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Der Wildeisboden ist eine der höchsten Erhebungen unserer Alpen. Er ist eine meilenweite Landschaft für sich mit Berg und Tal. Während sonst in den Tälern und auf den Ebenen aperer Boden ist und der Schnee nur an den Bergen hängt, ist es dort umgekehrt, die Felsgipfel erheben sich nackt und kahl, in den Talungen und Muldungen liegt Schnee, ewiger Schnee, toter Schnee – Gletscher. Wer einmal auf einem jener braunen, zerklüfteten Felsgipfel gestanden, der hat es für sein ganzes Leben. Er hat eine Welt gesehen, in der nichts ist als Stein und Eis, so weit das Auge reicht. Ferne Gebirge, die ebenfalls Gletscher tragen, schließen sich scheinbar an die Wüste der Wildeisböden (man gebraucht den Namen auch in der Mehrzahl); die tiefen Täler, die dazwischen liegen, nimmt das Auge nicht wahr. Nach allen Weltgegenden furchen sich die Täler aus von diesen Wildeisböden und ihre grauen Gletscherwässer fließen in alle Meere.
In eines dieser Täler müssen wir hinabsteigen. Ich werde den Leser anseilen, um ihn zu erinnern an die Beschwerden und Gefahren dieses viele Stunden langen Abstieges, bei dem im letzten Jahrzehnte mehr als ein Hochtourist das Leben eingebüßt hat. Das tiefe Engtal zieht gegen Westen hin, weit draußen eine scharfe Scharte lassend, aus der die sonnigen Vorgelände blau hereinschimmern. Zur Linken dieses Tales zieht sich vom oberen Wildeisboden das Fels- und Eisgebirge hin, dessen zerklüftete Nordwände fast senkrecht bis zur Talsohle niederstürzen. Zur Rechten, ebenfalls vom Wildeisbodenstock abdachend, steht ein Bergwall von kahlen Kuppen, Felsriffen und Almen, auf denen Sonnenschein liegt, während die Nordwände des Gebirges nur hoch an den Vorsprüngen und Türmen beleuchtet sind, tiefer herab im ewigen Schatten dämmern. Der Bach, der in vielen Runsen und Fällen vom Wildeisboden niederstürzt, braust in weißen Schäumen durch das enge meilenlange Tal hinaus, er ist mehr eine Kette von Wasserfällen als ein Bach, Holzblöcke, die am Fuße der Böden in dieses Wasser fallen, kommen ganz zerschlagen erst nach zwei Tagen draußen an, wo das Gebirge sich sachte in Hügelgelände verliert.
Dort, wo aus Gletscherbereichen das Wasser niederstürzt in den Engkessel des hinteren Tales, wächst auf den schmalen Matten, zwischen Bach, Gewände und Felsblöcken kurzes, kümmerliches Gras und unter Knieholz steht dort und da ein von Sturm zerrissener Fichtenstamm. An einer etwas erhöhten Stelle nahe den schwindelnd aufragenden Sollerwänden steht eine Gruppe von solchen Bäumen, unter deren Schutz eine Holzhütte sich duckt. Seit die Welt steht, ist in diesem Bergwinkel kein Vogelgesang und kein Grillengezirpe vernommen worden; selbst wenn solche Tierlein hier hausten, erstürbe ihr Sang in dem Brausen der Wasser. Seit die Welt steht, ist kein Sonnenstrahl gefallen in diesen Engkessel am Fuße der Sollerwände. Der Sonne Widerschein, der von den gegenüberstehenden Almkuppen herabkommt, legt ein mattes, trauriges Licht auf die beständige Dämmer in der Tiefe. Von der Hütte gegen den Bach hin erstreckt sich eine Böschung aus Schutt und Stein. Wenn man auf derselben etwa hundertfünfzig Schritte lang dahinklettert, so kommt man zu einer flachen Felsplatte, die wie ein Tisch auf anderen Steinen ruht. Sie ist immer feucht von dem Nebelstaub, der aus dem schäumenden Wasser der Tiefe heraufsteigt. Der Englessel heißt die Not. Aber von dem Felstische aus kann man einmal im Jahre Wunder sehen. Am 22., 23. und 24. Juni zur Abendstunde erscheint hier die Sonne.
