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Achtes Kapitel: September

Regen

Georg verlor an einem Regennachmittag im September die Lust an der Arbeit so gänzlich über dem Verlangen, in den Regen hineinzugehn, daß er, kaum gedacht, in festen Schuhen, Gummimantel und Mütze vor der Türe stand, mit weitoffenen Nüstern die kalte, frische Feuchte der Luft in die Lungen ziehend.

Wundervoll war die Leere des verschleierten Parks. Georg ging; der Regen fiel mit fast lieblicher, mit liebkosender Leichte, hinwehend über die Lichtungen der Wiesen, hingebungsvoll sich mitunter ganz in Seele, in nebelnde Feuchte auflösend, in Schleiern sich einsenkend in die ruhig duldenden Wipfel. Die aufgeweichten Wege schienen noch nie betreten. Noch war alles Laub tiefgrün, hier und da zart gelb gesprenkelt; nur wo Nußbäume standen, leuchtete das nasse Gelb. Die Gruppen der Bäume und Gebüsche, von der Regenumschlingung zusammengeschlossen, schienen schöner aufgeteilt. Gleichmäßig rieselte die Stille mit dem Säuseln der Feuchte; alles bewahrte Ruh im Empfangen der Erquickung.

In linden Gedanken sich selber umschweifend, gelangte Georg an den grauen, dampfenden Spiegel des Teichs, an die Bank, wo vor langem Sigurd den Kaddosch gesprochen. Esther, kleine Esther – was war aus ihr geworden am Grunde der großen Wasser? – Ein Regentag, gewaltsamer als dieser, wars, da kamen die Beiden herein, triefend und lustig, und es gab Verkleidungen und Gelächter.

Matt, sehr verblaßt glänzten die Farben der Erinnerung durch den Nebelregen der Jahre.

Ist es nicht doch besser geworden? dachte Georg; und ernster? ›Ein guter Geist hält über mir die Wage …‹ Ich weiß noch: hier saß ich, wie ich Balto-Borusse geworden war, und fragte mich, welches Gewicht einmal dies Erlebnis haben würde. Um richtig wägen zu können, dürfte wohl noch nicht genügend Zeit verstrichen sein, aber ich denke doch: über die letzten Folgen bin ich hinaus. Ein leichter Herzfehler, Meidung alkoholischer Getränke, die Erinnerung an Tozzi, an Schwalbe –, das ist wohl alles, soweit ich sehe, und nicht eben viel.

Georg wanderte weiter in einer plötzlichen Sehnsucht nach seinem Vater. – Ich könnte doch eigentlich viel mehr von ihm haben, stellte er fest, und deshalb ist es doch schade, daß er nie schreibt. Nein, für Gedankenaustausch ist er nicht zu haben – gesetzt, ich hätte was zu tauschen –; sein Leben beschränkt sich auf Leistung. – Überdem fiel ihm eine Andeutung aus Magdas letztem Brief ein, als ob sein Vater es wieder mit dem Gehen versuchte; er hielt das wohl geheim oder ließ merken, daß es unbeachtet bleiben sollte, solange kein Erfolg sich zeigte. Sonderbarer Mensch, der er doch war! Sollte er wirklich der kranken Frau wegen sich freiwillig diese Fessel an den Fuß gelegt haben? Und weshalb wollte er nun los? Freilich war er jünger, als man seine Väter sich so denkt, drei-, vierundvierzig, und konnte noch bald ebensoviel vor sich haben …

Georg war im weiten Bogen zum Ende der Lindenalleen gelangt und ertappte sich in der Richtung zu Cordelias Hause. Auf die Uhr blickend, fand er, daß sieben nahe bevorstand. Vielleicht war sie da, – sie pflegte ja allabendlich die Blumenstöcke zu gießen und den Vasenblumen frisches Wasser zu geben. Und wenn sie nicht kam, – konnte es nicht einmal ganz schön sein, ohne sie in ihrem Duftkreis zu weilen?

Alsbald, die stille Alleestraße zwischen Gärten und Landhäusern bergan geschlendert, öffnete Georg das Gittertor und stieg den gewundenen Weg hinan zum Hause, das nun ganz in einen Kranz von Dahlien eingefaßt war, schwarzroten, eigelben, weißen und feuerfarbenen, alle Häupter übersät mit metallblanken Tropfen. Unter der Vorhalle aber saß, ganz still und so vertieft, daß er nichts umher sah noch hörte, ein kleines Buch vor den Augen, Hesekiel. Auf Georgs Anruf kehrte er erschrocken in sich selbst zurück, dienerte heftig und lief herbei, wehmutvollen Mundes, aber heiterer Augen. Georg fragte, was er denn lese; er brachte das Buch, ein Neues Testament.

Ob er denn auch verstünde, was er lese.

»Gnä Frau hat mirs angestrichen, was i lesen derf. Sehr schön is, sehr schöne Sprüch.«

Richtig fand Georg hier und da ein paar Zeilen, einen Absatz dick mit Bleistift eingerahmt. »I solls auswendig lernen,« erklärte Hesekiel diensteifrig, »sie hört mirs dann ab.«

»Na dann sag mir doch auch mal einen Vers! Einen, den du gern hast, – oder vielleicht die gnädige Frau …«

Hesekiel zog die Stirn in Falten, schwer sich besinnend. »Es sind halt so viele«, äußerte er bedenklich, fing aber im nächsten Augenblick an zu sprechen und brachte stotternd, aber ganz richtig zusammen:

»Unser keiner lebt ihm selber, und unser keiner stirbt ihm selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn, darum wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn, den Spruch hat gnä Frau so schön gefunden.«

»Sehr schön, Hesekiel!« Er lächelte mühselig. »Verstehst du's denn auch?«

»I woaß net so gnau. I denk mir schon was. Mir san katholisch, mir zwa«, erklärte er plötzlich.

»Ah, du und die gnädige Frau?«

»Ja, mir san katholisch.«

Georg wußte nun nichts mehr, gab dem armen Teufel sein Buch wieder und ging ins Haus.

Sanft grüßend empfing ihn das kleine Wohnzimmer, dämmrig, enger als sonst. Georg trat ans Fenster, und ihm kam, da er jenseit des ums Haus führenden Kiesweges große Sonnenblumen stehen sah, die Häupter gesenkt, schwer von Regenperlen, – wieder Magdas Brief ins Gedächtnis: er hatte so in Tränen gestanden, so gebeugt in Wehmut um die Gestorbene. – Georg hatte ihr gesagt, unfähig falscher Gefühle zu scheinen vor ihr, daß ihm keine Mutter gestorben war, und dies hatte ihren Schmerz fast vertieft.

Unser keiner lebt ihm selber, und unser keiner stirbt ihm selber … Georg fand, daß er die ganze Stelle im Gedächtnis behalten hatte, so hing eines im andern. – Leben wir, so leben wir dem Herrn … Auch in diesen Worten war eine Erinnerung an Magdas sanfte Gestalt. – Darum wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. – Es klang sehr tröstlich; klang nach Händen, die nichts entgleiten lassen.

Georg hatte Lust, ihren Brief zu beantworten; nicht zu beantworten, – was gäbe es zu antworten auf Schmerz? – aber zu schreiben. Allein wie anfangen?

Jetzt, vor dem Sekretär sitzend, gewahrte Georg sich selber zur Linken hinter dem bläulichen Glasschleier des Spiegels, ein wenig sonderbar nicht nur durch die prunkvolle Umrahmung von Leisten und Gespiegeltem, den Kerzen und der mattblauen Vase, die heute dort stand, den Rand überhängt von gelben Rosenköpfen, sondern durch die Verschleierung vor allem, die ihn sich selber wie in einem andern Zimmer erscheinen ließ, dasitzend einsam, ohne Stunde, ohne Zeit, nicht vergehend. So einsam also sieht man immer aus, wenn man allein ist, dachte er. Es war beklemmend hinzusehn, er wollte sich schon wegwenden, entdeckte jedoch nun in seinen, übrigens wie immer scheinenden Zügen etwas Neues, eine kleine, neben dem linken Mundwinkel eingegrabene Falte, deren Herkunft er nicht begriff, bis er, unbemerkt den Mund verziehend, spürte, daß diese Mundbewegung etwas wie – Verachtung ausdrückte. – Dazu, sagte er, entschlossen sich abwendend, scheint mir denn doch wenig Ursache. – Es sei denn Verachtung deiner selbst, fuhr eine andre Stimme in ihm fort, die er indes überhörte, in Cordelias Schreibmappe nach Briefpapier suchend.

Er fand aber zuerst einen Brief mit seiner Adresse von ihrer Hand darauf, schön, groß, rund, klar in Lateinschrift geschrieben, drehte ihn herum – er war offen –, dachte, es sei vermutlich solch einer, wie er ab und zu bekommen hatte, sei's weil sie ihm einmal absagen mußte, sei's aus keinem triftigeren Grunde als dem, ein Zeichen zu senden, einen zärtlichen Gedanken, einen kleinen Vers, – und richtig, als er den Bogen erwartungsvoll herauszog und entfaltete, las er Verse:

O komme, Geliebter, es freun sich die Fluren,
Der Storch und der Star und verwandte Naturen.
Weiß schimmern die Birken auf grünender Trift,
Da ich schreib in die Rinde mit brennendem Stift:
O komme, Geliebter, zu festlichen Stunden,
Wir wollen uns tränken, wir wollen uns munden!

Die arme Seele.

Nun da bin ich ja! freute sich Georg, aber wo bleibst du? – Wie lieblich sie das wieder zusammengereimt hatte, gar nicht empfindsam, klein und frisch wie ein Veilchenstrauß! Sie war ein Juwel.

Aber er wollte doch an Magda schreiben, und damit ließ sich nicht anfangen. Indem geriet ihm, als er mit einem verlorenen Blick hinter sich die Bücherregale streifte, die im Eck neben dem Sofa zusammenstießen, Irene in den Sinn, nach der Magda gefragt und die er gestern wieder einmal mit einem Detektivroman im Arbeitskorb gefunden hatte. Und im selben Augenblick hatte er eine so schöne Hohnrede über sie, mit soviel aparten und glatten Wendungen im Kopf, daß er hastig ein paar frische Bogen aus der Mappe fingerte, seinen Halter zog und zu schreiben begann.

 

Liebe Magda:

Dies also, dies ist Irene Herzbruch! Dein Wunsch, von ihr zu hören, umarmt den meinen, von ihr zu reden. Gut, fangen wir an, liefern wir eine Beschreibung.

Daß sie mit ihrem Mann vor ein paar Monaten ihre Langenhagener Sommerwohnung bezogen hat, weißt du, vermutlich auch, daß sie diese Wohnung – eine Photographie bekommst du – mit Herzbruchs Schwester, Dora Vehm und deren Mann teilen. Nachdem ich dreimal ganze und halbe Tage draußen gewesen bin, habe ich die Männer übrigens noch kaum zu Gesicht bekommen. Dr. V. hat seine Praxis und Sprechstunden in der Stadt, H. dito seinen Verlag. Dora Vehms erinnerst Du Dich vielleicht von Irenens Hochzeit: prachtvoll anzusehn, mit dunkler Haut, schwarzem Haar, schwarzen, glänzenden Augen und einer schönen, sicheren und freien Haltung. Die Stimme manchmal etwas schrill, zum Beispiel, wenn sie sagt: Nein, das ist ja rasend komisch! – (N. b. daß sich doch alle Frauen im gesellschaftlichen Umgang solche Übertriebenheitsworte angewöhnen müssen, wie rasend, oder himmlisch oder reizend.) Diese tüchtige Frau ist Urheberin einer Volksspeiseanstalt, wo Arbeiter und Frauen für 40 oder 50 Pfennige ein nahrhaftes Mittagbrot bekommen, und diese Anstalt leitet sie ganz allein, teilt sogar nicht unhäufig selber das Essen aus; ferner ist sie Vorsitzende irgendeines Frauenvereins; ferner leitet sie ihren Haushalt; ferner hat sie Freunde, denen sie lange Briefe schreibt; ferner singt sie, und gar nicht schlecht; ferner geht sie in viele Konzerte, Theater, Vorträge, Vorlesungen; ferner ist sie in der schönen Literatur verblüffend bewandert, und auf ihrem Tisch liegen Knoop, Kierkegaard, Hamsun und die Geschichte des Dr. Bürgers von Hans Carossa; und schließlich hat sie zwei entzückende Kinder von drei und fünf Jahren, Knaben und Mädchen, mit denen sie, ungelogen, niemals weniger als eine volle Hälfte des Tages zusammen ist. Da soll einer sich ein Beispiel nehmen. Und nicht etwa, daß dieses Ganze ein verfitzter Rattenkönig oder Schlangenballen wäre, aus dem all diese unterschiedlichen Verrichtungen mal dieses mal jenes Haupt züngelten, um was zu verschlucken, sondern ohne Unrast, ohne Fahrigkeit, auf einer einzigen, sanft und ebenen Linie rollt ein solcher Tageslauf einer solchen Frau ab, sie ist heiter, gelassen und fröhlich, und hat immer, immer noch für ein Dreizehntes Zeit in der zwölften Stunde.

