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Allerlei
Es wäre nicht redlich, nicht davon zu reden. Nämlich von den Geschlechtskrankheiten.
Wir wollen sie nicht als » Geheime Krankheiten« einschätzen und möchten nicht der weitverbreiteten törichten Meinung huldigen, als dürfe man von diesen Erkrankungen nicht offen sprechen, sondern höchstens wispern und munkeln.
Die Frage meldet sich: Kann man denn in unseren Liebesgassen so unbekümmert drauf los lieben? Ist Kamatipura ein Gefilde ohne Geschlechtskrankheiten? – Wir wissen voraus, welche Antwort erfolgen wird: Gewiß, es gibt im Freudenstadtteil von Bombay auch Geschlechtskrankheiten!
Man findet sie in anderen, ehrbaren Bezirken der Stadt, mithin desgleichen – und destomehr – im Bezirk des Buhlgewerbes. Die venerischen Leiden kommen in den besten Häusern vor, sie sind im Schoße der Familie heimisch, – kein Wunder, daß sie auch die Prostitution und das Freudenhaus nicht verschonen. Die weibliche Einwohnerschaft von Kamatipura ist allen sonstigen menschlichen Krankheiten ausgesetzt und begreiflicherweise in besonderem Maße den Geschlechtskrankheiten, die ja sozusagen als die Berufskrankheit des öffentlichen Mädchens bezeichnet werden können.
Wenn es nicht schon a priori sicher wäre, daß unter den Freudenmädchen von Kamatipura auch venerisch-infizierte sind, so könnte ich's aus der Tatsache erschließen, daß jedesmal, nachdem die Dampfer von Bombay weggefahren sind, einige Mitglieder der Schiffsbesatzung in die Apotheke des Schiffsarztes kommen, um ihre frisch-akquierierten Geschlechtskrankheiten behandeln zu lassen.
Der Prozentsatz, die verhältnismäßige Zahl der venerisch-erkrankten Mannschaftspersonen ist übrigens nicht besonders hoch, – soweit ich nach mehrjähriger Beobachtung feststellen kann.
Das Schiffsvolk ist nämlich in puncto Geschlechtskrankheiten keineswegs so unwissend und unbedacht, wie man vielleicht vorauszusetzen geneigt ist. Nein. Die Leute sind im allgemeinen über die Gefahren der Geschlechtskrankheiten unterrichtet; und sie sind auf der Hut, je nach ihrer persönlichen Verfassung. Der eine mehr, der andere weniger. Dieser sehr, jener gar nicht.
Aus der Verschiedenheit der seelischen und leiblichen Beschaffenheit folgt eine Verschiedenheit des Gefahrbewußtseins, der Selbstbeherrschung, der Vorsicht, der Art und Stärke des Geschlechtstriebes.
Wenn die Selbstbeherrschung nicht hinlänglich funktioniert, wird's ihnen freilich gegebenenfalls passieren, daß die ungeheuere Macht des Geschlechtstriebes alle Angst vor venerischer Ansteckung betäubt und umwirft; und dann kann der Fall eintreten, daß der Unglücksmensch nach der entsprechenden Inkubationszeit in der Ordinationsstube des Schiffsarztes erscheint und das kleinlaute Bekenntnis ablegt, er habe ein »mal de done« erwischt. – Das ist die auf unseren Schiffen landläufige (oder eigentlich seeläufige) Bezeichnung für die Geschlechtskrankheiten.
»Mal de done«, – mit diesem Ausdruck des triestiner-venezianischen Dialekts benennt der Mann aus dem Volke ein »mal«, ein Übel, das da donne, von den Frauen herrührt; oder ein Leiden di donne, – das den Frauen eigen ist. Also ein vom Weibe herrührendes Kranksein und Mißgeschick …
Ersichtlicherweise eine einseitige, parteiische Bezeichnung. Sie schiebt die Herkunft der Krankheit dem Weib in die – Schuhe … Cherchez la femme … Eva als Ursprung alles irdischen Übels … Eine weibliche Gottheit als Namenspatronin der Liebe und der Geschlechtskrankheiten: venerische Krankheiten – die Übel der Frau Venus.
Es ist wohl unnötig zu sagen, daß man dem Mann, der mit einer im Kampf der Geschlechter empfangenen Wunde die Ordinations-Kajüte des Schiffsarztes aufsucht, wie jedem anderen Patienten entgegenkommt. Die Belehrung – für Gegenwart und Zukunft – die man ihm erteilt, ist nicht dem Register düster-salbungsvoller Moralpredigten entnommen, sondern dem der medizinischen Verhaltungsmaßregeln. – Maßregel, keine Maßregelung. – Nicht düster-graue Salbung, sondern unter Umständen graue Salbe.
