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Dann der traum höchster stolz steigt empor
Er bezwingt kühn den gott der ihn kor
Bis ein ruf weit hinab uns verstößt
Uns so klein vor dem tod entblößt.
Unablässig funkelten die Gestirne.
Georg, auf dem Dache der Sternwarte, schräg auf der niedern, steinernen Brüstung sitzend, hatte die goldübersäte Wand des südöstlichen Himmels vor Augen; wieder und wieder jedoch zog das lebendige Gefunkel zur Rechten seinen Blick herum, und folgte er dorthin, so brach weiter rechts neue Funkelbewegung auf und zwang sein Auge weiter und abermal weiter und so fort, – er mußte sich drehen, den rechten Arm hinter sich aufgestützt, so daß die rauhe Fläche von Stein in seinen Handballen brannte, und bis sein Nacken sich weigerte, weiter herumzugehen. Dann loderte über seinem Haupt andere Heerschar; ein geheimnisvoller Strom, weißlich und nebelnd, ergoß sich die Milchstraße vom Zenit bergunter, alle Ufer umblitzt und umglitzert vom Sterngetümmel in tausend Formen, in schweren Klumpen gleich Waben, gefüllt mit Nacht, in reichen Trauben und Gewinden, in seltsamen Kränzen und durchbrochenen Reigen, alle lebendig, beweglich von Licht, zitternd, strahlend, keiner dem andern gleich, winzige und einzelne gewaltige, nahe scheinende und unsäglich ferne, vergehende Lichter im Hauche der Finsternis. – Aber da war der Schattenumriß des Schloßdaches hinter Georgs rechter Schulter in der Nacht, der Schatten des hangenden Fahnentuches in selten fallender Bewegung, eine bleiche Geste, welche die Sterne hin und wieder verdeckte, unkenntlich, doch schimmerte einmal – wie ein Antlitz – das bleiche Weiß …
Kein Laut war in der Nacht. Schweigsam im Nachtblau standen die abertausend stillen, in sich beweglichen Goldpunkte, die wachsamen Posten, durch alle Räume der Himmel hin verteilt auf den ewigen Bergen. Nun schienen es Gefäße, glasklare, voll von einer feurig leuchtenden Flüssigkeit, in der geheimnisvolles Dasein sich regte, Kristalle vielleicht, riesige, in denen gefangene Götter die Glieder bewegten, Göttinnen oder heilige Tiere, ruhend das Einhorn, still blickend der Widder, großhäuptig, wachsam schläfrig der Leu, scharfäugig der Greif. Schöne Kugeln waren auch da, gefüllt mit Lebensessenz, in der liebliche Kinderseelen atmeten mit ganzem Leib, – denn immer atmete es dort oben und lächelte, immer ging eine Woge von Odem, eine stürmisch sanfte Welle von Lächeln über ganze Scharen der Goldenen hin, und sie flackerten wehend auf wie Felder von Fackeln.
Daß auch nicht Einer dem Andern glich! So wie unten das menschliche Gewimmel erst gleichförmig erscheinen mag und doch zehntausendfach und mehr wandelbar und wechselvoll ist an Charakter und Art, an Seele und Leidenschaft, an Schicksal und allen Farben der Stunden und der Jahre, der Freude und des Schmerzes, so waren auch dort oben die Völker an Seele mannigfalt, Alle nur einander ähnlich durch Liebe, durch Ruhe, durch Glanz. Oh, und das waren keine kleineren und größeren Lampen, entzündet am harten Gewölbe, an dem sie hafteten! Sondern der Himmel war nachtblaue Tiefe, farblos fast, bräunliches Dunkel, ewig beschattete Weltenräume, in denen die Erden schwebten. Ach, wogten sie nicht nieder und auf in einem gewaltigen Takt? – Nein, sie ruhten! Sie zogen wie lautlose Schwäne jeder seine Bahn, zeitlos, spurlos in der riesigen Flut, und sie lächelten im Entschwinden. Tauschten sie Fahrtzeichen und Wink im Vorübergleiten? – Da schienen scharenweise die flammenden Feuer zu wanken und zu erlöschen, scharenweise aber loderten sie höher empor – Georgs Herz zog sich schaudernd zusammen –, das Firmament bewegte sich! Heere zogen klirrend auf über ungeheure Brücken, Heere schwärmten, Geschwader kamen triumphierend entgegen, sie teilten, sie schlossen sich wieder, sie wanderten im Takt, unerschöpflich überstiegen neue mit Bannern und Panzern den finstern Rand der Tiefe, ein lautlos unbeschreiblicher Jubel wogte mit ihnen herauf, – wie Heere der Erde in Wolken des Staubes, in Wolken von Jubel wanderten diese, – o es war Seligkeit in den Sternen, rieselnde, feurige, bebende Seligkeit des nächtlichen Daseins, Seligkeit im Übersteigen der Nachtgebirge, Seligkeit, zu strömen in goldener Woge, Millionen Tropfen zur Woge geschlossen, Seligkeit, einsam dahinzuziehen, Seligkeit, in luftigen Ketten zu hangen, in Kränzen sich zu wiegen, in Bildern sich zu ordnen, Seligkeit, sich anzutönen mit Licht, in Strahlen sich zu umfassen, in dunkler Kraft einander schwebend zu erhalten, Seligkeit, grenzenlose Seligkeit des unendlichen Nichtwissens von Anfang und Ende, und millionenstimmig brach aus goldenen Lippen der Schrei ihres leuchtenden Schweigens: Ewigkeit! Ewigkeit! Gott will es! Gott will es! – –
