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Neuntes Kapitel: Januar

Georg an Benno

Trassenberg, am 15.1.

Danke, teuerster Benno, danke Dir tausendmal für Deine Karte! – Ich, siehst Du, ich kann nicht schreiben. Wenn Du mein Tagewerk kenntest, würdest Du versteinern. Seit ich hier bin, also seit bald zwei Monaten, kenne ich nur noch ein Ding: die Zentrale. Papas Zentrale, das große rote Verwaltungsgebäude – Du erinnerst Dich – unten im Waldrand, das kaum zu sehn ist und zu dem kein Weg zu führen scheint, gegen das aber eine elektrische Zentrale mit ihren hunderttausend Anschlüssen, Krafteinnahmen und Kraftverteilungen in einer deutschen Großstadt gar nichts ist. Gar nichts, Benno! Dort verbringe ich nun fast den ganzen Tag. Onkel Salm führt mich in alles ein. Verwaltung, Verwaltung, Verwaltung! Hast Du eine Vorstellung, Benno? Nein! So kann ich Dir auch keine erwecken. Stelle Dir nur vor, daß unser ganzes Land mit allen Anhängseln in Übersee, und mit allem, was darin hervorgebracht wird jeder Art – Landwirtschaft, Viehzucht, Heilanstalten, Wissenschaft, Kunst, Industrie und so weiter, so weiter – hier zusammenströmt und von hier wieder aus. Genug! Mir schwindelt der Schädel, wenn ichs denke, die einzige Möglichkeit, die ich habe, ist, mich blind hineinzufressen, wie in den berühmten Berg der köstlichen Hirse. Dann ists in Augenblicken doch, als fräße ich weder, noch grübe mich in dampfende Finsternis, sondern ich stiege, stiege einen gewaltigen Berg hinan, darf nur weder hinaufblicken – um mir nicht den Mut – noch hinunter – um mir nicht die ganze Größe des Ausblicks von oben zu verderben. Zahlen, Zahlen, Zahlen. Um eine elementare Grundlage zu bekommen, lerne ich doppelte Buchführung; dazu Lombardieren, alle Arten des Wechselgeschäfts. Hast Du in Deinem ganzen Leben je einen Kurs gelesen, Benno? Weißt Du, was das ist? Tröste Dich, Benno, ich weiß es auch erst seit kurzem. Im übrigen sorge Dich nicht um mein Herz, es arbeitet wieder vortrefflich. Noch was über Tageseinteilung: weißt Du, daß ich trotz alledem beinah zehn Stunden am Tage schlafe? Folgendermaßen: aufgestanden wird – um fünf Uhr morgens. Siehe da, was ist der Erfolg? Vormittags um zehn, wenn Du träge Deinen Tag anschlürfst, habe ich beinah schon einen Arbeitstag hinter mir, um elf sinds, mit kleinem Imbiß dazwischen, ganz gut sechs Stunden. Dann wird geschlafen, fünf Stunden, im Bett, fest, und wenn Du Dich dann, wie ich, um vier Uhr zum Essen erhöbest, würdest Du jauchzen vor Kraft, Frische und Arbeitswonne, welche drei bis Mitternacht mit Abendbrotpause freudig vorhalten. Also – machs nach, Benno, machs nach und lebe jetzt wohl, es ist Mittag, ich geh schlafen. Wie gesagt: keine Sorgen, guter Engel, und im zweiten Monat nach diesem befinde ich mich wieder im gesegneten Altenrepen. Was macht der Flügel, die Wohnung, die Vögeleins? Grüße alles, was lebt und mir freundlich gesinnt ist, und sei umarmt von Deinem bis in den Tod getreuen

Georg

 

am 16.

Der Brief blieb versehentlich liegen.

Ein letztes Wort, Benno, über mich selbst.

Nämlich, läge die Sache einfach; wäre er, den ich Vater nenne – heute wahrer als jemals! – wäre er ein Privatmann, und handelte es sich sonach für mich um nichts weiter als Namen, gesellschaftliche Stellung usw.: dann wäre die Sache einfach. Ja, dann wäre sie derartig einfach, daß ich fast denke: in solchem Fall würde ich bleiben, der ich – scheine, sein Sohn. Es wäre nicht der Rede wert, Änderungen zu schaffen, die rein moralisch sein und bleiben würden, die keine praktischen Folgen hätten.

Die Sache liegt aber nicht einfach, sondern verdoppelt durch die Möglichkeit, daß ich in Deutschland regierender Landesherr werde; daß ich – die Worte klingen großartiger als die Sache – vor einen Teil der Menschheit mit Ansprüchen hintreten kann, die sie nach den in ihr bestehenden Gesetzen mir nicht zubilligen würde, wenn sie mein Geheimnis kennte.