Wenn man von diesem Punkte aus talabwärts gegen Nordwesten schaut, so sieht man ganz unten, wo die lichte Himmelsscharte hereinblinkt, als letzten Vorsprung der Bergkette eine scharfe Felswand stehen. Ihr fast senkrechter Absturz, der 1500 Meter hoch sein soll, bildet eine schnurgerade Linie vom Himmel bis in die tiefste Talniederung, mit dem gegenüberstehenden Waldberghang die lichte Himmelsscharte einrahmend. Dieser Felsvorsprung hat zwei Namen: er heißt Donnerstein und auch Sonnwender. Wenn im Engkessel, die Not genannt, an den Wänden ein Gemsjäger steht, oder auf den gegenüberliegenden Almen ein Hirte, und es erhebt sich in den Wildeisböden ein Gewitter, so hört er bei jedem Blitz zwei Donnerschläge. Den einen zuerst über dem Gletscher und den andern eine Weile später vom Donnerstein herein. Drei Vaterunser, sagen die Hirten, soll man bequem beten können, bis nach dem ersten Schlag der zweite hereinkommt. Dieses Widerhalles wegen heißt jene Felswand der Donnerstein. Der Sonnwender ist sie geheißen, weil an den genannten Junitagen abends um halb acht Uhr hinter dem Profil der Wand die Sonne hervorkommt und einige Minuten in die Not hereinleuchtet, ehe sie in der Scharte untergeht. Die Hütte unter den Schirmfichten erreicht sie auch zu dieser Zeit nicht.
Wenn also jene Tage kommen, gehen die wenigen Hüttenbewohner längs des Schuttwalles hinaus bis zum steinernen Tisch und warten, bis hinter dem Donnerstein die liebe Sonne hervortaucht. Und wenn sie kommt, schauen die Leute schweigend auf sie hin, so lange, bis sie in der untersten Schartenecke verschwunden ist. Am ersten Abend der drei Tage taucht von der Sonne nur die Hälfte hervor, dann sinkt sie hinten hinab; am zweiten Tage löst sie sich in ihrer ganzen Runde aus der Felswand hervor, leuchtet in mildem, rötlichem Abendschein und sinkt in den Trichter hinab. Am dritten Tage lodert nur wieder die halbe Scheibe hervor, ehe sie untergeht. Ist sie dahin, dann gehen die Leute wieder der einsamen Hütte zu, um neuerdings ein Jahr auf den Besuch der Sonne zu warten. Am vierten Tage – so sagt man – würde die Sonne nicht mehr sichtbar und nur ein strahlender Glanz gehe aus vom Donnerstein, vor Sonnenuntergang.
In der Hütte wohnte zur Zeit dieser kleinen Geschichte der alte Hirte Bastian mit seinem Weibe, seiner Tochter, ihrem Manne und ihrem Knäblein. Es waren Hirten ohne Herde. Zur Sommerzeit, wenn aus den Dörfern der unteren Gegenden die Rinder, Pferde und Schafe auf die Almen geführt wurden, übernahm es die Familie des Bastian, über die Tiere zu wachen, daß sie sich nicht verliefen und daß sie den gefährlichen Absturzstellen ferne blieben.
Wenn bei schlechtem Wetter die Herden sich versammelten unter Schirmtannen, wie sie da und dort stehen, ging von den Bastianleuten eines hinauf, zählte sie ab und teilte unter ihnen Salz oder Mehl aus; war eines der Tiere krank oder fehlte eines, dann mußte nach dem Eigentümer eine Botschaft geschickt werden. Trotz der Hunderte von Stücken mußten die Hirten jedes einzelne Rind oder Pferd unterscheiden und wissen, wem es zugehört. An den Schafen waren nur die Rudel zu merken, die sich je nach der Zusammengehörigkeit von Haus aus sonderten und sich nie miteinander vermengten. Bei diesem Hüterdienst, der im Hoch- und Nachsommer etwa acht oder zehn Wochen lang währte, bis die ersten Schneestürme niederwirbelten von den Böden, verdiente sich die Familie so viel, um den Winter über leben zu können. Um sich einen Notpfennig zu erhausen, arbeitete der Schwiegersohn Killi manchmal im Holzschlag. Dieses Hirtenamt war seit alten Zeiten an die Leute des Bastian geknüpft, die man auch die Unterwander hieß, weil sie unter der großen Sollerwand ihre Hütte hatten.