Namenlos geworden, der unten lauschte, beugte die betäubte Stirn, glühend und frierend voll Schauder. Verschleierte Augen schauten, kaum noch die Höhe der goldgestirnten Gebirge ertragend, wie der Himmel wankte, Massen von Sternen herunterstürzten; Goldrutsche, entfesselt, schlugen mit lautlosem Dröhnen gegen die Wandung seines Daseins und zerstäubten in Musik; es kreiste, in schmetternder Eile, sausend aus Unermeßlichkeit daher, in Unendlichkeit dahin, jagten Welten über Welten einander nach, tönend ohne Schwingen, klirrend von Licht, aufblitzend und erlöschend im Eise der Finsternis, Sturmatem schnob ihnen nach, die gewaltigen Tiere, auf riesigen Flößen aufrecht stehend, flogen durch die Nacht, aufrecht in den Zenit starrte des Einhorns goldene Stirnlanze, der Löwe hob die Pranke und brüllte goldenen Donner über die Eisfelder der Einsamkeit, riesig ausgebreiteter Schwingen schwebte der Greif, schlug die Fittiche knatternd und warf sich in schwingenden Bögen gewitternden Tiefen zu, und riesigen Wuchses, auf seinem Schilde stehend, den gewaltigen Bogen spannend, daß die bis zum Ohr gezogene Sehne klang, stürmte der titanische Orion aus der Nacht herauf, die Sehne klirrte, der Pfeil stürzte sich und fuhr unten in ein Herz, aufschreiend riß es die Augen auf und sah – den stilleren Himmel, sah still stehn, zur großen Kuppel gewölbt, das ganze Firmament, leise flackernd in zehntausend Leuchten, ruhig blickend mit zehntausend Augen, eine zitternde Welle von Innigkeit überlief sie, – sie schlossen sich lächelnd, sie öffneten sich wieder, und – ach, nun, nun quoll wieder aus der Tiefe der Welt der ruhige Atemzug, der Hauch des Unsterblichen aus seiner dunklen Ferne, von dem alles lebte, was war. –
Georg nahm das nasse Gesicht aus den Händen. Er glaubte, sie ganz eingetaucht zu haben in den Himmel, in die unsterbliche Flut, – ja, entströmte ihnen nicht noch Duft, der letzte Hauch andern Lebens, wie Leben und Frische aus schlafenden Blumen bei Nacht? Unablässig aber funkelten die Gestirne, wogten, schwiegen. Sie schwiegen, doch kein Gedicht und keine Musik tönte so beredt wie die Sprache ihres Schweigens in das Herz, denn Wissen senkte sich von ihnen zur Unwissenheit unmittelbar, mit Glanz, mit Lächeln, mit Stille, mit blickender Gewißheit. Die Sterne wußten und schwiegen ihr Wissen in die Welt aus, die Sterne wußten und hielten nicht an sich mit Wissen, zeigten es unverhüllt in ihrer ruhigen Gestalt von oben, neigten sich sprachlos und teilnahmsvoll in der Höhe, und Zuversicht strömte aus ihnen, ein milder Regen in die keuchende, seufzende, ratlose, beklemmte Brust, – da war sie schon aufgetan, sicherer, leichter, atmend und wunderbar beruhigt. Der Augenblick, wo unten das Auge und ein Auge dort oben sich begegnen im sprachlosen Austausch des Sinnens, der Augenblick ist ohne Zeit, nichts geschieht, nichts löst sich, bewegt sich und fällt, und nichts steht auf. – Nein, Herz, sagte es leise in Georgs Tiefe, von deinem Schicksal wissen die dort oben nichts, was könnte es sie kümmern? Was geht es sie an, ob du das Auge hier aufschlägst zu einem Blick oder ein Andrer? Deine Handlungen und deine Träume, dein ganzer Wandel ficht sie nicht an, sie gehören sich selber an, sie wissen nur, sie wissen! Schau du in diesen Spiegel heut und nach einem Jahr, einmal und noch einmal zwischen Tod und Geburt; sehen wirst du nichts, doch zitterst du wohl, und das Schauen genügt.
Georg, unfähig, den Anblick länger zu erdulden, senkte die Augen, wandte sich um und gewahrte auf dem Steintisch das matte Leuchten des goldenen Bechers und der Kanne. Gleich durstig, erhob er sich, trat hinzu, goß langsam den farblos klaren Wein, in dessen rinnender Falte es glitzerte, in den Becher und umfaßte ihn mit beiden Händen. O wie kühl, wie eisig kühl! – Er setzte ihn an die Lippen. Seit anderthalb Jahren der erste Tropfen Wein, dachte er und trank langsam Schluck um Schluck das süße und herbe, kühle Getränk, in dem deutlich ein Hauch von Adel, ein Duft von Alter, von Würde, Fürstlichkeit und großer, männlicher Seele mit einströmte in sein Inneres. Den noch halbvollen Becher in der Hand, trat er an die Brüstung zurück und blickte unter dem Sternenhimmel hinweg wie unter einem fast zur Erde gesenkten Vorhang über das schlummernde Nachtland. In der Tiefe zu Füßen waren dunkel lebendig die Laubmassen der Wipfel, in denen es da und dort bleich erschimmerte; der Wassergraben blinkte verkleinert, dahinter standen finster die Schatten anderer Bäume, Geruch des Laubes und von Blumen stieg auf, ein Stück der Mauer glänzte kalkweiß, dahinter war undeutlich das flache Land, die Wiesen, ganz fern darüber ein, zwei rötliche Lichter. Die laue Nacht atmete kaum.
