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Oben in den Freudenstuben – Das Straßen-Publikum

Die Freudenbehausungen der oberen Stockwerke in der Falkland-Road schauen im allgemeinen beträchtlich freundlicher aus als die Parterre-Käfige.

Da unten in den Käfigen ist's fürchterlich, doch die Buhlerinnen in den Stockwerken bemühen sich, ihren Stuben ein freundliches, verlockendes Aussehen zu geben, – durch große Wandspiegel, durch eine ansehnliche, helles Licht spendende Hängelampe, durch zahlreiche kleine Wandbilder, – ja es gibt oben Zimmer, die geradezu mit einer gewissen Prunkhaftigkeit eingerichtet sind.

Sieh da, auch Araberinnen hausen in den Buhlstuben der Stockwerke; Frauen-Typen, wie ich sie aus Ägypten und Syrien nur allzu gut kenne. – Sie sind mir förmlich etwas Anheimelndes.

Unten in den Käfigen nur armselig gekleidete Inderinnen; oben Araberinnen und Inderinnen, die auch durch gewähltere Tracht auf den Mann einzuwirken suchen.

Eine Frage:

Sind diese weiblichen Gestalten, die von den Stockwerken der Häuser in der Falkland-Road auf das abendliche Straßengetriebe niederschauen, sind diese Mädchen und Frauen wirklich käufliche Buhlerinnen?

Wenn man infolge zahlreicher Spaziergänge in orientalischen Freudengassen einige Erkennungs-Praxis erworben hat, wird man die Frage ohneweiteres bejahen.

Man kann übrigens eine sehr überzeugende Probe machen, die den letzten Rest eines Zweifels zu tilgen vermag:

Ich mache vor einem Hause Halt und blicke verweilend zu den Fenstern empor; und alsogleich winken mich die Frauengestalten heran, laden mich durch Hand- und Kopfwink zum Besuche ein.

Die Probe ist somit gelungen. Und zudem steht mir's frei, die Mädchen »in flagranti« zu erwischen, – hinaufzugehen und (mit meiner selbsteigenen Mithilfe) den Beweis zu erbringen.

Der Weg zu den Freudenräumen der Stockwerke führt über gebrechliche Holzstiegen, und man muß bisweilen ein bißchen Spürsinn aufwenden, will man den Zugang zur Stiege an der Gassenfront des Hauses zwischen indischen Kramläden und Handwerkerstätten oder in einem finsteren engen Nebengäßchen der Falkland-Road auffinden.

*

Wenn man durch die Falkland-Road promeniert, kann man von der Gasse aus geradezu in die Eingeweide der Häuser schauen; die Beschaffenheit der Fenster gewährt den Einblick.

Der Straßenpassant sieht die Insassen der Stockwerk-Zimmer in ihrer vollen Größe, vom Kopf bis zum Fuße, und er sieht die Insassen auch dann, wenn sie in der morgenländischen Kauerstellung auf dem Zimmer-Fußboden hocken.

Denn der Fensterausschnitt reicht bis zu den Dielen der Zimmer, bis zum Fußboden des Stockwerkes hinab, so daß das Fenster eigentlich wie eine Art Türöffnung oben in der Hauswand ist. Fensterscheiben sind in der Regel nicht vorhanden. Im unteren Teil der Fensteröffnung bilden einige Gitterstäbe oder Pfosten eine »Brustwehr«, die den Ausblick auf die Straße – und den Einblick in die Stuben – nicht verwehrt.

Da ich das galante Zärtlichkeits-Getändel des Abendlandes im Gedächtnis habe, so erscheint mir der Umstand einigermaßen befremdlich, daß das Zusammensein von Mann und Mädchen oben in den Zimmern durchaus nicht die Eigenheiten eines »Schäferstündchens« zeigt.

Die Gäste, arabische oder indische Männer, hocken in Gesellschaft der Freudenmädchen auf dem Boden, ganz nahe dem Fenster oder im Innern der Stube, und sie plaudern, scheint's, gemächlich in unbewegter Gemütsruhe. Alsbald werden sie sich aus dem Gassenzimmer in einen diskreteren Hintergrund zurückziehen, doch derzeit äußern sie weder durch eine Miene noch sonst durch ein Anzeichen die Rolle eines Liebhabers. Der Mann weilt mit erotischer Absicht in der Freudenwohnung, er ist jetzt mit dem Vorwort zu einer Liebesangelegenheit beschäftigt, aber er trägt ein nüchtern-geruhiges, sachliches Benehmen zur Schau. Kein Anschmiegen, kein Berührungs- und Umarmungsbestreben; kein zärtliches Lächeln und Mienenspiel verrät, daß eine Minnespiel im Werden ist.