Übrigens konnte ich in Kamatipura mit eigenem vor-untersuchendem Auge an Ort und Stelle konstatieren, daß manches ansonsten ganz verlockend ausschauende Freudenmädchen mit einem mal di donna behaftet war.
Bella-donna, das ist ein Gift, welches mit Vorsicht genossen werden muß, oder gar nicht. Ob sie bella ist oder nicht bella, – gehst du zum Weibe, vergiß die Vorsicht nicht.
Doch genug von diesem nicht übermäßig holdseligen Thema. Es war nicht zu umgehen, denn wer über Freudenmädchen des Orients Bericht erstattet, muß ebenso die Geschlechtskrankheiten erwähnen wie jeder, der über abendländische Prostitution schreibt. Schöner wäre es allerdings, wenn die Welt – und die Halbwelt – mit diesem wunden Punkt nicht behaftet wäre, aber wenn man die Dinge tatsachengemäß schildern will, darf man deren schlimme Flecken nicht verschweigen.
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Vorsicht und allfälliger Verzicht werden dem Manne dadurch erleichtert, daß sich's eben um Freudenmädchen handelt. Der Mann kann im Bereiche der »Dirne« mehr seine Selbstbeherrschung bewahren als angesichts einer Frau, die nicht dem Buhlgewerbe angehört. Es ist die Frage der Gelegenheit, die da ihr Spiel treibt. Wenn der Mann Gelegenheit zu haben glaubt, eine ehrbare Blume zu pflücken, so sagt er sich: Greif zu, verpaß nicht diese Gelegenheit. Versäumst du sie, dann kommt sie nie wieder, – nie – nie –
Winkt ihm jedoch die Möglichkeit, eine käufliche Dirne in die Arme zu schließen, winkt ihm das Freudenmädchen, so kann's ihm eher gelingen, sein Verlangen zu zügeln: Gemach, die Gelegenheit ist nicht so rar; sie ist nichts Einmaliges. Dergleichen kann ich jederzeit und allerorten pflücken. Ergo: ruhig Blut!
In den Freudengassen fehlt glücklicherweise die überwältigende, zwangartige Verführung und Benebelung, die dem Gedanken an die Nimmerwiederkunft der Gelegenheit entströmt.
Es wäre sehr schlimm, wenn auch in Kamatipura dieser dämonische Gedanke mit all seinen betörenden Einflüsterungen neben uns dahinwandelte.
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Vor kurzem sah ich abends in der Suklajistreet zwei junge Araber in würdevoller Talartracht, die, an europäischen Dirnen vorbeiwandelnd, spöttische Bemerkungen unter einander austauschten; aus ihrem Mienenspiel war klärlich zu entnehmen, daß sie sich über die weißen Freudendamen moquierten. –
(Die Araber, die vom persischen Golf zeitweise zu Geschäftszwecken nach Bombay kommen, befassen sich mit dem Verkauf von Pferden, Perlen, Datteln etc.)
Unter den Erscheinungen, welche dazu beitragen, daß der Asiate – und überhaupt der »Native« – den Europäer zu respektieren verlernt, nimmt die weiße, die europäische Dirne eine wichtige Stelle ein.
Um ein paar Rupien – so erwägt der farbige Eingeborene – kauf ich mir, wenn ich will, diesen Frauenkörper, auf dessen lichte Hautfarbe das abendländische Gesindel so stolz ist, – ich kann Europa in der Person der feilen Europäerin schänden.
Und die Mißachtung, womit der Sohn Asiens die Bordell-Europäerin bedenkt, nimmt weiterhin eine Richtung wider das Gesamt-Europäertum.
Die europäische Frau, die ihren weißen Leib öffentlich feilbietet, dann der europäische Mann, wenn er trunken-erregt ist, sie untergraben im Osten das Ansehen des Westens.
Geht der Europäer schwanken Schrittes, von Alkohol trunken, durch die Gasse, was zu Zeiten vorkommt, schauen Inder, Araber, Perser mit dem Ausdruck der Verachtung hinter ihm drein:
Seht, der weiße Mann, der sich als ein Gottwesen ausgeben möchte, ist auch nur ein Mensch wie wir, – nein, er steht tiefer als wir, er, der Betrunkene.