Dies die negative Seite der Sache; und die positive?

Nicht eitel genug, mir vorzuspiegeln, daß dieses Land, das ich innig liebe, Trassenberg, meiner bedürftig ist und keines Andern; und zu klug, um nicht einzusehn, daß ich nur selbstsüchtig, nur aus – Ehrgeiz handle, weiter nichts: kann und darf ich mich doch der Einsicht in das nicht verschließen, was werden würde, wenn ich – abtrete. Trassenberg ist, dank der Einflüsse meines Vaters, ein blühendes Land. Beuglenburg ist ein Sumpf mit einigen Kaligruben, und aus dem Beuglenburger Geschlecht kann nichts Gutes mehr kommen. (Der Alte ist krank und stumpf, der Sohn ein kränklicher Knabe, eine Tochter zählt nicht, weil nicht erbberechtigt.) Muß mir nicht Vieles schicksalsvoll vorkommen? Warum liegen die Dinge eben so? Warum gehörte dies Land einmal den Trassenbergern? Warum war und ist mein Vater, warum grade ich? Hier ich – und da die todkranke Beuglenburger Sippe?

Darum nunmehr zum Kern.

›Von des Lebens Gütern allen ist der Ruhm das höchste doch‹ … Wie, Benno, ich sollte verzichten mit dieser Aussicht? Solche Mittel in Händen – zu meiner gottseidank noch unerschütterten Gesundheit, meiner geistigen Freiheit und Beweglichkeit, meiner Lernkraft, meiner Kultur und meiner Tatenlust die äußeren Machtmittel meines Vaters, deren Ausmaß Dir bekannt ist: sollte ich ein hundertfaches Gutes ungetan lassen, das ich auf mich warten sehe? Ich kann Ruhm gewinnen, wahrhaftigen Ruhm, nicht einer vereinzelten Tat oder Eigenschaft, nicht den Ruhm des Entdeckers, Eroberers, Erfinders, des Feldherrn, des Dichters, Volksmanns; Ruhm, der vom Dämonium abhängt, von Begabung und vom Glück, – sondern einen Ruhm, den ich herzustellen, den ich anzufertigen habe mit meiner Hände lebenslanger, unverdrossener Arbeit; den nur mein ganzes Wesen, mein ganzes Sein mir verschaffen kann, weil nur Arbeit eines ganzen Lebens, und das heißt jedes Tages, jeder Stunde seine Grundlage sein wird. Verstehst Du den Unterschied, den ich meine? Nicht Taten, Werke, Gedanken – obwohl diese im einzelnen Verkörperungen sein können, sondern: sein muß ich, leben, von A bis Z meinen Platz ausfüllen, nicht sternhaft erstrahlend, wie Dichtung und Kunstgebild plötzlich blitzend hervortreten aus langem Gewölk, sondern still im Schatten meiner vier Wände, da doch die Wenigsten und niemals die Masse bemerken werden, was hinter dieser und jener offenbaren Erscheinung an unvermerkter Anstrengung und Mühsal liegt. Zu schweigen davon, daß, wenn mir überhaupt etwas zu leisten gelingt, das Dauer hat und Würde vor späteren Geschlechtern, es bei den Zeitgenossen kaum Anerkennung, ja eher Verkennung, Verachtung, wo nicht Feindschaft erregen wird. Wer ein Dauerndes zu schaffen gewillt ist, der muß im Morgen leben, nicht im Heut, darf also nicht verlangen, daß das Heute ihm Kränze flicht. Ich bins gewillt.

Wie ich denkt mein Vater, und was wäre ich freilich ohne diese Stütze? Der wundervolle Mensch! Mit keinem Blick, mit keiner Miene hat er sich mir als Beistand gezeigt. Ohne Blick, ohne Miene hat er mich verständigt, daß ich seines Beistandes gewiß sein werde, wenn die Entscheidung erst gefallen ist. Sie ist schon gefallen, in meinem Herzen ist sie's. Ach, mein Benno, wie ist der glückselig, der im Wünschen und Schwanken, im Zweifeln und Vertrauen sicher ist eines Unwandelbaren, und wenn er Vater nennen kann, was mit Leib und Seele, mit Haut und Haar, mit allen Kräften der Liebe ihm väterlich ist!

Und dies giebt mir Kraft, dies wird mir Heil geben. Ja, ich weiß, Freund, ich weiß: wäre er mir nur um ein Gran minder väterlich, so würde ichs spüren, würde meine Kraft sinken, mein Recht bleichen, – ich wäre entblättert, ehe ein Monat um wäre. Aber ich stehe auf ihm, und so sei's drum.

Ich bin entschlossen. Und somit – Gott befohlen!

Georg

*

Hier enden des vierten Buches neun Kapitel oder ebenso viele Monate.


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