*

Die arabischen Buhlerinnen der Falkland-Road zeigen ein unverschleiertes Gesicht, eben in ihrer Eigenschaft als öffentliche Mädchen.

Im Straßen-Publikum der Falkland-Road sind arabische Männer eine nicht-seltene Erscheinung. Daher – oder dazu – die arabischen Freudenmädchen.

– Ich erfahre, daß diese Araber, die man in den Straßen des Native-Stadtteils von Bombay sieht, Händler, Kaufleute aus Bassora sind. – – Basra – Bagdad, – – eine vertraute Ideenverknüpfung führt uns zum Gedanken: »Tausend-und-eine Nacht« …

Manche Araber hier in der Falkland-Road – wie auch anderenorts, in anderen Ländern – fallen durch die natürliche adelhafte Würde der Gestalt und Haltung auf. Die lange Talargewandung verstärkt den Eindruck. – Ein Widerschein, der aus uralten vornehmen Tiefen des Orients heraufkommt.

– Als ich heute abend mit der elektrischen Straßenbahn hieher fuhr, waren im Wagen als Fahrtgenossen auch Inder und Araber. Mir fiel ein Unterschied im Gesichtsausdruck der beiden Gruppen auf: die Miene der Araber freier, kühner, lebhafter, aktiver; in der Physiognomie der Inder ein düsterer Ernst und zudem gelegentlich ein leidender Zug.

Auch unter den Indern bemerkt man manchmal Figuren und Gesichter von imposantem, geradezu majestätischem Aussehen. Als würden Söhne alter Königsgeschlechter entthront und unerkannt dahinwandeln.

*

Beachtenswert ist das Verhalten des indischen Straßen-Publikums gegenüber dem Freudenmädchentum.

Einzelne Ausnahmen abgerechnet, im allgemeinen, betragen sich die Eingeborenen recht gleichmütig, ja fast teilnahmslos angesichts der Tatsache, daß in aller Öffentlichkeit, mit einer hell-ersichtlichen, ausgiebigen, unbekümmerten Deutlichkeit auf diesem Gebiete geschlechtlicher Beziehungen ein reger Betrieb entfaltet wird.

Das Bemerkenswerte der Sache kommt dem europäischen Betrachter lebhaft zu Bewußtsein, wenn er im Geiste, in seiner Phantasie, die Verhältnisse, die hier in der Falkland-Road zu schauen sind, auf eine mitteleuropäische Großstadt überträgt: Was würden die Leute einer europäischen Hauptstadt sagen, wenn sich die Umstände dieser indischen Straße, der Falkland-Road, im Rahmen der europäischen Hauptstadt befänden? Also eine sehr verkehrreiche Straßenzeile, eine Hauptstraße. – Hunderte und Hunderte Fußgänger, die ein Pflicht- oder Unterhaltungsweg durch die Straße führt, – und die meisten ersten Stockwerke der Häuser zeigen erleuchtete Stuben, worin Freudenmädchen sich aufhalten, sich am Fenster präsentieren, um einen Besucher zu gewinnen, gegebenenfalls mit dem Besucher plaudernd in der Stube sitzen, allen Straßenpassanten sehr deutlich sichtbar, – und da und dort in einem hell-erleuchteten Zimmer ein geräumiges Himmelsbett, wie eine allgemein verständliche Annonce, die den Zweck des Bettes in die Gasse hinabruft und zur Erfüllung des Zweckes, zur Ausfüllung dieser Art von Himmel einlädt.

Das Straßen-Publikum der Falkland-Road kann, wenn es mag, alle Vorgänge sehen: das anlockende Mädchen, den Eintritt des Gastes, die Prolog-Konversation. Als sähe man zu einer Bühne empor. Erst zur delikateren Haupt-Aktion pflegen die, die bisher öffentlich sichtbar waren, in einen abgelegenen, nicht sichtbaren Hintergrund abzugehen.

Der Augenblick des Abganges ist ebenfalls der Kenntnis des Publikums preisgegeben, dem Straßenpassanten könnte der Gedanke nahegelegt werden jetzt eben, in diesem Moment, beginnen die Zärtlichkeiten.