Oder sie gewahren in der Suklajistreet, wie der Sahib, der abendländische Mann von der Geschlechtslust trunken-erregt ist: da sitzt er hinter der Gittertür in der Baracke der Inderin und kost mit der Schwarzen vor aller Augen. – Er ist folglich eine Kreatur wie alle anderen, mit menschlichen, also tierischen Trieben. – Nur daß mancher Inder oder Araber sich's wohl überlegen würde, in solcher Liebes-Spelunke einzukehren.
Und auch der Weiße, der erregt und berauscht vom Jähzorn ist, – in den Tropen ein nicht gar so seltenes Phänomen – bringt den Europäer in Mißkredit: wie? er kann sich selbst nicht beherrschen und will über andere herrschen?
Alkohol, Brunft, Gähnwut.
Wein, Weib und Zornesruf, – sie nagen im Orient an dem Renommee der weißen Rasse. – Sie nagen – nagen –
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Die europäischen Professions-Buhlerinnen blicken in den indischen Liebesgassen mit einem Gefühl überlegener Geringschätzung auf ihre kaffeebraune, eingeborene Kollegin.
Verachtende Verachtete.
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Wenn ich in Kamatipura das Zwitschern und Piepsen der Asiatinnen höre, erinnere ich mich einer Stelle im II. Buche (Euterpe) des Vaters Herodot; – griechischen Leuten däuchte die unbekannte Sprache der Ausländerinnen so, als wäre sie die Sprache der Vögel. Diese fremden Frauen wurden darum »Tauben« genannt.
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Ja, die Einfalt der Eingeborenen!
Mancher Europäer landet in Indien mit der schönen Hoffnung, daß er allda eine Schar »unverdorbener« Naturkinder finden werde, ahnungslose Engel, die von der Zivilisation nur in sehr geringem Ausmaß beleckt sind.
Wenn man mit dergleichen angenehmen Erwartungen hieherkommt, kann man mancherlei Überraschungen erleben. Die eingeborenen Leute sind viel weniger naiv und unaufgeklärt als sich's der naive europäische Reisende ausmalt.
Dies erfuhr ich wieder einmal jüngst während eines Abendspazierganges; (wenngleich der Gegenstand, in den der Sohn Indiens sich diesmal eingeweiht zeigte, füglich kein besonderes Zivilisationsgeheimnis ist, – keine Sache, über die nicht auch ein einfacher Inder unterrichtet sein könnte.) Ich promenierte in der Grant-Road durch das Gewimmel braunhäutiger Menschen und war gerade im Begriffe, in die Suklajistreet einzubiegen, in die Zentralgasse des Lustbezirks, als ein ungefähr zwanzigjähriger Inder auf mich zutrat und mit diskreter Stimme anfragte, ob ich ihm »French letters« abkaufen wolle.
In der Hand hielt er eine Anzahl der kleinen, viereckigen, mit farbigem Damenkopf gezierten Papierkuverte, er pries mir die Marke des hygienischen Schutzartikels, der im Kuvert enthalten, und um die Vortrefflichkeit der Gummiqualität klärlich vor Augen zu führen, nahm er ein Condom aus der Papierhülle, indem er möglicherweise meinte, seine Ware würde dadurch, daß er sie mit Fingern zweifelhafter Sauberkeit abtastete und in die Länge zerrte, die Kauflust in erhöhtem Grade anspornen.
Dieweil all dies auf offener belebter Gasse geschah, wurde die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden hergelenkt und einige Inder blieben stehen, guckten dem feilbietenden Gummihändler über die Schulter und schauten auf seine Ware mit Blicken, welche, wie es schien, die Bedeutung des Gegenstandes gar wohl verstanden.
Es ist klar, daß diese Kinder des Wunderlandes den Kinderschuhen, den Naturkinderschuhen, schon entwachsen sind.
– Als ich noch geruhig daheim in europäischen Landen saß und als sich die Welt noch anders als heute in meinem Kopfe malte, da hatte ich recht romantische Vorstellungen von einem indischen Straßenhändler: wie wundersam mag er sein, welch morgenländisch-märchenhafte Dinge mag er wohl verkaufen!
Jetzt weiß ich's. Der indische Straßenhändler verkauft »französische Brieflein,« hygienische Gummi-Artikel.
Zum mindesten der da, in der Suklajistreet.
Aber ist nicht eben dies das Merkwürdige an dem kaffeebraunen Naturburschen?
