gottesluft zu schnappen. Die Felder liegen noch im Schnee, die Straßen sind grundlos, von oben scheint die Sonne, und auf den Fichtenwipfeln, die scharf und klar in den blauen Himmel hineinstehen, singen die Finken. In zwei Bettdecken hat meine Gunde mich eingeschlagen, um Hals und Kopf noch ein Wollentuch gewickelt, so daß nur Nase und Augen ein bißchen hervorgucken können. Sie sitzt neben mir und wendet keinen Blick von dem alten Wickelkinde. Gegenüber der Schnabel, immer der gleiche frohe Bursche, warmherzig, schalkhaft, ihre Sorgen, die er heimlich teilt, zerstreuend. Wie schwer er die Zigarre entbehrt an meiner Seite! Wie tapfer er auf das Glas Wein verzichtet, das ich als Temperenzler abgeschafft habe. Er ist sonst einer, der's nicht verschmäht – durchaus nicht. Im vorigen Jahre, noch bestrebt andere zu retten und selig zu machen, habe ich denn mal auch diesem Lebemann etwas Moralisches versetzen wollen. Wir begegneten damals im Walde einem alten Holzknecht mit roten Wangen und weißem Haar. Voll frischen Schwunges klob er Scheiter; aus seinem lebhaften Auge blickte soviel Gesundheit und Nüchternheit, daß ich ihn schier meinem Freunde Schnabel als leuchtendes Beispiel aufstellen wollte.
»Immer fleißig?« sprach ich den Mann an.
»Passiert.«
»Wie alt seid Ihr nur?«
»Rat' einmal.«
»Ich geb' Euch sechzig.«
»Ich nehm' sie nicht. Um zwanzig Jahre zu wenig.«
»Daß Ihr bei Eurem hohen Alter noch so bei Kraft seid!«
»Passiert.«
»Saget uns doch einmal, Vetter, wie Ihr immer gelebt habt?«
Er zuckte die Achseln, denn er wußte keine Antwort.
»Daß Ihr noch so frisch und rüstig seid und so alt geworden, was tut Ihr denn?«
»Ich? Was ich tu, daß ich so alt geworden bin? Saufen tu ich!«
Man kann sich's denken, wie schadenfroh der Schnabel aufgelacht hat darüber, daß der Mäßigkeitsapostel ein so unpädagogisches Vorbild erwischt.
Erst später hat es sich herausgestellt, was der Alte unter »saufen« verstand. Wenn in der Gegend der Typhus drohte oder die Cholera oder die Blattern grassierten, da ging der Mann her und soff. Nämlich, er trank Wacholderbranntwein als Schutzmittel gegen Ansteckung. Vor einem lukullischen Bildhauer möchte ich aber doch keinen Waldsohn mehr fragen, wie er lebt.
Von der Spazierfahrt heimgekehrt, mußten mich zwei Dienstmänner aufs Zimmer tragen, so sehr hatte mich die freie Luft angegriffen. Dann merkte ich aber, wie hinter der Tür Gunde in ihr Tuch schluchzt und wie der Schnabel neben ihr steht und zu trösten sucht. Heute ist's doch wieder so weit, daß wir miteinander ein Terzett gelacht haben, weil der Schnabel aus einer Kartoffel den Doktor Balsam modelliert hatte.
Mit meinem Porträtsitzen ist's nichts. Sie haben mir sogar den Spiegel aus dem Zimmer genommen unter dem Vorwand, es müsse der Rahmen einmal frisch vergoldet werden. Der eigentliche Grund – ich kann mir ihn schon denken.
Wir haben eine alte Magd im Hause, die seit gestern über heftiges Magenleiden klagt, daß sie gar nichts mehr essen könne. Doktor Balsam fand sofort, daß sie an einer Halsentzündung litt, und stellte es sich heraus, daß die Person den Schlund für den Magen hielt. Unter diesem Dafürhalten ist sie achtundfünfzig Jahre alt geworden. Der Schnabel meint, sie hätte es auch jetzt nicht notwendig zu erfahren gebraucht, wie die Sache steht. Der Mensch müsse anständigerweise wohl einen Magen haben, brauche aber nicht zu wissen, wo er sitzt.
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Immer und überall die schlimmsten Zeichen!
Gestern war mein Geburtstag – der siebenunddreißigste; ist viel für meine Gesundheit getan worden. Als ich mit Gunde anstieß, zerbrach mein Glas, so daß der rote Wein sich über das Tischtuch ergoß.
»Hurra, Kindstaufe!« rief der Schnabel.
Frau Gunde war erschrocken – ich merkte es wohl.
»Und du mach' mit deinem dummen Krimskram in den Winkel!« schrie sie dem Konrad zu. Dieser spielte nämlich mit der Sanduhr.
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Muß schon ein paar Jahr her sein, daß wir, Steinschnabel und ich, eines Tages in unserer Stadtpfarrkirche gestanden haben, um die Marienstatue aus dem dreizehnten Jahrhundert zu betrachten. In der Kirche saßen Andächtige und summten ein Gebet.
»Was ist denn das?« fragte Steinschnabel.
»Das ist eine Litanei.«
»Aber sie beten immer: Vom jähen und unversehenen Tode erlöse uns, o Herr!«
»Ja, ja, so lautet's.«
»Mensch, das ist ja falsch!« sagte er fast laut. »Den jähen und unversehenen Tod beschere uns, o Herr! muß es heißen.«
Wenn einer in Leiden und Angst so dahinsiecht^ sich und anderen zur Qual, da denkt man daran.
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Rhythmisch wiegend waren Klänge durch mein Haupt gezogen während des Schlafes. Dann war ich aufgewacht« Im Nebenzimmer gingen geschäftige Schritte auf und ab. Das ist was Besonderes. Ich klingele. Gunde kommt herein und versichert, es sei nichts. Da bin ich schon auf den Beinen und eile ins Zimmer der Kinder. Liegt ausgestreckt der kleine Konrad, stahlblau im Gesicht, starr der Blick – ringt furchtbar nach Atem, an den Lippen Schaum. Nie Magd läuft mit warmen Tüchern herbei, murmelt: »Es wird gleich besser!« Und mit dem gleichen Atemstoß ruft sie alle Heiligen an. Ich werfe mich in die Kleider, laufe die Treppe hinab, hinaus in die regnende Nacht – zum Arzt. Der erschrickt nicht wenig und jagt mich nach Hause. Mein Gott, jetzt fällt mir ein: Ich bin ja selber krank!