Wie erwähnt, im allgemeinen widmet das indische Straßen-Publikum diesem ganzen Komplex geschlechtlicher Angelegenheiten kaum irgendwelche Aufmerksamkeit. Das Wort »Publikum« hat hier nicht den Sinn von »Zuschauer – Gaffer«.

Die in einer erotischen Stimmungssphäre steckenden Insassen der Stockwerke kümmern sich wenig um die Meinung des Publikums und das Publikum scheint wegen des Umstands, daß die Sphäre da oben erotisch ist, in keinerlei außerordentliche Meinung zu geraten, zum mindesten ist nicht zu merken, daß das Publikum sich um die Stockwerke besonders kümmert.

Die Straßenpassanten setzen gelassen ihren Weg fort, wohl gar ohne überhaupt einen Blick hinaufzusenden, und die Besitzer der kleinen Verkaufsläden im Erdgeschoß scheren sich womöglich noch weniger um all diese öffentlichen Erscheinungen des Geschlechtslebens; auf das alltägliche – allabendliche – Schauspiel schaut man nicht mehr hin. Das Desinteressement des Publikums könnte nicht ausgeprägter sein, wenn die Stuben Speisezimmer wären statt Freudenfrauenzimmer und wenn die Gäste und die »Frauenzimmer« sich mit Essen und Trinken beschäftigen würden statt mit den Präludien zu sexuellen Ereignissen.

*

Ohne Zweifel, es geht hier weder fein noch vornehm zu …

Ich möchte ja von Herzen gerne nur das Schönste und Erfreulichste über die Liebesgassen von Bombay aussagen, ich wäre mit Vergnügen bereit, sie im holdesten Lichte darzustellen, aber wenn man den Freudenstadtteil Kamatipura wirklichkeitsgetreu porträtieren will, muß man eben bekennen, daß in diesem Dirnen-Rayon auch eine Menge von Erscheinungen gedeihen, die bedeutend unerquicklich sind.

Es ist eine tüchtige Portion Unschönes vorhanden, somit muß der gewissenhafte Schilderer eine tüchtige Portion Unschönes konstatieren; und auf Schönfärberei und poetische Verklärung bedauernd verzichten.

Anmutiger wäre es, wenn man Ursache hätte, ein lieblich-paradiesisches Gefilde zu beschreiben, doch auch das Garstige kann bemerkenswert und wissenswert sein.

Und übrigens, – wenn man ohne Verblendung und ohne den Willen zur Blindheit hinter die Schleier der anerkannt nobeln und geaicht-wonniglichen Liebes-Gelegenheiten schaut, gewahrt man bekanntlich genug Einzelheiten, die einem wider den Appetit gehen.

Es ist alles Morast – oder nichts.

Der arme Inder, der in den Käfig schlüpft, und der Gentleman, der im vornehmen Boudoir der hochfeinen, mit allen Wässerchen genetzten Kokotte weilt, sie liegen beide im Pfuhl.

Beide, oder keiner.

Der eine merkt's, der andere nicht.

Und der armselige Inder hat bei seinem Käfigmädchen vermutlich keinen geringeren Lustrausch als der Gentleman bei seiner holdseligen Kurtisane; oder einen größeren.

*

Was will das arme Würmchen unter den Buhlerinnen?

Durch die Falkland-Road bummelnd gewahre ich einen Erdgeschoß-Käfig, in dem neben drei Inderinnen ein ungefähr fünfjähriges Kind weilt.

Die eine von den drei Frauen ist offenbar die Mutter des kleinen Geschöpfes, das mit altklugen schwarzen Augen aus dem Käfig herausschaut; in dem gelblich-braunen Gesichtchen kein Schimmer jugendlichen Frohsinns.

Ist die Mutter eine Freundin, eine Bekannte der Freudenmädchen, die zu Besuch- und Plauderzwecken mit ihrem Kind in den Käfig hiehergekommen ist? –

Jetzt, am Abend, während der Geschäftszeit, während der Amtsstunden? –

Schwerlich! Ich habe den Eindruck, daß eine solche Annahme nicht richtig ist.

Oder ist die Mutter dieses armen Wesens hier als Freudenmädchen tätig? Oder ist sie die Inhaberin des Käfigs, die Kupplerin?