Alsbald erhob sich das gedämpfte Getöse eines Orchesters in Georg. Ah, Bennos Sinfonie von der Ebene, am Abend gehört, klang wieder aus der Ferne, in die sie entströmt war. – Ja, – bei aller Weichheit seiner Musik, die im Schmelz größer war als in der Bändigung, im Sehnsüchtigen größer als in der Vollendung – es war doch ein Gewebe von strahlender Großartigkeit geworden, in dem – so fern jedes rationale Vortäuschen von Wirklichem blieb – doch der Geist der Ebene so mächtig hauchte wie der Geist des Heros in der heroischen Sinfonie, wo dann auch der Gedanke: Ebene – sie wohl sichtbar werden ließ, sie, breiten Abfluß des sinnenden Gebirgs, flutend von Handlung, glänzend in Strömen, duftend in Wäldern und Äckern, das Antlitz von Sternen behaucht, gebettet in den väterlichen Odem der See. Und war seine Kunst auch romantisch, von der sehnsuchterregenden Art, die eher bezwingen möchte und eindringen, als Maße aufrichten, die aus sich selber wirken, der deshalb das Süße lieber ist als die Feste, der Ansturm lieber als der Schritt, – zu welch erstaunlicher Form war er selber gewachsen! Ungeschickt, hülflos, wie zwängte er sich noch als schutzloser Eindringling durch die Reihen seiner sicheren Mannschaft! Aber der Augenblick, wo er, die Hörerschaft im Rücken, das unmerklich klappende Zeichen gab, zauberte ihn um, unglaublich zu sehen! In seinem Profil wechselten Strenge und kindliche Weichheit, drohende Befeuerung und lächelnde Beruhigung in kaum erkennbaren Wellen, doch in deutlichen, in spielend gemeisterten Übergängen; sichtbar magisch geworden, seine Hände entströmten Zwang oder Verlockung, Ergreifen oder Verschenken, und seine lange, kaum sich regende schwarze Gestalt lebte allein im geschmeidigen Zucken der Arme, der gebieterisch gewordenen Hände, sich zusammen – und alles an sich reißend nur an den gewitternden Stellen, – solch ein Befehlshaber war aus dem Scheuesten aller Scheuen geworden, nun der eigene Geist ihn weit, wie ein Gestirnsnebel, tönend umwölkte. – Ja, Benno, du hast das Ziel erreicht, dachte Georg glücklich und schwer, – weißt du, ich könnte dich beneiden aus einem Grunde! Denn dir ist der Augenblick gegeben, der Glanz der Krise, der Blitz, der Zeit spaltet in Links und Rechts und das ewige Juwel zeigt im Schacht. Ich soll nun lenken in der breiten Zeit, im Unsichtbaren, im alltäglichen Tage, im …
Georg verlor die deutlichen Begriffe im Bangen vor leibhafter Vorstellung, lächelte noch einmal dem Freunde zu und wandte sich um.
Im Osten war der Nachthimmel gerötet, unten glühend weißlich und rot über der Stadt. Die Schattenrisse der Türme von der Universität standen drüben; nahe dahinter eine bleiche goldige Kuppel; ziemlich vorn die weißrötlich wie ein Feuerloch glühende Tiefe war der Platz an den Kasernen, deren beleuchtete Fronten schimmerten, dunkel befenstert. – Stumm erstreckten sich die finstern Wipfeldämme der Lindenalleen; ganz vorn, im Dämmer des Sternlichts, ruhte das Rasenrund in den Wegen. Es rauschte auf, – und jetzt, seltsam lieblich zu hören, scholl aus der Tiefe, aus dem Stall das Klirren einer Kette, ein stampfend aufgesetzter Huf und ganz leise das Husten eines Pferdes. Ach, da unten stand der gute alte Unkas in seiner warmen Stalldämmerung, das Haupt schlaftrunken gesenkt, nur atmend, blind, mit sich seelenallein, dürftig, ein gefangenes Tier, das nichts wußte, nie fragte, nichts wußte … Georg, lächelnd erst, wurde ernst. Ein Tier, das fromm war, frommer vielleicht als er hier oben in der Freiheit, dieser Aufgerichtete, immer Denkende, Sehende, Sternumstellte, in Gottes Odem schwelgend, viel wissend, alles nennend, immer irrend, immer nur für Augenblicke sich erhebend und schon wieder gesenkten Hauptes nichts haltend mit den Augen als das wechselnde Vorwärtskommen und Zurückschwinden der eigenen, wandernden Füße. Sondern dies Pferd war fromm in unerschütterlicher Folgsamkeit, fragte nicht, klagte nie, sprach nie sich aus, war immer zufrieden, nur laufen zu können, es kannte keinen eigenen Weg. Nicht einen einzigen Schritt hatte es allein gemacht, mit eignem Willen, – Georg stockte und erinnerte sich dunkel: ja, auch damals, wann war es noch? In Helenenruh, ich stand im Hof, Unkas schritt zum Stall, blickte her, schien klug, schien zu verstehen, und tastend stieg er davon, – ja, damals auch ging er blindlings dahin das kurze Stück von meinem haltenden, winkenden Auge zum Stall, angelockt und gelenkt vom duftenden Heu und dem eigenen Mist. Immer war er geführt wie ein Blinder, immer war ein Wille über ihm, und er folgte gern, – er – der nicht einmal ein Er war, nicht männlich, nichts Eigenes mehr, sondern ein menschliches Gemächt, ein Enterbter, ein verschnittener Wallach, ausgeschlossen aus dem feurigen Ring der Hengste und Stuten, gebrochen in der Jugend, in Zeugungslosigkeit gebannt, unfruchtbar wie ein Pfahl in der Schöpfung, – o der war fromm … Ja, so Gott will, Unkas, sagte Georg sonderbar wehmütig, reite ich einmal auf dir in Elysium ein, dort, wo alle Trennungen sich ergänzen, wo alles heil wird, wo du auch nicht froh wärst ohne meine Nähe, – dort wirst auch du dein Männliches wieder haben, ein stampfender Hengst, selig wiehernd und trabend über den saftigen Wiesen …
Georg sah wieder in das Land hinein, bewegte den Becher und leerte ihn langsam in die Tiefe aus; Blätter klatschten getroffen und rauschten leise, sonderbar war das Geräusch des Tröpfelns in der schweigsamen Tiefe. – Mein Land, murmelte er, sich schämend, mein Land … Weiterhin versagte sein Denken, und dies genügte ja wohl auch. Er stellte den Becher wieder auf den Tisch, rückte den Sessel der Weite des Himmels gegenüber und setzte sich. Ein wenig müde, vom Weinrausch umnebelt, sah er die Sterne sich zusammenziehn, sich dehnen, heller glitzern und schwanken. Er war glücklich. Morgen, dachte er, morgen … und prallte von unvorstellbaren Bildern und am Wunsch, dieses Schönste und Farbigste seines Krönungstages sich nicht durch Vorahnung zu entstellen, ins Gestern zurück, glitt unmerklich in den fahnen- und blumengeschmückten Saal des Landtages, hörte die Eidesformel verlesen und sah den Vorbeizug der bärtigen Gesichter, selber feierlich und ergriffen die vielen, unterschiedlichen Drücke der glatten und rauhen, schlaffen und kräftigen Hände verspürend.
