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Zweites Kapitel: Juni

Begegnung

Georg, an einem glanzlosen Vormittage im Junianfang, ritt Unkas im langsamsten Schritt die breite Mittelstraße zwischen den Alleen in der Richtung auf Herrenhausen hinunter, vornüberhängend mit halb geschlossenen Augen, im verschwommenen Blick nahe die leise schlagende schwarze Mähne, tiefer das wechselnde Zum-Vorschein-Kommen der breiten Hufe, unter denen die staubtrockenen Erdklumpen vorspritzten. So saß er, in seiner schweren Müde, seiner Angstwut, seinem unendlichen Mißbehagen, das Hirn in Bierdünsten, das Herz in Öde; zerpreßt.

Ihm fiel ein, wie er in der Nacht zuvor halbtrunken in die Güntherstraße gelaufen war; wie er – auf ihm selber unbegreifliche Weise – zur Rückseite des Gartens gelangt war, halb bewußtlos vor Trunkenheit und Qual am Zaun gehangen und hinüber gelechzt hatte nach dem grauen, ganz dunklen Hause hinter den Bäumen.

Renate … Wann würde er sie je wieder sehn! Magda – es geschah ihm freilich recht, daß sie ihm den Eingang verschloß, denn das tat sie …

Dies war die Gegenwart: freudlos, dumpf, entstellt durch eigene Schuld. Das war die Zukunft: dumpf, abgeschlossen, umflügelt von Gespenstern des Grauens. Dennoch mußte er hinein, mußte, die Maske vor, versuchen, ob – – erfahren, ob es erträglich, möglich …

Unkas stolperte träg; er riß ihn hoch und bemühte sich gewohnheitsmäßig, ihn mit Schenkelschluß und kleinen Paraden zusammenzustellen. In seine geöffneten Augen blendete das halb verhüllte Licht; Spatzenzank schrillte und überlaut Finkenschlag, dicht zu seinen Häupten. Emporblickend folgte er eine Zeitlang den fast auf ihn herunterhängenden Zweigen, deren erste, dünne Belaubung – Blätter und Blättchen, kaum entrollt, noch zerknittert, weich, weißlich behaart, kaum geborenen Tieren gleich – Verlangen erregte, danach zu greifen, eins abzupflücken und vorsichtig hineinzubeißen als in leise bitter Süßes. Aber er brachte – schon zwischen den Zähnen fühlend, wie das Trockene innen saftig sich zusammendrückte und knisterte – die Hand nicht hoch, und eine hülflose Rührung, die ihn überkam, reizte fast zu Tränen. – Nun schmerzte sein nach oben gedrehtes Genick; er senkte den Kopf wieder gerade.

Da sah er, ein paar hundert Schritte weit vor ihm, auf dem getretenen Fußpfad neben dem Hufschotter zwei Gestalten kommen, eine weibliche und eine kleinere männliche, und sofort erkannte er Magda in der weiblichen, erkannte sie mit dem Instinkt, obwohl er sich sagte, daß er, wenn sie es wirklich war, sie gar nicht erkennen konnte, so entfremdet wie sie aussah. Allein im Näherkommen blieb es untrüglich Magda, – und er dachte: Magda – warum nicht mehr Anna? Es kam so … Magda in einem hängenden, nein schlottrigen, mattblauen Kleide, das sie mit den Achseln trug anstatt mit den Hüften. Wie weit ihr Gang war! und trug sie nicht Sandalen oder wenigstens keine Absätze unter den Schuhen? Damenschuhe ohne Absätze waren Georg unleidlich. Er konnte die Beine sich abzeichnen sehen unter dem schrittweis hin und her schlagenden Stoff, jedoch – wie reizlos! Auf dem Kopf hatte sie einen großen Panamahut mit tief gerundeter Krempe, und er sah nun schon ihr Gesicht darunter, blaß, mit undeutlichen Zügen, wie verwischt.

Und daneben, in schwarzem Anzug, den Strohhut aus der Stirn gerückt, die Hände auf dem Rücken, in unbedenklicher Haltung etwas vornüber – das war ja al Manach! Richtig wieder unter den Lebenden …

Georg sah ihr Gesicht nun von innen sich erhitzen und ganz rosig werden; sah den Blick der alten braunen Augen und lenkte Unkas hinüber. Augenblicke später hielt er mit Herzklopfen vor ihr, sie lachte heiter, nickte ihm zu, rief: »Tag, Georg!« und begann Unkas den Hals zu klopfen.

»Grüß Gott, Herr al Manach,« sagte Georg, »na wie gehts denn?«

Besten Dank, äußerte Jason, es ginge ja. – Den Strohhut, den er höflich abgenommen hatte, behielt er in der Hand.

»Aber Georg, was ist das mit Unkas?« fragte sie, bevor er etwas vom Zusammentreffen und Langenichtgesehenhaben vorbringen konnte. »Er klemmt ja die Zunge zwischen die Zähne.«

»Tut er das? So. – Ja, er wird ja auch alt …«

»Na Georg, schon so alt? Wieviel Jahre hat er denn?«

»Ich soll wissen! – Neun oder zehn.«

»Ach, Georg, du weißt gar nichts!« lachte sie. – Wehmütig an ihrem Gesicht vorüber auf die absatzlosen, staubgrauen Schuhe hinunterblickend – waren es nicht einmal kleine Lackschuhe gewesen, mit eingedrückter Spitze? – hörte er sie weitersprechen: ob er vergessen hätte, daß er ihn gekriegt habe, als er elf Jahre alt wurde … »Ich bekam Terpsichore – erinnerst du dich noch? – den Schimmel, der gleich das linke Vorderbein brach – ich kriegte doch immer was mit an deinen Geburtstagen – und du Unkas, und damals war er noch nicht drei Jahre alt. Also ist er nun –?«

Georg brauchte eine Weile, bis er hinter den Zähnen hervorbrachte: »Zehneinhalb!« mit alles vergessender Traurigkeit nun an ihren brauenlosen Augen haftend und sehr zu fragen versucht: Hast du denn so gelitten, daß du gar nicht mehr weißt, was Leid ist, und nichts empfindest bei solchen Erinnerungen? –

Dann ermannte er sich, lachte, wiederholend: »Zehneinhalb! das muß Onkel Salomons Handschuhnummer sein! Wie gehts denn dem Alten?« und sprang ab. Er hängte die Trense hinter den Bügelriemen ein, gab Unkas einen Klaps auf die fletschende Zunge, daß er unwillig zurückfuhr, und setzte sich neben Magda in Bewegung, dem Wallach es, wie ers gewohnt war, überlassend, ob er mitkommen oder stehen bleiben wollte. Er kam ja doch immer …

Sie gingen still. Zehn Schritte weiter hörten sie Unkas, der nachgetrabt kam, bis er mit dem Maul an Georgs Schulter stieß, zum Zeichen getreulichen Vorhandenseins. Jason sagte: »Das gute Pferd.«

Erst Augenblicke später fühlte Georg ein zartes Lächeln in sich aufquellen, wie seltsam bestimmt, sanft und bedeutungsvoll es geklungen hatte: Das gute Pferd … Er spähte verstohlen an Magda vorüber auf Jason, der vor sich hin ging. Alles war ein wenig krumm an ihm, Genick, Rücken und Knie; die schwarzen Augen aber bewegten sich glanzvoll, lebendig und mit Gelassenheit umher.

Und währenddes hörte er sich Magda nach ihrem Vater fragen, hörte sie irgend etwas Unbestimmtes antworten, dann weitersprechen, von Krankheit, ihrem Gesangslehrer und einer Musikvorlesung, die sie in der Universität hörte, und daß sie Georg einmal von weitem dort gesehen hatte. Wie es ihm denn ginge … Er sehe gar nicht gut aus …

»Ach mit mir ist nichts mehr los, Anna«, sagte er gedankenlos.

»Ach Georg!«

»Ich bin wieder aktiv geworden.« Er sah starr geradeaus. Sie blieb stumm.