Nach zwei Stunden war bei dem Knaben der schreckliche Krampf vorüber. Er schlummerte, ich rang zornig mit dem Doktor, der mich mit Gewalt an mein Bett schleppte. Ich war nicht müde, in der lebhaften Betätigung für das Kind hatte ich Erquickung gefunden. Erst auf die Versicherung, daß es bei dem Jungen nichts als ein Stimmritzenkrampf gewesen und die Gefahr vorüber sei, habe ich mich beruhigen können.
Am Morgen hatte ich ein paar Stunden länger geschlafen als sonst. Wenn es noch eine Ordnung gäbe auf der Welt, so müßte ich jetzt tot sein. Aber es gibt keine Ordnung mehr. Doktor Balsam ist arg erbost. »Solche Patienten habe ich schon gar gern,« soll er bei einem Nachbar über mich gesagt haben. »Da begehen sie mutwillig einen Selbstmord, und der Arzt soll sie wieder von den Toten auferwecken.«
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Vier Tage seit der Schreckensnacht, und ich lebe immer noch. Ich schlage wieder einmal in einem pathologischen Werke nach, was hätte geschehen können. Regelmäßigerweise hätte ich an einem Herzkrampf zusammenstürzen müssen. – Es ist ein sehr interessantes Buch, ich finde alle meine Krankheitserscheinungen drin: die Brustkrämpfe, den abnormen Herzschlag, die unheimliche Abmagerung, die Verdauungsschwäche, den Schwindel, die Appetitlosigkeit, die Unruhe im Schlafe, das Blutbrechen, die enorme Erschöpfung, kurzum, mein ganzes Todesarsenal ist in dem gelehrten Werke genau aufgestapelt. Nur die Ursache, weshalb ich an meinem Exzesse nicht gestorben bin, steht nicht drin. Und gerade das ist das Ungeheuerliche.
Nun, so will ich weiter hangen und bangen und mich vertraut machen mit dem Unabwendbaren. Es wird doch auch im gestorbenen Zustande auszuhalten sein, mutmaßt der Schnabel. Wer weiß, warum die Totenschädel alle lachen!
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In guten Tagen denkt man selten daran, daß sie mit schlimmen bezahlt werden müssen. Bevor du zum Festschmause gehst, wähle dir einen Arzt. Wähle klug, nimm einen erster Güte. Nur ein guter Mensch kann ein guter Arzt sein! Dieses Wort sprach einer der berühmtesten von ihnen.
Ich möchte gern dankbar sein und den Ärzten, die mir schon so viele Ratschläge erteilt haben, auch ein paar geben.
Der Kranke sucht beim Arzt vor allem persönliche Teilnahme. Der Arzt soll ihn geduldig ausreden lassen, und für diese wohltätige Geduld darf er – ich gestatte es – Honorar einstecken. Bei den Verordnungen braucht er nicht gerade allemal der Buchwissenschaft das erste Wort zu lassen, er darf manchmal auch seinen oder anderer Hausverstand zum Konsilium laden.
Kranken, die Medizin wünschen, soll sie verschrieben werden. Der Glaube wirkt auch hier das Wunder. Oft bittet der Kranke um volle Aufrichtigkeit. Aber! Nur die größten Verbrecher dürfen zum Tode verurteilt werden. An mir hat Doktor Balsam einen Justizmord begangen. Oder begehen wollen. Junge Ärzte leiden an der Gier nach Operationen. Zwei Stunden von hier lebt ein Mann, dem das Bein abgeschnitten werden sollte. Das erste und das zweite Mal ließ er die Doktoren mit ihren Messern nicht vor; als sie, in höchster Besorgnis, die Sache könne mit einer allgemeinen Blutvergiftung enden, das dritte Mal kamen, war der Kranke geflohen und zwar – zu Fuß! Die meisten Patienten sind undankbar. Geht's gut, tut's Gott oder ihre eigene Umsicht; geht's schlecht, ist der Arzt schuld. Es gibt auch Ärzte, die den Spieß umdrehen.
Manchem Arzt wird nachgesagt, daß er hauptsächlich auf Gelderwerb ausgehe. Das glaube ich nicht. Wer wird deswegen in die Tiefen des menschlichen Elends steigen und sein ganzes Leben darin zubringen! Nein, dahin schickt ihn die Liebe. Wenn er auch abgestumpft ist gegen das Leiden und oft gleichgültig erscheint – es ist die starke, opferfähige Liebe. Mancher Arzt bringt – anstatt Honorar zu nehmen – Geld mit ins Haus des armen Kranken.
Arm, aber angebetet von dem Volke. Mein Doktor Balsam ist just kein solcher Popularitätshascher.
Wöchentlich ein paarmal kommt er zu mir, stets sorgfältig rasiert, in guter Laune und in weißer Weste. Er setzt sich breit und behaglich zu mir, prüft die Temperatur, erklärt mir, wie man Zwiebeltunke bereitet, weshalb die ungarischen Kornpreise steigen und erzählt dann Witze aus der »Jugend«. Nebenbei schreibt er manchmal ein paar lateinische Worte auf für die Apotheke. Von mir ist weiter nicht die Rede.
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Mein Vater sah einmal einen armen Sünder zum Hochgericht fahren. Der hatte schwarze Handschuhe angezogen und um seinen Hut einen Trauerflor gewunden. Ordentlich in Feststimmung schien der arme Teufel zu sein. War er doch jetzt einmal der Mann des Tages. Bin ich nicht derselbe Tropf mit meiner geistigen Trauertoilette?
Der Frühling ist da. Wie soll ich mich zu ihm verhalten? Ich empfinde keine Betrübnis und keine Freude, bin völlig stumpf. Vielleicht läßt mich der Herrgott so dumm werden, daß ich vom Sterben nichts merke.
Das wäre gescheit.
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Wenn das Sterben nur nicht gerade das letzte wäre, was einem passieren muß! Wenn nach demselben nur noch ein bißchen was käme, sei es eine Stunde Liebesglück, sei es ein frohes Lied, sei es ein Ausblick von der Bergeshöhe, sei es ein frischer Freundschaftstrunk, nur etwas als Lohn für ein tapferes Sterben, nur eins, das nicht mehr unter dem Siegel des Todes steht.
»Ja,« fragte mich auf solche Klage der Freund, »bist denn du nicht bei den Göttern geladen im Elysium?«
Vielleicht wird das Sterben nicht schmerzlich sein? Schmerz ist nur ein Zeichen von Lebenskraft. Gefühllosigkeit, Bewußtlosigkeit – tot. Na nu, jetzt weiß ich, weshalb mir der Lenz nicht mehr fühlbar ist.