Vor den halbgeschlossenen Lidern die Felder der Sterne, kam ihm jetzt die Frage, woran nur dies unablässige Auffunkeln, heller und schwächer Brennen, Wogen und Wanken und Zittern der unzählbaren Leuchten erinnre, und bald darauf senkte er sich in die Helenenruher Wiesen nieder. Wie dort das Gewoge der Halme –, nein, nicht das! Das Glitzern und Brennen der Sonnenstrahlen –, auch nicht! – Ah, das Gezirp der Grillen war es, das wogte so lodernd auf, brodelte und senkte sich schwächer, entfernte sich und schwoll laut und nahe heran. Helenenruh, ja, Helenenruh, sang es beseligt in Georg, das war Vater und Mutter und Kindheit, das war ja wie Ewigkeit so lang! Immer Sommer und Sonne, immer Ferien und Faulheit, Reiten und Schwimmen, die blaue See und die Wiesen, die ewigen Wiesen. Er wünschte, mehr aus seinen jüngsten Jahren wiederzusehn, aber es war sonderbar, er gelangte nicht tiefer in die Zeit zurück als bis zu irgendeinem Tag vor ein paar Jahren, wo er schon erwachsen war. Ja, in dem Sommer nach dem Examen, da war es wohl am schönsten; niemals wieder waren die Tage so lang, jedoch – das Ende war seltsam. – Mit meinem Geburtstag muß es aufgehört haben, eigentlich wars ein langweiliger Tag, so viele Gäste, Fremde, nur Bogners Gesicht wohltätig dazwischen. Auf einmal sah er das Gesicht des Malers an einem Fenster, ein Gewitter war, ja, Artaxerxes … er flog ja wohl plötzlich … Und Magda, – Georg seufzte, – Anna nannte ich sie damals und liebte sie sehr … Richtig, das war der sonderbare Tag vor meinem Geburtstag, mit Jason al Manach, und – ja, da begann ja auch alles eigentlich! – Das Gesicht seines Vaters erschien ihm dicht über dem seinen, wie eingebrannt in die Luft, – jede Falte, der Mund und die Augen vor allem. Georg konnte sich nicht auf ein einziges Wort mehr besinnen, das er gesagt hatte, nur daß sie alle wunderbar klangen, und sein Gesicht, dachte er, werde ich noch in meiner Todesstunde unverblichen und unverändert sehn, wie es damals war. Ja, damals muß er auch zuerst von dem Vertrag gesprochen haben … Da erschien, blaß und verwischt wie ein halber Mond am Nachmittag, Sigunes Gesicht, ein Seufzer, der durch Georgs Brust hinzog und sie hob und verhauchte. O das arme, kranke Kind! Wärest du doch niemals geboren! Badenbach, dieser Jesuit! Aber, wie er dastand – oder habe ich das nur geträumt? – Georg besann sich, aber er schien ihn doch wirklich gesehn zu haben, als er kam, um Sigunes Hinscheiden zu melden, – richtig, fiel es Georg ein, ich war ja krank, Virgo war dabei, nein, sie war schon fort, – seltsam, Papa küßte sie auf die Stirn, und später sagte er, ob ich nicht auch gefunden habe, wie sie Mama ähnlich gesehen habe … Ich konnte es eigentlich nicht finden, ihn täuschte wohl das kurzgeschnittene Haar, und Mamas Nase habe ich immer so viel hagrer gesehn, – allerdings – in ihrer Jugend … aber auf der Miniatüre ist die Biegung unsichtbar …
Wie groß der Orion dort stand, ungeheuer deutlich und fast erschreckend menschlich, Füße, Schultern, Haupt, Gürtel und sogar das Schwert, inmitten des Schwarmes ungeordneter Sterne. Tiefer in das goldne Bildnis sich hineinschauend, ließ Georg die Lider sinken und fühlte sich empor- und angesaugt von dem leuchtenden Riesen; schwebte er wirklich? Plötzlich stand er selber als Orion am Himmel, unter sich Nacht und Tiefe; eine fahle, zackig abgeteilte Mondscheibe, die dampfte, schwebte die Erde, ihn schwindelte, er stürzte, erschrak flackernd und fuhr mit einem Ruck in seinen Körper und den Sessel.
Gottseidank, lächelte er matt, es war wieder ein Traum! – Wie still es doch ist! – In diesem Augenblick aber rasselte es in der Luft, ein heller Schlag durchdröhnte das Schweigen, es rasselte, ein zweiter riß sich los, es rasselte wieder, ein dritter … dann war Stille. Erst dreiviertel eins? dachte Georg verwundert, ich bin doch eine Ewigkeit hier oben! – Aber das Zifferblatt seiner Uhr zeigte keine andre Stunde im Zwielicht der Sterne. Wie absonderlich das Uhrglas glänzte und die Zahlen so verändert in der Dämmerung! – Und warum habe ich es denn nicht viertel und halb schlagen hören? Jetzt fängt der Wein an zu wirken, dachte er schläfrig, fühlte aber gleichzeitig ein leises Angstgefühl in sich aufsteigen oder heranschleichen. Wie still es nur ist! – Und doch – es ist ja, – als wäre ich nicht mehr allein! Unsinn! – Er setzte sich tiefer zurück, seine Gedanken lockten ihn spielend wieder ins Morgen hinüber, Renate erschien, – wie würde sie nur aussehn in der mittelalterlichen Tracht? Er hatte sie ja Wochen nicht gesehn und empfand Sehnsucht. Ich habe doch immer nur sie geliebt, dachte er schwermütig, warum nur ließ ich mich so oft irren? Cora, – nun das kann freilich kaum gelten, aber Esther, – ach Cordelia, du warst doch unsagbar lieblich und süß! – Einmal dachte ich sogar, Virgo zu lieben, aber das war denn doch ein Irrtum, weil ich krank war und ich sie Esther ähnlich fand, aber – ja, von Renate hielt sie mich doch ein Weilchen fern …