Das dauerte eine Weile, bis Georg aus den Anlagen zur Rechten die Front des Schlößchens schimmern sah, worauf er sich zusammennahm und fragte, ob die Beiden nicht seine Wohnung anschauen möchten; sie sei eben fertig geworden. Und dann könnten sie ja auch Benno besuchen und sehn, wie er Glück strahlte. – Magda nickte, sie bogen ab, durchschritten die Allee und wanderten um das Rasenrund.

Dann sagte Georg aus halber Besinnungslosigkeit, ohne die Worte unterdrücken zu können:

»Nun bist du ja wie eine Taube, Anna …«

Sie blieb stehen, so daß auch er halten mußte und sich zu ihr wenden, sah ihn sanft an und sagte:

»Anna nennst du mich? Ja, behalte nur den Namen.«

Dann ging sie weiter, dem vorausgewanderten Jason nach, indem sie anfing, von Renate zu erzählen, und daß sie nun zweimal allwöchentlich einen Quartettabend hätten; Saint-Georges spiele die Bratsche oder zweite Geige, Irene die erste, Sigurd Birnbaum Cello, »– kennst du ihn nicht von der Schule her?« – und Georg nickte. – Benno Prager, Ulrika und Renate wechselten am Klavier. – Auch Trios spielten sie, Mittwochs würde geübt, Sonntags müßte gekonnt werden.

»Und wenn du magst, Georg, kannst du gern zuhören kommen. Ich habe mit Renate darüber gesprochen.«

Georg zuckte stark. Aber das – – nein das – – Sie wußte ja nicht, was sie tat. Aber er konnte es nicht hindern, daß ein Freudegefühl mächtig und mächtiger seine Brust aufdehnte, die Angst daraus – nein, das Bittere der Angst vertrieb und Süßes hineinflößte. Er richtete sich innerlich auf, straffte seine Haltung, und die Welt sah plötzlich sonniger aus.

Schon hatte er, den Türschlüssel in der Hand, das geheime Gefühl, eine andere als die kleine grau gestrichene Tür hier aufzuschließen; leichtfüßig, die vier Stufen überspringend, strich er voraus durch den Flur und schlug die Tür zu seinem schönen Zimmer auf, – zum blassen Egon, der hübsch in der Gartentür lehnte, hinunterrufend, daß Unkas draußen stehe.

Ja, es war schön. Magda schlug die Hände zusammen und machte nur große Augen. Zwischen den klarweißen Vorhängen der hohen Fenster, im Schatten des dunkelgrünen Wandstücks hinter ihm, saß der ernste, dunkle Pensieroso und sann nach über die Welt. Es war ganz feierlich. Von überall her schimmerten oder funkelten die erlesenen Farben der Kleinode aus den Bücherregalen, leuchteten die Farben der Frühjahrsblumen, rote und hellgelbe Tulpen, ein tiefvioletter Busch Veilchen, Narzissen, gelbe und weiße, hängende stark blaue und rote Petunien und ein riesiges Gebüsch lichtgelber Mimosenblüten. Jason stand schon unten und untersuchte aufmerksam die hölzernen braunen Apostel unter dem Treppendach.

»Nein, die Lilien!« sagte Magda mit Andacht. Steil aufrecht, edel und großmütig erhoben sie sich über den dunklen Pensieroso.

»Nein, meine Bucharas!« sagte Georg und sah zu seiner Freude zum erstenmal wieder rasches Leben durch Magda fluten, die nun die Stufen hinunterlief, sich auf die Teppiche bückte, ja sogar sich niederwarf, um sie zu streicheln.

»Himmlisch, Georg!« sagte sie, »ganz himmlisch!«

Worauf er eifrig zu den Fenstern lief, ein neues Blendwerk versprach, den gewaltigen samtgrauen Vorhang niederrauschen ließ und zugleich eine Lichtkurbel drehte. Hoch oben im Raum, zwei Meter unter der Decke entfaltete sich und schwebte eine milchweiße Sphäre, wie ein großer Kürbis groß, die ein fremdes, fast beklemmendes Mondlicht durch den dämmerig bleibenden Raum ergoß.

»Nein, hier muß ich Renate herbringen!« gestand Magda nach langer Atemlosigkeit. »Jason, was sagst du?«

Allein kein Jason war vorhanden. Nachsehend fand Georg ihn im Nebenzimmer, wo er, die Hände auf dem Rücken, den Kopf im Genick, geduldig zu dem weißen Perserteppich aufstaunte, der das Wandstück neben der gläsernen Apsis bedeckte. Auch dies Zimmer mit seiner großen Helligkeit, den Vitrinen, schwarzem Stutzflügel und Peddigrohrsesseln in der musselinverhangenen Fensternische fand Magda himmlisch; aber sie war nun wieder stiller geworden und in sich zurückgekehrt.

Wenige Minuten später geleitete Georg die Beiden den langen Flur hinunter und durch den Saal vor Bennos Tür. Drinnen sahen sie ihn in der Mitte stehen, so lang er war und aussehend, als sei er stundenlang, glücksmatt und strahlend in seinen drei Zimmern vor seinen vielen Möbeln auf und nieder geschritten, die er nun selig zeigte: vom Messingbett (es mußte eines sein!) und dem fließenden Waschtisch, an den Bücherschränken und Schreibtisch von Palisander vorüber bis zum Bösendorfer im schön getäfelten Musiksaal, glücksmatt und strahlend, als ob er sie alle geboren hätte. Auf vieles Zureden Georgs wagte er endlich, eine Taste anzuschlagen, lauschte verzückt, saß augenblicks vor der Klaviatur und ließ eine Fuge darüber hinrollen, daß die Wände bebten. Und er fing an, Kunststücke zu machen, fegte den Des-Dur-Akkord über die ganze Klaviatur und lustfunkelte beim Staunen der Andern, da sie den Akkord drinnen nachbrausen hörten, als wärs eine Orgel. Und er sang einzelne, besondere Noten in das offene Instrument und freute sich innig mit Georg, wenn nach Augenblicken aus der Tiefe das Echo sang wie ein gehorsamer Gott. – Magda kannte diese Kunststücke schon. Und so verließen sie den Beglückten.

»Du bist auch ein guter Mensch«, sagte Magda, als sie den Korridor zurückgingen, verstummte aber bei Georgs heftigem Auffahren. – Und ich betrüge sie ja doch schon wieder! dachte er wild, Renate vor brennenden Augen.

Als sie dann unter der Haustür standen, nahm Magda seine Hand und sagte, indem sie Jason nicht mehr zu beachten schien als den lieben Gott im Himmel oder vielleicht das Sims über der Tür:

»Ich wußte wohl, Georg, daß ich dir heute begegnen würde.« Sie lächelte kindlich: »Ja, was du da nun wieder mit dir angestellt hast, das mußt du wohl ausessen. Ich, weißt du, kann mich um so etwas nicht mehr viel kümmern.« – Schon wieder ernst geworden bei den letzten Worten, fuhr sie fort: »Ich bin sehr bös krank gewesen, Georg, aber ich habs überstanden, alles, weißt du, und ich möchte dich nicht gerne ganz verlieren. In unser Haus kannst du nicht kommen, deshalb sprach ich mit Renate. Du mußt aber still sein wie ich, willst du?«

Ganz nahe, während sie dies sagte, hatte Georg ihre Züge unter den Augen, und während er diese fest in Magdas geheftet hatte, mußten seine Blicke doch gleichzeitig in ihrem Antlitz umherwandern, mit immer beklommenerem Staunen die, nur aus dieser Nähe erkennbare Veränderung der Züge begreifend; denn diese nun blasse Haut, unter der jetzt ein anderer Stoff als Fleisch zu sein schien, war einmal rosig gewesen, und es lebten damals lebendige Gefühle lieblicher Art um die verwischten Linien des farblosen Mundes, der freilich damals schon herabgezogen war an den Winkeln, aber doch nicht so! Unter dieser glatteren Stirn lebten jetzt andere Dinge, und es war eine ganz andere Stirn; Fältchen waren im Begriff, sich an den Außenwinkeln der Augen zu bilden, und noch – nein, noch war da nichts Welkes unter den Lidern, nur etwas sehr Durchsichtiges, und das Haar – – Indem glaubte er sich eines andern Gesichts zu erinnern, das er auch in einem irgendwie bedeutenden Augenblick so wie dieses gesehn hatte, allein nun hatte er ihr dankend in die Augen zu sehn, ihre Hand zu drücken, Jason ebenfalls, und zu gehn. Ohne es gewollt zu haben, wandte er bald den Kopf nach ihr um. Da gingen sie nebeneinander die weiße, chaussierte Straße hinab, vorüber an den kleinen Kugelakazien, aus denen die Sternwarte sich erhob, dunkelrot und schwarzgrün im Efeubehang, Georgs Blicke für Sekunden emporlenkend, daß er ihren Ernst, ihr Alter, ihre bedrohliche Würde empfand –: Jason, die leeren Hände auf dem Rücken, schwarz und etwas vorgebeugt, den Strohhut wieder im Genick. An Magda war nichts zu sehn; sie ging ihres Wegs.