Aber – Sterbende haben ihre Launen. Mancher will, daß die Hinterbleibenden hübsch gesittig zu seinem letzten Segen niederknien. Einer wie ich macht in der letzten Stunde noch das Programm fürs Begräbnis und bestimmt seine Gewandung, in der er die große Reise antreten will. Sie möchten nach ihrem Tode gern noch eine Weile mitspielen und es anderen aufmutzen, was ihnen selber nicht gelang. In Krimdorf drüben starb einer, der des lieben Himmels wegen seinem Töchterlein das Versprechen abnahm, ins Kloster zu gehen. Nun hat das Mädchen mit der Erfüllung solange gewartet, bis die Liebe kam. Es muß den Schwur brechen oder ins Elend wandern. Und das hat der liebende Kater auf dem Sterbebett getan.
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Ich glaube schon darum, daß es zu Ende ist, weil ich mich bereits nach allen Seiten hin ausgestreckt habe. Es gibt nichts Erhabenes, und es gibt nichts Niederträchtiges, das ich nicht gedacht und gefühlt hätte. Ich bin in der Gesinnung ein Heiliger gewesen und im Leben ein Erzschelm. An einen Beichtvater werde ich noch denken müssen. Hat man die lateinischen Rezepte hinter sich, dann kommen die lateinischen Gebete. Lateinische Küche, lateinische Kirche – deutscher Michel!
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Meine Krankenstube ist eine Künstlerwerkstatt. Da ich mich für die Reproduktion leider nicht mehr eigne, so ist Radegunde herbeigeholt worden. Da hilft kein Sträuben, sie wird in Lehm gemodelt, später in Gips gegossen, damit ich – spaßen sie – ein Andenken hätte, wenn sie einmal gestorben sein würde.
Ich solle hübsch daneben sitzen, meint der Schnabel, und zusehen bei dem Kunststücks wie man eine bewegsame Hausfrau festbannt. Ich hatte das in der Tat nicht für möglich gehalten, aber dem Schwerenöter gelingt's. Es zuckt ihr wohl in den Gliedern, wenn draußen die Knaben poltern oder die Magd schreit. Sie kneift die Lippen zusammen, das ist jedoch dem Schnabel nicht recht. Sie wirft den Kopf und schupft die Achseln, das ist ihm auch nicht recht. Sie grollt über das gottlose Dasitzen, wo das Haus voll Arbeit sei, das macht ihm gar nichts, denn sie sitzt doch. »Auf ein Andenken, wenn sie nimmer sein wird.« Kindereien!
Ich habe diese Sitzungen hauptsächlich veranstaltet, damit die beiden sich ein wenig aneinander gewöhnen. Denn sie trutzt wirklich manchmal mit ihm. Seine heitere Geduld mit ihr scheint grenzenlos, könnte aber doch einmal ein Ende nehmen, und damit wäre die Vormundschaft in Frage gestellt.
Sogar schon an der halbfertigen Büste sieht man's, was meine Gunde eigentlich für einen klassischen Kopf hat. Dieser Hals und diese Nasenlinie und diese leicht vorgeschwungene Oberlippe! Man sieht sich solche Dinge, in denen so viel Seele liegt, vereinzelt zu selten an. Der Schnabel legt sein Löwenhaupt einmal nach der einen, dann nach der anderen Seite hin und betrachtet das Werk fast mit Begierde, und aus seinen Augen sprüht heißes Leben auf das kahle Tongebilde, daß mich manchmal dünkt, es müsse die Augen niederschlagen. So sind die Künstler, alles Wirkliche wird ihnen erst bedeutsam, wenn es in Kunst übergeht.
Zum Andenken, wenn sie nimmer sein wird! Der dumme Gedanke ließ mich heute nicht schlafen. Er ist wie ein wildes Tier, das in friedliche Gefilde einbricht. Er ist nicht zu fassen. Daß sie mir vorangehen könnte! O Herrgott, bin ich ein Egoist! Was ich nicht ertragen kann, soll sie ertragen! Immer nur denke ich an mein Sterben, nie an ihr Leid. Jetzt erst, o Heiland, sehe ich die ganze Gräßlichkeit dessen, was uns bevorsteht. Wenn sie mich so lieb hat als ich sie – o mein Gott! o mein Gott!
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Ist es nicht merkwürdig, daß man einen Menschen als fahlen Lehm oder braune Erde ansehen kann, ohne wahnsinnig zu werden? Ein junger Mann stand auf dem Kirchhof, hatte in der Hand schwarze Erde und rieb sie zwischen den Fingerspitzen. Erde, gewöhnliche Erde, nichts weiter.
»Nichts weiter?« bemerkt der Schnabel. »Mein Lieber, es scheint, du weißt nicht, was Erde ist!«
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Läuft heute Konrad zur Tür herein und sagt, er hätte mich lieb und mir zuliebe just die ganze Schüssel Reisbrei ausgegessen. Und der Onkel habe gesagt, nun werde er groß, viel größer wie ein Baum, so groß, daß man ihn auf einen Zwirnknäuel haspeln müsse, um ihn zur Tür hereinzubringen.
»Laß die Possen und gehe!« sagte ich. Will allein sein, muß nachdenken, was Erde ist. – Das junge Leben weise ich von mir, der Tod bleibt neben mir stehen.
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In vergangener Nacht träumte mir, ich hätte Speckklöße mit Sauerkraut gegessen. Als ich erwachte, lag mir die Kost so sehr im Magen, daß »doppelkohlensaures Natron« genommen werden mußte. »Schnabel!« sage ich, »wenn man im Traum sich den Magen verderben kann, dann stehe ich für nichts.«
»Freilich,« lacht er, »nimm im Traum doch einmal eine Handvoll Dukaten aus der Kiste und sieh beim Erwachen nach, ob du sie in der Hand hast. Und du willst die Freuden dieses Lebens mit hinübernehmen in ein anderes?«
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Während Konrad heute seinem Unterricht im Rechnen oblag, ging ich im Garten umher und sah, worin der Junge vorher unterbrochen worden war.
Am Raine unter dem Birnbaum war in der Erde ein Loch aufgewühlt. Auf dem Kieswege dahin war der Kondukt aufgestellt. Vorne Mutters grüner Kaffeetopf, in welchem mit aufragenden Spießen eine Tischgabel stak. Hinter demselben das neue Paar Schuhe Konrads. Diesem reihten sich an die Kalblederschuhe Fridas und die Stiefeletten Richards. Dann Onkel Sonnenscheins Bierkrug, dessen Henkel mit einem schwarzen Florfetzlein behängen war. Hernach der hölzerne Fußschemel, der sonst unter Mutters Nähtisch steht. Darauf lag das rote Kopfkissen Fridas, und auf diesem war etwas Längliches und Eckiges gebettet und mit einem blauen Sacktuch zugedeckt. Hinter solchem Katafalk kamen meine großen Röhrenstiefel, dann Mutters Hausschuhe und ganz hinten die Filzpatschen der Magd. Und das alles stand in einer Reihe auf dem Kieswege des Gartens.