Einige Umstände bringen mich zur Folgerung, daß die Frau tatsächlich die Gelegenheitmacherin ist; sie scheint die zu sein, die den Käfig gemietet hat und aus der Beschäftigung der Mädchen ihren finanziellen Mit-Vorteil zieht. Und es mag vorkommen – wie dies in solchen Fällen üblich ist – daß sie selber manchmal, wenn sie einen Abnehmer findet, sich den Männern hingibt.

Man sieht, wenn man im Wunderlande Indien und überhaupt im Orient reist; ganz sonderbare Dinge und man gerät schließlich nicht mehr gar leicht in Verwunderung, selbst wenn man auf Erscheinungen stößt, die man in Europa als eine unfaßbare Ungeheuerlichkeit betrachten würde.

Ich erstaune also nicht mehr, wenn ich in einer Buhlstube ein Kind zarten oder zartesten Alters bemerke. Es ist nicht das erstemal, daß dergleichen im Morgenlande sich meinen Blicken darbietet. (An demselben Abend – vorgestern – habe ich auch noch in einem anderen Käfig ein Kind gesehen, ein ungefähr dreijähriges.)

Es regt sich wiederum das Mitgefühl mit dem armen Kind, das vom Schicksal dazu verdammt worden, in solchem Lebenskreise aufzuwachsen. Eine Buhlkammer ist seine Kinderstube. Dieses kleine Wesen hat nie eine Unschuld besessen, denn vom ersten Moment an, da ihm Erkenntnis und Verständnis erwachten, hatte es Begebenheiten vor Augen, wie sie sich eben hier in der Falkland-Road, in der Dirnenkammer abspielen; Frauen, welche die unbekannten Spaziergänger hereinlocken; Männer, die mit den Frauen hinter den Bettvorhängen verschwinden; und unter den Frauen die eigene Mutter des Kindes.

Aus den Reden und aus anderen Anzeichen lernt das Kind den Sinn der Vorgänge verstehen, die »sexuelle Aufklärung« wird ihm in nur allzu anschaulicher Form zuteil.

Das Kind in der Dirnenstube – als Familienmitglied, Zeuge, Mitbewohner, – das ist, wie gesagt, im Orient nichts Seltenes, nichts Befremdliches, und niemandem, der mit den Verhältnissen vertraut ist, wird es einfallen, die Mutter darob zur Rede zu stellen.

Täte man's – Ja, erklär mir, wie kannst du, als Mutter, dein Kind in solcher »Lasterhöhle« aufziehen? – würde man diese Frage an eine Inderin hier in der Falkland-Road von Bombay richten, an eine Hindufrau, die Dirne und Mutter ist, so bekäme man vielleicht folgende Antwort:

Du machst mir Vorwürfe, aber sag Du mir doch, wie ich's anstellen soll, um mein Kind und mich zu ernähren? Ich bin Witwe und es ist Dir wohl bekannt, in welch traurige Lage eine Hinduwitwe geraten kann. Gemäß der Landessitte muß ich in lebenslänglichem Witwenstand verharren und ich habe unter dem Druck der Beschränkungen, die nach altem Brauch den Hinduwitwen auferlegt werden, schwer geseufzt. Du weißt, mancher Witwe geht es in Indien leidlich und manche muß, bloß weil sie Witwe ist, ein sehr unleidliches, leidenvolles Leben führen. So warf ich mich denn der Schande in die Arme. Ich bin ja nicht die einzige Hinduwitwe, die dergleichen tut. Aus dem Käfig des indischen Witwentums bin ich in diesen Käfig geflüchtet. Ich muß meinen Lebensunterhalt haben und auch mein Kindchen soll nicht Hungers sterben. Gewiß, es lebt in der Stube der Schande, mein Kind, aber es lebt!

– Ähnlicherweise würde sich vielleicht die Inderin zu rechtfertigen trachten.

Es wäre aber auch denkbar, daß eine solche indische Mutter-Dirne den vorwurfsvollen Frager ganz verständnislos anblickt und ihm entgegnet: Ich weiß nicht, was Du willst. Warum soll es denn etwas so Schreckliches sein, wenn mein Kind in dem Raum, wo wir unser Brot verdienen, zugegen ist und hier aufwächst? Wir haben eben nur diese eine Kammer. Wo sollen wir das Kind sonst hintun, wer soll es beaufsichtigen? So ist's in diesen Gassen immer und immer gewesen, seit Menschengedenken, seit der Urväter Zeiten. Stets hatten wir unsere Kinder bei uns. Oder sollen wir sie etwa verstoßen? – – – – –

– – Diesen Hinduleuten fehlt das Gefühl dafür, daß ein Buhlkäfig denn doch nicht der geeignetste Aufenthaltsort für fünfjährige Mädchen oder Buben ist. Oder falls jenes Gefühl vorhanden ist, so haben sie unter dem mächtigen Zwang der Verhältnisse kaum eine Möglichkeit, die Sachlage zu ändern.