Ach so, ich wollte von Irene schreiben. Du merkst, daß ich diese Frau anbete und verehre. Von dem Denkmal, das ich ihr in meinem Herzen gesetzt habe, war dies eben ein freilich sehr kümmerlicher Abdruck. Ein Hurra allen wackeren Frauen, würde Bernhard Kellermann sagen. Also nun Irene.

Als ich das erstemal zu ihr kam, – ja, also das Haus siehst du sehr schön auf einem Hügel liegen, der von der Chaussee langsam flach ansteigt: zu unterst sind Gemüsefelder, dann kommt ein Blumengarten – alles noch neu und sehr spärlich, zumal um diese Jahreszeit, dann Wiesen mit dem Haus in der Mitte; die rückwärtige Seite ist mit der ›Hecke‹ bewachsen, wie man das hier nennt, das heißt also Buschwerk und Unterholz, Haselstauden, Eschen, Weiden, auch Tannengestrüpp, ein wahres Dickicht, Wassertümpel und zuletzt ein kleiner, abgenutzter Steinbruch. Ja, also da fand ich Irene, ihrer Stimme folgend, die von weither gellend hörbar war: Sie! Sie haben ja ihren Fusel noch dick in den Augen! Was Sie sind? Sie sind weiter gar nichts als ein besoffenes Schwein, wissen Sie das? Gehn Sie mal nach Hause und schlafen Ihren Rausch aus – und so weiter. Ja, da stand sie breitbeinig im Bohnenbeet, einen Spaten schwingend, aber der so beschimpfte Gärtner war wirklich äußerst betrunken und gerade dabei, tätlich zu werden. Ein andermal fand ich sie mittags auf dem Rasen im Dickicht mit einem Roman von Skowronnek. Und das drittemal trug sie mit der Forke von einem kleinen Handwagen den Kompost und verteilte ihn über die Melonenbeete.

Dies wäre Irene? Freilich, freilich! Und was wäre viel dagegen zu sagen, wenn nicht – ja, wie soll ich das beschreiben?

Sieh mal, wenn die Frau eines Rittergutspächters, dessen Dasein reineweg von seinen Äckern, Beeten und Ställen abhängt, sich so gehabte, da wäre das trefflich, obzwar auch dann noch zu fragen wäre, ob hierzu der Weg über ein Kloster vonnöten gewesen wäre. Was ist alte, älteste männliche Forderung an eine Frau? Daß sie das Notwendige mit Anmut tue. Was heißt Anmut? Eben jene Leichtigkeit und Gelassenheit der Gebärde, jene Unscheinbarkeit, ja Unsichtbarkeit des Tuns, jenes Darüberschwebende des Ganges, so daß von allem Kräfteaufwand nichts eigentlich vor andern Augen erscheint, als der Überschuß und die Freiheit zu andern Dingen, eben jene Anmut Dora Vehms, welche genau die des Trapezkünstlers ist, der nach jeder Vorführung, ein Lächeln auf den Lippen und mit ausgebreiteten Armen vortänzelnd, dem Zuschauer vorzuspiegeln hat, daß seine Leistung Kinderspiel sei, abgetan zwischen zwei kleinen Atemzügen. Sie aber geht in diesen Dingen bis zur Selbstvernichtung auf. Wenn sie morgens früh um fünfe ihre Hühner füttern muß, so schläft sie natürlich Glock neune ein. All dies, um im Winter selbst eingeweckten Spargel und selber eingekochtes Plaumenmus essen zu können. »Und das Ganze«, hören wir meinen Vater sagen, »ist denn wie an die Wand –, usw.« Langsam umnachtet sich ihr Geist. Bücher liest sie keine, außer den oben angezeigten. Für derbe Worte und Redensarten hatte sie immer eine Vorliebe; Rhinozeros ist ihr Lieblingswort, das sie ja freilich am fröhlichsten an sich selber verschwendet. Siehe sie dastehn: in einem lachsfarbenen Morgenrock, Rüschen an Hals und Ärmeln wie immer, mit ihren sanft und länglich gerundeten Hüften – noch sind sie's – tausend goldne Lockenwirbel ums krebsrote Gesicht, indem sie sich mit dem Zeigefinger vor die Stirn tippt und sagt: Ich Rhinozeros!

Schließlich weiß man ja nicht, wie lange sie's treiben wird. Ferner ist auch die Abwesenheit ihres Mannes in Erwägung zu ziehn, aber wiederum – die sozialwissenschaftliche Hauptabteilung seines Verlags, und die neue Zeitschrift gleichen Charakters, die er jetzt zu gründen im Begriff ist, könnten ihr genug Gelegenheit bieten, mit ihm zusammen ein gemeinsames Leben ernster und würdiger, wirkender und fortwirkender Tätigkeit zu führen, anstatt daß sie sich Sommers abrackert, um Winters essen zu können. Sauwohl fühlte sie sich, sagt sie, und überhaupt sei dies die wahre Bestimmung des Menschen, zu essen und zu trinken und dafür zu sorgen, daß man zu essen und zu trinken habe. Ihre Geige, wenn du danach fragen solltest, ist seit Monaten vergessen. Gewiß: Bau und Einrichtung von Haus und Garten mußte sie so ziemlich allein bewerkstelligen, und es ist ja auch reizend geworden, aber wozu? Sie wohnt ja nicht, sie hat ja immer bloß zu tun. Ihre Kleider sind entzückend, sie macht sie selbst, Renate auch, aber ich habe Renate nie am Schneidertisch gesehn.

Ja, wären nicht die Kinder – du weißt, ich liebe Kinder – und Dora Vehm, so wurde ich diesen Verkehr vermutlich aufgeben. Manchmal ist ja auch H. abends anwesend, und auch der Doktor ist ein feiner, freilich sehr stiller, in sich gekehrter Mensch, aber da braucht man nur irgendeine Sache unterm Himmel zu berühren, so giebt es ein schönes, ernstes Gespräch, man fühlt einen feinen Keim in die Brust fallen, und die Stunde war nicht umsonst.

Ehrlich, Magda: Im Gastbuch unseres Korps fand ich die folgenden, sonderbaren Verse meines Papas, soviel ich weiß die einzigen, die er je gemacht hat, frei nach Storm:

Habe niemals eine Meinung!
Innerstes bleibt stets verborgen.
Was am Nachbarn du bedauerst,
Tust du heute, tust du morgen.

So würde ich mir auch nicht diese Meinungsäußerung über die gute Irene erlaubt haben, wenn ich nicht selber während der Trassenberger Monate ernstlich an mir selber gefeilt und mich besonnen hätte, was ich war, und wer ich sein soll. Ich habe auch ganz tüchtig gearbeitet, denn das abgebrochene Altenrepener Semester drückte kräftig genug, und wenn auch Greifbares nur wenig dabei herausgekommen sein mag – ein Überblick, flüchtig genug, über das gesamte, über dies ungeheuerlich horrende Besitz- und Arbeitsfeld Papas – so habe ich doch Arbeitslust und Zukunftseifer in reichlichem Maße davongetragen. Froh bin ich dabei – darf ich das einmal sagen? – daß Du, immer Gütige und Verstehende, meinem Wege treu geblieben bist, und mit mir hoffst, und mit mir vertraust. Denn das tust Du doch, nicht wahr? Deine Briefe taten mir so wohl! Wirst Du nicht bald einmal wieder nach A. kommen, damit ich Dich singen hören kann? Oder ist die Stimme noch immer nicht so weit? Nein, nein, rede mir Du in deiner Bescheidenheit das nicht aus: Dein Gesang ist besser als Irenens Einmachegläser. Weiland Josef Montfort schenkte mir einmal – der Großmütige! – ein Wort; es ist von Salomo und lautet: Erhalte dir dein Herz, denn aus ihm kommt das Leben. Aus dem Herzen kommt Deine Stimme, aus einem allwissenden Herzen, Magda, ich muß es sagen, und ist Leben und muß Leben wirken.

Irene hat ihr Herz eingeweckt; möge sie sich im Winter ihres Mißvergnügens daran laben. –

Georg hielt inne. Der Nachsatz, fand er, hatte den Abschluß verdorben; nun konnte er so nicht enden, und ein Übergang war schwer zu finden. Auch schien ihm noch etwas zu fehlen, ja, die Hauptsache war mit den wenigen Worten gegen Ende doch noch nicht ausgesagt, sein dankbares Gefühl für sie und …

Er stand auf, trat ans Fenster, merkte, daß der Regen stärker niederrauschte, und schloß es. Sogleich dämpfte sich der Lärm, aber Georg gewahrte auch, daß es dunkler geworden war mittlerweil, er mußte zum Ende kommen. Da verschleierte sich der Raum langsam vor seinen Augen, er sah noch vom Sofatisch her etwas Rotes dunkel glimmen, das Rubinglas, das er einmal mitgebracht hatte. Es quoll undeutlich in ihm, er sah wieder den für Magda bestimmten Brief liegen, setzte sich davor und schrieb:

Ich mußte eben die Feder hinlegen und lange am Fenster stehn. Es ist dämmrig, der Regen schlägt an die Scheiben. Esthers Volière fand ich bei Irene, wo ist Esther? – Wie sind wir Alle auseinander gewirbelt! Daß wir immer wohl dies und jenes unternehmen können, aber halten läßt sich nichts davon. Wer hielte sein eigenes Herz, geschweige denn fremde? Unwiderstehlich angezogen treiben wir zu immer neuen Wirbeln hin, und schaurig ist, daß, was am wildesten glühte, am eiligsten erkaltet. Ferne, liebe Freundin, ich weiß nichts von Dir, aber wie den guten, immer gleichen Benno hier – natürlich vergaß ich den Allzubescheidenen zu nennen, als ich eben die Hiergebliebenen zählte – so sehe ich Dich dort: ein Bleibendes im Getümmel, eine sanfte Säule im Kreisen, einen immer steten, leisen, aber in jeder Stille um so geheimnisvoller vernehmbaren Ton, und ich denke: tausend Saiten des aufgeregten Daseins schwirren und rasseln ihr verworrenes und bezauberndes Spiel: eine Saite ruht immer und tönt tagein, tagaus, jahrein, jahraus immer den gleichen, himmlisch einfachen, und o so tröstlichen Klang!

In Dankbarkeit der Deine

 

Im Begriffe, seinen Namen zu schreiben, hielt Georg ein. – Was ist denn das? sagte er schwer aufatmend, was hast du denn da gemacht? Du hast ja gelogen. An sie hast du nicht gedacht, sondern hast Cordelia empfunden, und das Gefühl nur ein wenig umgewandelt, daß es paßte …

Aber wenn es paßt, mußte er sich widerlegen, so hats doch seine Gültigkeit irgendwie. Eben war es so, daß ich nicht an Magda denken konnte, wenn ich es aber wirklich tue, ernstlich, so empfinde ich auch, wie ich schrieb, und – ja, und das vor allem wars, was ich empfand: sie wird immer bleiben, immer –

Und Cordelia? Ist es denkbar, je ohne sie zu sein?

Jetzt höre ich auf zu denken für mindestens drei Stunden, dachte er ärgerlich lachend, unterschrieb, faltete und schloß den Brief in einen Umschlag, den er adressierte, worauf er sich erhob, um in der Sofaecke nun ganz die Dämmerung zu genießen und die Erinnerung an die Zärtlichste, die Einzige …

Im Niederlassen jedoch merkte er, daß er sich auf etwas Hartes, Buchartiges setzte, und zog unter sich ein großes Heft im Aktenformat mit blauen Pappdeckeln hervor, schlug es auf und las im Zwielicht das groß und geschwungen – als Titel – von Cordelias Hand geschriebene Work: Theodosis; darunter, kleiner: Tragödie.

War das eine Rolle? Er hatte noch nie den Namen gehört. Auch schien ihm jetzt, als er das Blatt umschlug und Verse fand, die Handschrift Cordelias anders als jetzt, nicht so ausgeschrieben, jugendlicher; und schon im Begriffe, das oben stehende Personenverzeichnis zu lesen – Pelagios, Thespesios hatte er schon erhascht – hielt er sich zurück, von einer Art Duft oder Hauch berührt, der ihm Einhalt bot; schlug das Heft wieder zu und legte es auf den Tisch.

Und dann hörte er deutlich durch das Regengeräusch das Nahen eines Automobils; es ward lauter, kam ganz nahe und verstummte dann. Das mußte sie sein. Georg war im Nu durchs Zimmer, die Treppe hinunter, trat unter die Säulen vor der Tür, als sie eben den Weg heraufkam, ohne Hut, im grünen Regenmantel, und hielt sie im nächsten Augenblick in den Armen.