Kein Reiz mehr hauchte aus ihr, das wars.

Hatte sie allen Glanz der Welt von sich getan? Hatte er selber sie gelöscht wie ein Licht? Aber ihre Augen glänzten anders innerlich, es gab vielleicht Nonnen, deren Augen wie die ihren in einer sehr gewissen Flamme brannten, in der sie alle äußeren Lichter reiner und edler hatten. Dieser Jason hatte ja Augen wie ein Märchenerzähler, man müßte – aber schon, indem Jason ihm erschien, mit einem riesigen schwarzroten Turban bekleidet, ein blaues, langärmeliges indisches Hemde am Leibe, mit untergekreuzten Beinen auf einem Teppich, schob sich das Gesicht seines Vaters in dieses Bild hinein, so als wäre es dicht über Georgs Augen. Wann war –? Ach, an seinem Geburtstage wars, nicht am Geburtstage, am Tage vorher, mittags, – und schon flogen von allen Seiten Bildstücke auf Georg zu, die hellen Fenster, und draußen die Wipfel im Regen, Visionen des Trassenbergischen Landes, und schon der Saal im kleinen Palais, Benno auf einem Stuhl an der Wand, der Achattisch, Napoleons Weste, Stirn und Haar, und jählings wieder Magda an der Erde, am Abend im dunklen Wiesengrün, ihr rötliches Kleid, ihr ohnmächtiges Gesicht mit geschlossenen Augen und – – Georg merkte, daß er vor seiner Haustür stand, die in ihr Schloß gefallen war, fing an, in der rechten Hosentasche die Schlüssel zu suchen, vergaß dabei, was er aus der Tasche holen wollte, wälzte Feuerzeug, Taschentuch, Schlüsselbund durcheinander, brachte dies endlich hervor und schloß auf. Sein Zimmer in geisterhafter Mondesdämmerung erschreckte ihn, er riß den Vorhang hoch, öffnete die Glastür. Sonnenlos war draußen der Garten, er lehnte sich gegen den Türrahmen, warf den Hut irgendwohin und hing nun ganz und gar tief über dem Erinnerungsfeld jenes Tages, wo Jasons schwarzer Körper aus dem Grün der Teichoberfläche erschien, an einem Arm emporgezogen, und er sah die klebenden grünen Blattlinsen auf dem bleichen Gesicht. Unkas stand da, verzerrt, der Maler ging neben ihm, der Maler saß im Zimmer in der Fensterbank, am Tisch, schob seinen Bleistift in der Blechhülse, und da war das weiße Zeug des Vorhangs an Magdas Fenster in der Nacht, die kleinen Kronen der Obstbäume in der Dämmerung, das Spalier an der Hauswand, und nun war er im Zimmer, legte die weiße, fremde Gestalt auf das offene Bett, – diese fremde Gestalt, fremde, fremde, fremde – wiederholte er immerfort, und die Kälte des Augenblicks fühlte er, und fragte sich, ob das immer so sei, wenn man eine Frau – dies – Sichentkleiden, dieser schaurige Stillstand in den erst glühenden Empfindungen, und dies – Sichzurechtlegen und Rücken und – Gepeinigt von diesen Empfindungen mußte er sie um so hartnäckiger verfolgen, erinnerte sich des wilden kleinen Wesens in München, Fliddridd – ja, das war freilich ganz anders, viel natürlicher, denn die war selber äußerst bei der Sache gewesen – – aber wenn eine Frau selber nichts – – du mein Gott, ja – das Blut schoß ihm siedendheiß in den Kopf – was ging denn während dieser Zeit in ihr vor, die da vor ihm lag und still hielt, was dachte sie denn, was fühlte sie denn? und war sie nicht weiter von ihm weg als der Sirius von der Sonne? Und was war denn das, was er tat an ihr? Hatte er sie nicht einfach vergewaltigt?

Georg schüttelte aufgeregt diese Vorstellungen ab, seufzte, fühlte das Metall seiner Zigarettendose glühend heiß und feucht in der linken Hand in der Hosentasche, zog es hervor, zündete mit flackernden Händen eine Zigarette an und zog mit heftigem Genießen den Rauch in die schwellende Lunge hinunter. Das abgeglühte Streichholz in die Aschenschale auf dem Schreibtisch legend, dachte er: Ich wußte es ja, man liebt eine Frau niemals weniger als in dem Augenblick, wo man sie – liebt, denn im glühendsten Momente dann – ist sie ja auch nicht mehr vorhanden, sondern bloß – das Feuer, in dem man selber schon vergeht, und ein minuten-, ein sekundenlanger Blick Auge in Auge enthält ein tausendfaches Mehr an Glut und Unauslöschlichkeit. Liebend besitzen kann ich jede, liebend anschauen – wie wenige! Aber Magda? – Magda? –

Er merkte, daß er unbewußt nach seiner Brust getastet hatte, denn dort hatte sich wieder der Druck gezeigt, das Angstgefühl, das lange bekannte, das im Augenblick schon da war, wenn er allein war, und das ihn lähmte, das Morgen verschleierte, das Gestern verhüllte, das Heute entfärbte. Doch fand er, es sei leichter geworden, loser …

Es zuckte in ihm, aufzuspringen und in das geheime Zimmer hinüberzulaufen, das Zimmer der Königin … Allein in dem Sessel, in den er gesunken war, saß er unbeweglich fest, bald nichts mehr spürend als unerkennbare Gedanken und Vorstellungen, die an ihm zehrten.

Erasmus

Renate vernahm, als die Quartettgesellschaft – Irene, Ulrika, Benno Prager, Saint-Georges, Sigurd nebst Schwester und Magda – an einem Sonntagnachmittag auf dem Rasenplatz im Montfortschen Garten buntgestreifte Reifen warf, plötzlich aus dem Gang zur Straße neben dem Haus einen hitzig prasselnden und knatternden Lärm, und kaum daß sie hinsah, sauste mitten in die schreiend auseinander Stiebenden ein rädriges Ungetüm, schnaubend und zischend, mit einem ganz ledernen Kerl darauf. Da hielts stille, und da wars Bogner, von dessen Gesicht eine Brille fiel, und der lautlos lachte auf seine Art, während sie ringsherum wie angewachsene Daphnes, wenigstens was die Frauen anlangt, in mehr oder minder zierlichen Posen verharrten. Aber nun umdrängten sie ihn und beschimpften ihn wie die Sperlinge, wie die Krähen eine muntre Eule, und er berichtete, daß er schon wochenlang auf diese Weise unter die Dörfer über die Haide fliege, – »jedoch«, sagte er, »nicht jede vernichtete Gans wird ein Stilleben.« Nun habe er allerlei Dinge gesammelt, wolle gleich anfangen, und zwar, mit Renates Erlaubnis, in der Kapelle, die er mit sechs schönen Engeln schmücken wolle.