Mein Gott, es ist doch wer in der Nähe! dachte er plötzlich. Seine Kopfhaut krauste sich. Ja, was soll denn sein, dachte er ärgerlich, wenn was da ist, solls kommen! Aber sein Herz klopfte. Er streckte die Hand nach der Kanne aus, schenkte den Becher voll, setzte die Kanne hin und lauschte. Die Stille rieselte über ihn hinweg, es wurde kühler. Wieder zwang er seine Gedanken, aber sie gehorchten schlecht und nur begrifflich, so daß er dachte, er lebe und bewege sich eigentlich erst seit drei Jahren, seit er den Plan des Vertrages mit sich herumtrage. Da erinnerte er sich an Berlin und seines Sofas in der Kantstraße. Ja, dieses Sofa! Darauf verbrachte ich die halbe Zeit des Winters, o es war ja grauenhaft! Diese Nachmittage, wenn ich lag und lag und die weiße Lampe auf dem Schrank ansah, bis sie verschwamm und schließlich verschwand in der immer tieferen Dämmerung, auch die Tür und alles, und von draußen kam das Laternenlicht über den Hof herein und malte die Schatten der Gardinen und des Fensterkreuzes an die Decke und auf den Schrank, und ich konnte nicht aufstehn, ich konnte nicht, mein Kopf glühte, ich konnte kaum noch liegen. Dieser Winter war das Verruchteste in meinem Leben. Und der in München war nicht besser! Ach, und vor allem, all die Jahre lang dieser grauenhafte Druck, diese niemals weichende Angst, diese sinnlose, die eigentlich noch immer nicht gänzlich –, jedenfalls – wäre nicht Vater …
Georg fuhr mit einem Ruck im Stuhl herum und sah mit flimmernden Augen im grauen Dämmerlicht der Sterne eine dunkle Gestalt hinter sich stehn, am Treppenschacht … Er sprang heftig klopfenden Herzens auf; nun, es war ein richtiger Mensch, groß, dunkel gekleidet, und griff jetzt höflich nach dem Hut, nahm ihn ab und sagte:
»Ich bitte tausendmal um Verzeihung, königliche Hoheit, wegen meines Eindringens, – übrigens, erkennen Sie mich nicht?«
Georg nahm sich zusammen, faßte mit Anstrengung das bleiche, sonderbar starre Gesicht ins Auge, dachte: Ja, das ist doch … »Herr von Montfort?« sagte er zögernd; und mit deutlichem Erkennen hastig: »Aber natürlich, natürlich! seien Sie mir willkommen! Wo kommen Sie her?«
Georg ging um den Tisch, nicht allzu leicht, er merkte den Wein, gab Montfort die Hand, der seltsam lächelte mit seiner einen Gesichtshälfte.
»Ich klopfte unten,« sagte er mit Heiterkeit, »bekam keine Antwort und trat ein, denn ich hatte Ihren Schatten hier oben gesehn, und ich dachte es mir wunderbar, hier oben unter den Sternen zu sitzen und von erhabenen Dingen zu reden. Ja, – ich kam so vorbei … Die Heimgekehrten ergötzt es, wissen Sie, Stadt und Gegend zu durchwandeln und an den leisen Veränderungen den süßen Kitzel des Unwandelbaren der Heimat zu verspüren, und so geriet ich in diesen Park. Nun kommen Sie, wir wollen die Sterne betrachten!« Georg fühlte sich leicht am Arm ergriffen und folgte an die Brüstung.
»Ach, da steht ja auch Wein!« bemerkte Josef, »oh erlauben Sie mir einen kleinen Schluck?«
Er trat an den Tisch. Georg murmelte etwas und benutzte die Gelegenheit, um sich völlig zu sammeln, beruhigte sein klopfendes Herz, die Hände auf die Brüstung stützend und in die Sterne blickend; der Himmel war ihm jetzt nur eine verschwommene, über und über glitzernde und funkelnde Wand von Gold, in der seltsam blaue, rote und grünlichweiße Lichter zuckten. Sich wendend, sah er Montfort mit dem Becher am Munde und streckte die Hand aus.
»Geben Sie mir auch«, sagte er, sich räuspernd. Montfort gab ihm den Becher, er trank begierig, der Wein schien noch einmal so kühl und duftend. Er stellte den Becher hin und ließ sich, da Montfort auf der Brüstung Platz genommen hatte, in den Sessel fallen. Josef, mit einer umfassenden Geste des rechten Armes, sagte:
»Der Mensch und die Sterne – das heiße ich den Gipfelpunkt des Irdischen. Obendrein sind Sie seit gestern zur Hälfte Großherzog, – ah, nicht wahr, Sie bejahen das Leben?« Er lachte leise.
»Sie sagen das so sardonisch«, lächelte Georg.
»Mich,« versetzte Josef, »mich lächert es immer, wenn ich so in den Zeitungen lese von großen Autoren als den Bejahern oder Verneinern des Lebens. Auf tief pessimistischer Basis, so las ich neulich von irgendwem, bejahte er dennoch das Leben. Hanswürste, die sie sind! Da sehe ich jemand vor vollbesetzter Tafel sitzen, hungrig wie ein Löwe, und essen, was sich essen läßt, aber – er verneint das Essen, er schreit: Nein! nein! zwischen jedem Bissen und jedem Schluck. Begreifen Sie, Prinz? Ich kann das Leben verneinen durch Handlung, indem ich mich hinausbegebe, aus dem Leben oder zumindest aus der Gemeinschaft, also aus dem menschlichen Leben. Aber das Leben zu verneinen durch Meinung, zu leben unter Neinneingeschrei … welch ein abscheulicher Unsinn! Und nun erst gar die Bejahung. Ich bin am Ertrinken und sage zu dem, der mich über Wasser hält, unablässig: Ja! ja! ja! du hältst mich über Wasser. Was soll das? Kann der bejahen oder verneinen, der gar nicht gefragt wurde? Aber natürlich: Charakter muß der Mensch haben, so heißts, und zudem eine deutlich erkennbare Weltanschauung. Ach, und über uns sind die Sterne! Wer darf noch an den Nachtraum – die Stirne lehnen wie ans eigne Fenster? Kennen Sie diese Verse von Rilke?«
Georg, tiefer in sich versinkend, hörte mit mächtiger Ergriffenheit über sich die kostbare, tönende Stimme in der Nachtluft:
»Siehe, dies – Bedürfte nicht und könnte, der Entfernung – Fremd hingegeben, in dem Übermaß – Von Fernen sich ergehen, fort von uns. – Und nun geruhts und reicht uns ans Gesicht – Wie der Geliebten Aufblick, schlägt sich auf – Uns gegenüber und zerstreut vielleicht – An uns sein Dasein, und wir sinds nicht wert.