Im Zimmer oben zog er sie eifrig zum Sofa, als sie das Heft bemerkte und – zum erstenmal glaubte er diese Bewegung zu sehn – die Augen feindlich zusammenzog. – »Hast des gefunden?« fragte sie.

»Es lag in der Sofaecke. Sollt ichs nicht sehn?«

»Warum net gar? Die alte Sach.« Damit hatte sie's aufgenommen, ging zum Kastenschrank, zog unten eine Lade auf und legte es hinein. Im Zuschieben mit Händen und Knien schien sie sich zu verlieren, richtete sich langsam wieder auf und trat an das Fenster.

Erinnerungen, dachte Georg; sie ist traurig geworden. – Nein, diesmal will ich nicht, wie man immer tut, Zartgefühl nur durch Schweigen beweisen. Erinnerung will gelöst sein, nicht zerdrückt – und er ging leise zu ihr, zog sie an sich und fragte behutsam, über ihr Haar streichelnd: »Warum hast du's fortgelegt?« – Sie schwieg. Wie ihr Haar duftete! Sie atmete stark.

»Möchtest du mirs nicht vorlesen?« fragte er wieder, da er ein leises Nachgeben in ihren Schultern zu spüren meinte. »Oder spielen?« setzte er, noch leiser, hinzu.

Eine lange Weile blieb sie still. Dann, heftiger atmend, fragte sie weich: »Woher weißt denn, daß ich spielen kann?«

Nun hielt ers für das beste, zu schweigen. Immer tiefer und schwerer wogte ihre Brust.

»Möchtest du's denn gern?« flüsterte sie kaum hörbar und räusperte sich. – Er drückte sie an sich. »Wart ein Weilchen«, sagte sie schnell, drückte sich um ihn herum, lief durchs Zimmer und verschwand.

Es war ganz dunkel geworden. Georg, am Fenster stehend, dachte: Ich sollte nie fragen! sagte sie im Anfang – und nun kommt es doch, ganz von selber. So ist es im Leben. Eine wirkliche Elsa hätte auch nicht geradezu gefragt: Wer bist du? Wo kommst du her? – Eines Tages hätte es sich von selber ergeben, und dann wäre es auch vermutlich nicht halb so schlimm gewesen, wie der Lohengrin ankündigte …

Er mußte jedoch lange warten, bis sie wieder kam. Still und ernst, auf unhörbaren Füßen erschien sie im dunklen Raum, dunkel selber im Haar und dem schweren, schwarzen Mantel; nur ihr Gesicht schimmerte sehr weiß.

»Setz dich ins Sofa«, bat sie, und er tats. Sie blieb vor dem Kastenschrank stehn, legte still eine Hand in die andre und sprach, das Gesicht zum Fenster gewandt, erst nach langer Zeit:

»Theodosis war eine arme Seele. Sie war stumm geboren und blind. Dennoch fand sich ein Mensch, der sie liebte, dem sie vermählt wurde, und der von einem Nebenbuhler erschlagen ward in der selben Nacht. Nun kommt ihr alter Lehrer Thespesios, der sie als Kind lehrte, den Druck seiner Finger in ihrer Hand zu verstehn und zu erwidern, und sagt ihr, was geschehn ist. Der Schrecken durchbrennt sie, sie lodert auf, sie kann sprechen.«

Cordelia schwieg. Georg, in seltsam tiefer Erregung, da er ihre Stimme noch nie so gehört hatte, so tief und tönend, so voll aufkeimender Musik, sah ihre Augen durch den Raum wandern, mit fernem Blick, unsäglich ernst, bis zu ihm, doch sah sie ihn nicht an.

Auf einmal glitt von ihren Schultern der Mantel – ihr Leib glänzte fast metallisch auf in der Dunkelheit –, glitt bis zu den Hüften, wo ihre linke Hand ihn hielt; die Rechte streckte sich ein wenig vor, steif, als würde sie von einer andern gefaßt. Sie hielt den Kopf lauschend vorgesenkt; dann entflog irgendwo ein gurgelnder Laut: »Weh über mich!«

Die Rechte noch in derselben Haltung, fuhr die Linke zum Munde, in ihrem Blick war Entsetzen, der Mantel war am Boden, aber jetzt – kaum daß Georg noch Worte vernahm, so flutete eine maßlose Stimme durch den Raum, wie ein Engel in tosenden Flügeln –

»Mein Mund! was ist mit meinem Mund? er brennt!
Wehe, ich brenne! eine Flamme schlug
Aus meinem Mund, und alles steht in Brand.
Was ist? ich höre eine schreckliche
Entstellte Stimme. Meine Stimme ists!
Ich konnte sie nicht halten …«

Sie war still: sie stand noch immer wie zuerst. Georg bebte am ganzen Leib. Diese nie gekannte Stimme! Diese singende Kraft, diese schwelgrische, üppige Musik, und Verse, die sie schwang wie Fackeln und Dolche, lodernd, triumphierend, in seine Brust. Und nun – nur die Arme ein wenig zu einer hülflosen Gebärde des Umarmens ausgestreckt, tiefer gebeugten Leibes – sang sie weiter:

»O Stein an meinem Mund, o kalte Säule!
O Mund, ich schließe dich an diesen Stein,
So stumm warst du, so eisig diese Nacht,
Da über dir ein andrer Mund verglühte,
In dich hinein drang, aber du warst Stein …«

Sie warf die Hände empor und rückwärts zum Genick, empor das Gesicht:

»Nun schrei, zerborstner Stein, nun gell es aus,
Daß ich nur höre diese grauenvolle,
Verworfne Stimme, die nur ward zum Schrei
Erschaffen, nur zum Schrei!«

Wieder vornüber sinkend, faltete sie die Hände in der Höhe der Brust, sie wand sich zart, Georg sah jetzt ihr Gesicht, entfremdet, die Augen geschlossen, schmal geworden; sie lächelte Gram:

»O meine Kindheit!
O meine Sehnsucht, süß und schmerzenvoll!
Da alle Welt voll Lieder war und klang,
Wie tönte jedes Ding, wie sprach von Liebe
Das kleinste auch, dran meine Hände rührten,
Du Becher, draus ich trank, du Ring, du Vase,
Glücklich beredt, und lächelte mich an,
Daß ich euch liebte tief aus meinen Schmerzen.
Dann manchmal schiens, als sei doch einmal alles
Verstummt, und kein Geräusch als in den letzten,
Versteinerten Tiefen, dunkel in mir murmelnd,
Die Stimme, meine Stimme, die vergrabne,
Arbeitende … Ich konnte ihr nicht helfen.«

War das denn Spiel? Übermannte sie jetzt wirklicher Schmerz? Aber da wich schon die Qual, sie lächelte wieder, doch fielen die Hände auseinander, fielen ab, unwissend geschlossen bis zu ihren Schenkeln, wo sie haften blieben, und sie stand nun, eine hülflos gekrümmte Figur …

»Wie sollte sie
Einst süßer tönen! ach, wie sollte sie
Liebkosen! all die stummen Herzen sollten
Von ihr gestillt und fröhlich sein. Es würden
Die alten, göttlichen, unsichtbaren Flügel
An ihren Schultern wieder sichtbar werden,
In Himmel tragen, die entgegenschweben …«

Ihre Stimme, zu innigster Innigkeit versüßt, verhauchte im Geflüster der brünstigsten Sehnsucht:

»Ich wollte ihnen dienen. O in Schauern
Sollten sie stehn und horchen: Hört, es klingt
Die Erde, ja die Erde klingt, die alte.
Alles wird klingen, alles ist voll Liebe,
Wir Menschen sind geliebt, wir sind geliebt,
Denn eine Blinde baut uns goldne Brücken,
Denn eine Stimme kam, um uns zu dienen …«

Mein Gott, sie sprach ja von sich selbst! Das war ja sie, sie, und stockte nun, besann sich, sagte stumpf: »Nun schreit sie bloß!« und flog plötzlich in ihren Armen empor in den Raum, stand langausgestreckt nach oben, schmerzausjauchzend wie eine knatternde Flamme:

»Ach, was aus mir
Jetzt Worte schleudert, nennt ihr Sprache, ach,
Nur meine Stummheit ists, die reden lernte
Und alles überschreit! O daß ich sänge!
Eindränge in die Seelen mit Gefühl,
Die Namen stammelnd, Namen, blühend, Kinder,
Im Welken Himmlische, und Worte, Worte …«

War es denn zu Ende? Georg wagte nicht, sich zu bewegen. Sie stand immer noch wie zuletzt, die Augen geschlossen. Dann schien sie zu wanken. Georg sprang auf und kam eben rechtzeitig, sie aufzufangen. Sie fiel abgebrochen gegen ihn wie eine Säule. Er fühlte sie schweißbedeckt und eiskalt am ganzen Leib, aber sie war nicht ohnmächtig, sie zitterte, er raffte den Mantel vom Boden, selber zitternd, und hüllte sie hinein, während Gedanken in ihm schwirrten wie Funken. Sie an sich drückend, flüsterte er stumm: »Ich weiß ja, ich weiß ja nun alles. Ärmste, du hast nie spielen dürfen, was du konntest, du hattest – ach, was weiß ich, wie es war, aber nun … Komm,« sagte er sanft, »komm, leg dich hin, komm, es ist ja nun gut! ich weiß ja nun …«

Da horchte sie auf. »Was weißt du nun?« hauchte sie.

»Ach – alles; was dir fehlt, wer du bist. Aber das hat nun ein Ende. Ich kann ja alles für dich tun, ich –«

»Was willst du tun?« fragte sie, seltsam schmelzend und ergeben.

»Ach … Du weißt doch: das Theater ist doch nichts ohne meinen Vater, und ich selber … man hat doch alles für Geld. O die Schurken, nun weiß ich alles! Was soll ich tun, Herz? Soll ich morgen zum Intendanten gehn? Willst du hier bleiben? Willst du nach Berlin? Sag doch, Herz, du bekommst ja!«

»Zum – – In–ten–danten?« sagte sie vergehend. Ihm schmolz das Herz in der Brust. Mein Gott, warum hatte sie denn nur geschwiegen, immer geschwiegen!

Da merkte er, daß sie weinte. Und dann war sie auch schon in ein Schluchzen ausgebrochen, daß ihm das Herz stillstand vor Grauen. Sie schüttelte sich minutenlang wie ein rasendes Tier, dann brüllte es aus ihr heraus, sie fiel vornüber so schwer, daß sie ihn mitriß, er mußte knien, um sie zu halten, sie lag halb am Boden, er richtete sie auf, sie wimmerte, er sah ihr Gesicht, aus den geschlossenen Lidern schossen stromweis die Tränen, während der Mund sich verzerrte, und sie fiel wieder um, er richtete sie mit Mühe auf, sie fiel ihm über den andern Arm, lag am Boden, schluchzte, schluchzte, schluchzte, sie schüttete Schmerz aus, wimmernd aus keuchender Brust, als würden eiserne Stücke in ihr zerbrochen, und es nahm kein Ende.

Georg konnte nur noch neben ihr sitzen und ihre Hand festhalten, selber wie erfroren vor Mitgefühl, bis der Ausbruch langsam zu erlöschen begann, das Weinen leiser wurde, das furchtbare Zittern aufhörte; bis er es dann wagte, sie aufzurichten und zum Sofa zu führen, wo sie sich hinbetten ließ und dann still wurde. Er trocknete ihr geschwollenes Gesicht, die immer noch fließenden Augen mit seinem Tuch, doch nahm sie es nun fort, schob sich ein wenig höher in den Kissen, öffnete die Augen und sah ihn an. Ihren Blick – dunkel, kaum sichtbar im Dunkeln, da sein Schatten noch über ihr lag – verstand er nicht, auch schloß sie die Lider bald, lag still und sagte leise:

»Weißt du, Georg – wir wollen noch ein wenig warten …«

»Ach, nun wieder warten!«

»Ja, Georg. Sieh mal: – – es ist doch nun alles anders geworden, als ich dachte. Ich muß mich ja nun ganz – herumdrehn. Ich – ich möchte aber nicht, daß du in – in dies hineingerätst, was ich jetzt bin.« Sie sah ihn nun wieder an und schien zu lächeln. »Sein Stolz hat halt a jeds. Ich möcht auch schon net hier bleiben, wenns einmal anders werden soll. Da mach ich erst hier ein End, und dann – in Berlin – da bin ich ganz frei, da hast mich dann ganz für dich und kannst mit mir machen. Möchtst das net? Georg?«

Georg wand sich und war gar nicht einverstanden.

»Na, Georg, du mußt das doch einsehn! I kann doch net so auf einmal! Sagn mir halt: Berlin. Is recht, Georg?«

Georg gab nach für den Augenblick. Es ist ja noch ein Monat Zeit, einerseits – und vielleicht hat sie ja auch recht. Wenn schon überhaupt anfangen, dann ganz oben, dachte er, küßte sie dann zärtlich und ließ sich von ihr das Haar glätten.