Also ein Leichenzug! Hm, hm! – So, so! – Wer ist dir denn gestorben, Konrad, wenn man fragen darf? – Meine Frage bestand darin, daß ich das blaue Sacktuch mit zwei Fingern an der Ecke faßte und es aufhob.
Die Sanduhr! – Die Sanduhr ist tot. Da lag sie auf dem Bahrkissen. Einer der Trichter in Scherben, Zeit und Ewigkeit ausgeronnen.
»Wenn die Kinder so spielen, da nimmt's nachher allemal einen!« sagte das alte Moidle, dieweilen es scheuern ging.
»Es nimmt einen!« Natürlich nimmt's einen, das Moidle, einen Waschlappen, wenn es die Zuber scheuern soll!
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Heute früh ist Doktor Balsam gestorben. Plötzlich, während des Ankleidens. Der starke, lebensfrische Mann, der für ein Jahrhundert gebaut schien. Der immer so behaglich saß an meinem Krankenlager und der mir bloß – ein paar Monate gegeben hat.
Wann war denn das?
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Als sie vom Begräbnis kamen, drückte der Schnabel mir, munter die Hand. Just, als wollte er gratulieren.
Nachher wankte ich auf den Friedhof zu meinem Doktor Balsam. Weiß nicht recht, war's der Abschieds- oder Antrittsbesuch. Dabei sah ich, daß der Friedhof ein anderer wird. Er belebt sich mit leuchtenden Marmorgestalten. Teils sind sie aus klassischer und germanischer Mythe, teils aus dem christlichen Himmel. Der Blick wendet sich ab von den schauerlichen Bildern des Jammers und des Todes, und auf den Grabstätten stehen künstlerische Sinnbilder von Auferstehung, Leben und Freude. Besonders rührte mich ein schöner, weißer Engel, der mit einem Arm gegen den Himmel weist, mit dem anderen sich beugend anschickt, den Gruftdeckel zu öffnen. Statt des Kreuzes sieht man den Auferstandenen, oder die Erweckung des Lazarus, oder ein Sinnbild aus den Offenbarungen. Auf der Ruhestätte eines jungen Mannes schläft ein bildschöner Jüngling, bewacht von Genien, die ihren Finger an den Mund legen, gleichsam als solle der Schläfer aus seinem süßen Frieden nicht geweckt werden. – Ein anderer Jüngling ist mit allen Zeichen der Ehrfurcht und Anbetung aufs Knie gesunken vor einer verschleierten Bildsäule. – Ein Greis kauert da mit der zerbrochenen Fackel, hinter ihm steht aufrecht ein Engel, mit hochgehobenem Arm eine Lampe haltend. – Voran schreitet der Schnitter mit der Sichel und Garbe, hinter ihm die Heilandsgestalt als Säemann. – Mutter Gea in sitzender Stellung, auf dem Schoße ein schlafendes Kind. – Der Friedhof wird ein Ort des frohen Glaubens und der tröstenden Liebe. Und das tut mein frohgemuter Bruder Sonnenschein!
Auf diesem Friedhofswege habe ich auch etwas anderes erlebt, das aufgeschrieben werden muß.
An der Totenkammer vorüberschreitend, hörte ich drinnen laut sprechen und lachen. Die Fensterecke ist gerade so tief, daß ich gucken konnte. Saßen in der Kammer der Totengräber und der Stephan Eschbaumer, pensionierter und jubilierter Stadtschreiber. Zwischen sich hatten sie die schwarzangestrichene Tragbahre und auf derselben ein Brett liegen. Und das war der Tisch, auf dem sie Karten spielten. Dem Totengräber schien es aber an Lust zu fehlen, er ließ die ausgeworfenen Blätter vor sich liegen, stemmte den Ellbogen an und den Kopf auf die Faust, klöpfelte mit den Fingern der anderen Hand und sagte nachdenklich: »Um den Mann tut's mir leid. Er hat mir viele Kunden zugeführt!« Dann lachte er auf. Von wem nur die Rede sein mochte!
Der Eschbaumer strich seinen langen Bart, starrte wie traumversunken vor sich hin und gröhlte plötzlich auf: »Es ist zum Lachen!« Wie durch dasselbe aufgeschreckt, fuhr er empor und sagte: »Beinlkramer, weißt! Zum Karteln haben wir jetzt zwei beide keinen Löffel. Ich bin eigentlich wegen etwas anderem zu dir gekommen.«
Der Totengräber raffte die Blätter zusammen.
»Du,« sagte der Stadtschreiber, »steht es nicht geschrieben, der Tod ist der Sold der Sünde.«
»Mir scheint.«
»Aber Narr, von diesem Sold kann ja keiner leben!«
»Da hast recht.«
»Du hast's gut, Lochschaufler, bei dir wird's alleweil größer, je mehr du wegnimmst. Sei so gut, schaufle meiner Alten auch eins aus.«
»Deiner Alten? Deiner Alten, sagst du?«
»Willst du den heiligen Leib anschauen? Die Seel' ist schon ausgeflogen – heut bei der Nacht.«
Einem Totengräber ist das sonst nichts Besonderes. »Witwer bist du, Eschbaumer!« rief er, »aber das ist, aber das ist!«
»Ja, das ist,« antwortete der Stadtschreiber gelassen. »Achtundzwanzig Jahre haben wir die Ehefreuden miteinander gelitten. Ich hab' in dieser langen Zeit, wenn ich zur heiligen Beicht gegangen, nicht ein einziges Mal mein Gewissen zu erforschen gebraucht; sie hat mir jeden lieben Tag alle meine Sünden vorgehalten.«
»Na, und hast du sie nicht –?« sagte der Totengräber und machte eine schwingende Bewegung mit dem Arm.
»Nur im ersten Jahr,« antwortete der andere verständnisvoll. »Ist aber nichts. Dem Weibe schlägt man allemal drei Feiertage und sich selber drei Fasttage. Na, und tut man nichts, so heißt es: Mann, ich bin dir gleichgültig. Widersprechen tun sie schon allemal, nur ein Wunder, daß sie beim Altar ja sagen, diese lieben Engerln.«
»Von Engeln ist halt kein Menschenverstand zu erwarten,« lachte der Totengräber.