»Vielleicht entziehts den Engeln etwas Kraft, – Daß nach uns her der Sternenhimmel nachgiebt – Und uns hereinhängt ins getrübte Schicksal. – Umsonst. Denn wer gewahrts?
»Und wo es einer – Gewärtig wird: wer darf noch an den Nachtraum – Die Stirne lehnen wie ans eigne Fenster? – Wer hat dies nicht verleugnet? Wer hat nicht – In dieses eingeborne Element – Gefälschte, schlechte, nachgemachte Nächte – Hereingeschleppt und sich daran begnügt?«
Die letzten Worte mit Härte niederschmetternd, schwieg der dunkle Sprecher vor den Gestirnen, und Georg, hingerissen und bis zum Weinen erschüttert, stammelte: »Ja, ja, ja! so ist es, es ist wahr, oh hören Sie nicht auf, sprechen Sie weiter, es muß weiter gehn!«
Montfort schwieg, begann nach einem Schweigen, während Georg mit verschwimmenden Augen, vorgebeugt im Stuhl, zu ihm aufsah:
»Wir lassen Götter stehn um gohren Abfall, – Denn Götter locken nicht. Sie haben Dasein – Und nichts als Dasein, Überfluß von Dasein, – Doch nicht Geruch, nicht Wink. – Nichts ist so stumm wie eines Gottes Mund. – Schön wie ein Schwan – – Auf seiner Ewigkeit grundloser Fläche – So zieht der Gott und taucht und schont sein Weiß …«
Georg fühlte Tränen über sein Gesicht laufen und wehrte ihnen nicht. Nie, dachte er, in keinem Traum erfuhr ich solche Wonne der Tränen. Siehe, da stand Montfort groß und schwarz vor den beweglichen, schlagenden, strömenden Sturzfalten von Nacht und Gold, und es war, als ob er sänge:
»Nur der Gott! – – Wie eine Säule läßt der Gott vorbei, verteilend, – Hoch oben, wo er trägt, nach beiden Seiten – – Die leichte Wölbung seines Gleichmuts …«
Georg, von kalten und wilden Schaudern überronnen, schloß die Augen. Wie war es? wie hieß es nur? Auf seiner Ewigkeit grundloser Fläche, so zieht der Gott und taucht und schont sein Weiß … Oh … oh! schont sein Weiß! Es war kaum zu ertragen. An allen Gliedern gelöst, fühlte er sich in ein grundlos Weiches mit unsäglicher Wollust einsinken, hörte aber jetzt laut durch das Sausen und Singen in seinen Ohren drei starke Schläge gegen eine Tür. Wild zusammenfahrend, setzte er sich auf. Niemand war bei ihm.
Was war das? Habe ich geträumt? – Das Herz klopfte ihm dicht unterm Halse, er fühlte sich seltsam schlaff, elend und an alles ausgeliefert. Wüste Furcht krauste ihm die Haut des Rückens, des Kopfes und der Stirn. Er schüttelte sich und fühlte sich sehr müde im Körper; aber der Geist war frei. Er sah nach dem Orion, aber nachdem der einen Augenblick über ihm aufgeblitzt war, war er völlig verschwunden, die Nacht ganz leer an seiner Stelle.
Georg fuhr sich mit der Hand über die Augen. Das ist ja unheimlich, murmelte er. Die Augen wieder öffnend, sah er zu seinem heftigen Entsetzen die Umrisse eines Riesen von flammend blauer Farbe am Himmel schweben; sie entfernten sich langsam, wurden kleiner und kleiner und verschwanden.
Da! Wieder die drei starken Schläge an der Tür – – es mußte unten die Tür der Sternwarte sein. Georg stand wankend auf, packte mit letzter Kraft seine Furcht und stieß sie fort. Einen Augenblick stand er wütend, konnte nichts sehn, dann lief eine große, schneeweiße Kugel auf der Mauerbrüstung vor ihm bis zum Rand, schwebte dann und entfernte sich nach rechts. Da peitschte das Entsetzen auf ihn ein, er stürzte zum Treppenschacht, die eisernen Stufen dröhnten unter seinen Füßen, er stolperte, rutschte am Geländer hinab, gewahrte dann den Lichtschein in der getäfelten Halle. Kaum aber, daß er die sieben Flammen des Kronleuchters und die beleuchtete Tischplatte ins Auge gefaßt hatte, einen Pulsschlag lang beruhigt, waren sie verschwunden. Er warf den Kopf herum, sah die Tür, die zum Gang ins Schloß führte, wollte drauf zu, aber sie war nicht mehr da.
Vor Angst kaum noch wissend, was er tat, ging Georg mit vorgestreckten Händen tastend auf die Pforte zu, erlangte einen Pfosten, ertastete die Klinke, riß auf und taumelte zurück vor einer finster schwarzen Gestalt, die darin stand, augenlos, eine spitze Gugelkappe anstatt des Kopfes auf den Schultern. Georgs Schrei vergurgelte, da die Gestalt im selben Augenblick spurlos verschwunden war. Statt ihrer sah er jetzt seinen eignen Schatten riesenhaft über die wieder sichtbare Tür ins Getäfel heraufsteigen, ein furchtbar beängstigender Anblick, so daß er beide Fäuste in die Augen stieß. So, einen Augenblick in sich selbst zurückgepreßt, gelang es ihm, sich zuzustammeln: du fürchtest dich nicht, nein, das ist keine Furcht, das ist – er fand nicht, was es war, fühlte sich wehrlos, ergrimmte, würgte sich minutenlang herum mit der Furcht, riß die Augen auf und sah zu seinem unermeßlichen Staunen einen feurig roten Engel dicht vor sich stehn, leider ohne Haupt, die Fittiche weit entfaltet, doch schrumpfte er alsbald zusammen und schwand, während Georg, zerrissen von Wut und Entsetzen, mit geballten Fäusten auf ihn zutaumelte.