»Aber Cordelia,« mußte er nun gestehn, »was kannst du alles! Es ist ja unerhört!«

»Ich kann schon was«, meinte sie mütterlich. »Und dann für dich …«

»Wie du nur dastandest! Hast du wirklich die ganze Zeit mit geschlossenen Füßen gestanden? Alles mit den Armen gemacht und mit der Stimme? Kind, was hast du für eine Stimme!«

Sie lächelte sanft, schloß die Augen, seufzte und streckte sich aus.

»So ist gut, Georg. So liegen ist gut. Und nimmer viel reden, weißt! Ich ruh mich ein wenig. Wir haben ja noch die ganze Nacht.«

Die ganze Nacht … Er deckte sie sorgfältig mit dem Mantel zu bis ans Kinn, tastete nach ihrer Hand darunter und hielt sie. Ein wenig wandte sich ihr Gesicht herüber. Sie lag still. Und so saß er bei ihr, glücklich, dankbar, gut sein zu dürfen, hülfreich. Der Herbstregen schlug schwer gegen die Scheiben. Er hörte den Gang der Pendeluhr durch das Geräusch der Wasser, langsam, seelenruhig, und sein Innres ebnete sich, hinschwellend durch die immer sanftere Stunde, der verhangenen Ebene gleich, zu den zaubrischen Wäldern der Zukunft.

Wiederkunft

Renate, mit Saint-Georges und Magda, die vor ihrer Rückkehr nach Berlin noch einige Zeit bei ihr bleiben wollte, aus Helenenruh heimgekehrt, suchte ihr Zimmer auf, um sich umzukleiden.

Die Fenster im Wohnzimmer standen weit offen; es war wie im Freien, der Septembernachmittag drinnen wie draußen leicht, bläulich und durchgoldet. Auf ihrem Schreibtisch fand Renate eine kleine Druckschrift – Feruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst – aus der ein kleiner Zettel fiel; von Ulrikas Hand stand darauf gekritzelt: Ich bin in der Kapelle. Bogner sitzt im Garten.

Das Mädchen trug mit dem Chauffeur Koffer und Hutschachteln herein. Renate legte Jacke und Hut ab, auf einmal ein wenig wehmütig, ohne erkennen zu können, weshalb. Ob es schon die Luft des Hauses war, die sie wieder bedrängte? – Sie trat ans Fenster und vergaß für Augenblicke die trübe Wallung über dem Anblick weißer, goldiger Wolkenstreifen im Blau über den noch schweren und dichtgrünen Massen der Gartenbäume.

Und siehe da: Bogner saß – natürlich drehte er ihr den Rücken zu! – auf einem Feldstühlchen vor einem roten Busch, ein großes Skizzenbuch auf den Knien, aber die rechte Hand, die Renate sichtbar war, lag völlig still; er betrachtete nur.

Und dort zur Linken – ja, da saß der Onkel, nicht anders scheinend als ein friedlicher Patriarch, kahlhäuptig und weißbärtig, auf der weißen Bank in der Grotte von Buschwerk, neben der ein Birkenbaum, goldgelb im Laub, leichte Wache hielt, vor sich den Rasenplatz. Gedämpft aus der Kapelle ward die Orgel hörbar – alles war wie zuvor, nicht leichter, nicht schwerer, aber – da es wieder neu war – schwerer ließ es sich auch wieder an.

Renate ging ins Schlafzimmer, zog eilig Rock und Bluse aus, wusch sich im Badezimmer, legte dunkelblaue Seidenstrümpfe, die ihr grad in die Finger gerieten, an, kleine blaue Schuh und irgendein weißes Kleid, locker und schlicht von oben bis unten, beim Zuhaken bemerkend, daß es einen hohen, anschließenden Kragen hatte, mit kleiner Rüsche, in Wellenform geschweift unter Kinn und Ohren. Als sie ihre Schatztruhe öffnete, überkam sie Erinnerung. Der freie Raum darin, den die aufgeschichteten Lederkästen ließen, war angefüllt mit dem bunten, glitzernden Gewirr des Alltagschmucks; sie griff hinein und zog ein Bündel langer Ketten heraus in allen Farben, blaugrün, rosenfarben, weiß, gelb und gelbgrün; ein mattgoldner Armreif fiel zurück, und sie ließ das Ganze wieder sinken, legte die Hand auf einen der Kästen und dachte an ihr erstes Halbjahr im Hause, wo der Onkel und Josef allwöchentlich gewetteifert hatten in Geschenken, die dann sie, immer eines bis zum nächsten, tragen mußte, abwechselnd einen Tag um den andern. Kleine Verse hatten sie dazu gemacht –

Eine Chatelaine –
Perlen nennt man Tränen.
Tränen sind aus Salz –
Schling sie um den Hals.

Ihre Augen verschleierten sich; sie löste eine lange Kette von fingernagelgroßen, länglichen Perlen aus Lapislazuli, hartblau mit goldenen Spuren, aus den übrigen, legte sie über den Nacken und ließ sie vorn bis zum Schoß herunter fallen. So ging sie, Ulrikas Heft an sich nehmend, hinunter.

In der Halle jedoch hielt ihr lebensgroßes Spiegelbild sie auf. – Wie seh ich denn aus? fragte sie sich erstaunt, ich bin ja ganz fremd geworden! – Aus dem weißen Kleidhals mit der blauen Kette stieg ihr Gesicht, fast so braun wie ihr Haar; die Wangen glühten röter als sonst, auch der Mund, und die Augen, tiefer liegend, schienen in dunklerem Feuer zu stehn. Plötzlich fühlte sie sich so angeprahlt von den eigenen Farben und Gluten, daß ihr das Blut in die Wangen schoß und sie sich abwandte. – Wofür denn nun all das, wofür? Was soll denn ich damit, und ich brauchte es ebensowenig mehr zu tragen wie den Schmuckberg da oben, der bald zwei Jahre im Finstern liegt. –

Überdem fiel ein Schatten von draußen herein, der Onkel erschien in der Tür. Auch seine Stirn, die kahle, schöngewölbte, war gebräunt, die heitern Augen hatten keinen Blick, fast verhangen vom Weiß des Bartes. Seltsam hoch und spitz – fast wie bei einem heiligen Antonius eines alten Bildes – war sein kahler Kopf. – So ging er vorüber und hinaus. Die Hände gefaltet sah Renate ihm nach.

Eine Weile später stand sie ein paar Schritt hinter Bogner. Auf dem Blatt war ein Durcheinander, von allen vier Rändern ins Weiße gezeichnet, Blätter, Zweige, ganze Stücke des Busches, einzelne Blätter haargenau, ihre Drehung, Schattung, Glanz und Zahnung, Ansatz am Stengel, Verknotung im Ast, alles hundertmal lebendiger geworden im Durchgang durch seine Augen, als die Augen Renates es am wirklichen Gewächs wahrnehmen konnten. – Ach, hier war Leben, hier wars! –

Leise ging sie wieder davon, setzte sich auf die Bank, auf der sie zuvor ihren Onkel gesehn hatte, und versuchte, sich in die Zeit der Friedliebenden Gesellschaft zurückzuversetzen, indem sie nicht zu Ulrika ging, da die Zeit zur Begrüßung von selber herankommen würde. Sie öffnete die Druckschrift, sah zu Bogner hinüber, sah empor und erblickte das Gesicht von Saint-Georges' Bruder zart und rosig an seinem Fenster, nickte ihm zu und winkte. Er, tief errötend wie stets, sprach ins Zimmer hinein, und gleich darauf erschienen Magdas Gesicht und schwarzbekleidete Schultern, die nickte und lächelte, dann auch Saint-Georges. – Sie zogen sich wieder zurück. Renate blätterte zum Anfang des Buches, hier und da einen Blick hinein stechend, blieb haften mit einem und las:

›Und was kann schließlich die Darstellung eines kleinen Vorgangs auf Erden, der Bericht über einen ärgerlichen Nachbar – gleichviel ob in der angrenzenden Stube oder im angrenzenden Weltteile – mit jener Musik, die durch das Weltall zieht, gemeinsam haben?‹

Hineinsinnend in das königliche Wort hob Renate die Augen. Auf der Veranda stand Magda, schmal, im hängenden schwarzen Kleid, aber schön bräunlich von Antlitz. Bogner hatte wohl ein Geräusch gehört, drehte sich um, sah Magda, winkte ihr zu und erhob sich. Bogner war braun wie ein Affe, an den seine Augenhöhlen jetzt mehr als früher erinnerten; hier war Einer immer brauner als der Andre. Jetzt entdeckte er auch Renate, lächelte, warf sein Buch zu einigen andern in den Rasen, kam und streckte ihr die Hand hin. Sie möchte nur entschuldigen, er säße schon ein paar Wochen jeden Tag hier und studierte, ja, er wollte nun die ganze Friedliebende Gesellschaft malen, ein bei ein, sechs Meter lang, fünf Meter hoch. Nein, sitzen brauche ihm niemand, antwortete er auf Renates Frage, es wäre alles schon fertig von damals her.

Indem kam Ulrika von der Kapelle her, gelbweiß gekleidet, und war richtig auch so braun wie ein Mulatte, nein, eher kupfern, und sie sagte gleich tief beschämt, ihr Haar sei nun glücklich übergeflossen. Das Heft auf der Bank neben Renate entdeckend, raffte sie's auf und sagte, sie müßte Renate eine Stelle vorlesen. Während sie noch suchte, kamen Magda und Saint-Georges, es gab ein langes Händegeschüttel, dann hatte Ulrika gefunden und las:

»›Wohl ist es der Musik gegeben, die menschlichen Gemütszustände schwingen zu lassen: Angst, Beklemmung, Erstarkung, Weichheit, Aufregung, das Überraschende‹ und so weiter –« sagte Ulrika – »›ebenso den inneren Widerklang äußerer Ereignisse, die in jenen Gemütsstimmungen enthalten sind. Nicht aber den Beweggrund jener Seelenregungen‹ – und so weiter! Nun: ›Ebenso vergeblich ist es, moralische Eigenschaften, Eitelkeit, Klugheit in Töne umzusetzen, oder gar abstrakte Begriffe wie Wahrheit und Gerechtigkeit … Könnte man denken, wie ein armer, doch zufriedener Mensch in Musik wiederzugeben wäre? Die Zufriedenheit, der seelische Teil, kann zu Musik werden; wo bleibt aber die Armut, das ethische Problem, das hier wichtig war: zwar arm, jedoch zufrieden. Das kommt daher, daß »arm« eine Form irdischer und gesellschaftlicher Zustände ausdrückt, die in der ewigen Harmonie nicht zu finden ist.‹«

Ulrika sah sich triumphierend um. Renate aber hörte weder ihre Worte, noch was die Andern sagten, ganz gefangen in ihren Blick, der von ihr, die allein saß, über die vor ihr Beisammenstehenden glitt, gefesselt von den Gesichtern, Ulrikas lebhaftem, Magdas im Zuhören äußerlich abwesendem, und Georges' gelassenem, leicht ein wenig sarkastischem. Länger haftend an seinem, dem ägyptischen König in diesem Augenblick, wo es sich glättete und der Blick aus lichten Augen nach oben ging, ähnlicher als jemals scheinenden Gesicht – hörte sie auch ein paar seiner Worte – vom verräterischen Glanz des Bestrickenden an der schönen Form – und wußte auf einmal, weshalb sie wehmütig geworden war beim Anblick von Ulrikas Zettel oben, den sie wieder vor sich sah. Ja, damals, als es die Friedliebende Gesellschaft gab, lag in der Halle wohl, oder auf der Sonnenuhr, oder sonst irgendwo, solch ein Papierschnitz mit einem Namen, dem er galt, und einem Ort in Haus oder Garten, und nur die Handschrift zeigte an, wer ihn hingelegt hatte. In ihrer Schreibmappe mußten noch ein paar zu finden sein.

Aber wir sind ja Alle wieder da! Magda, Bogner, Ulrika, Georges! Irene, Jason, Georg, Benno sind irgendwo in der Stadt – ja, warum ist es nicht wie früher? wer fehlt denn? Ach Gott, Esther, hab ich dich wirklich so vergessen? Und Sigurd … wo mochte der sein? – Könnte es nicht doch werden wie damals?

Da sah sie die Andern wieder vor sich stehn, schweigsam jetzt, jeder nachsinnend über etwas, wie es schien, sonderbar still, jeder für sich mit seiner inneren Welt, umgeben vom Grün, von der warmen, herbstlichen Luft – und doch alle von Nachdenklichkeit eigentümlich vereint. Es war so traumhaft …

Nein, das war gewesen! Und das hier – das waren die Schatten davon, die zusammen kamen, um den alten Ort anzusehn. Es war –

Renate stand auf, die Andern lösten sich, und Ulrika legte den Arm um sie, fragte dies und das, erzählte, doch kam der Maler alsbald, seine Bücher unterm Arm, und nahm sie mit fort, denn er wollte durch den Wald laufen, und sie wollte mit. Ulrika immerhin schien froher und offner als jemals.