»Engel! Und ich hab' immer gedacht, die Weiber wären unsterblich, weil sie keinen Geist aufgeben können. Und jetzt ist sie doch dahin. So sanft und lieb ist sie gewesen in letzter Zeit, daß ich gesagt hab': Brigitta, bei dir ist was nicht in Richtigkeit. Und heut nacht auf einmal –. Na, sie wird jetzt in die Erden wollen, sonst macht sie mir wieder andere Geschichten, Also, sei so gut, alter Maulwurf.« –
Das habe ich ihnen abgelauscht und mich baß gewundert über die merkwürdige Leichenrede. Stark säuerlich soll sie ja gewesen sein, die kleine Frau des Stadtschreibers, und so hat er sich stets mit einer lustigen Philosophie getröstet. Diesmal ist's ihm aber allem Anschein nach nicht ernst damit. Er soll nicht essen und nicht schlafen können und will mit dem Zynismus nur seine Traurigkeit herumkriegen.
Umgekehrt wie bei anderen, die sich bei Todesfällen die Traurigkeit auswendig hinaufhängen, soviel nur Platz hat, krampfhaft und oft erzwungen jegliche Zerstreuung meiden, gerade wo sie manche am nötigsten hätten. Trauer auf Termin. Ist das halbe Jahr aus – die Flore weg, ist das Jahr aus – ein großer Ball.
Ich möchte im Herzen der Meinigen weiterleben, aber nicht als traurige Gestalt.
Jetzt stirbt der Balsam, und ich lebe noch. Es ist doch komisch!
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Nur einmal noch den Frühling erleben! So weinte ich auf vor wenigen Monaten. Er kam und – rührte mich nicht. Der Sommer ist da, alles leuchtet und blüht, unendlich flutet das Leben. In mir bleibt es kalt. Das heißt ja schon gestorben sein! möchte man glauben, wenn nicht anderseits jeder lebhafte Schritt im Vorhause, jeder frische Ausruf eines Kindes, jedes Hundegebell auf der Gasse mich in Aufregung versetzte. Wenn ausgefahren wird, darf nie ein Kind mit, weil jede lebhafte Bewegung desselben mich in Schreck versetzt, es falle aus dem Wagen. Jedes helle Lachen ist mir zuwider, jeder leichte, noch so harmlose Widerspruch versetzt mich in Unmut, zum Aufbrausen ist mir; doch anstatt des kräftigen Zornausbruches sinkt allemal alles wieder ohnmächtig zusammen. Fahre ich mit Steinschnabel allein, so sehne ich mich nach Gunde, und fahre ich mit dieser, so finde ich es unerträglich, ohne den Schnabel. Der, wenn er mit mir allein fährt, läßt den Wagen manchmal beim Forsthause halten, und wir steigen auf den Hochanger. Er schleppt mich am Arm, und aus seinem breiten, geröteten Antlitz lacht eitel Freude, wenn's passabel geht. – Gesprochen wird dabei wenig, wir dürfen uns nur ansehen, um zu wissen, was wir meinen. In seinem Auge Wohlwollen, Lust, Übermut; in dem meinen –?
Der Hochanger ist im Halbrund umstanden von alten, verwitterten Tannen. Sie ragen mit ihrem Gezacke und ihren Barten in das lautere Himmelsblau. Nach der anderen Seite hin ist der kahle Abhang. Im weiten Kessel liegt die Stadt mit ihrem Rauchschleier. Die Seitentäler führen ins Waldgebirge, das im sommerlichen Äther schlummert, herüberschweigend aus der Ferne. Und doch alles so lebendig und vogelsangdurchklungen.
So sind wir auch gestern wieder gesessen da oben. Über junges Gras das Wollentuch gebreitet, und die warme Sonne auf uns nieder. Im Schatten fröstelt mich. Auch mein Schnabel streckt sich lieber im Lichte aus, legt sich gern hin und öffnet Weste und Hemd, um sich die Sonne so recht ans Herz glühen zu lassen. Davon kommt wohl die Wärme und die Sonnenheiterkeit dieses Menschen. Auch gestern legte er sich so hin und sagte, ich möchte wie er die Brust auftun und doch einmal den Himmel hineinlachen lassen.
»O Freund,« antworte ich traurig, »bei mir vergeht ihm das Lachen. In mir wird's nimmer warm!«
Er schweigt. Erst nach einer Weile sitzt er ein wenig auf, wendet sich zu mir und sagt mit veränderter Stimme: »Dagobert, laß das. Du treibst deinen Totentanz jetzt schon zu weit. – Ich will dir von einem Kameraden erzählen, den ich in Rom kennen gelernt hatte. Wenn du jedoch hier auf dem stillen Anger ein wenig schlafen willst, so ist es noch besser. Du magst dabei nach Belieben den Mund auftun, damit einmal ordentliche Luft in deine Lunge rinnt. Daß dir keine Eidechsen und Lindwürmer hineinkriechen, will ich getreulich wachen.«
Darauf meine Antwort: »Ich werde noch schlafen genug. Erzähle mir von deinem Kameraden in Rom.«
»Giuseppe Cypresso habe ich ihn genannt, und das hörte er nicht ungern. Der hatte an sich eine Gitarre hängen, die nahm er vor, kniff die Saiten, schlug sein schwarzes Auge auf und sang vom Sterben. Er blühte wie eine Pfingstrose so üppig und hatte Backen wie Kaiseräpfel, so derb und rot, und sang vom Sterben. Elegien hatte er gedichtet, voller Sehnsucht nach Ruhe und Grab, und in seiner kecksten Burschenlaune hob er das Glas und stieß mit Freund Hein an: Auf Bruderschaft, alter Schelm! Er besuchte Sterbende und sah ihnen zu, er wachte bei Toten und schaute sie an, fast vergnügt. Den Friedhof nannte er das letzte Eden, weit wertvoller als das erste, das wir verloren hätten. Wenn andere vor dem Tode schauerten, lächelte er überlegen: Was wollt ihr? Der Tod ist die größte Gnade, die der Himmel dem Menschen gegeben.«
»Wenn diese schönen Worte auf mich zielen sollten, erspare dir sie, Schnabel, ich bin längst resigniert.«