Bastians Vater hatte drüben am sonnseitigen Hang die Hütte gebaut. Da war eines Maientags der Föhn gekommen und hatte hoch oben am Kar die Schneelawine gelöst. Sie kam niedergefahren, ihr Luftdruck fegte die Hütte weg und schleuderte die Trümmer mehrere hundert Klafter weit über das Tal, über das Wasser bis an die Felswand der Schattseite. Die Einwohner waren an demselben Tage draußen im fernen Kirchdorf bei der Fronleichnamsprozession gewesen. Als sie ins Hochtal kamen und kein Heim mehr fanden, da taten die drei armen Menschen ganz verschiedene Dinge. Das Weib weinte, der Sohn fluchte und der Vater betete ein Dankgebet, daß sie durch das »allerheiligste Altarssakrament« gerettet worden seien. Die Nacht über schliefen sie in einer Felsnische, am nächsten Tage begannen sie aus den Trümmern eine neue Hütte zu bauen unter der Wand bei den Schirmbäumen. Seitdem stand das Haus der Hirtenfamilie in dem ewigen Schatten. Zwar das Weib und die Kinder des Bastian hatten Sonne genug, wenn sie auf den Almen umherstiegen bei den schellenden Herden. Der alte Bastian jedoch hatte schon seit Jahr und Tag keinen Sonnenstrahl mehr gesehen. Er war einst, als er die von den Wildeisböden niedergehende Gletscherzunge zu überschreiten hatte, durch den Schneesteg gebrochen und in eine Eisspalte gefallen. Dort unten stak er neun Stunden lang, ehe er gefunden und gerettet werden konnte. Nach monatelanger Krankheit genas er, aber die Füße blieben lahm und tot. Der Bastian war ein Krüppel, der durch das Fensterlein in ohnmächtigem Wehe hinaufblickte zu den sonnigen Kuppen. Er hatte nie vorher empfunden, daß die Sonne so einzig nicht zu entraten ist. Nun konnte er mit dem alten Attingshausen klagen: »Wenn die liebe Sonne zu mir nicht kommt, ich kann ihr nicht mehr folgen auf den Bergen!« – Nein, sie kam nicht zu ihm, die liebe Sonne. Als nach seinem Unglückstage der erste Sonnwendtag war und die Bewohner der Hütte den einjährigen Enkelknaben hinaustrugen zum steinernen Tisch, um dem Kinde die Sonne zu zeigen, lag der Sebast noch auf dem Krankenbette. In dem darauf folgenden Jahre hätte der Alte sich wohl auf einem Steinkarren hinausschieben lassen über den Schuttwall, aber es war trüber, regnender Himmel, und wieder war die Sonne verspielt für ein ganzes Jahr. Nun aber kam die dritte Sonnenwende.
Die Sonne spannte ihren höchsten Bogen in den Himmel auf, aber den Zenit erreichte sie nicht und über die Zinnen der Sollerwände kam sie nicht. Jenseits stieg der Schein herab über Alm und Wald, aber ins Tal kam er nicht. Gegen Abend begannen dort die Schatten, wie aus der Unterwelt steigend, den Berghang hinaufzukriechen, höher und höher die bunten Farben der Wälder und Matten löschend, bis endlich auch die höchsten lichten Gipfel zu dunkeln Wuchten geworden waren. Die Not mit ihren Felsblöcken und ihren verwitterten Baumgruppen und ihrer Menschenhütte versank in dunkle Nacht. Am 22. Juni war der alte Sebast schon frühmorgens rege und blickte aus, wie der Himmel sei. Soviel von ihm niedersah, er war blau und die Almkuppen leuchteten rein, wie grünliches Gold. Es ist der Tag der Sonne. Noch fünfzehn Stunden und er wird die Sonne sehen!
Zur Mittagszeit hatten sich über die Zacken der Wildeisböden ein paar milchweiße Wolkentürme heraufgebaut. Am Nachmittag zerfransten sie sich und verschwanden. Der Alte kratzte mit dem Schermesser seine Bartstoppeln weg und zog sein Sonntagsgewand an nach langer Zeit. Er merkte, es war ihm recht weit und luftig geworden. Auch sein Weib kleidete sich besser und die Tochter richtete ihr Knäblein festlich her, wusch ihm mit feuchtem Lappen das blasse Gesichtl und strählte ihm das flachsfalbe Haar. So richteten sie sich her zum Empfang der Sonne. Der Bastian saß schon auf seinem Sandkarren und blickte ununterbrochen hinaus in die lichte Scharte. Ja, sie war licht, aber blaßlicht und mit einer Dunstschicht überzogen, die sich rasch verdichtete. Als sie hinausfuhren über den Schuttwall, standen in der Scharte bleigraue Wolken, aus denen es blitzte. Es war halb acht, und es wurde acht Uhr und hinter dem Donnerstein kam keine Sonne hervor. Betrübt kehrten sie in der Dämmerung zur Hütte zurück – hoffend auf den nächsten Tag.