Ebenso gleichgiltig gestimmt sind all die eingeborenen Männer, die draußen auf der Straße vorbeispazieren oder, von ihrem geschlechtlichen Verlangen getrieben, in den Käfig kommen. Es geniert sie nicht im geringsten, daß auch ein kleines Menschengeschöpf im Buhlkäfig ist, welches den eintretenden unbekannten Mann mit scheuen Kinderaugen betrachtet oder mit frühreif verstehenden Blicken; oder gar mit einer Miene des Erfreut-seins, denn das Kind in der Dirnenkammer – verstehend oder nicht verstehend – hat immerhin schon die Beobachtung gemacht, daß ein Besucher, ein fremder Mann, jedenfalls etwas Erwünschtes ist, dessen Erscheinen im Käfig von der Mutter mit wohlzufriedenem Sinn begrüßt wird. Und was der Mutter Freude macht, bringt auch in die Augen des Kindes einen frohen Widerschein.

Das kleine Mädchen oder Büblein ist ahnungslos beglückt durch die Ankunft des Fremdlings, – des Mannes, der die Mutter prostituiert.

Während die Inderin, auf dem Boden des Käfigs hockend, ihr Kind in den Armen hält, tritt der Besucher ein, die Mutter stellt das kleine vier- oder fünfjährige Wesen beiseite, steht auf und begibt sich hinter den Vorhang in die Arme des unbekannten Gastes; und dann, nachher, nach Erledigung ihrer buhlberuflichen Tätigkeit, kommt sie wieder hervor und nimmt von neuem ihr Kind in die Arme, nimmt es auf den Schoß.

Niemand – weder der Mann noch die Frauen – macht sich Gedanken ob der Gegenwart der kleinen Kreatur, niemand fühlt irgendwie Bedenken. Es genügt ihnen, daß das Lager auf dem Fußboden oder das Bett einen Vorhang besitzt, der, zwei Schritte von den anderen Käfig-Insassinnen und vom Kind entfernt, schlecht und recht das gepaarte Paar verdeckt. Sie fühlen sich alle durch den Vorhang gedeckt und gerechtfertigt, geschirmt gegen Skrupel und Bedenken jeder Art.

Es sind ja Vorhänge da, – was will man denn sonst noch?

– – Und wieder ist ein Mann eingetreten und wieder wartet das kleine braune Mädchen auf die Rückkunft der Mutter. Und der Blick der Kinderaugen hängt an dem Vorhang.

*

Ich habe vorhin das Problem der Hinduwitwe gestreift. Es ist nicht zu bezweifeln, daß die wenig beneidenswerte Situation, die in der Hinduwelt den Witwen beschieden ist, nicht wenige Witfrauen ins Lager – aufs Lager – der Prostitution treibt.

Die lustige Witwe gibt es nirgend in einem Hinduhaus.

– Um nochmals auf die absonderliche Tatsache »Das Kind in der Buhlkammer« zurückzukommen: ich habe im Orient gesehen, daß Kinder sich an dem Locken und Werben der Freudenmädchen beteiligten, indem sie mit den kleinen Händchen ebenfalls winkten und ihre dünnen Stimmchen mit den Einladungsrufen der erwachsenen Buhlerinnen vereinten.

Und ich habe nirgend wahrgenommen, daß eine der Frauen etwa mit einem Verbot gegen das mit-lockende Kind vorgegangen wäre und ihm bedeutet hätte: Du, das darfst du nicht tun!

Im Gegenteil, diese Mütter, sie sehen es gerne. Es kommen beide Fälle vor: entweder wird die kleine Menschenpflanze von der Mutter zur Lock-Mithilfe geradezu abgerichtet, weil die Buhlerinnen sich von der Mitwirkung des Kindes einen Erfolg versprechen, – sie hoffen, daß das winkende und lockpiepsende Püppchen einen drolligen und neckischen Eindruck auf den europäischen Mann machen, ihn in gute Laune versetzen und solcherart zum Eintreten in die Freudenstube geneigter machen werde.