Im übrigen muß gerechtermaßen zugegeben werden, daß er wegen seiner händlerischen Beschäftigung einen Lobspruch verdient. Denn als Verkäufer der Schutzmittel ist er ein Diener der Sexualhygiene. Wie ein getreuer Torwart und Eckart steht er am Eingang der Liebesgasse und bemüht sich, den Männern, die sich in die Abenteuer des Venusdienstes zu stürzen gedenken, seinen prophylaktischen Talisman in buntfarbigem Papierkuvert anzubieten, auf daß das Körperheil der Liebesdurstigen gegen mögliche Gefahren möglicherweise gewappnet werde.
Und wenn es auch viele Besucher der Freudengasse geben mag, welche dem Gummiwarenhändler nichts abkaufen, so wird doch vielleicht mancher durch den Anblick des »französischen Briefleins« an die Gefährlichkeiten dieser Lustgegend erinnert und zur Vorsicht gemahnt werden. Unser indischer Händler ist unwissentlich ein Mithelfer der öffentlichen Gesundheitspflege, wenngleich es ihm im Grunde nur darum zu tun ist, ein paar Rupien zu verdienen.
Man trifft solche ambulante Verkäufer sanitärer Präventivartikel nicht nur in Kamatipura, sondern auch anderenorts in der Stadt, zum Beispiel im Umkreis des Marktgebäudes. Während ich jüngst, nach 8 Uhr abend, an der Haltestelle gegenüber Crawford Market die Tramway erwartete, um nach Kamatipura zu fahren, trat ein Inder ebenfalls mit dem Vorschlag an mich heran, ich möge ihm die schutzwilligen Amulette abkaufen. Er nannte sie aber nicht »French letters«, sondern » Girdoni«. Diese Haltestelle der ins Freudengebiet hinausführenden Straßenbahnlinien ist ein geeigneter Ort für dergleichen Angebote.
Das Wort »Girdoni« hat als sprachliche Neubildung eine sonderbare Herkunft. Auf unseren Dampfern werden die besagten hygienischen Utensilien vom Volksmund mit dem Namen » Goldoni« belegt. In der Einzahl: »Goldon.« Und nicht nur die Schiffsleute unserer Dampfer gebrauchen gemeiniglich den Ausdruck »Goldoni«, sondern auch die Kleinkrämer der Levante, die in den Hafenplätzen, zum Beispiel in Konstantinopel, an Bord zu kommen pflegen, um allerhand Bedarfsartikel zu verkaufen.
»Goldoni« ist offenbar eine Verkleidung des Wortes »Condom«, einer Pluralform »Condomi«. Nun kommt die Frage, weshalb die Volksethymologie gerade dem venezianischen Komödiendichter Goldoni die Ehre erwiesen hat, seinen Namen zur Benennung dieser Gummisachen hergeben zu dürfen.
Vielleicht hat einmal irgendein einfacher Mann die Schutzvorrichtung mit heiterem Auge betrachtet, hat sie als etwas Spaßhaftes empfunden, weil ihm nicht zu Bewußtsein kam, was für eine ungeheuer ernste Sache die Sexualhygiene ist, und aus der fröhlichen Stimmung entstand ihm eine Gedanken-Assoziation mit Lustspiel und Schwankdichtung.
Indeß, diese Deutung ist nicht sehr wahrscheinlich; weitaus plausibler ist, daß der besagte Volksmund einfach das erstbeste nächstliegende ähnlich-klingende Wort genommen hat, – Goldoni, – ohne die primäre Bedeutung dieses Wortes weiter zu beachten. Der Name »Goldoni« ist ja in Triest auch dem Nicht-Literaturkundigen sehr geläufig: Piazza Goldoni, Café Goldoni; es gab vormals auch ein Teatro Goldoni.
In Venedig, wenn ich bei der Rialtobrücke an dem Denkmal des venezianischen Poeten Goldoni vorbeikam, passierte mir's das eine und andere Mal, daß mir jene andere Bedeutung durch den Sinn huschte. – Man ist nicht immer Herr seiner Gedanken-Verknüpfungen.
Der brave Goldoni hätte sich's nimmer träumen lassen, mit welchem Vorstellungsgebiet sein Name in kommenden Tagen verkettet sein wird. Dergleichen gehört zum Schicksal – Freud und Leid – berühmter Namen.
Und jetzt, in Bombay, bei der Tramway-Haltestelle, zeigt mir das Angebot des Straßenhändlers, daß das Wort »Goldoni«, als »Girdoni« vermummt, bis nach Indien den Weg gefunden hat; vermutlich von unseren Dampfern hieher-importiert.
Condom – Goldoni – Girdoni. – Das Wort hat auf der Wanderung von England über Italien nach Indien seine Form erheblich verändert. Man sieht, wie dehnbar es ist. Ein wahres Kautschukwort.
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