Auf einmal war Renate allein mit Saint-Georges; auch Magda war gegangen.

»Ach Georges,« sagte sie, »ich muß mich ins Gras legen, glaubst du, daß es was schadet?«

Nein, er glaubte es nicht. Also streckte sie sich längelangs in den hohen Halmen und verdorrten Blumenstauden auf dem Rücken aus, blinzelte gegen den immer goldeneren Himmel und fühlte wonnig an Schultern und Rücken, Füßen, Waden und Kniekehlen überall die andrängende, mächtig tragende Feste der Erde, auf der sie – die Augen schließend, fühlte sie es mit Macht – in ungeheurer Sicherheit, vom riesigsten Rücken getragen, durch Helles und Dunkles, Tage und Nächte, jahrlang durch gewaltige Räume umrollend dahingetragen wurde. Ja, einen Augenblick glaubte sie zu spüren, wie es hinter ihr, im Westen stieg, wie sie selber nicht lag, sondern stand, ausgebreiteter Arme, wie angenagelt an die immer sonnenaufgangwärts umrollende Kugel, selig gekreuzigt, schmerzlos im Herbsttag, gefüllt mit goldenen Adern von himmlischer Luft, nur ein leichtes Gewebe selbst, im Gras ausgebreitet, von purpurnen und goldenen Fäden und Maschen, in dem das wunschlos pochende Kleinod schwebte, liebevoll, ihr Herz.

So lag sie lange Zeit, still, die Augen zu, vor dem verschlossenen Blick das leise Brennen der unsichtbaren Helle; hoch über ihr rauschte es selten einmal und ward wieder still, schauderte etwas leicht auf und beruhigte sich wieder, eine kühle Welle lief über ihr Gesicht, ein Haar oder zwei wehten kitzelnd über Nase und Wange, ein Tier kroch juckend über ihre Hand, rings wehte kaum vernehmbar das Gras, die gedämpfte Natur krachte unhörbar leise im Saft, sie ruhte, Renate ruhte.

Aber jetzt mußte sie den Kopf heben, die Lider halb öffnen und Saint-Georges ansehn, über ihre Füße hinaus spähend; er saß in der Bankecke, einen Arm auf der Rückenlehne, ein Bein auf dem Sitz, und schaute schräg in die Höhe; seinem Blick folgend, sah Renate zwischen den Steinfiguren auf dem Dach, die hell besonnt im Lichten standen, zwei farbige Tauben laufen; es blitzte Weiß in der fernen Bläue auf, eine dritte schwang sich zu den andern.

»Georges,« sagte sie, sich wieder legend, »seit langem ist es mir dann und wann, als ob ich warte; oder ungeduldig bin; oder – – ist Warten gut, Georges, oder nicht?«

Einige Zeit verging, bis sie ihn sprechen hörte. »Jeder Mensch,« sagte er, »dessen Geist Augen hat, zu sehen, bekommt von Anbeginn die Richtung zuerteilt, in der sie sein Leben lang stehn: ins Heute, ins Gestern, ins Morgen gerichtet. Das sind die drei Temperamente; vier giebt es nicht. Wer allzutief ins Gestern blickt, dem verfärbt es das Morgen, wie Rot das Weiße grün färbt; wer allzuscharf nach Morgen späht, der erblindet fürs Heut, der wird unruhig, vielleicht unselig. Wer nur aufs Heute schaut, wird leicht bodenlos – ohne Gestern – und erbarmungslos – ohne Morgen. Die Menge blickt halben Auges verschwommen – nach allen drei Seiten. Der große Einsame blickt ganzen Auges tief und klar – nach allen drei Seiten.«

»Ach,« sagte Renate dankbar, »eine Antwort hast du mir glaub ich nicht gegeben, aber es ist wunderbar, auf dem Rücken zu liegen und nach Schmetterlingen zu gucken.«

»Herbstschmetterlinge, Renate,« hörte sie ihn antworten, »die Flügel grau, von Weisheit verstaubt.« –

»Sage mir, Georges,« fing sie nach einer Weile wieder an, »wenn ich denn schon unruhig bin, warum rühre ich mich nicht mehr?«

»Wir lesen«, sagte er langsam, »im Leben der Bienen von Maeterlinck über die Bienenkönigin: sie bleibt gleichgültig, regt sich nie auf und nimmt sich Zeit.«

Alsbald riß Renate die Staude aus, die sie gerade in der rechten Hand hielt, und warf sie nach ihm hin, jedoch mehr zum Schein, denn sie machte die Augen deshalb nicht auf. Auf einmal kam ihr auf dem Weg über Bogner Cornelia Ring ins Gedächtnis, sie fragte nach ihr, hörte Georges etwas antworten und sagte, verloren in Gedanken: »Josef wurde ihretwegen in vielen Häusern nicht eingeladen …«

»Ja, das geht auch nicht«, meinte Saint-Georges. Die Augen geöffnet, sah sie das Skurrile in seinem Gesicht.

»Hätte ers heimlich tun sollen?«

»Heimlich, Renate? Was ist heimlich? Alle tun, was er tat, nur meist in mehr sporadischer und ebenfalls mehr widerwärtiger Form. Aber sie tun es mit allerhöchster Erlaubnis ihrer Frauen, Mütter und Schwestern – ich nehme die Bräute aus, denn sonderbarer- oder auch rührenderweise gilt Brautzeit gemeinhin als Schonzeit, und dann ist es natürlich auch so, daß jede Mutter, jede Frau immer im eignen Sohn oder Mann eine Ausnahme sieht. Also sie tun es, mit der Erlaubnis, es heimlich zu tun; z. B. nachts, wenn die Gesellschaften zu Ende sind, in die Bars und Bordelle zu fahren, wie das hier und wohl in allen Städten üblich ist. Die Gesellschaft – aber ich weiß nicht, ob du –«

»Nur zu, Georges,« sagte Renate, »ich sagte es ja schon: es ist wunderbar, im Grase zu liegen und von der Gesellschaft reden zu hören. Sprich von der Gesellschaft, wir haben ja schon davon angefangen, vorhin bei Busonis Wort.«

»Die Gesellschaft«, redete Saint-Georges, »hat durchaus nichts gegen Unmoralität, sondern braucht sie im Gegenteil notwendig als Würze und als Hintergrund, wie gewisse Dinge nur weiß aussehn, wenn man sie auf was Schwarzes legt. Die Gesellschaft, wenn du das etwa glauben solltest, hat – wovon das Wort herkommt: von mores und mos gleich Gewohnheit – kaum Moral, sondern sie hat Sitten, und giebt danach Gesetze, bestraft daher nicht die Sittenlosigkeit, sondern allein die Sittenwidrigkeit. Sie wird daher ferner immer das Geheime dulden; was sie nicht duldet, ist die Ausnahme. Zum Beispiel Bogner. Sie kennt keine Dirnen – als Dame – aber uneheliche Mütter – als Fürsorgevereinsmitglied. Sie hat Verbote nötig, um sich Grenzen zu ziehn, nicht Gesetze, um das Übel zu tilgen. Sie überwacht nicht tuberkulöse Väter in spe, sondern versucht, tuberkulöse Kinder zu heilen. Dito Geschlechtskranke, Trunksüchtige und dergleichen. Sie verurteilt die Prostitution – als Gatte – und unterhält Bordelle – als Gemeinderatsmitglied. In diesen wieder überwacht sie die Insassen, aber nicht die Gäste. Sie ist gegen die Trunksucht, weil sie die Gesundheit untergräbt, und verachtet den Abstinenten, weil er ihre Gesundheiten nicht ausbringen will. Sie erlaubt einer Dienstmagd von vier Sonntagen zweie zum Ausgang, um sich zu vergnügen, und jagt sie zum Teufel, wenn sie guter Hoffnung ist. Sie hat den Frauen nacheinander das Tanzen, Reiten, Schlittschuhlaufen, Schwimmen, Radfahren, Studieren verboten und wieder erlaubt. Sie erlaubt dem Ehebrecher, den Ehemann zu töten, und sie tötet den Ehemann, der sich ans Gesetz wendet. Sie erlaubt, die Ehe zu brechen, aber sie erlaubt nicht, sie zu zerbrechen. Sie verabscheut das Laster, aber sie füllt die Gerichtsverhandlungen. Die Gesellschaft weiß nichts von Logik, sondern nur von Gewohnheit, hält für schädlich nicht das Zerstörende, sondern das Neue, will nicht verbessern, sondern verdecken, will nicht bestrafen, sondern sich schützen, sie verbannt nicht, sondern läßt verhungern. Sie hat ein Gutes: gar kein Gedächtnis. Sie gleicht der Fliege vollkommen. Sie setzt sich auf alles; sie ist völlig geschmacklos.«

Ach, wie angenehm das plätschert, dachte Renate und fragte, warum er Bogner erwähnt habe. Saint-Georges lachte mit Behagen.

»Bogner?« sagte er. »Bogner lief als Knabe weg und kam wieder als Mann. Er machte Besuche, in einen sehr schönen Schoßrock gekleidet, mit einer lichten Weste, anstatt in Samtjacke und Schlapphut daher zu kommen, oder wie es jetzt Mode ist, in Wickelgamaschen und Joppe. Das war schon gefährlich. Er zeigte sich weder geistreich noch boshaft, weder unmanierlich noch blödsinnig, er war artig. Das war schon sehr gefährlich. Er ließ aber seine Augen im Zimmer umherwandern, und siehe da, alle Schande ward ihm offenbar. Weder die unmoderne Einrichtung mit Sofaumbau, die längst hatte ersetzt werden sollen, noch die Sofaschoner – Antimakassars, sagte man früher dazu –; weder das Loch im Teppich, noch der zerbrochene Glühstrumpf, weder die schmutzigen Gardinen, noch die ungewaschenen Fenster, nichts sahen sie seinen Augen entgehn. Ich kenne Leute, die Leute kennen, die … und die sagten es mir. Natürlich sah er gar nichts dergleichen, aber die ihn sahn, mußten es glauben, denn was kann man denn anders sehn, wenn man so sieht wie er, als Schäden, Flecke, Löcher. Furcht voreinander ist der erste Eckstein der Gesellschaft, Renate. Aber weiter. Er übersah das Ölstilleben von der Tochter des Hauses und fragte nach der Miniature eines längst begrabenen Urgroßvaters, der nichts hatte erben lassen. Er legte die Photographie des Schwiegersohns wortlos fort und nahm einen alten, grünen Porzellanmops in die Hand, unter dessen Hinterteil er zwei gekreuzte blaue Schwerter entdeckte, die noch nie ein Mensch gesehn hatte. Er machte auf einen schief hängenden Starenkasten aufmerksam, der sein Dasein verfehlte, aber seit Jahren schon so hing und das Bild des Gartens vervollständigte. Er nannte eine gemeine weiße Rose: welch schöne Clara Watson! und verachtete das verblüffende Wachstum der Araukarie. Er bat um die Erlaubnis, eine Skizze vom Kohlenkeller machen zu dürfen, in dem doch alle leeren Boonekampkrüge der Hausfrau aufgestapelt waren, und er malte keineswegs das Porträt der Braut in Pastell. Er schickte kein Bild zur Ausstellung der heimischen Kunstgenossenschaftler, und als er einmal daselbst betroffen wurde, bat er gerade den Kustos um ein Glas Wasser, weil er vor einer Landschaft des Stadtmalermeisters an einem Lachkrampf erstickte. Er –«

»Ach, Georges, das ist doch nicht wahr!«

»Nein, natürlich ist es nicht wahr,« rief er aus einem Gelächter, »aber ist es nicht glänzend erfunden? Hätte er doch von der Musik der Farbgebung, dem Rhythmus der Flächen und der seelischen Dynamik des Pinselstrichs geredet, so wäre es gegangen. Er aber sagte überhaupt gar nichts. Welch ungeheure Boshaftigkeiten also mußte er verschweigen. Er hätte auch die fürchterlichsten Lästerungen, Frivolitäten und Frevelmeinungen äußern dürfen, denn mit dergleichen verhält es sich seit alters so, daß der Bourgeois sie verdammt und verabscheut, wenn sie in Büchern stehn, wenn aber jemand sie äußert, so heißt es: das sagt er nur so! Der Bourgeois glaubt nicht nur nicht, was ein Andrer sagt, wenn es fremd und erschreckend klingt, sondern glaubt nicht einmal, daß der Andre selber es glaubt. Wäre er aufrichtig, für welch schaurige Lügner müßte er alle Sonderlinge und Eigengänger halten. Früher wurde von einem Manne verlangt, daß er tut, was er denkt. Milder Denkende rieten späterhin, es genüge, zu sagen, was man denkt. Heute giebts schon niemand mehr, der denkt, was er denkt. Und von Bogner sagen sie ja nun: er hat süffisante Augen.«

»Ach,« rief Renate, sich aufrichtend, »nun weiß ich, daß du die Wahrheit sagst! Da auf der Bank habe ich gesessen und dies Wort in einem Briefe von Magda gelesen; ihr Vater brauchte es gegen Bogner. Ach, wie lange, wie lange ist das her!«

Sie wollte eben das Gesicht gegen die Knie senken, als sie zu ihrer Rechten hinter den Büschen etwas Menschliches zu sehn glaubte, eine Bewegung, ein Gesicht. – Vielleicht war jemand am Zaun draußen vorübergegangen. Sie wollte sich wieder legen, sah aber nun, daß der Garten schon tief im Abendschatten lag; nur zu ihren Häupten, hoch in den Wipfeln, hing noch das scheidende Licht, und noch flossen warme Spuren und goldne Hauche über den weitoffnen Himmel. Sie sprang auf, schüttelte ihr Kleid und rief Saint-Georges zu, er solle schnell seinen Bruder herunterholen, damit er noch an die Luft komme, – und da stand auch schon Magda wieder in der Veranda und fragte herüber, ob es nicht Zeit sei, den Gelähmten zu holen. Saint-Georges folgte, Renate rief ihm noch zu, sie ginge in die Kapelle. Der Lahme liebte es sehr, die Orgel am Abend zu hören, wenn er umhergefahren wurde.