»Was kostet ein Engel?« fragte Irene, fragten sie Alle. Alle wollten möglichst einen Engel haben. Bogner sagte, er verkaufe nur an fremde Leute und an Herzöge, und da waren sie tief niedergeschlagen, denn keiner wollte ein fremder Mensch sein, und keiner war ein Herzog, und schenken lassen konnten sie sich doch auch nichts, woran der Maler ja nun auch keineswegs dachte. Sie sollten nicht böse sein, sagte er begütigend, er wollte später jeden von ihnen in schwarzem Papier ausschneiden, dann könnten sie sich gegenseitig mit ihren Konterfeis beschenken und dann hätten sie jeder einen Engel. – Dies, meinten sie, wäre nicht ganz das Richtige. –

Bogner, der sein Rad gegen das Postament der Sonnenuhr gelehnt hatte, fragte Renate, ob Erasmus im Hause sei, denn mit ihm müßte geredet werden. Er wäre ein Sonderling und möchte am Ende nicht zugeben, daß er, Bogner, Renate Bilder schenkte. –

Ja, ob er denn wirklich nichts dafür haben wollte? –

Nein, es wäre doch seine Angelegenheit und ein Geschenk für sie. –

»Bogner,« sagte sie, »das kann ich nicht annehmen.«

»Schnickschnack,« sagte er, »Renate Montfort kann alles annehmen. Der Bauer schenkt dem König Wurst, – sind Bognersche Engel nicht ebensoviel wert?«

Renate war überwunden, mußte aber nun fragen, warum Erasmus gefragt werden mußte.

»Es ist höflicher«, sagte Bogner.

»Bogner,« sagte sie, »Sie haben einen schönen Charakter.«

Renate war plötzlich verstummt, während sie durch das Haus gingen. Warum sagte ich das? grübelte sie nach, einen schönen Charakter? Woher sind die Worte? Ein gutes Herz wollte ich sagen … Da fiel ihr ein, daß es Worte Bogners waren, aus einem seiner Briefe; ihr Herz zog sich zusammen; als ob er alles wissen müßte, errötete sie langsam und fing eilig an, über Erasmus zu klagen. Sie bekomme ihn kaum noch zu Gesicht, er arbeite Tag und Nacht und komme nicht einmal zu den Mahlzeiten heraus, sondern esse in der Stadt. Der Onkel sei so still geworden und arbeite auch unaufhörlich, wenn nicht in der Fabrik, in seinem Zimmer. Die Aktiengesellschaft war ja längst vollkommen, und nun waren Onkel und Erasmus Angestellte im eigenen Betriebe, pekuniär war freilich alles fast wie früher. – Renate verstummte, da sie inzwischen im Obergeschoß und vor Erasmus' Tür angelangt waren. Sie klopfte, hörte ihn laut Herein rufen und öffnete.

Sie hatte erwartet, daß er am Schreibtisch sitzen werde, aber er stand mitten im Zimmer, halb den Rücken zur Tür, das Gesicht über die Achsel hergewandt, die linke Hand auf dem Rücken. Süßlicher Qualm erfüllte den Raum, und als er sich zur Türe umdrehte, wurde in seiner linken Hand eine halblange Jägerpfeife mit Troddeln sichtbar. So schien er umhergewandert zu sein, und die Schreibunterlage auf dem Schreibtisch war leer. Dieweil er Bogner freundlich die Hand gab und mit seiner tiefen Stimme ein paar Bemerkungen über seine Belederung machte, sah Renate sich verstohlen um, da sie noch nie hier oben gewesen war.

Es sah wie in einer Studentenbude aus; ein schiefes Bücherregal hing an der Wand, Stapel und Stöße von wissenschaftlichen Zeitschriften lagen auf Stühlen und Teppich, ein Schrank stand halb offen, ein Mantel hing vom Sofa an den Boden, alle Bilder hingen schief. Unbewußt rieb sie die Knöchel der rechten Hand in der Linken, als ob sie fröre. Erasmus' »Wollt ihr euch nicht setzen?« klang steif genug zur übrigen Unwohnlichkeit. Bogner, in seiner Lederjoppe breiter aussehend als früher, lehnte sich gegen den Schreibtisch, sprach von seinen Malplänen; Erasmus nickte dazu und sagte am Ende nur, wenn es ihm, Bogner, gerade darauf ankäme, seine Engel in Renates Kapelle unterzubringen, so solle ers gewiß tun, bezahlt kriegte er ebenso gewiß nichts dafür, und Renate fragte sich mitleidig und unwillig, ob er Bogners Andeutung vom Schenken nicht verstanden habe oder absichtlich alles ins Geschäftliche zöge.

Sie hätten nichts übrig, sagte Erasmus, alles würde auf die hohe Kante gelegt, »aber«, sagte er, nach seiner Art plötzlich in Wut ausbrechend, »der Teufel soll mich holen, wenn ich nicht alle Lust verliere, wenn ich dich jeden Tag in dieser weißen Fahne herumlaufen sehe! Meinst du, wir sind Bettelleute geworden? Etwas mehr Takt, das möchte ich denn doch bitten, meine Liebe!«

Renate fing unwillkürlich an zu zittern, fand aber einen Ausweg. »Wo hast du mich denn gehen sehn, Erasmus?« fragte sie.

Er wandte sich weg und murrte, sie habe wohl vergessen, daß sein Schlafzimmerfenster auf den Garten hinausgehe, und das schien Renate eine so dumme Ausrede, daß sie lachte und sagte: »Es ist doch Sommer, Erasmus, da trage ich nur Weiß und doch nicht immer dasselbe Kleid!«

Auf einmal war sie mutig geworden und wagte die Bitte, ob er nicht auch in den Garten kommen wolle, Herzbruch komme nachher, um seine Frau zu holen, der sei doch ein alter Freund von ihm, was der denn denken solle.

»Sag, daß ich arbeite!« schnob er, jedoch nicht unsanft.

»Erasmus,« sagte sie, »das ist nicht wahr.«

Er stand am Papierkorb, hatte den Pfeifendeckel aufgeklappt und rührte mit Irgendetwas in der Asche, die herausfiel. So gut und dumm ist er, dachte Renate, nun fällt ihm wahrhaftig nichts ein, seine Stirn ist ganz runzlig vom Nachdenken, und die Augen quellen heraus.

»Wo ist dein Onkel?« knurrte er endlich, ohne aufzusehen, blies in die Pfeife und schüttete den Rest heraus.

»Erasmus, müssen die Dinge denn mit Gewalt immer noch schärfer und eckiger gemacht werden?«

Er klappte die Pfeife zu, legte sie auf die Tischplatte, sah auf und sagte ruhig:

»Geht nur, geht, es nützt ja nichts.«

»Erasmus!« – bat sie, aber es war nichts mehr mit ihm anzufangen, er schob Bogner zur Tür, und sie ging mit gesenktem Kopf und rasch an Beiden vorüber hinaus.

»Bogner, bin ich so ungeschickt gewesen?« klagte sie draußen. »Wenn ich nur Saint-Georges gefragt hätte, der weiß immer alles. Sie zucken natürlich die Achseln.«

»Ich,« meinte der Maler, »wenn ich er wäre …«

Renate hob die Schultern, machte ein feindliches Gesicht und stieg schnell und mit möglichster Ruhe vor ihm treppab.

Unten aber zwang etwas sie, stehen zu bleiben, sich nach ihm umzuwenden und zu fragen: »Wollten Sie mir nicht noch etwas erzählen? In Ihrem letzten Brief …« Der Maler nickte, meinte aber, es fände sich wohl einmal eine Zeit, wenn er erst am Malen sei und nicht könnte.

»Ach, ihr seid eine Horde von Egoisten!« lachte Renate, »wie soll das überhaupt mit der Malerei werden, Sie malen womöglich den ganzen Tag?«

Kohleaufrisse, sagte er, könne er auch nachts machen, aber die Musik würde ihn gewiß nicht stören, nein, Musik sei sogar ein ganz ungemeines Geräusch.