Da stand er vor der Tür, die ins Freie führte und stieß sie auf. Gott im Himmel, es stand wieder der Schwarze darin, ohne Haupt und Augen, nur die Gugelkappe zwischen den Schultern.
Nein, was denn, was denn? Nichts war da, sondern ein wunderbarer Gang von milchfarbenen Säulen, die von innen bläulich erleuchtet waren, hunderte in einer Reihe, die ins Endlose führte. Georg starrte so lange hin, bis sie in sich zerflossen. Da war die Nacht draußen, am Pfosten, zur Seite getreten, stand der Schwarze, und dort, mitten auf dem weißen Wege, in der Dämmrung, ein zweiter, still, ohne Bewegung. Georg warf sich herum … Es waren drei! Der dritte stand – es war der erste – in der andern Tür, und Georg wich, gefühllos geworden, rückwärts bis zur Wand, fühlte sie mit den Händen hinter sich und lehnte sich daran. Der Schwarze in der Gangtür war schon wieder fort, aber der andre war ins Zimmer gekommen, wo er sofort verschwand, jedoch in die Tür trat der dritte und verschwand, aber nun war der erste wieder sichtbar, war näher gekommen und stand dicht neben dem siebenarmigen Leuchter, der im selben Augenblick ausgelöscht und nicht mehr da war.
Georg schloß die Augen, versuchte zu lauschen, hörte aber keinen Laut.
Als er die Augen zu öffnen versuchte, standen da drei Schwarze mit Gugelkappen in einer Reihe, einen Augenblick, dann waren sie fort. Alsbald jedoch erschien der linksstehende wieder, der in der Mitte alsdann, zuletzt der rechte. Kalte Tropfen liefen über Georgs Stirn, sein Haar knisterte, er krallte die Finger hinter sich in die Wand und hörte jetzt eine sanfte und schöne Stimme sagen:
Er richtete sich schlotternd auf. »Ich fürchte mich nicht,« stammelte er, »was willst du?«
Da standen die drei Schwarzen wieder, in Abständen voneinander, es war aber schon tröstlich genug, daß sie nicht entschwanden, sondern blieben. Lange Zeit war kein Laut zu hören. Endlich machte die tiefe und ruhige Stimme sich wieder auf:
»Wir sind gekommen, aber wir kommen nicht aus der Zeit. Aus Zeit ist unser Kleid, das schwarze, fremde. In Zeiten wüst und abenteuerlich, ging auch das Rechte und das Wahre, das im Licht verstummte, in Nacht gekleidet und vermummte sich in schwarzes Kappenzeug und schwarzes Hemde; zu richten über Ritterhelm und Diademe, Wirrnis zu schlichten, Böses zu vernichten, kam bei Nacht die Vehme, Tore öffnend mit dem Zauberring, und nichts, das ihr entging.
»Fürchte dich nicht! Sei wie die sieben Lichter in unsrer Nähe nicht voll Angst und Graun, obwohl zu schaun nicht unsre Angesichter und unsre Namen dir verborgen sind. Dein Herz, das von Entsetzen noch gerinnt, samml' es getrost, denn wir sind keine Schlimmen, sind Kläger nicht, noch Henker oder Richter, sind nur Stimmen, und was mit unsrer Zunge spricht, ist das Verborgene in deinem Herzen, sonst ists nichts.
»Denn wir sind eingedenk des Lichts wie du; obwohl wir gleichen ausgelöschten Kerzen, leuchten wir dir zu, auf daß es helle wird in deinem Herzen.«
Die Stimme schwieg. Georg, aus Schaudern in Schauder stürzend, fragte angstvoll, da das Schweigen dauerte:
Eine härtere, hellere Stimme, die von rechts zu kommen schien, sagte:
»Prinz Georg Trassenberg.« Und nach einem Schweigen: »Vorgeblich.« Und nach aber einem Schweigen: »In Wahrheit Sohn der Kaja Moscherowska.«
Georg fuhr mit dem Oberkörper nach vorn, öffnete den Mund, stammelte: »Ka –« Aber der Sprecher zur Rechten erhob die Hand und sagte:
»Still! Wir klagen nicht an, wir urteilen nicht, wir richten nicht, wir nennen. Wir sind nur Stimme. Anklage, Urteil und Vollstreckung übt allein dein eigenes Herz.«
Um Georg zuckte und schwirrte der Raum. Die Drei standen unbeweglich, hinter sich ihre die Wand emporsteigenden Schatten. Die sanfte, erste Stimme tat sich auf:
»Das Kind Esther schläft an dem Grunde des Meeres. Ist in deinem Herzen nichts, das sich verflochten fühlte mit dem Untergang einer ratlosen Seele?«
Georg zitterte heftig, senkte schwer die Stirn, bewegte die Lippen ohne Laut, zitterte nur. In weiter Ferne sagte jemand: »Sigune …«
Sie lebte ohne mich noch, bewegte es sich in Georg, sie lebte, sie lebte … Eine ungeheure Angst drang auf seine Seele ein, er fühlte seine Glieder an sich hängen wie erschlagen, totmatt, schwer wie gefüllt mit Steinen.