Den Weg zwischen den Gebüschen hinunter, gegen den Zaun zu gehend, gewahrte Renate jetzt deutlich ein Gesicht draußen hinter dem Gezweige. Näherkommend sah sie die Blätter sich bewegen, eine Hand teilte sie; Josefs Gesicht war draußen, seitwärts gedreht; er sah sie nicht an.

»Josef!« stieß sie hervor. Ihr Herz tanzte. War sie erschrocken? Ihr Herz kümmerte sich um gar nichts und war außer sich. – Nun drehte er langsam das Gesicht her. Seltsam … wie starr das Auge war! und die ganze Hälfte des Gesichts, die rechte, war – ja, sie war nicht da, etwas Schwarzes war da, aber die Dämmerung … Nun lief sie hin, trat ins Buschwerk auf den Rasen, da war der Zaun, da stand er, schwarz, fein gekleidet, unbeschreiblich duftend, wie immer.

»Wirklich, ich bins, Renate,« sagte sein halber Mund, das halbe, lächelnde Gesicht, »willst du herauskommen?«

Nun stand sie ganz dicht vor ihm, hörte, daß er atmete, sah das schwarze Tuch, das vor der rechten Gesichtshälfte war, nein – der ganze Kopf war damit verhüllt, nur vom linken Ohr bis zur Nase, in senkrechter Linie über die Stirn, neben der Nase, über den Mund und das Kinn herunter abgegrenzt war sein Gesicht zu sehn, wie ein Viertelmond, bräunlich bleich und schön wie je, nur das Auge starrer, doch verging auch dies, nun sie tiefer hineinsah.

»Josef, was ist mit deinem Gesicht?«

»Komm heraus, komm heraus, o du schöne Braut!« lockte er, »dann sollst du alles erfahren!« ging zwei Schritte am Zaun hin und öffnete die Tür; sie schob sich unter dem Strauchwerk her dorthin, ging durch die Tür, wollte fragen, warum er denn nicht hereinkomme, ließ es aber, stand vor ihm, furchtsam vor seinem Aussehn, aber doch innig froh im Herzen. Sie legte die Hände auf seine Schultern und ließ zu, daß er die seinen auf ihre Hüften legte. »Daß du nur da bist!« sagte sie glücklich. »Ich merke nun, wie oft am Tage ich dich in meinem Herzen unterschlagen habe. Ich kann ja nicht sagen, wie ich mich freue. Ja, ich bin sehr erstaunt darüber.«

Er lächelte fortwährend, zuckend mit Mund und Augenwinkel. »Wenn du mir einen Kuß gäbest,« sagte er, »wie wäre das?«

Sie hob sich ein wenig auf den Zehen und küßte ihn unter das linke Auge. Danach mußte sie freilich mit dem Fuß aufstampfen, mit der Faust in die Handfläche schlagen und sich verschwören, daß es ein Elend sei, daß die Ungeratenen, was sie nur wollten, erhielten, während die Guten ohne Ende darben müßten.

»Ich fürchte,« sagte Josef, »es liegt nicht an den Bösen und an den Guten, sondern allein an dem menschlichen Herzen. Du goldnes Mädchen!« sagte er plötzlich erschüttert und schien gewillt, auf die Knie zu sinken. Er bückte sich bis tief auf ihre herunterhängende Hand, faßte und küßte sie gewaltsam. Sie legte die Hand auf seinen Kopf, merkte, daß sie fast standen wie damals beim Scheiden, Josefs Vater wanderte fremd, sinnlos heiter vorüber, es war dämmrig, feuchte Schleier hingen vor einer fremden Mauer, ein Dach darüber … ihre Kapelle wars. Sie fühlte seltsam das schwarze Zeug unter ihrer Hand, faßte jählings, von unverständlichem Zorn ergriffen, zu, zerrte und riß es herab. Er richtete sich auf, so hoch er war, der Lappen hing schwarz an seinem Hals, Renate prallte zurück und schauderte vor seinem rechten Gesicht, das fehlte, das nur dunkelrote Haut war, nach innen gedrückt, ohne Spur von Zügen, kein Kinn, keine Augenwölbung, nur ein Loch, zugekniffen, kein Backenknochen, der Mundwinkel hineingewischt. – Sie schlug die Hände vors Gesicht. Als sie wieder aufsah – ach, es war wohl doch ein Traum, das Ganze! Denn nun war sein schönes Gesicht wieder da, eine Hälfte davon, unverstellt und unverändert wie vor zwei und einem halben Jahr, ja, so edel und bedeutend, daß schon das Spukbild eben ausgetilgt war und nichts mehr galt als dies. Dies Gesicht lächelte nun, sie folgte mit Mund und Augen und sagte: »Verzeih, ich war ungeschickt! Ich habe nichts gesehn. Und nun komm ins Haus.«

Josef bückte sich, hob einen Stock, einen leichten grauen Hut mit schwarzem Band und ein kleines Paket vom Boden, setzte den Hut auf und sagte: »Ins Haus nicht. Wir gehn zu der Schaukel dort unter den Bäumen, da kannst du sitzen.«

Damit ging er vorauf. Sie folgte zögernd.

Es war eine große, wohl zwei Meter lange Schaukel mit eisernem Geländer, die in einem Eisengestänge an vier starken Pfosten hing. Josef bot ihr die Hand, sie stieg auf das Bohlenbrett und setzte sich auf das Geländer. Sie sah sich um. Seit den Tagen der Friedliebenden Gesellschaft war sie nicht hierhergekommen. Damals hatten sie einmal Alle in der Schaukel gestanden, Irene, Ulrika, Esther, Georg, Benno, und hatten sich geschaukelt und gesungen dazu im Kanon: »Oh wie wohl ist mir am Abend …« Die Schaukel knarrte. Josef, am andern Ende stehend, setzte sie leise in Bewegung; das sanfte Wiegen tat Renate wohl. »Wo warst du?« fragte sie.

An das Geländer der Schaukel gelehnt, den Kopf gesenkt, stand er und schwieg. Einmal zuckte sein Mundwinkel. Renate sah eine feurigrosige Wolke sehr langsam über das Dach der Kapelle hinfahren; leicht sitzend auf dem friedlich schwankenden Boden, erinnerte sie sich, wie sie im Rasen lag eben zuvor, Saint-Georges plauderte, die Welt war eng und angenehm und still, – da stieg dieser Mensch aus dem Rasen herauf, im glitzernden Behang eines riesigen Hintergrunds, der Fremde, der – nie war sie so davon durchdrungen wie jetzt! – im Leben nichts gewußt hatte von Gesellschaft und Gewohnheit; der in ihr so gut war wie ein Jaguar, der sich zahm stellt, in einem Geflügelhof. Ja, so stand er, wieder zahm, strömend aber wilden, atemraubenden Dunst; und hinter sich, pompös, das Porta der Welt.

»Zu fragen, woher einer komme,« hörte sie ihn sagen, »das liegt freilich nahe für den Weilenden, aber dem Kommenden, das kannst du mir glauben, liegt es wirklich reichlich fern. Guter Gott, wie schön du doch bist! Ist denn all die Zeit hier einer gewesen, der dir das gesagt hat?« Ja, sieh da, er traf den Nagel, wie immer, auf den Kopf. »Setze mich wie ein Siegel auf deinen Arm und wie ein Siegel auf dein Herz«, sagte er. »Denn Liebe ist stark wie der Tod, und ihr Eifer ist fest wie die Hölle. Ihre Glut ist feurig, eine Flamme des Herrn, daß auch viele Wasser nicht mögen die Liebe auslöschen, noch die Ströme sie ertränken. Wenn einer alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte, so gälte es alles nichts.«

Ihr Gesicht stand in Flammen, sie genoß das Funkeln seines Auges, atmete tiefer und dachte mühsam: Einmal wird einer noch andre Worte haben, er braucht sie nicht von Salomo borgen, und sie werden mich doch verbrennen, wo ich diese nur brennen sehn kann.

»Du hast mich angehört«, fuhr er kühler fort, »in der letzten Stunde, du hörst mich wieder an in dieser, ich muß reden, es nützt mir nichts, und wenn ich alle sechzig Minuten dieser Stunde zusammenpressen könnte in eine, sie würde doch nicht so glühen, um dich zu durchbrennen. Ich weiß, es liegt nicht an dir, wie es nicht an mir liegt, es liegt an der Einrichtung allein. Ich sehe dir an, daß niemand zu dir kam, seit ich fort bin, dein Hals ist der alte Turm von Elfenbein –«

Sie zuckte, er hob die Hand gegen sie, lächelte kurz und sagte: »Hab keine Angst, ich fahre nicht fort in der salomonischen Beschreibung. Wahrhaftig: häufig habe ich nicht an dich gedacht, aber eines Tages hats mich doch übermannt, da kam ich gleich. Wie braun du bist! Das Feuer deiner Augen brennt kalt wie der Edelstein in meiner Tasche, aber dein Mund ist hundert und tausendmal süßer geworden.«

Renates Augenlider wankten, sie fühlte, daß ihr Kopf hintenüber wollte, und dachte sekundenlang: … ich würde mich nicht wehren … Heute nacht, dachte sie, wird es mich zerreißen vor Pein nach – nach wem denn? Sie öffnete die Augen und freute sich, daß er viel zu hoffärtig war, um mehr zu nehmen als ihr Weichwerden und ihr Dämmern.

»Sage nun,« bat sie mit verschleierter Stimme, »wo du warst, und wo blieb – dein Gesicht!«

Er setzte sich auf das Schaukelbrett vor ihre Füße; in der tieferen Dämmerung unter den Bäumen sah sie jetzt nur seinen schwarzverhüllten Kopf, seine Nase und ab und an den Schein seines Gesichts und das auffunkelnde Auge; er hielt den Hut in den Händen, die Ellenbogen auf den Knien.

»Drei Viertelstunden hast du noch,« sagte sie, »dann ist Abendbrotzeit, und wir müssen hinein.« Er schwieg noch ein Weilchen, dann hörte sie seine Stimme.

»Zu sagen, wo ich war, lohnt sich nicht, aber du bist ja nun neugierig. Übrigens ist die Welt viel kleiner, als man gemeinhin denkt, wenn man die wilden Erdteile ausnimmt: dort war ich nicht, auf Forschungsreisen zu gehn, hab ich für später vorbehalten, ich wollte ja erst Menschen sehn. Ich bin ja nun einmal Idealist und ging daher aus, einen zweiten zu suchen.«

»Was ist ein Idealist?« fragte Renate.