»Himmel, Maler!« brach sie aus, »denken Sie denn nun wahrhaftig nicht daran, daß Sie uns stören könnten?«

Sie lachten Beide; nein, er hatte nicht daran gedacht, versicherte aber nun, daß er ganz wenig Platz brauche, und versprach, immer nur an einem Fenster zu malen.

»Sie waren doch auf der Schule mit Erasmus,« sagte sie plötzlich, »wie machten Sie es denn da, wenn er nicht wollte wie die Andern?«

Sie standen in der Veranda. Der Rasenplatz war leer, von der Kapelle her tönten Orgelklänge gedämpft, nur Irene stand neben Bogners Rad, sanfthüftig und anmutig in ihrem, gegen die Füße leicht verjüngten weißen Kleid, und drückte vergeblich an Bogners Huppe herum, ohne einen Ton herauszubekommen. Die schöne Nachmittagsglut fiel in breiten Streifen durch das Gartengrün, und darüber standen sie schweigend. Im Rasen erglänzte hier und da ein Stück von einem bunten Reifen. Der Maler sagte laut: »Beide Hände! Mit beiden Händen gehts!«

Irene, hochrot im Gesicht, flog herum, blitzte ihn an und entfloh über den Rasen nach der Kapelle hin.

»Damals«, sagte der Maler, »blieb jeder sich selbst überlassen; wer sich abgesondert hatte, mußte sich freiwillig wieder herzufinden. Oder es wurde geboxt; das geht nun nicht mehr. Erasmus war immer ein Topf ohne Henkel.« Er hob die Achseln. »Das sind wir Alle im Grunde. Ihr Frauen solltet wohl eigentlich diejenigen sein, die immer noch eine Handhabe entdecken. Leiden machen unbeweglich, ich weiß das. Wenn dann kein Gott zugreift, steht solch einer ewig am Feuer und brennt.«

»Und da soll man warten, bis sie ausgekocht haben?« fragte Renate, »o Bogner!«

»Wir reden in Gleichnissen«, sagte er beinah ungeduldig. »Steht der Topf denn an Ihrem Feuer?«

Sie stand, ihre lange Kette von rosenroten Korallen in den Händen, und zog die straffgespannte langsam an den Lippen hin und her. »Ja, in meinem Hause jedenfalls,« sagte sie endlich leise, »und doch scheint mir: es ist alles verzaubert, und ich kann den Spruch nicht finden. Glauben Sie, Bogner,« fragte sie ratlos, »daß ich Josef schreiben soll, daß er wiederkommt? Ach Gott, ich habe ja keine Ahnung, wo er ist!« klagte sie mutlos und ließ den Kopf hängen.

Sie sah Bogners Rechte, die er ihr reichte, legte die ihre hinein, sah ihn gehn und blieb, wo sie stand, ohne zu denken, ohne sich zu bewegen, bis wieder Schritte laut wurden und Herzbruchs breite Kaufmannsgestalt und sein gelehrtes Gesicht hinter der runden Hornbrille in der Tür erschienen.

Mensur

Georg, am Leibe weiter nichts als das einärmelige Mensurhemd und die oftgewaschene alte Leinenhose, setzte sich rittlings auf den alten Bandagierstuhl, kreuzte die Arme auf der Lehne und ließ sich von Tastozzi eine nach der andern die viele Meter langen, fast handbreiten schwarzen Halsbinden umwickeln, die, glitschig vom Blut und Schweiß vieler Wunden des Mensurtages, stanken wie der Teufel. Aber wundervoll war wieder die unendliche Sorgsamkeit, mit der Tastozzi wickelte, sanft legend die klebrigen Riemen wie Wundbinden von weicher Gaze, nachtastend mit der Linken und immer wieder fragend: »Ists so recht, Georg? Drückts auch nicht?« Nichts drückte, im Handumdrehn steckte der Hals in einer weichumschließenden Wand, um die noch die handhohe wattierte Manchette leicht umgeschnallt wurde. »Sitzts?« »Danke, glänzend!« O Tastozzi war dunkel, aber eine Seele! Das wußte, wenn kein Andrer, Georg. Er sah dankbar auf, allein Tastozzi hatte sich schon zur Fensterbank hinter ihm abgewandt, wo die Armbinden aufgehäuft lagen.

Von diesen sanfteren Empfindungen abgesehn, befand Georg sich nicht in der bänglich freudigen Laune seiner früheren Waffengänge. Früh erwacht, nach wenig Schlaf, endlos wachen Stunden übler Peinigungen des Geschlechts, Halbtraumvisionen in endlos hartnäckiger Jagd, hatte gleich der Gedanke an seine noch immer nicht restlos vernarbten Kopfwunden sich festgesetzt: beim Betrachten der kaum behaarten Stelle im Spiegel zeigte sichs, daß sie wieder geschwitzt hatten. – Ekelhaft, so mit offenem Kopf zu fechten!

Georg blickte finster gegen die blaugetünchte Wand des kahlen kleinen Raums, der leer war – Tastozzi setzte seine Eigenart durch, beim Anbandagieren keinen Zuschauer zu dulden – leer, bis auf die Tische, die drüben gehäuft voller Bandagen, Schurze, Drahtmasken und Sekundantenspeere mit farbigen Körben, an den Wänden links und rechts dagegen bedeckt waren mit dem ganzen Rüstzeug der Ärzte, auf Wattelagern ausgebreiteten Scheren, Zangen und Nadeln, flachen Schalen voll rosiger Sublimatlösung und Bergen von Watte. Georgs Blick schweifte abweisend drüber hin und heftete sich auf den eigenen nackten Unterarm, den er hochhielt, die Faust schon im gepolsterten Handschuh, während Tastozzi die Handgelenkbinde von dünnem gelbgrünem Flanell zart und fest umlegte: der Arm gefiel ihm, wie er war: glänzend weiß, kräftig und harmonisch gebaut, und »Schöner Arm, nicht?« brummte er halbfragend. Der Andere schwieg, die grauen Augen im gelblichen, dunklen und eckigen Gesicht mit voller Aufmerksamkeit auf die Schleife gerichtet, die seine Finger knüpften, worauf er, ohne hinzusehn, die erste Armbinde von der Fensterbank griff und die zu Boden hängende geschickt aufrollte, dann den Ballen um Georgs Arm abzuwickeln begann. Georg folgte gedankenlos mit den Augen, immer wieder das leise: »Sitzts, Georg? Drückts auch nicht?« hörend und die linke Hand Tastozzis sehend, deren Finger er auf jede neue Lage prüfend aufsetzte; und er wickelte bereitwillig wieder und wieder zurück, schon auf Georgs leisestes Antwortzaudern hin. Es war eine Lust, von Tozzi bandagiert zu werden!

Die beiden krassen Füchse, der jüngere Ellerau und von Germersheim, kamen hereingeschlendert und fragten Georg zum siebenten Male, wie er sich fühle.

»Ich habs euch schon sechs Mal gesagt: glänzend! Macht bloß, daß ihr weg kommt; nicht wahr!« schnob Georg und bewegte das Handgelenk noch einmal prüfend, ehe er Tozzi den dünn wattierten schwarzen Seidenärmel über das Ganze ziehen ließ.

»Gib mal Speere her, Rudi!« befahl er dann. »Ellerau, geh mal fragen, wer auf Gegenseite sekundiert. Hoffentlich nicht Everdingen, der fällt immer – was ist, Tozzi?«

»Nichts. Du kannst aufstehn.«

Georg erhob sich. »Die ekelhafte Hose klemmt immer so!«

»Man sollte nackt fechten«, hörte er Tozzi hinter sich. – Rudi, mit zwei Mensurspeeren in den Händen vor ihn tretend, meinte lachend: »Baden muß man ja sowieso hinterher.«

»Hol einen Schurz, Rudi, und red nicht, eh du gefragt wirst.« Georg führte abwechselnd mit jeder der beiden Klingen in den kürbisgroßen, blauweißschwarzen Blechkörben ein paar Lufthiebe, und trat zurück, da sein Gegner, fix und fertig gerüstet, den Arm auf der Schulter eines Korpsbruders hereinkam und sich verbeugte, ein mittelgroßer, schwerer Mensch mit gedunsenem Gesicht, aber friedlichen kleinen Augen.