Am nächsten Tage regnete es vom Morgen bis zum Abend und die Nebel hingen so tief nieder, daß nicht einmal die Scharte zu sehen war am Donnerstein. Am dritten Tage regnete es nicht, aber der Himmel war umzogen und auf den Bergen hingen Nebel. Der Knabe hüpfte den ganzen Tag um die Hütte herum und jauchzte, er werde die Sonne sehen, die liebe schöne Sonne!
»Du wirst sie freilich sehen, Kind,« sagte der Großvater zu ihm, »du bist jung. Aber ich werde wohl ohne Sonnenuntergang schlafen gehen müssen.«
Am Nachmittage heiterte es sich auf, am Abende leuchtete die Scharte im hellen, wolkenlosen Himmelslichte. Der Tochtermann war nicht zu Hause, war im Gebirge bei den Herden. Das Weib und die Tochter spannten sich an den Karren, in dem der Bastian kauerte; der dreijährige Knabe schob hinten nach und so zogen sie in feierlicher Andacht den rauhen Wall hinaus bis zum steinernen Tisch. Dort standen sie und blickten auf die Scharte hin, die zwischen den beiden Berglinien immer heller und heller wurde. Der Bastian blieb im Karren und legte die Hände gefaltet auf den Tisch, sie zitterten ein wenig. Neben ihm hockte sein auch schon mühseliges Weib. Die junge Mutter hatte den Knaben auf den Schoß genommen und gesagt: »Jetzt mußt du schön still sein, Kind. Es kommt die liebe Sonne.« Aber das hörte man nicht, denn es donnerten die Wasser in der Schlucht. Die vier Menschen blickten schweigend.
Hinter dem Absturz des Donnersteins begann es blendend hell zu blinken. Dann quoll aus der Wand eine glühenden Lohe, ein feuriges Halbrund, immer größer und weiter sich dehnend, bis die ganze funkelnde Sonnenscheibe in der Scharte stand und ihr rosiges Licht hereinlegte durch das tiefe Engtal. – Ein paar Minuten stand sie so da in stiller Majestät, dann plattete sich der untere Rand und die Sonne versank allmählich ins Dunkle.
Als sie verschwunden war, rief der Knabe: »Ist das die liebe Sonne gewesen?« Die Frauen jubelten jetzt. Die Gnade war größer gewesen, als sie erwartet hatten. Die ganze Sonne hatten sie gesehen, während sie als am dritten Tage nur einen Teil von ihr erwartet. Es ändert sich nicht der Lauf der Gestirne, aber es irren die Menschen.
»Und wie geschwind alles wieder vorüber ist!« sagte die alte Frau; sie zog ihren Loden um die Achseln zusammen, denn es strich die frostige Abendluft.
»Ihr solltet doch beten, solange die Sonne da ist,« sprach der Greis, er mußte es schreien und hielt immer seine Hände gefaltet auf den Tisch gelegt.
»Gott der Herr führe uns all' zur ewigen Freud' und Seligkeit, Amen.« So betete die Frau, »und nun, Alter, wollen wir wieder in die Stube fahren.«
»So wartet doch, bis die Sonne unten ist!« rief er laut.
»Sie ist ja schon lange unten, Vater, und es wird dunkel.«
Da schrie der Alte, die Sonne sei noch da, er sehe sie! Er sehe sie groß und tanzend vor seinen Augen stehen! Dann tastete er nach der Hand seines Weibes und tastete mit den Händen in die leere Luft und rief: »Was ist denn das? – Was ist denn das? Jetzt sind zwei Sonnen da! Jetzt sind drei Sonnen da! Sie tanzen in allen Farben. Was ist denn das?«
Die Frauen brachten ihn in die Hütte. Den Bastian umtanzten die Sonnen noch stundenlang. Und als der Morgen tagte und auf den gegenüberstehenden Kuppen wieder der goldige Schein lag – sah der Alte nichts mehr. Er war erblindet.
Nach einer Weile kamen Leute zusammen und schauten den armen Mann an, der hilflos im Winkel der dunkeln Stube kauerte. Sie sagten, der schwache Augennerv sei von der grellen Sonne getötet worden, in die er anhaltend geblickt hatte.
Der Bastian saß da und sagte nichts als »In Gottesnamen!« Er hat sein Gesicht keinem Fenster und keiner besonnten Bergkuppe und keiner Herdglut und keiner Kienspanfackel mehr zugewendet; ein unendliches Meer von Dunkelheit umgab den hinsiechenden Greis. Aber in dieser Dunkelheit begannen wieder zu kreisen, bald blasser, bald heller, die feurigen Sonnenräder. Der alte Hirte merkte es kaum, wie seine Seele auf solchem Sonnenwagen sachte entführt wurde empor zum ewigen Licht.