Er fährt ruhig fort: »Als mein Giuseppe Cypresso im dreißigsten Lebensjahre war, zeigten sich bei ihm die ersten Spuren eines Brustleidens. – Das ist die gerade Straße, sagte er gelassen. Doch war die Straße lang, viele Stufen des Leidens hatte er durchzumachen bis zu jener, wo er in schlaflosen Nächten mit wunder Brust nach Atem rang. Hatte er Luft, so sprach er vom Sterben. Er testierte, er ordnete sein Begräbnis an und kam sich als Mittelpunkt der Feier interessant vor. Die Ärzte meinten, das sei nicht wohlgetan, sich solchen Phantasien hinzugeben, so schlimm stehe es nicht, und Wille und Mut zum Leben sei die halbe Genesung. Nein, er blieb bei seiner Lieblingsbeschäftigung und vertrieb sich in den schlaflosen Nächten die Zeit damit, sich kalt und starr auf der Bahre zu sehen, den schlanken Leichnam mit dem schönen blassen Gesicht; die Umstehenden schluchzen zu hören, hinter seinem eigenen Sarge einherzugehen und sein dumpfes Hinabrollen zu vernehmen. Er setzte sich einen schönen Denkstein mit tiefsinniger Inschrift, er bepflanzte das Grab mit Rosen und ließ jeden Abend eine liebe Maid, die früher spröde gewesen, hinausgehen und an seinem Grabe weinen. – Aber er starb nicht, und er genas auch nicht. Eines Tages bestellte er sich beim Tischler den Sarg, genau nach der Länge seines Körpers. Er ließ ihn in seine Wohnung schaffen, zog das schwarze Gewand an und legte sich hinein. Die Hände über der Brust gekreuzt, die Augen geschlossen – aber nur halb, so daß er zwischen den Wimpern durch noch in den schiefhängenden Wandspiegel blicken konnte.«
»Und hat ihn der Herr nicht mit dem plötzlichen Tode bestraft?«
»Nein,« sagt Steinschnabel. »Wenn auf Dummheit die Todesstrafe stünde, da träte mancher Überkluge nicht zwei Paar Stiefel zuschanden. Mein Cypresso lebte noch Jahre. Da setzte sein Leiden plötzlich von neuem und ganz seltsamlich ein. Der Arzt untersuchte ihn genau und machte ein bedenkliches Gesicht. Giuseppe bat ihn mit schwacher Stimme, kein Hehl zu machen, er blicke dem Tod ruhig ins Auge. So sagte der Arzt: Ich weiß es, lieber Herr, Sie sind Philosoph und erwarten das, was uns allen bevorsteht, mit Würde. Wenn Sie vielleicht eine letzte Angelegenheit zu ordnen haben – tun Sie's heute!«
»Nun?« In so großer Spannung, daß ich mich aufsetzen muß. Das Herz pocht bis an den Hals herauf. Mein Erzähler sieht völlig verändert aus, die Mähne sträubt sich, aus den Augen geht ein mondlicher Glanz.
»Giuseppe Cypresso – als er so den Arzt vernommen – ist totenblaß geworden. Auf der Stirn große, kalte Tropfen. Taumelt in die Ecke und wimmert: Sterben?! – Wirklich sterben? Nein, das ist nicht möglich. – Das ist Unsinn, Doktor! Bin oft schon viel kränker gewesen als jetzt, solche Leute werden alt. Ich will nicht sterben, helfen Sie mir! Irren kann man ja, selbst der beste Arzt. Prüfen Sie mich noch einmal, strenge, strenge. Sie werden finden, daß ich gesund bin – fast gesund. Sehen Sie, Herr! Fühlen Sie mich doch einmal ordentlich an! – Wir alle erschraken ob seiner fast rasenden Verzweiflung. Dagobert, dann ist er nach Hause gekommen, hat zu essen verlangt, zu trinken. Ein Rekonvaleszent habe Hunger! Und während des Essens – ich bin dabei gewesen, Dagobert – soll ich noch sagen, was geschehen ist?«
»Nicht nötig, Roderich.«
»Na – dann sage ich's eben nicht.«
Wenn dieser Schnabel einmal ernsthaft wird, dann ist er wirklich unangenehm. – Seinen Cypresso habe ich in Verdacht, daß er nur für mich gelebt hat und gestorben ist. Mit dem Tode solange kokettieren, spielen, als man sich vor ihm sicher fühlt; dann aber, wenn er plötzlich brutal in Sicht kommt – pfui! Ich will gesund werden.
* * *
Heute sammelte ich diese Blätter. Und bei ihrer Durchsicht scheint es, als wäre ich zuweilen noch leidender gewesen als jetzt. Was sind das stellenweise für hippokratische Schriftzüge! Die Hand geht nun sicherer, der gekrümmte Rücken droht nicht zu brechen; innerlich jedoch ist mir ekelhafter als je. Der Gleichmut der Ergebung ist dahin. Ich will gesund sein und bin's nicht. Die fliehende Seele wird festgehalten an den Strängen des Fleisches, hat sich durch die Befreiungsversuche nur verwundet, zerrissen, aber nicht gerettet. Leben wollen, das ist zu wenig. Was will ich denn sonst? Ich weiß nicht was. Ich bin unausstehlich. Mein Weib erträgt meine Launen und schweigt, meine Kinder nahen mir nicht mehr so häufig als sonst. Nur wenn Onkel Sonnenschein da ist, kommen sie heran und entfalten ihre Blüten, wie am Maimorgen die Margariten.
Aber selbst der Schnabel ist anders. Er plaudert nicht mehr so harmlos wie sonst, nur sein Angesicht lacht, und aus seinen Nachtaugen leuchtet der ewige Tag, sprüht Freude ob allem, was ihn umgibt, Wohlwollen für alle, die ihm nahe sind. Mir scheint, daß er auch mit Gunde endlich auf gutem Fuße steht und sie mit ihm. Obschon . . . Ich weiß nicht . . .
In seinem Berufe hat er einen Sieg errungen. Ein Teil der Presse und mit ihr des Volkes hatte sich lange ablehnend verhalten gegen seine klassische Richtung, die das kirchliche verdrängen wolle, um heitere Bilder oder freventlich gar weltliche Gestalten an seinen Platz zu stellen. Als dieser »Heide« aber trotzdem aufkam, als seine Gestalten sachte einzogen in Kunsttempel, Kapellen und Kirchen, als sie auf öffentlichen Plätzen standen, an Brunnen und Brücken und auf den Grüften, und als die Menschen sich daran erfreuten und erbauten und stolz darauf waren, wenn Fremde ihren Meister lobten – da schwieg jene Partei und begann gelegentlich selbst Bestellungen zu machen bei dem fröhlichen Heiden, der Licht aus dem Steine schlug, so wie es aus seinem Auge blitzte.