Während Tozzi ihm dann den von Germersheim gebrachten großen Lederschurz vorhängte, der, steif wie ein Panzer, eine neue Wolke beißenden Schweiß- und Blutgeruch ausströmte, fragte er, in Georgs Rücken festschnallend: »Hast du noch irgendeinen Wunsch? Fürs Sekundieren mein' ich?«

»Ich wüßte nicht …« Da kam Ellerau zur Tür herein. »Also wer sekundiert drüben?« fragte Georg halblaut.

»Altenburg soll er heißen.«

»Gott sei dank. Also dann, Tozzi,« fuhr Georg leise fort, »nur eins, nicht wahr, was ich immer schon sagte: nie einfallen, wenns nicht unbedingt notwendig ist, – Abfuhr oder so. Ich – ja um Gottes willen, Rudi, bring mir bloß die Speere nicht durcheinander, nicht wahr! Ja, welchen hab ich denn nun eigentlich ausgesucht? Gieb den noch mal her! den, wo du grad – – nicht den! den andern! Sakrament noch mal, ihr Füchse seid eine Gesellschaft, nicht wahr!«

Bei dem Lufthieb aber, den er mit dem empfangenen Speer ausführte, hätte er sich ums Haar das Handgelenk verrenkt; es schmerzte, und das war ein Omen. Georg fluchte leise und sagte, er nähme den andern. Ellerau sollte ihn in der Hand behalten. – Der erklärte hochherzig, er testierte Georg ja sowieso, worüber sein großer Bruder hereinkam und sich wunderte, daß Georg noch nicht fertig war.

»Die Brille, Tozzi«, sagte Georg beklommen. Der Augenblick, wo das blindmachende, tränenerregende Eisengestell mit Drahtvergitterung um den Schädel geschnallt wurde, war jedesmal der schlimmste.

»Was wolltest du mir denn noch sagen?« hörte er Tozzi fragen, der gleichzeitig sanft den Brillenbügel – der Gute hatte ihn zuvor mit Watte umwickelt – auf Georgs Nasenwurzel legte. Es ward dämmrig vor Georgs Augen, dann fühlte er, wie unendlich behutsam die Schnalle am Hinterkopf zugezogen wurde und – nicht ohne leise Rührung, daß Tozzis Linke die kurzen Haare, um sie nicht einzuklemmen, nach oben strich. Die Riemen zogen sich zusammen, langsam, weich; dann ein kleiner Ruck; die Brille saß. Wundervoll!

»Ja – also du weißt ja, nicht wahr! Ich ziehe beim ersten Hiebe immer nur an, nicht wahr, komme also erst beim dritten, nicht wahr, auf Terz heraus und dann mit der Hakenquart. Von der Uhlenburg bolzt zwar sicher, aber für alle Fälle, nicht wahr – nicht einfallen! auch wenn du mal Blut – – Also kanns losgehn?«

Der Raum war jetzt gedrängt voll stehender Korpsleute aller Farben; Georg wurde durch die Mauer geschoben und geführt, fand sich plötzlich – was ihm ein leichtes Leeregefühl in der Magengegend versetzte – vor der leeren Saalmitte voll blutfleckiger Sägespäne, fünf Schritt gegenüber seinem Gegner, der puppensteif auf einem Stuhl hockte, das Gesicht halb verdeckt von der eisernen Brille, an der noch ein Nasenblech saß, den rechten Ellbogen auf dem hochgestützten Knie seines Testanten, so daß die Schlägerklinge senkrecht emporstand. Und indem Georg merkte, daß ihm von hinten ein Stuhl untergeschoben wurde, hörte er durch das gedämpfte Stimmengemurmel ruhig und vernehmlich sagen: »Silentium für die Mensur.«

Mein Leder! dachte Georg und vernahm, sich nach links wendend, gleichzeitig Tozzis tiefe Stimme: »Mein Paukant ist noch nicht fertig. Das Leder fehlt. – Ist es groß genug?« fragte er, Georg die handtellergroße, lederbezogene Platte von Eisenblech an ihren schwarzen Bändern vorhaltend. »Ich denke«, erwiderte er, aber nun gabs erst Aufenthalt. Der Unparteiische trat herzu. Andere von beiden Seiten steckten die Köpfe vor, alle wollten das »überlebensgroße Leder« sehen, das »Geburtstagsleder«, wie eine Stimme sagte, bis der Arzt kam, Georg den Kopf senken ließ, kaltfingrig auf der nackten Stelle tastete und das Leder für ordentlich erklärte. Bis es über den noch unvernarbten Wunden festgebunden war, verging noch eine Minute, und Georgs Arm mit der Waffe auf der Schulter des Fuchsen war unterweil lahm geworden.

Endlich trat gegenüber der Sekundant vor seinen Fechter und erklärte, die Drahtmaske vom Gesicht lüftend, sein Paukant trete mit Nasenblech an wegen Nasenoperation; worauf Tastozzi – plötzlich überaus schlank und kraftvoll erscheinend, die Drahtmaske ritterlich im Arm, die Klinge schräg nach unten – das Leder verkündete.

Georg schöpfte tief Atem; gleichwohl haftete die Bedrängnis in seiner Brust.

»Silentium für die Mensur.«

Georg trat zugleich mit seinem Gegner vor, so daß sie wenig mehr über einen Meter voneinander entfernt standen. Dann erstarrte in ihm die letzte Beängstigung, während die Sekundanten mit ihren Schlägern den Abstand von Brust zu Brust maßen, und Georg, noch auf seine Münchener Art die Faust im Korbe dicht überm Hinterkopf haltend, so daß die Klinge hinten herunterhing wie ein Zopf, biß die Zähne zusammen. Das letzte, was er deutlich hörte, war drüben das gellende: »Auf die Mensur!« Zwei Sekunden später sah er die schräg vorragende Speerspitze des Gegners sich bewegen und hieb selber zu. Dann kam eine längere Zeit blinden verbissenen Dreinhauens, kurzes Pausieren, wieder Dreinhauen; er fühlte – gar nicht wie etwas Dazugehöriges – keulenschwere Schläge auf seinen Schlägerkorb und den Arm fallen und sah endlich aus der, vom Brillenriemen eingeschnürten Stirn dadrüben einen Blutstropfen quellen, dann einen kleinen roten Riß. Alsbald gab es eine Pause. Ein Mensch in weißem Kittel, Arzt, erschien und verdeckte für Augenblicke den Gegner.

Georg, keuchend und schwitzend, atmete erleichtert auf, augenblicks – wie immer – ruhiger geworden beim ersten Blut, und konnte sogar lächeln, da er mit einem Blick nach links unten Tozzi sich nach seiner Gewohnheit auf beide Absätze hocken sah, statt nur sich über das durchgedrückte linke Knie nach hinten zu beugen, – um aus dieser Stellung schneller hochfliegen zu können, wenns not war.

»Silentium für den Fortgang der Mensur.« Durch die Drahtmaske Tozzis glaubte Georg ein ganz kleines Augenlächeln aufblinken zu sehen. Als zeige er eine kleine Blume dahinter, dachte Georg dankbar.

Er hatte aber noch kaum zum ersten Hieb wieder ausgeholt, als er einen schmetternden und so wütend schmerzhaften Keulenschlag langhin über den Kopf erhielt, daß er zusammenzuckte und taumelte. Zum Hiebe kam er nicht, seine Klinge wurde aufgefangen, er hörte Halt schrein, hörte Tozzis Stimme, dann wieder den Gegensekundanten: »Auf Gegenseite wurde zurückgegangen?«

»Infolge der Wucht der Hiebe?« Tozzi.