Sie versprechen sich eine freundliche, gewinnende Wirkung von einer Sache, die doch eher tragisch als komisch anmuten muß. Der nackte brutale Sinn des Geschehnisses ist ja im Grunde nur der: Das Kind, angestiftet von der eigenen Mutter, betätigt sich unbewußt als Kuppler, indem es die Männer bittet, mit der Mutter das Buhlbett aufzusuchen.

– Oder das verblüffende Phänomen des lockenden Kindes ist lediglich so zu erklären, daß das arme Würmchen in nichtsahnendem Nachahmungstrieb einfach alles mitmacht und nachäfft, was die Erwachsenen tun, und zuvörderst, was die Mutter tut, die Mutter, die ja dem engen Bewußtsein des Kindes als oberste Instanz, als höchst-einzige Gottheit gilt.

Ich habe übrigens während meiner jüngsten Abendwanderungen in der Falkland-Road zweimal kleine Buben bemerkt, die, allem Anschein nach, ganz gut wissen mochten, zu welchem Zwecke man einen vorübergehenden Mann in die Freudenstube einlädt. Es waren indische Jungen im Alter von zehn oder zwölf Jahren, der eine saß in der unteren Falkland-Road vor der Schwelle eines Käfigs, der andere hockte in der oberen Falkland-Road beim Fenster auf dem Fußboden einer Kammer im ersten Stockwerk. Der vor dem Käfig suchte mich mit der Aufforderung »Come on!« zum Eintritt in die Freudenstallung anzuregen, der andere kauerte oben in der gut beleuchteten Stube neben einer Inderin und als ich hinaufschaute, da winkten mir beide sehr eifrig, sowohl die Frau als auch der Knabe.

Wenn man diese indischen Liebesgassen infolge vieler, vieler Besuche gut kennen gelernt hat und sich sozusagen in den Charakter von Kamatipura eingefühlt hat, so daß man schließlich die Mimik, die Ausdrucksweise unseres Buhlbezirkes leicht zu entziffern versteht, kann einem in der Deutung der Vorgänge nicht bald ein Irrtum unterlaufen. Man wird dann auch gar nicht erst auf den Gedanken kommen, es könnte ein winkender Knabe einen ganz anderen Sinn haben, – ein Verdacht, der sich in anderen Städten des Orients mit weitaus triftigerer Berechtigung regen würde.

Nein, hier in der Falkland-Road von Bombay bedeutet ein lockender Knabe keinen Beitrag zur »Psychopathia sexualis«, der Hindu-Junge bezieht die Einladung nicht auf sich selber, sondern auf – seine Mutter.

Er ist nur Kuppler, sonst nichts.

»Nur«!

Der Vierkäsehoch im Alter von zehn oder zwölf Jahren als »Ruffiano«, als »Zutreiber«.

Ein zehnjähriger Kuppler, und zwar der Kuppler seiner Mutter.

»Sonst nichts.«

O Indien, Wunderland!

*

Und all dies öffentlich, vor aller Augen, in einer Hauptstraße.

»Was schert mich Weib, was schert mich Kind!« Man empfängt den Eindruck, daß sich das indische Straßenpublikum der Falkland-Road nicht darum kümmert, was mit diesen Kindern und Frauen vorgeht.

Und daß überhaupt die Leute ziemlich indifferent an den Begebenheiten und Erscheinungen vorübergehen, die im Parterre und in den Etagen der Häuser sichtbar sind.

Diese Allgemeinregel kann durch Ausnahmefälle modifiziert werden: vor den Erdgeschoß-Käfigen sieht man manchmal neugierige Eingeborene; wenn in den Käfig ein zur Liebe bereiter Besucher eingetreten ist, so schließt die Inderin das sehr einfache Brettertürchen, das gassenseits vor den Gitter-Eingang getan werden kann, es wird aber solcherart kein durchaus getreuer Verschluß erzielt; und einigemale habe ich in der Falkland Road wahrgenommen, wie einzelne Inder – junge Leute – das Gesicht gegen die Fugen der Bretter drückten und mit Interesse in den Käfig hineinspähten.

Auch würde, wie gesagt, die Aufmerksamkeit des Straßen-Publikums angefacht werden, wenn in der Kammer des indischen oder arabischen Freudenmädchens die abendländisch gekleidete Gestalt eines »Sah'b«, eines Europäers sichtbar würde.