»Ach, unterbrich mich lieber nicht, sonst muß ich zuviel nachdenken, ob du auch verstehst, was ich sage; ein Idealist ist ein Mensch, der sich in einen Kochtopf voll Wasser setzt, denselben ans Feuer rückt und nicht heraus steigt, ehe er ganz und gar drin verkocht und verbrannt ist. Der Kochtopf kann ja denn Liebe, Tibet, Goldmachen, Verseschreiben, Marxismus oder sonstwie heißen.«

»Fandest du solch einen?«

»Zwei!« sagte er, »in Amerika. Den einen traf ich im Polizeigefängnis in Ohio –«

»Im Poli–?!«

»Ich sage ja, du sollst mich nicht unterbrechen, denn sonst geraten wir ins Uferlose, ja, ich saß darin wegen einer großen Minensache, es war eine so große Schiebung, daß während des Verfahrens die halbe Welt hineinverstrickt wurde, und da mußte es niedergeschlagen werden. Der Idealist war ein vielfach rückfälliger und bestrafter schwerer Tresoreinbrecher, der mir durch Klopfsprache seine Entrüstung mitteilte, daß er immer wieder bestraft würde, während er doch von einem kleinen Kapital ein bescheidenes und ordentliches Leben und die Einbrüche nur ausführte, um das erlangte Geld sofort an Bedürftige auszuteilen, das heißt, in Wahrheit war er nicht hierüber so entrüstet, sondern weil es nicht gelingen wollte, den Richtern zu beweisen, daß er überhaupt nicht stahl; denn was er stahl, sei ja nicht fort, sondern sei da, er hatte immer die Belege bei der Hand, Reverse der Banken über Einzahlungen auf diesen und jenen Namen – frage nicht, das Geld war den Leuten absolut sicher – also sei es durchaus nicht gestohlen, sondern habe nur den Liegeort gewechselt. Dies war ein Amerikaner. – Den andren Idealisten fand ich auf einem englischen Leuchtturm eines winzigen Eilands, ich darf nicht sagen, wo, irgendwo an der Küste. Er war kein Engländer, galt aber für einen, war ein deutscher, verabschiedeter Offizier und hatte bereits an die dreißig Jahre seines Lebens in dieser Einöde damit verbracht, auf den Augenblick zu warten, wo zwischen Deutschland und England der Krieg ausbrechen würde, um alsdann seine Lichter auszupusten und gehängt zu werden. Nun möchtest du wohl wissen, was ich und wo ich noch war. Die Vereinigten Staaten sind das Grauenhafteste auf der ganzen Welt, ich war auch im Westen, war Minengräber, Goldwäscher und Viehhirt, es war für eine Weile ganz lustig, aber ich konnte es auf die Dauer nicht ertragen, wie sie ihre Pferde mißhandeln.«

Da er eine Pause machte, fragte Renate, nichts als zuhörend: »Aber das Mißhandeln von Menschen, das konntest du –?«

»Denn der Mensch«, sagte er, »kann sich wehren, das Tier nicht. Das Tier kann beißen und ausschlagen, aber das hilft ihm nichts, denn es muß dableiben; der Mensch kann weggehn. Er geht in ein andres Land oder geht aus dem Leben. Das Tier kann nicht aus dem Leben, wie es nicht aus seiner Haut kann. Ferner war ich Agent. Agenturen giebt es für alles, zumal in Amerika. Agenturen für Politik, für Minen, für Geldgeschäfte, für Doktordiplome, für Mädchenhandel, für Bestechung, Spionage, An- und Verkauf deutschen Adels an reiche Mädchen, für Schmuggel, Gründungen und für Mord. Einige werde ich wohl ausgelassen haben. In Colorado Springs war ich auch Falschspieler, du weißt, ich kann die Karten nicht leiden, aber Falschspiel ist reizend, solange man sich einbilden kann, der einzige am Tisch zu sein, der betrügt, und das gelingt ja wohl eine Weile. Dort wars, wo ich mein Gesicht verlor, es stahl natürlich eine Frau, beschreiben möchte ich es dir lieber nicht. Ich habe ja auf Frauen immer eine gewisse Anziehungskraft ausgeübt; dort, wo man weniger empfindet und denkt, sondern gemeinhin tut, was man empfindet oder denkt, war es fast unerträglich, und so war ich nicht sehr böse über den Verlust; leider stellte sich dann heraus, daß die Halbierung die Anziehungskraft nicht unbedeutend gesteigert hatte. Ach, Kind,« unterbrach er sich, »ist es nicht genug? Ich könnte niemals fort gewesen sein und das gleiche erzählen, du würdest nicht besser wissen, ob du mir trauen darfst oder nicht.«

Er sah trübe zu ihr auf. Renate dachte gelähmten Herzens nur: Josef – und lügen, um sich einen Hintergrund zu geben? – »Aber ich habe dir Grüße auszurichten«, sagte er nun. »Ein gewisser Sigurd Birnbaum, weiland Cellospieler Renates, trug sie mir auf, mit dem ich gewisse Operationen auszuführen hatte, um einen gewissen Geheimbundsfreund in Tscheliabinsk aus der Katorga zu befrein.«

»Mein Gott, Sigurd,« sagte Renate, »was ist aus ihm geworden?«

»Dort,« erklärte Josef sehr ernst, indem er sich langsam erhob, »dort giebt es Idealisten. Aus Frankreich – es lebt sich dort angenehm, wenn man es versteht, für einen Franzosen gehalten zu werden, jedoch – aber das führt zu weit – jedenfalls kam ich von dort nach Rußland und schloß mich der revolutionären Bewegung an. Dort verbrodeln die Menschen freiwillig und mit Gesang. Ich will dir etwas erzählen.«

Er setzte sich wieder hin. Was wird nur Onkel sagen? dachte Renate. Wird er ihn erkennen? Sie merkte, daß sie zitterte. Sie begann sich zu fürchten und hörte Josefs Stimme aus der Ferne, die langsam Satz um Satz hinsagte.

»Ein jüdischer Knabe war vierzehn Jahre alt, als er seine Eltern und deren ganzes, sehr großes Vermögen durch ein Pogrom verlor. Er ernährte sich selber, besuchte das Gymnasium weiter und wollte Apotheker studieren. Mit sechzehn Jahren wurde er bei einer Massendemonstration verhaftet, in Bausch und Bogen mit verurteilt und kam ins Gefängnis. Dort wurde er mit den sozialistischen Ideen bekannt, eignete sich das theoretische Wissen an und verließ das Gefängnis als Sozialist. Er verdiente Geld durch Unterricht, studierte, erreichte in der Bewegung bald eine führende Stellung, las viel und hungerte mehr. Als Redner bei einer Demonstration wurde er wieder verhaftet und kam für zwei Monate ins Gefängnis. Er und seine Arbeit waren für die Bewegung wichtig; daher ließ eine Studentin, mit der er zusammen gelebt hatte, sich jede Nacht in einem, dem Gefängnis benachbarten Holzlager einschließen, kletterte, obgleich auf sie geschossen wurde, zu seinem Fenster an der Mauer hinauf und tauschte Zeitungen und Berichte mit ihm aus. Er saß in Einzelhaft, durfte weder rauchen, noch lesen, noch irgend etwas tun. Er durfte eine einzige Stunde am Tage spazieren gehn und erhielt so Verbindung mit den sogenannten Kriminellen, das sind die wirklichen Verbrecher, unter denen er sozialistische Propaganda betrieb durch Reden und Broschüren, ihnen Verteidigungsreden anfertigte und sie vorbereitete. All dies durch die Klopfsprache, deren System ich dir ein andermal erkläre; man kann nach vier Seiten, oben, unten, links und rechts klopfen. Er organisierte unter anderm einen Hungerstreik wegen der Verurteilung von Leuten, die nichts mit der Bewegung zu tun hatten. Er war ein Idealist. Als er das Gefängnis wieder verlassen hatte, half er bei der Vorbereitung einer Revolution, reiste als Provisor, arbeitete in kleinen Orten, benutzte die Nächte zur Propaganda, zur Verbreitung gefährlicher Druckschriften, übernahm selbst deren Ausarbeitung und Druck, arbeitete zum Beispiel vier Wochen in einem Keller, um halb im Dunkeln eine Anzahl Broschüren mit der Handpresse zu drucken. Die Revolution brach aus, die Regierung organisierte eine Gegenrevolution, wie das da üblich ist, der Pöbel machte Pogrome, die Soldaten beteiligten sich an der Plünderung, die Sozialisten organisierten eine Miliz zum Schutz der Unbeschützten, und er wurde Hauptführer des Bundes jüdischer Sozialisten. Die Juden sind dort, wo er war, Fabrikarbeiter. Er wurde verhaftet und für lebenslang nach Sibirien verschickt. Nun ist in Rußland alles organisiert, auch die Bestechung; die Sozialisten haben eine eigne Gesellschaft gewissermaßen, auch eine Kasse, zur Befreiung der Militanten oder politischen Verbrecher. Er entkam während des Transportes mit einem Andern, sie fuhren sechzehn Tage auf der sibirischen Bahn als blinde Passagiere unter den Bänken der Waggons, verließen wenige Tagereisen vor Petersburg den Zug, hängten sich unter einen Wagen, um bei Nacht abzuspringen, aber der Freund hatte Angst, er mußte mit dem Revolver auf ihn schießen, sie sprangen ab und schürften sich die Haut. Die Organisation beförderte sie an die Grenze, er bekam einen falschen Paß, einen Verkehrspaß für Galizien, den dort jeder haben muß, darin stand leider, er sei ein alter Mann mit grauem Bart. Er wurde wieder verhaftet, brach allein aus, verschaffte sich Bauernkleidung, wandelte als Landarbeiter von Ort zu Ort, kam über die Grenze und durch Rumänien, Ungarn, Österreich, die Schweiz nach Frankreich. Als Ausländer wurde er an der Sorbonne nicht zugelassen, er arbeitete in einer kleinen Maschinenfabrik und organisierte dort einen Streik wegen schlechter Löhne. Seine letzte Kraftleistung war, den Fabrikbesitzer aus dem Fenster zu werfen; er arbeitete weiter in kleinen Betrieben, als Buchbinder, lebte von dreißig Franken monatlich, aber seine Energie war zu Ende. Da kam aus Rußland jenes Mädchen, das ich erwähnte, die Studentin, sie brachte ihn in eine Apotheke als Laufburschen, wo er sich die französischen Namen der Medizinen aneignete. Er studierte wieder, es gelang ihm später, an der Sorbonne zugelassen zu werden, er studiert nun weiter. Die Examina sind dort in Pharmazie zahlreich und sehr schwer, er ist jetzt Provisor, um Geld zu verdienen, muß noch das Abiturientenexamen und Staatsexamen machen, um die Erlaubnis zum Besitz einer Apotheke zu bekommen. Ich lernte ihn kennen, da ich jenen Sozialisten, dem ich mit Sigurd zur Flucht verhalf, nach Frankreich brachte, wo er in Paris unter den Sozialisten eine bedeutende Stellung einnimmt.«

»Nun hast du wohl«, sagte Josef, »einen Begriff, wie andernorts Menschen leben. Im Vergleich zu ihnen – ich nannte eben absichtlich keinen Namen, denn es giebt mehr als einen solchen – lohnt es sich natürlich nicht, von mir zu reden. Ich nahm ja an alledem auch nur teil wegen der Bewegtheit, nicht wegen der Ziele. Sigurd Birnbaum übrigens studiert in Odessa, ist Assistent in einem Krankenhaus und der gute Heiland aller kranken Kindlein; übrigens – war er immer so finster? Er soll an Schwermut leiden und – ja, nun mußt du wohl zum Essen hinein.« Er holte einen Zettel aus der Tasche. »Hier ist eine Adresse,« sagte er, »wenn du Verlangen nach mir haben solltest, bin ich durch sie immer zu erreichen.«

Renale nahm das Blatt nicht, das er ihr hinstreckte, sah ihn nur an und sagte: »Josef!«

»Nein!« versetzte er gebieterisch. »Bitte nicht, fordre nicht, es ist unmöglich. Du brauchst mir nichts zu sagen. Ich bin nicht erst seit heute in dieser Stadt, ich weiß alles, was sich während meiner Abwesenheit in diesem Hause zugetragen hat, ich weiß auch alles von dir, was sich durch dritte Hand wissen läßt. Vorläufig bleibe ich, ich bedarf etwas Ruhe.« Er erfaßte ihre Hand, drückte den Zettel hinein und schloß sie darüber. »Willst du Gründe? Ein andermal wird Zeit dafür sein. Immerhin: ein Wort!« Sein eines Auge starrte bedeutsam, während er schloß: »Erasmus; ich gedenke noch zu leben.«

Er zog die Uhr, hielt sie empor, um das Zifferblatt zu erkennen, und sagte: »Es ist hohe Zeit für dich. Daß du von mir schweigst, halte ich für selbstverständlich; es könnte sonst Unheil geben. Nun genug. Lebe wohl! auf Wiedersehn.« Er bot ihr die Hand.

Renate erhob sich, legte die Hand auf seine Schulter und sprang von der Schaukel auf die Erde. Nun versuchte sie es noch einmal, richtete durch die Dunkelheit ihre Augen auf das seine und bewegte die Lippen. Angezogen, kam er ganz nahe, legte den Arm um ihre Schulter und, den Mund dicht vor ihrem, sagte er: »Was – –?«

Renate fühlte ihr Blut gerinnen. »Alles –« sagte sie lautlos; und nach einem Augenblick: »– für deinen Vater.«

Er fuhr zurück, sein Auge starrte wütend, er stieß hervor: »Bist du denn wahnsinnig geworden?« Drehte sich um und ging in Eile unter den Bäumen weg. Sie sah ihm fassungslos nach. Weiter unterhalb, wo es heller war über den Wiesen, kam noch einmal sein Schatten zum Vorschein. Sie fühlte den Zettel in der Hand, öffnete ihn und las trotz der Dunkelheit leicht das einsame Wort: Jason. – Sie sah etwas Weißes auf der Erde, bückte sich und fand das Paket, das er bei sich gehabt hatte; sein Stock lag darüber. Sie nahm beides und ging langsam in den Garten zurück, in die Kapelle, legte die Sachen auf einen Stuhl, ging hinaus, verschloß die Tür und ging durch den Garten ins Haus.