Und nicht allein seine Gebilde bewundern die Leute, auch schon seine Person. Angesehene Häuser suchen ihn in ihre Kreise zu ziehen, er hat dafür stets ein frohsinniges Dankwort, einen festen Händedruck, geht aber – zu Dagobert. Weil er noch Junggeselle ist, so suchen sie für ihn Bräute, finden ihrer auch in allerbester Gesellschaft – schöne, reiche, liebenswürdige Jungfrauen. Er scheint aber nur die Schönheit zu sehen, die seinem Meißel aus dem Marmor entgegensteigt. Ein Modell mag noch so reizend sein, er verliebt sich erst in die Gestalt, wenn sie in weißem Steine vor ihm steht. Kunstliebende Damen, die seine Werkstatt bisweilen besuchen, finden, daß er schon graue Locken und grauen Bart hat. Sie ahnen nicht, wie jung er sein kann. Nein – er sollte heiraten.
* * *
Der Rahmen meines Zimmerspiegels ist hergestellt, er ist sehr schön geworden. Die Glastafel dunkelt klar wie ein Bergsee. Das beste daran aber ist der Kerl, der mir daraus entgegenschaut. Fast mußte ich ihn anrufen, wie vortrefflich er aussehe. In der Tat – unberufen – viel besser als das letztemal. Kein Vergleich! – Ich hielt zurück, wohl wissend, daß leidende Menschen es nicht gern haben, wenn man ihnen Wohlbefinden nachsagt, von dem sie nichts spüren.
Neben dem Spiegel steht ein anderes Bild. Es war mir immer klar gewesen, daß meine Gunde schön ist. Aber daß sie so schön ist, das sehe ich erst jetzt an ihrer Marmorbüste.
»Man braucht ihr nur einen Kuß zu geben, und sie wird lebendig!« sagte der Schnabel und legte den Arm um den schlanken Hals der Büste. Ich stieß ihn zurück.
Und jetzt ist mir lebhaft darum zu tun, daß dieses Bildnis ein Seitenstück bekomme. Ein rechtmäßiges . . .
* * *
Und deshalb haben die Sitzungen heute begonnen.
Eine Stunde vorher hatte er den schweren feuchten Lehm um das Gerüste gebaut mit emsiger Hand, und als ich dazu kam, war Dagobert fast schon zu erkennen. Ich muß doch wohl in ihm drinnen sein, weil er mich aus sich, aus dem Gedächtnisse geformt hat. Ob er denn bei Gunde das auch so gemacht hat?
Und dann begann das Fliegen seines leuchtenden Auges zwischen meinem Haupte und der Tonbüste und das flinke Graben, Streichen und Staupen seines Griffels, seiner Finger, die, kaum den Ton berührend, einen charakteristischen Zug um den anderen hervorriefen. Dabei tat er heitere Bemerkungen und manch ernsthaftes Sprüchlein über allerlei, so daß es war, als brauche er an seine Arbeit gar nicht zu denken, als vollziehe sich die Schöpfung ganz von selbst.
»Halte dich nur gut, Dagobert,« sagte er. »Dieses Bild wird dich überleben und deine Tugenden oder Unarten beim Sitzen in die spätesten Zeiten tragen.«
Da fiel mir ein, daß ich wohl eine Bestimmung würde treffen müssen, welchem der Meinen die Büste gehören soll, wenn sie sich einmal zerstreuen.
»Triff keine,« sagte der Schnabel, »außer etwa die, daß der Stein in vier Stücke zerschlagen werden soll –«
Den Schnabel verstehe ich auch, wenn er seine Sätze nicht zu Ende spricht. Drei der Lieben zu kränken, um eines zu bevorzugen! Dieser große Gerechtigkeitssinn in ihm, mit ewigem Frohmut verklärt, macht ja den ganzen herrlichen Kerl aus.
»Roderich,« sage ich, aber nicht ganz unbefangen, »zu den wenigen klugen Taten meines Lebens gehört deine Ernennung zum Generalbevollmächtigten für meine Familie.«
Er hält einen Augenblick still mit seinem Griffel, legt mir einen forschenden Blick zu und beginnt wieder zu modeln. Er ist just bei der Nase.
»Es bleibt also dabei?« sagt er leichthin und tut mit seinem Griffel an den Nüstern herum. »Dagobert, ich muß dir noch einmal etwas erzählen.«
Sein Auge drang nicht so ins Innere wie sonst, wenn er mir ins Gesicht schaut, es blieb äußerlich an der Form haften. Da ward mir plötzlich mein Doppelwesen bewußt: der Leib ist ihm eine Sache, nur die Seele ist ihm der Mensch, mit dem er spricht, um ihn hervorzuholen und in den Ton zu bannen.
»Schnabel,« sage ich, »daher ist es kein Wunder, daß man beim Modellsitzen so geistlos wird, um nicht zu sagen leblos. Wenn du so die Seele nimmst. Denn ich bin vor Erschöpfung dem Tode nahe. Deine Absicht, mich mit Geplauder zu konservieren, macht die Sache nur noch schlechter.«
»Na,« lacht er, »wenn es schon so schlecht ist, wollen wir's gut sein lassen – für heute. Morgen will ich dir eine Geschichte erzählen, die dich ergötzen wird.«
* * *
Nun, und heute? Es war ein Regentag. Die Kinder beim Lernen, Gunde in der Wäschekammer.
Jetzt schreibe ich. Aber merkwürdig! Meine Hand ist so fest und ruhig wie seit lange nichts. Ach Gott, war das ein Tag! War das ein Tag!
»Heute will ich mit dem Mund ins reine kommen,« hatte mein Bildhauer gesagt.-
»Das heißt, ich soll den Mund halten,« gab ich noch launig bei.