»Ich habe nichts bemerkt«, erklärte der kleine Unparteiische, auf seine Notizkarte blickend.

Georg, noch halbblind vor Schmerz, wollte »bitte Pause!« sagen, verhinderte sich jedoch noch rechtzeitig, da das wie ein Zugeständnis ausgesehen hätte, auch war da plötzlich, von der Maske verdunkelt, Tozzis Gesicht mit blitzenden Augen vor ihm, aus dem es zischte: »Nimm dich zusammen, Georg, du zuckst ja!«

Georg schwieg. Einen Augenblick danach war er im heißen Kampf. Zweimal, dreimal riß es wie Feuer über seinen Kopf hin, er schäumte vor Wut, mußte warten, da es wieder Anfragen gab wegen seines Taumelns und Zurücktretens, – ich zucke nicht, dachte er weinend und hieb mit blinden Augen auf eine kaum sichtbare rote Kugel los, dann hörte er ein Geschrei: »Leder weg!« und wieder die Frage: »Wurde zurückgegangen?« Er lauerte auf die Antwort nach Tozzis augenblicklichem: »Infolge der Wucht der Hiebe?« und hörte erst nach Sekunden ein trockenes: »Nein.«

Georg saß und fühlte Hände an seinem Kopf beschäftigt. Besorgt und mit einem tiefen Ausdruck von Güte beugte Tozzis Gesicht ohne Maske zwischen Andern sich über ihn; er fragte ängstlich: »Habe ich noch gezuckt, Tozzi?« Der bewegte verneinend den Kopf und lächelte. Indem hörte Georg die Stimme des Arztes über sich, der ruhig bemerkte, die alten Schmisse seien aufgeplatzt, er verbürge sich nicht für weiteres … Eine große Hand umspannte Georgs Schädel, Elleraus gutherzige Augen erschienen über ihm, bevor er den Kopf senkte. Als er wieder aufsah, stand Tozzi zwei Schritte vor dem Unparteiischen, verbeugte sich genau wie zu Anfang und sagte: »Herr Unparteiischer, wir führen ab«, worauf er sich schlank umdrehte, seinen Speer wütend auf die Erde schleuderte, den Handschuh von der Hand zerrte und hinterdrein schmiß und ganz bleich flammenden Gesichts Ellerau mit halber Stimme anfuhr: »Ich habs euch vorher gesagt, ich! Das war eine Roheit!« dann sich wegdrehte und hinausging.

Wieder rittlings auf einem Stuhl, jetzt die Stirn auf den Armen, von der heißen Bandagenrüstung erleichtert, den schrecklich schmerzenden Kopf von kühlenden Wattebäuschen betupft, fragte Georg den Arzt, ob wieder genäht werden müßte. – Das sei leider unmöglich; man müßte es so zu heilen versuchen. Eine böse Geschichte. – Wie lange es denn dauern könne? – Nicht unter sechs Wochen.

Georg sank das Herz. Daß die Mensur zu alledem schlecht gefochten war, stand fest; er mußte Reinigung fechten, dazu kam es vielleicht nicht einmal mehr in diesem Semester, so war er gezwungen, auch im nächsten noch aktiv zu bleiben. Sein ganzer Kopf schwamm in Schweiß und Feuer; er glaubte ohnmächtig zu werden, hob den Kopf schwankend und sah noch Tastozzis Gesicht und Gestalt, der mit einem Glase Wasser zur Tür hereinkam. Trinkend kam er rasch zu sich, fröstelte, nahm sich zusammen und sagte, mühsam scherzend: »Bei der nächsten wetzen wirs aus, Tozzi, was?«

Der fragte unbeweglich blickend: »Wann?«

»In sechs Wochen, sagt der Arzt.«

Drei Sekunden lang sah Georg Tastozzis Augen fest und seltsam stille gegen die seinen eingestellt, dann bewegte er stumm den Kopf auf und nieder und wandte sich ab, sein Glas auf den Tisch zu setzen. Der Arzt hob die rotgewaschenen Hände voll Watte über Georg, der den Kopf senkte und sich verbinden ließ.

Esther

Georg, den Kopf mit erhitzenden Binden umwickelt, dampfend von Angst, Öde und Jammer, saß im tiefsten Sessel dicht vor der Glastür zum Garten und sah den Regen in massig fallendem Strom durch den dämmernden Abend niederstürzen, laut rauschend im Blätterwerk der Gebüsche, aus denen überall weißliche Blüten, zerrissenen Nachtschmetterlingen gleich, hervortrieben und umhertaumelten. Ein Türgeräusch weckte ihn aus halbem Schlaf, er hörte Egons Stimme hinter sich und drehte sich langsam um. In der Kaminecke schwebte, erleuchtet, der grüne Lampenumhang, zwei Gestalten kamen den Flur herab auf die offene Tür zu, dann erkannte er Esther und Sigurd und sprang erleichtert auf.

Herr du meines Lebens, wie sie trieften! Das war ja unerhört! – Sigurd – noch über den Stufen oben – zog mit zwei Fingern den Stoff seiner Hose vom Bein ab, um zu zeigen, wie er klebte, Esther schwenkte ihren Hut, daß es spritzte, und schüttelte den Kopf. Da flogen alle Kämme und Nadeln aus dem Haar, und der schwarze Schopf schlug ihr ums Gesicht; vorn senkten sich die Bögen des Scheitels, und sie drückte die gewölbten Hände dagegen, hob das Gesicht und lachte innig, während Georg erstaunte, denn sie war ja unbeschreiblich kostbar und chinesisch anzusehen! Diese feinen, halbkreisrunden Brauen unter dem weißen Dreieck der Stirn – wie ein marmorner Giebel –, die geschlitzten, glitzernden Augen, und der Mund, ah, er war erstaunlich süß, denn er hatte einen Bart, einen entzückenden, verführenden Flaum von Bart über den Mundwinkeln! Esther hieß sie? Sie war ein wenig klein, Rebekka hätte besser gepaßt, wie sie dem langen Jakob auf den Zehen den Krug zum Munde reichte und alle Kamele mit himmlischem Wasser tränkte, – aber was nun? Kleider mußten herbeigeschafft werden, dies war ja ein gottvolles Unwetter!

Georg hob den Deckel der Truhe in der Kaminecke.

»Dies«, sagte er, »ist ein völlig ungetragener Bademantel, dunkelrot mit handbreiter blauer Kante, der steht Ihnen fabelhaft, Sigurd, ziehen Sie ihn schleunig an! Und hier, aus diesen Seidenpapierhüllen schält sich – aha! aha! ein Morgenkleid der Weimarer Werkstätten in ungefährer Form eines japanischen Kimonos!« Und er machte wollüstig verlockende Augen zu Esther, welche die Hände zusammenschlug über der breit entfalteten braungoldenen Seide, bestickt mit schwarzgestielten und kupferfarbenen Mohnblumen, vom Saum nach oben steigend. Augenblicks öffnete Georg sein Schlafzimmer, machte Licht, warf das Kleid über sein Bett, schob das Mädchen hinein und machte die Tür zu. Dann half er Sigurd die klebenden Hosen vom Leibe, wobei der erzählte, wie sie jählings im Park von dem Unwetter überrascht und hergeflüchtet seien, natürlich Esthers wegen, die behauptete, es wäre näher hierher als bis zur elektrischen Bahn, und das freute Georg über die Maßen. Der blasse Egon half lächelnd bei den Stiefeln und stürzte davon, um den Tee zu beschleunigen. Esther steckte den Kopf aus der Tür und rief: »Schuhe! ich habe alles ausgezogen!« Aber da war nur ein Paar japanischer Holzschuhe in der Truhe mit zwei Zoll hohen Sohlen, die reichte Georg hinein, und nach einer Weile ging die Tür auf, und sie kam herein, o wunderbar! auf ganz kleinen, vorsichtigen Schritten, so daß sich kaum das Kleid bewegte, das sie weit und mächtig umfloß, die Unterarme vor der Brust gekreuzt, das Haar hochaufgesteckt und mit einer sehr lieblichen Königinnenhaltung des kleinen Hauptes. Ja, da stand nun Sigurd und sah wie ein Hoherpriester aus mit seinem langen, ernsten Gesicht, schweren Augen und dunklem Haarbusch in dem langen roten Kleid. Egon räumte die Bücher vom niedrigen Tisch, setzte das Teegeschirr auf, Georg zog die Lampe mit dem grünen Umhang tiefer und konnte sich nicht satt sehn. Esther drehte sich um und um, und überdem zirpte das Telephon vom Schreibtisch. Georg nahm den Hörer auf und vernahm drüben Bennos Stimme, der mit unzählbaren Entschuldigungen vortrug, Frau Tregiorni, Herr Bogner und Herr Saint-Georges seien schon den halben Nachmittag bei ihm und säßen nun fest, und nun wollten sie Tee trinken, – worauf nach einem unverständlichen Gemurmel Ulrika Tregiornis Stimme erschien, die Georg beglückwünschte, daß er da sei, denn Jason al Manach fehle, um Geschichten zu erzählen, und er hätte sicherlich was vorzulesen. Georg freute sich heftig, bat sie aber, zu ihm herüberzukommen, da sie etwas Erstaunliches zu sehen bekommen würden. Das versprach sie gerne.