An der vorerwähnten Interesselosigkeit beteiligt sich natürlicherweise gleichfalls nicht das Gemüt solcher Männer, die in die Straße herkommen, um den Mädchen, den Mädchenstuben einen Besuch zu widmen. Diese Männer sind ja auch nicht »Publikum«, sondern Akteure.

Nachdem ich gewissenhaft Regel und Ausnahme abgegrenzt und indem ich feststelle, daß die Regel durch die wenigen Ausnahmen nicht erschüttert wird, frage ich mich wieder: Wie würde sich ein Straßen-Publikum einer europäischen Großstadt angesichts ähnlicher Erscheinungen der Sexualwelt benehmen? Doch während meine Gedanken ins Abendland heimwärts fliegen, fällt mir ein, daß ja auch in unserem viellieben Europa, in den fürnehmsten Straßen der Hauptstädte, die Freudenmädchen einherspazieren, inmitten des Stroms elegant gekleideter, ehrbarer Damen und Herren, hell bestrahlt von den schimmernden Lichtern der Geschäfte-Auslagen und der Straßenbeleuchtung; in den belebtesten, glanzvollsten Gassen promenieren die Freudenmädchen hin und her, zwischen den Mitgliedern der hochachtbaren anständigen bürgerlichen Gesellschaft, und jedermann weiß, daß dies »Dirnen« sind, jeder Mann weiß es und jede Frau, sowohl die weißhaarige Matrone wie auch der rosige oder blasse Backfisch, und die Backfische wissen's vielleicht besser als die Matronen, und die blassen besser als die rosigen.

Ist's doch unschwer zu erkennen, daß die interessanten Spaziergängerinnen, die da auf dem Bürgersteig im Menschenstrom an die ehrsamsten Frauen anstreifen, »Dirnen« sind, Anhängerinnen der Venus vulgivaga, und daß ihr Spaziergang ein Vor-Vorgang zu sexuellem Umgang ist.

– Von dem vergleichenden kurzen Ausflug, den wir nach Europa unternommen haben, bringen wir also die erfreuliche Erkenntnis mit, daß auch das europäische Straßen-Publikum den Funktionen, die das Freudenmädchen vor aller Augen ausübt, sehr duldsam gegenübersteht.

Auch in den Zentren europäischer Zivilisation bezeugt man den Freudenmädchen ein Entgegenkommen, indem man ohne ersichtliche Opposition sieht und zur Kenntnis nimmt, wie die Freudenmädchen auf offener Gasse im anlockenden und anreizenden Promenieren die Einleitung, die Ouvertüre zu ihrem sexuellen Berufsakt betreiben.

Allerdings, wenn Zwei das Gleiche tun, ist es nicht das Gleiche; wenn das indische Straßen-Publikum hier in der Falkland-Road Zeuge geschlechtlicher Vorspiele ist und wenn das Publikum europäischer Straßen ebenfalls nichts dagegen hat, in gleicher Angelegenheit Zeuge zu sein, so sind beide Arten von Publikum in gleicher Lage dennoch nicht gleichgestimmt. –

*

Um nur ganz kurz auf die Sache einzugehen:

Wir wollen die sittlichen Kräfte, mit denen ein europäisches Straßenpublikum ausgestattet ist, gewiß nicht überschätzen, ich glaube jedoch, man kann getrost behaupten, daß gewisse Tatsachen, die hier in der Falkland-Road von Bombay gedeihen, in einer Hauptstraße einer europäischen Großstadt ganz unmöglich sind, zum Beispiel das öffentlich sichtbare Kind in einer Buhlstube.

Etwas derartiges würde beim ersten Auftauchen sicherlich von der Entrüstung eines europäischen Publikums hinweggefegt werden.

Und eine westländische Hauptstraße mit Häuser-Reihen, die erfüllt sind von Freudenwohnungen, mit Bürgersteigen, die von vergitterten Paarungs-Höhlen eingefaßt sind, mit öffentlichen Häusern, die so öffentlich sind, daß die gesamte Öffentlichkeit unmittelbar hineinschauen kann, – dergleichen ist denn doch auch nicht recht denkbar.

Man muß sich schon zu einem Ausflug nach Indien bequemen, wenn man das sehen will.

(Wir sprechen von den Kernländern Europas und von Hauptstraßen. Was sich in Seitengassen und Seitenländern abspielt, das ist allerdings eine andere Sache.)