»Bitte, das habe ich nicht gesagt. – Wenn du jedoch die Gehörwerkzeuge ein wenig gebrauchen willst, so ist es zweckmäßig, denn ich muß dir eine Geschichte erzählen. – Nicht wahr, du bist so gut und hebst den Kopf ein klein bißchen höher. So! gut! – Wenn wir ein halbes Stündchen ungestört bleiben, so ist es mir recht. Wir haben heute die wichtigste und die schwierigste Partie.«
Nachdem er den Türschlüssel von innen umgedreht und den Fenstervorhang vollends in die Höhe gezogen hatte, begann er zu arbeiten und gleichzeitig zu erzählen«
»Es war einmal –«
»Ah, die Geschichte kenne ich.«
»Um so besser. Alten Bekannten begegnet man bisweilen gern. – Es war also einmal ein alter Bekannter. – Auch so einer wie der Cypresso und doch anders. Er siffelte noch so ein bißchen herum, sein Arzt hatte ihm das Leben abgesprochen. – Gelt, Dagobert, du tust mir den Gefallen und lassest den Kopf nicht so hängen. Es quatscht mir den Unterkiefer zu breit. – Nun, daß ich fortfahre. So benutzte der kranke Mann das Restchen Zeit, um sich allerhand Gedanken zu machen, wovon etliche ein bißchen krause waren. Er begann sich bei noch lebendigem Leibe einzubalsamieren und bestellte als braver Familienvater einen Gerhab für Frau und Kind. Nun war dieser Gerhab in spe ein Rappelkopf. Anfangs wollte er sich durchaus nicht drein finden, später jedoch – aber ich muß dich schon wieder plagen. Der Kopf ist jetzt zu hoch. Ein bißchen tiefer, bitte ich. So! gut! – Er war nämlich, ist zu sagen, ein guter Freund des Kranken. Das Hinsiechen und die Traurigkeit gingen ihm zu Herzen. Zuerst, wie gesagt, wollte er nicht, durchaus nicht, allein der Kranke ließ nicht ab und tat alles, um den Freund ans Haus zu fesseln. Die Frau wollte auch nicht. Der Mensch war ihr zuwider wegen seiner beständigen Heiterkeit, dieweilen ihr weh ums Herz war. Doch das änderte sich. Weil sie in eine immer tiefere Betrübnis sank, so haben sich die beiden bisweilen zusammengesetzt und gemeinsame Trauer gehalten um den Freund und Gatten. Das mußte natürlich heimlich geschehen. Und bei solcher Heimlichkeit begann – ganz unvermerkt anfangs, allmählich jedoch – Er wurde natürlich abgewiesen. – Dieses Weib, ich sage es dir . . . Und er ist auch kein . . . Sie huben an, voreinander sich zu fürchten. Denn die Gefahr . . . Ich weiß nicht, ob . . . Kurz und gut, oder vielmehr – lang und schlecht –«
Jetzt bin ich aufgesprungen: »Ich glaube, er lebt zu lang, der alte Bekannte!«
»Noch mehr, Dagobert, er wird gesund. Und wird keine geringe Mühe haben, die Frau und den Gerhab, die er anfangs so schwer zusammengebracht hat, wieder auseinander zu bringen.«
Mir stockt der Atem in der Brust. Und kann nur noch sagen: »Also, das ist's! Also, das ist's! Und darum muß ich fort!«
Ich taumele zur Tür, reiße sie auf. Dann – dunkel. Wie ich wieder zu mir komme, ist er nicht mehr im Zimmer. –
Jetzt ruhig Blut, denke ich, und gehe hinaus gegen die Wäschekammer. Mich wundert es unterwegs, daß ich auf einmal so ruhig gehen kann, da doch alles in mir kocht zum Übersprudeln, zum Zerplatzen. Dieser unerhörte Verrat! – Nur ruhig Blut. – Ich schleiche an die Kammertür und drücke die Klinke. Die weicht nicht. Die Tür verschlossen. Ich lege mein Ohr an. Flüstern, eine weibliche Stimme – und eine andere.
Was wird nun geschehen? Jetzt wird der Onkel Sonnenschein erschlagen! Eine so süße, grause Wut habe ich in meinem Leben noch nicht gehabt als in diesem Augenblick. Meine Glieder sind leicht wie Flügel. Feuerfunken muß ich gesprüht haben, sie tanzten mir vor den Augen. Im Hofe steht ein Holzstock mit eisernem Amboß, auf dem der Gärtner die Sicheln zu dengeln pflegt. Diesen erfasse ich mit beiden Händen, stürze gegen die Kammertür. Mit einem Schwung hebe ich das schwere Gerät zum Schlag. Die Tür springt in Scheiben auseinander. Ein Schreckschrei der Gunde. Am Wäschetisch steht sie, und neben ihr – sei tapfer und schreibe es nur hin, du alter Tor. Schäme dich nicht fürs Wort, schreib' es nur hin! – neben ihr steht der Junge – der Richard.
Lieber Leser! Ich spreche nämlich zu mir selber, der ich wahrscheinlich nach vierzig oder fünfzig Jahren diese Blätter lesen werde. Also lieber Leser, du willst wissen, wie das kam? Das kam so: Der Gymnasiast war mit einem zerrissenen Beinkleid nach Hause gekommen, und weil das kein Zensurschein ist, so hatte er bei der Mutter Zuflucht genommen, die hinter verschlossener Tür den Schaden schlichtete. – Diese Erkenntnis hat mir jedoch nichts geholfen, in der nächsten Minute wußte es die ganze Nachbarschaft, daß der halbverrückte Dagobert vollends übergeschnappt sei.
Mag ja sein – einen Schnapper hat's gemacht.
* * *
Was habe ich seit fünf Tagen versucht, geleistet und gelacht! Und nicht geglaubt und doch erlebt! Hell zum Aufkreischen wäre es bei solch beispiellosem Schicksalswirbel! Daß ein glühender Zorn fressenden Rost aus dem Leibe brennen kann, soll ja wohl vorkommen können. Die Ärzte bringen es bei einem Kranken allerdings häufig bloß zu einem schleichenden Ärger. Ein weit größeres Wunder ist's, wenn man durch eine gewaltige Dummheit – gescheit wird.
Ich schließe mein Tagebuch. Weiß mir nun Besseres.
Es ist auf einmal ganz anders wie sonst. Als ob in einer jahrelang verschlossenen Kammer plötzlich die Fenster aufgerissen worden wären. Frische Luft, frische kühle Luft. Wenn nun auch noch Sonnenschein hereinkommt!
Ein Brief, der heute mit dem Eilboten abgeschickt wurde, hat folgenden Wortlaut:
Lieber Freund Roderich Steinschnabel!
Mache dir zu wissen, daß ich, Gott sei Dank, so weit gesund bin – und zwar seit fünf Tagen, da ich den Onkel Sonnenschein töten wollte. Aus welchem Grunde immer du mich eifersüchtig gemacht hast – es ist dir gelungen. Die Wut, die so groß war, daß sie kein Mensch beschreiben könnte. Gerettet, geheilt! Ein Sturm, der die faulen Dünste hinweggefegt. Wie wohl mir nachher gewesen, gar nicht zu sagen. So gut wie in diesen Nächten habe ich seit meiner Jugend nicht mehr geschlafen. Die höchste Zeit. Es ist ja immerhin möglich, daß du dieses Weib liebst, wer's nicht täte, wäre ein siebenfacher Esel. Doch wenn Untreue dabei im Spiele wäre, hättest du mir's sicher nicht auf die Nase gebunden. Jetzt auf einmal kann ich klar denken.
Verzeihe mir, daß ich so krank gewesen bin. Die Wolke ist vorüber. Komm zu uns, du unentbehrlicher Kamerad, du heller Sonnenschein meines Hauses. Liebe die Meinen, wie du willst. Dagobert sitzt wieder fest im Sattel. Amen.