Unterweil hatte Esther Tee eingeschenkt und saß auf den Knien ihres Bruders, der in einen Ledersessel versunken war und sie umschlungen hielt, während sie vorsichtig die dünne Tasse an seine Lippen setzte, aber er schüttelte heftig den Kopf, es sei viel zu heiß! worauf sie ihm gut zuredete, und dann trank er wieder einen Schluck, und sie schwätzte erstaunlich dummes Zeug dazu. Auf dem Flur draußen aber entstand ein Getöse von schlürfenden Schritten und Stimmen und unmäßiges Gelächter, und dann flog die Türe auf mit einem heftigen Ruck, und – ja da standen sie!

Esther nämlich war entsetzt aufgesprungen und stand nun, mit den Füßen heimlich ihre halbverlorenen Schuhe angelnd, etwas gekrümmt, die Hände auf den Knien, mit den Armen ihr Kleid am Leibe festdrückend, lächelnd und errötend –, ja so stand sie dicht neben dem großen grünen Lampenumhang ihr zu Häupten. Georg stellte vor, aber darauf hörte niemand; endlich fragte Ulrika: »Georg, was ist dies? Ein Märchenfisch?«

»Es ist Esther«, sagte er.

»Aus der Bibel?«

»Freilich, freilich!« – Und da gingen sie Alle herum um Esther und verneigten sich, sogar Bogner, auch Benno, aber schrecklich verlegen. Saint-Georges schlug vor, daß sie es vormachen sollte. Was? – Nun, das aus den Stücken in Esther, ob sie die Stelle nicht kennten? – Nein! – Also mußte Georg eine Bibel herbeischaffen, und er hatte wirklich eine, eine Kunstbibel, so groß wie der Tod. Saint-Georges schlug auf und las:

»Und am dritten Tage legte sie ihre tägliche Kleider ab und zog ihren königlichen Schmuck an.

»Und war sehr schön, und rief Gott den Heiland an, der alles siehet, und nahm zwo Mägde mit sich, und lehnete sich zierlich auf die eine, die andre aber folgete ihr und trug ihr den Schwanz am Rocke.

»Und ihr Angesicht war sehr schön, lieblich und fröhlich gestalt; aber ihr Herz war voll Angst und Sorge.

»Und da sie durch alle Türen hinein kam, trat sie gegen den König, da er saß auf seinem königlichen Stuhl in seinen königlichen Kleidern, die von Gold und Edelsteinen waren, und war schrecklich anzusehen.

»Da er nun die Augen aufhub, und sahe sie zorniglich an, erblassete die Königin und sank in eine Ohnmacht und legte das Haupt auf die Magd.

»Da wandelte Gott dem Könige sein Herz zur Güte …«

Ja, so wollten sie es machen! »Lieblich und fröhlich gestalt«, sagte Georg, es paßte alles genau, und er wollte die eine Magd machen, Sigurd sollte König sein, aber der wollte nicht, denn er wäre nicht schrecklich anzusehen, was Esther auch fand, aber das tat sie nur, um davon zu kommen, und sie protestierte auch gegen Georgs Magdtum, und Ulrika fand wieder, daß sie zu schlecht angezogen sei als eine königliche Magd, aber Georg hatte schon einen anderen Kimono aus seiner Truhe geschöpft, der war so blaßgrün wie ein Morgenhimmel und war zu vielen Teilen bedeckt mit einem Gewimmel von ganz rosa Wölkchen, silbergerandet, echt japanische Stickerei, also verschwand sie mit ihm und Esther strahlend im Speisezimmer, um sich anzuziehn, denn von dort wollten sie hereinkommen, und sie wollte beide Mägde zusammen darstellen.

Unterweil tranken sie ihren Tee, und Benno berichtete nachträglich sehr errötend, daß er auf dem Wege von seiner Wohnung hierher nirgend die Kurbeln für das Licht habe finden können, und so seien sie entsetzlich furchtsam den Korridor herangetappt, denn Ulrika hätte geschworen, es seien überall Schächte und Wolfsgruben in diesem alten Palais, Saint-Georges aber hatte versichert – Benno krümmte sich vor Schamhaftigkeit und Gelächter –, die Wege zu den Dichtern wären immer dunkel, und dann hatte er einen Schüttelreim gemacht zum Totlachen, und Ulrika, die alles durch die offene Tür hörte, lachte schon und schrie: »Nein, wie dumm! Aber herrlich war er! Sagen Sie ihn, Benno!« Und Benno brachte wirklich den Schüttelreim heraus, und er hieß:

Ein Dichter bei den Milben saß
Und lernte sie das Silbenmaß.

Herr du meines Lebens! Georg wollte sterben vor Lachen. Er fiel auf seinen Stuhl am Schreibtisch, spreizte die Beine von sich, hob den linken Arm hoch und ließ die Hand wie eine Traube auf seinen Kopf hängen. »Und lernte sie das Silbenmaß!« rief er, »das ist großartig! Das ist ganz großartig! Das ist sogar keß!«

Im nächsten Augenblick schrie Ulrika: »Fertig! Ist der König auch fertig?« Flugs wurde der Schreibtisch beiseite geschoben, ein Sessel vor die Treppe gerollt, der Vorhang vor die Fenster gelassen, – die große Mondkugel schwebte milchbleich in Lüften auf und verwandelte den Raum in eine geheimnisvolle Palastgegend voll feenhafter Dämmerung, Sigurd setzte sich majestätisch zurecht und rollte die Augen, und da kamen sie nun herein, Esther wie zuvor, die Stirn süß gesenkt, ängstlich genug, Stirn und Wangen überflogen von Erröten, hinter ihr Ulrika in fließenden Himmelsmorgenfarben, weit zurückgelehnt, die Schleppe in ausgestreckten Händen, die Augenlider tief gesenkt, das dunkelrote Haar in zwei dicken langen Zöpfen neben den, im grünlichen Licht durchscheinenden zarten Wangen herabhangend. Ja, das war ein bezaubernder Anblick, die Männer zu beiden Seiten sanken mit flach zusammengelegten Händen auf die Knie und sangen nach der schönen Melodie: ›Reich mir deine Hand! deine weiße Hand!‹ die Worte: »Schenk mir einen Kuß! schenk mir ei–nen Kuß!« Esther aber sah den König angstvoll an, wankte zierlich und wurde auf das anmutigste aufgefangen. Dann stand sie wieder, schleuderte aber plötzlich wider alle Verabredung ihre Holzschuhe links und rechts den Männern an die Köpfe und stürzte sich, dunkelgoldumwogt und nacktfüßig in die Arme ihres königlichen Bruders. Georg sagte: »Das ist ein duftender Abend!«


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