»Wir reden nicht von Schuld und nicht von Sünden«, scholl es sanft und fast liebevoll nahebei. »Wir sind allein gekommen, zu verkünden, was in der Brust dir schlummert eingelullt. Bedenke: nichts auf Erden wird durch fremden Griff und äußres Handeln. Aus dir selber mußt du werden, kannst dich aus dir selbst nur wandeln! Aus der Ferne kann nichts an dich heran, nur du selbst allein kannst dich gefährden. Daß vom Dache fällt auf dich der Stein, lenkst du selbst in jene Straße ein. Niemand kannst auch du verletzen, aus ihm selber kommt ihm Pein, Lust erkaufst du nicht mit Schätzen, du bist selber Rausch und Wein. Niemand stürzt durch deine Hand, Schuld verstrickt sich nur mit Schulden, nie bedacht und nie erkannt, – aber du mußt es erdulden. Hiermit schweige unser Chor. Nicht von außen, nein, von innen tönten wir zu deinen Sinnen, stiegen aus dir selbst hervor; wandeln wir auch jetzt von hinnen, keiner sich von uns verlor. Sieh uns schwinden … tausendmal, über Bergen, im Tal, du hast keine Wahl, – immer wirst du uns wieder finden.«
– – – – – – – – – – Kaja! – – – – – – – – – – – Hell sprang ein Klingen in Georgs Gehör auf, es summte lange nach, er merkte, daß er in allen Gliedern zusammengefahren war, glitt ganz langsam in alle Enden seines körperlichen Daseins zurück und fühlte, daß er aufrecht saß. Da brannten die Kerzen, nur noch Stümpfe, über und über tropfend von Wachs. Gott sei gelobt, dachte Georg schwach lächelnd, das war ja ein fürchterlicher Traum! Aber wie elend mir ist! Ich glaube, es geht auf Morgen. Ich möchte zu Bett, – aber – ich – kann – – nicht …
Ohne Bewegung hockte er im Sessel, sank endlich zusammen, legte das Haupt auf die Lehne und fühlte sich im selben Augenblick mit atemraubender Schnelligkeit fortgerissen, daß der Raum um ihn sauste und toste. Es war dämmrig umher, er flog, wie es schien, in großer Höhe, und alsbald erkannte er, ohne Schwindel und mit Entzücken, unter sich das Meer, schimmernd blau in gewaltiger Tiefe. Wogenzüge, gebogen und in Schlangenlinien, schoben sich schimmernd weiß in der metallenen Fläche hin und her, er flog, da stieg in der Ferne eine schneeweiße Klippe auf, er stürmte darauf zu, hoch über ihr, und allmählich wurde sie zu einer riesenhaften Säule, die wiederum sein Herz hüpfen ließ vor Wonne mit der Schönheit ihres schlanken Wuchses und der geschwungenen Räder ihres jonischen Kapitäls. Auf dessen Platte war eine farbige Bewegung, Gestalten in bunten Gewändern, und im Näherfliegen erkannte er, daß eine in der Mitte stand, die war glänzend golden, und rings im Kreise waren eine Menge, zehn – oder zwölf? – ja, zwölf aufgestellt. Deren jede hielt eine goldene Stange neben sich stehend, und oben daran, über den Häuptern der Gestalten – ihre Gewänder leuchteten rot und gelb, violett und grün und weiß und in noch mehr Farben – blitzten große goldene Ziffern, – Georg erkannte und las eine Neun, Zehn und Zwölf, Sieben und Acht, und jetzt sah er auch die Gesichter, die ihm bekannt erschienen, ohne daß er Namen für sie finden konnte. Aber da bewegte sich etwas, nämlich ein uralter Mann, weißhäuptig mit langem weißem Bart, in einem schwarzen Talar. Dieser schritt gebückt und die Hände auf dem Rücken außen im Kreise um die Ziffernträger, und nun wußte Georg, daß es eine Sonnenuhr war und der Greis ihr Schatten. Die goldene Figur in der Mitte drehte sich mit den Schritten des Greises, und da jetzt eben ihr Gesicht aufleuchtend herumkam, so erkannte Georg deutlich Renate, erkannte ihren Seligkeitsmund, die blaue Farbe ihrer Augen, in denen das Meer aufgebrochen zu sein schien, und ihr bräunliches Haar. Erhob sie nicht die Hand, lächelte und winkte ihm zu? Ja, waren denn alle Ziffern schon da? Er suchte verkrampften Herzens im Kreis, auf einmal selber auf der marmorweißen Platte stehend, dicht neben einem der Zifferträger, dem er ins Antlitz sah, – es war Bogner; sehr groß, fremd und verhärtet stand sein Antlitz in die Mitte des Kreises gerichtet, er zuckte nicht mit der Wimper, und Georg eilte angstvoll weiter, gewahrte fern drüben eine Stelle leer, ging hinter Josef Montfort herum, der ganz wie Bogner unbeweglich gradeaus sah, ebenso hinter Ulrika Tregiorni, hinter Saint-Georges, hinter Magda, da begegnete ihm der wandernde Greis, der alte Montfort wars, – mein Gott, es wird gleich schlagen, dachte er in unsäglicher Furcht, wo war denn der leere Platz, sein Platz? Seine Füße wollten nicht mehr fort, er schleppte sie wie bleigefüllte Säcke, da war Erasmus Montfort, düster und schweigsam, Esther stand da, ihr Bruder, Irene war da, nun Klemens, – Cordelia, ach hilf mir doch, liebe Cordelia, stöhnte Georg, aber ihr Gesicht war eine weiße, lächelnde Maske, seine Kniee versagten, er sah undeutlich Dora Vehm, auch Benno, ach Gott, ach Gott, da stand schon wieder der Maler … Auf einmal rührte jemand seine Schulter an, er fuhr entsetzt herum, atmete aber beseligt auf, als er Jason al Manachs freundliches kleines Antlitz sah, ganz klein, ja, wie eine Hand, und die Hälfte davon war Stirn. »Ist denn für mich kein Platz, Jason?« stammelte er flehend. »Es muß jeden Augenblick zwölf schlagen, und dann ists ja aus.« Er riß sich wieder los, schleppte sich zu Esther hin und sagte mit unterdrückter Stimme: »Du bist ja tot, was willst du denn hier?« und versuchte, sie wegzudrängen. Da seufzte Esther, alle Gesichter im Kreis blickten vorwurfsvoll auf Georg, er raufte sich das Haar, keuchte, stammelte: Ja, ja, ja, ich bin der Mörder, ich bin der Mörder! – Unter ihm glitzerte die blaue Meeresfläche, er stürzte kopfüber hinab, stürzte, stürzte, – schlug die Augen auf und lag still, nichts empfindend durch Minuten als das göttliche Gefühl der Rettung.
Einige Zeit danach schien es ihm, als stünde er vor seinem Bett; danach kam es ihm vor, als läge er in Kissen, dann versank er in Müdigkeit.