Vor der Tür des Eßzimmers hörte Renate von drinnen lautes Durcheinandersprechen und Gelächter; sie glaubte Ulrikas Stimme zu hören, legte die Handrücken gegen die Wangen und fühlte, daß sie glühten; die Hände waren eiskalt. Sie trat ein; ja, Ulrika war da, auch Bogner; Alle, Erasmus, Saint-Georges, sein Bruder und Magda saßen bereits essend um den Tisch. Renate blieb an der Tür stehn, klatschte, ihr Zuspätkommen und ihre Erregung zu verbergen, in die Hände und rief lustig: »Ach, sieh, der Maler mit den süffisanten Augen ist wieder da!« Die Andern lachten, Ulrika rief, sie sollte sich schnell hinsetzen, sie kriegte sonst nichts mehr zu essen, fragte, was das heißen sollte: süffisante Augen, erklärte dann aber erst, daß sie und Bogner im Walde im Kreis gelaufen und wieder hergekommen seien. Nun bestand Bogner auf Erklärung seiner süffisanten Augen, aber Renate, in plötzlicher Mattigkeit, verwies ihn an Saint-Georges. Sie sah eine Tomate auf ihrem Teller, die dampfte, nahm die Gabel, löste den Deckel ab und zwang sich zu essen. Wie dröhnten denn die Stimmen? Selbst die ruhige von Saint-Georges summte bohrend in ihr Gehör.

»Dieser berühmte Maler«, sagte Saint-Georges, »pflegt die Dinge vereinfacht zu sehn, um nicht zu sagen, abstrahierend; er scheidet das Gewohnte aus und sieht, was fehlt, oder aber was da sein könnte, oder was zuviel ist, und was den Andern mißfällt, das gefällt ihm gerade, weil es krumm ist.«

»Ach,« sagte Bogner heiter, »nun fällt mir ein, daß einmal jemand zu mir sagte, wenn ich ihn ansähe –«

»Bitte,« unterbrach ihn Saint-Georges, »das hat er sicher nicht gesagt. Er hat gesagt: Wenn Sie einen ansehn – nicht ›mich‹, nicht wahr? Die Gesellschaft ist ›man‹, Renate, nicht ›ich‹, das ist auch ein Eckstein davon.«

Renate sah seine Augen von drüben auf sich gerichtet; es kam ihr vor, als ob er alles wüßte. Sie nickte und senkte das Gesicht. Der Maler fuhr fort:

»Also, wenn ich einen ansähe, sagte er, hätte man immer das Gefühl, ein Westenknopf wäre offen, oder der Schlips säße schief, oder es wäre ein Fleck am Kragen, und man müßte immer an sich herumfummeln.«

»Siehst du,« sagte Ulrika, »warum willst du auch niemals lachen! Du machst immer bloß so krumme Mundwinkel, und das sieht denn so heimtückisch aus.«

»Und dann vor allem,« begann wieder Saint-Georges, »diese raffiniert sokratische Methode, alle Augenblicke zu sagen: Davon verstehe ich nichts.«

Renate zuckte zusammen; mein Gott, wie laut lachten sie denn, das prasselte ja nur so auf ihren Kopf herunter!

»Meinen Sie, daß Ihnen das einer glaubt, wirklich? Deshalb hält man Sie doch bloß für – entweder teilnahmslos – um nicht zu sagen: interesselos, oder hochfahrend, oder faul, oder für einen verkappten Anarchisten, Atheisten oder so.«

Plötzlich dröhnte Erasmus' tiefe Stimme in das Gelächter, – oder nein, er saß ja ganz still da und sagte ruhig: »Wäre die Welt so undankbar, wie es nach Ihnen scheinen sollte?«

Ach, Erasmus war ein guter Mensch, und sein Bruder stob wie ein Windhund durch die Welt … Renate griff nach der Tasse, um die aufsteigenden Tränen mit dem Tee herunterschlucken zu können, aber nun war der Tee so heiß, daß sie mit einem kleinen Schrei die Tasse wieder hinsetzte; sie lachte verlegen, die Andern verlachten sie, sie kühlte die Zungenspitze an der Serviette und war froh über ihr Ungeschick. – Magdas Stimme klang wohltuend leise:

»Ja, Erasmus, wenn man jemand so sprechen hört wie Saint-Georges, klingt alles so fremd, sieht so zerbrochen, so zerstückt aus, hoffnungslos, und die Menschen so ungütig. Ich kenne ja eine Menge Menschen, in Berlin, meinen Lehrer und ähnliche. Ja, sie lügen viel und beschwatzen sich, sie können ja niemals, wie sie wollen, sie hängen Alle voneinander ab, sie möchten gerne anders, ein jeder, aber –« Sie stockte.

Ulrika hob die Achseln und meinte, die Künstler seien freilich die schlimmsten, nicht die Schaffenden, sondern die Darstellenden, die Virtuosen, denn da herrsche über alles der Agent.

Renate schlug nur das letzte Wort mit wildem Sinn ins Ohr, sie fuhr erschrocken auf und stieß hervor: » Was sagst du?«

Ulrika lachte. »Warum erschrickst du denn so?« Renate wußte nichts zu antworten, hörte nichts mehr, nur Stimmengewirr, raffte sich endlich auf und sah, daß es Zeit sei, von Tische aufzustehn. Jähliche Todesangst im Herzen, zog sie Magda einen Augenblick an sich, strich ihr übers Haar, ging hinaus und trat über den Flur vor das Zimmer ihres Onkels. Sie glaubte, ihn nicht ansehn zu können, fühlte sich gleichwohl gezwungen, dies sofort zu versuchen, hinter ihr wurde die Tür geöffnet, sie drückte eilig die Klinke nieder und trat ein.

Der Schattenriß des alten Mannes war vor dem einen Fenster; er schien auf die Straße zu blicken; in den Fenstern stand das blaue Zwielicht. Gleich darauf fiel heller gelber Schein von unten herauf durchs Zimmer; die Laterne war draußen angezündet. Schritte waren hörbar und entfernten sich.

»Onkel!« flüsterte sie. Er drehte sich langsam um, sie sah im Lichtschein seine Augen, einen Augenblick fast gedankenvoll. Schnell ging sie auf ihn zu, legte die Stirn an seine Schulter, umfaßte ihn an den Armen, hoffte inbrünstig, er möchte ihrem Leib anfühlen, was sie wußte. Sie zitterte, als sie seine Hand auf ihrem Rücken fühlte; Gott sei gelobt, dachte sie, er ist ruhiger geworden, er muß etwas empfunden haben, ja vielleicht wußte er es schon eher als ich! – Leise versuchend hob sie das Gesicht. Er sah wieder auf die Straße.

Aber nun schob er sie sanft von sich, sie trat zurück, er ging an ihr vorüber, legte die Hände auf den Rücken und begann im Zimmer auf und nieder zu gehn. Da fiel ihr ein, daß sie schon seit einigen Tagen seinen Schritt im Zimmer gehört hatte – ach, es war sicher, er – nein, ruhiger war er nicht geworden, das war ja Unsinn, er war ja immer die Ruhe selbst gewesen! Unruhig war er geworden, er ging umher, er sah auf die Straße, wartete, lauschte, suchte.

Im Augenblick überfiel sie gewaltig die Ahnung, die Gewißheit, daß Josef nicht fortgegangen oder daß er inzwischen wiedergekommen war, daß sie ihn finden konnte … Aufgeregt schritt sie zur Tür und hinaus, lief die Treppe hinunter – seltsam, es war alles leer! wo waren denn die Andern? – Nun durch den Garten, den Weg hinab durch die Büsche; am Pförtchen lehnte ein Mensch, es war Georges. Ihr Herz sprang verzweifelt auf und stürzte. »Georges!« rief sie halb weinend, »bist du allein?« Sie mußte sich von ihm halten lassen, bebte an allen Gliedern und weinte. »Ich habe ihm alles versprochen,« schluchzte sie, »was soll ich denn tun, mein Gott, was soll ich denn?«

Langsam fühlte sie sich wieder geborgen, ermannte sich, trat zurück und trocknete ihr Gesicht.

»War Josef da?« fragte er leise. Sie nickte.

»Wenn er zurückgekommen ist,« fuhr er begütigend fort, »wird er auch eines Tages ins Hans treten. Ich kenne ihn nicht, aber – er hat wohl kein Verbrechen begangen, aber das verwirrte Herz seines Vaters wird ihn doch herumtreiben und anziehn.«

»Ach, Georges,« klagte Renate, »was hat er denn getan? Du weißt ja, was ich dir von seinem Vater erzählte, und da siehst du wieder: was ein Mensch tut, das allein macht das Unheil nicht aus; das Unheil, weißt du nicht mehr, damals sagtest du es selber, ja, Georges, du hast es mir erklärt: das Unheil bildet sich im Herzen. Josef ging nur fort, was war auch dabei? aber sein Vater nahm es als Strafe vom Himmel für eigenes Verschulden.«

Saint-Georges antwortete nicht. Sie standen schon wieder auf dem Gartenweg, Renate ging langsam zum Haus zurück. Beim Anblick der Kapellentür fielen Josefs Paket und Stock ihr ein, sie sagte Saint-Georges davon und bat ihn, die Sachen an sich zu nehmen, vielleicht in seines Bruders Zimmer zu bringen.

Sie gingen in die Kapelle, er machte Licht, Renate nahm das Paket auf.

»Vielleicht braucht er es aber«, sagte sie, streifte nach kurzem Zaudern die Hülle ab und hielt einen Lederkasten in der Hand, wie eine flache Zigarrenkiste groß. Am Ende ists etwas für mich! dachte sie und öffnete den Deckel, hatte aber kaum hineingesehn, als sie entsetzt alles fallen ließ, und was da am Boden lag, war Josefs halbes Gesicht; es sprang und rollte wie aus Kautschuk und lag still, eine halbe Maske. Saint-Georges hob sie auf.

»Sei ganz ruhig,« sagte er, »es ist nichts Schreckliches, eine Maske.«

Sie trat voll Furcht und Abscheu näher, er drehte das Ding in den Händen, ja, es war ein halbes Gesicht, dem Josefs so ähnlich in der Tönung, Kinn, Wange, Stirnansatz und ein furchtbar blickendes schwarzes Auge, daß es sie durchschauderte. Sie stammelte ein paar erklärende Worte von Josefs Aussehn.

»Elfenbein«, sagte Saint-Georges, zwei Bänder durch die Hand gleiten lassend, die an der Stirn hingen; am Halsstück war eine, fast zum Kreis gebogene Spange aus Elfenbein, die wohl den Hals umschließen sollte. Saint-Georges entdeckte und wies ihr chinesische Schriftzeichen an der Innenseite und meinte, wenn es mit Josefs Gesicht so sei, wie sie sagte, so könnte die Halbmaske wohl in der Dämmrung oder bei halber Beleuchtung ein ganzes Gesicht vortäuschen; es sei kostbare Arbeit, nur ein Chinese könnte dergleichen anfertigen, ohne Zweifel würde sie ausgezeichnet schmiegsam passen. Seine Erklärung beruhigte Renate nicht; die Maske ihm aus der Hand nehmend, wieder schaudernd, dachte sie: die andre Gesichtshälfte von ihm habe ich nun in der Hand – und kann kein Ganzes daraus zusammensetzen. – Dann überließ sie Saint-Georges die Maske, der sie wieder verpackte.

Aber danach, zur Ausgangstür vorgehend, glättete sich ihr Empfinden. Fast, fühlte sie, hätte er mich hineingerissen in seine Fremde. Wie toste es schon, Meerflut, Inseln und fliegende Sterne, allein – wie hatte doch Georges gesagt? ›Sie bleibt gleichgültig, regt sich nie auf und nimmt sich Zeit.‹

Indem sah sie ihn selber neben sich in der Türe stehn, die Blicke durch das Dunkel ruhig in die ihren senkend, und sie lächelte, die Augen schließend, ohne zu wissen warum.

Als sie dann ins Freie traten, fühlte Renate erquickend den vollen Strom der herbstlichen Nachtluft, und siehe da, über den Bäumen – ach, wie lange hatte sie es nicht gesehn! – schwebte Josefs Fenster in der Nacht, schöne, sanfte, grüne, gotische Fläche. Magda, oder auch Ulrika und Bogner mußten dort oben sein. Sie konnte die Augen nicht abwenden von dem tröstlichen Schein, folgte endlich Saint-Georges, der voraufgegangen war, minder verzagt und hoffenden Herzens.


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