Wohl ist es wahr, daß in den sogenannten Kulturzentren Europas bestimmte Hauptverkehrswege von käuflichen, ersichtlich-sich-anbietenden Damen förmlich wimmeln und daß das honette abendländische Straßenpublikum sich gegen dieses Schauspiel nicht auflehnt.

Stimmt! Aber prüfen wir mal die Herzen und Physiognomien der beiden Menschengruppen, der Weißen und der Braunhäutigen. Betrachten wir zunächst den Hauptpromenadeweg einer westindischen Metropole, auf dem neben ehrbaren Europäerinnen und Europäern auch eine erkleckliche Menge unverkennbarer, schräg-äugelnder Kokotten hin- und hermarschiert. Wir können vor allem feststellen, daß diese – die Damen der Halbwelt – jedenfalls nicht als etwas Uninteressantes oder Unverfängliches von dem europäischen Straßenpublikum empfunden werden. Sie sind vielmehr als ein Gegenstand eingeschätzt, welcher der Beachtung wert ist.

Wendet das ehrsame europäische Straßenpublikum den hin- und herstreichenden Freudenmädchen seine offenkundige Aufmerksamkeit zu? Nun, es gibt, wie wir wissen, Leute, die hinschauen, und solche, die wegschauen. Wenn sie wegschauen, unsere Europäer, wenn sie an der Straßen-Kurtisane vorbeisehen, so ist es ein bewußtes, gewolltes Wegblicken; und darin gleißt nicht selten ein Schimmer von Scheinheiligkeit.

Mag das europäische Straßenpublikum aber wegschauen oder hinstarren oder hinschielen, so wird in der Mehrheit der Fälle irgend eine Gemütsbewegung mit im Spiele sein, augenfällig oder maskiert, echt oder erheuchelt: eine wider die Dirne gerichtete Empörung oder Verachtung, eine Lüsternheit, eine Teilnahme, – ein Interesse.

Und oft ein innerliches Stellungnehmen und Partei-Ergreifen, pro Dirne oder contra.

Kurzum, das Gros der westländischen Öffentlichkeit steht den öffentlich sichtbaren Symptomen der Prostitution keinesfalls indifferent gegenüber.

Jetzt werfen wir noch rasch einen Blick auf die indische Straße, auf die Falkland-Road.

Der Inder hat angesichts des öffentlichen Dirnentreibens eine beträchtlich neutralere Haltung. Er schaut entweder überhaupt nicht hin, weil ihn die Geschichte gar nicht interessiert, er geht oder fährt unempfindlich durch die Gasse, oder wenn er das Auge auf dem Buhlstraßenbild ruhen läßt, so geschieht's mit einem unbefangenen Blick, der frei ist von komplizierteren Regungen und von Tartüfferie; allerdings auch frei von Verschämtheit.

Und wenn dem indischen Spaziergänger etwas Spaß macht, – beispielsweise ein lustiger Wortaustausch mit einem Käfigmädchen, eine Wechselrede, die zwischen den Gitterstäben hin- und herflattert, – so verbirgt er nicht, daß ihn dies ergötzt.

Er schämt sich nicht seines Schauens und er schämt sich nicht des Geschauten.

Zwischen den öffentlichen Sichtbarkeiten der Prostitution wandelt der Inder in einer Stimmung, die erheblich mehr indifferent und indifferenziert ist als die des Europäers.

Wäre dem nicht so, würde diese indische Gasse mit all ihrem merkwürdigen Zugehör gar nicht existieren.

Wobei zu erwägen ist, daß immerhin ein reichlicher Grad-Unterschied des öffentlich Sichtbaren zu konstatieren ist, vergleicht man einen europäischen, von käuflichen Damen bestrichenen Spazierweg mit dieser Straße der Buhlkäfige und Freudenstockwerke.

– Ich zeichne hier die Bilder aus zwei Welten, der östlichen und der okzidentalen, so wie ich sie gesehen, ich stelle sie einander gegenüber, ohne ein Werturteil auszusprechen, ohne die eine oder die andere als besser oder schlimmer zu bezeichnen.

Dennoch haben wir uns gestehen müssen, das man der Stimmung eines europäischen Publikums gewisse Erscheinungen, zum Beispiel: das öffentlich sichtbare Kind in der Dirnenkammer, sicherlich nicht zumuten dürfte.

Freilich, es ist nicht alles sichtbar, was faul ist im Staate Europa.


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