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Sechstes Kapitel

Bogner/Klemens

Georg, ergeben und hoffnungslos hinter Renate über das Rasenoval wandernd, sah die drei Ankömmlinge und daß Renate sich einem von ihnen gesellte und mit ihm die Freitreppe hinaufging. Aber mit abirrendem Auge erkannte er Bogner. Der streckte die Hände aus, und Georg lief eilfertig und fast mit einem Jauchzen der Erleichterung in die Arme, die er sich ausbreiten sah.

Auch in Bogners Augen, als der ihn hielt und betrachtete, war eine tiefere Zärtlichkeit; aber Georg fühlte sich so aufgeregt und erweicht von dem unvermuteten Wiedersehn, daß es ihn mit Tränen bedrängte; daß er, für Augenblicke sprachlos, die Umgebung in Kreisen sah und innerst erbebend dachte, sein Vater sei wiedergekommen.

Wieder aus seinen Armen gelöst, erkannte er in dem großen Fremden, mit dem Renate eben in der Glastür oben verschwand, Erasmus Montfort und gleich darauf in dem Andern, überaus Schwarzbärtigen, Klemens. Sein Bart war zehnmal so groß, als er ihn im Gedächtnis hatte. Er schüttelte ihm nun die Hand, fühlte sich aber von Bogner, der Klemens zuplinkte, beiseite gezogen.

»Pst!« raunte er, »Achtung! Er hat keine Ahnung!«

»Wer? Klemens? Wovon?«

»Von Irene. Daß sie hier ist.«

»Ah! So. Ja, was macht man da? Sie wird mit der Anna in Böhne sein.«

»Gar nichts. Es wird sich schon zeigen.«

Sie wandten sich Klemens wieder zu, und Georg fragte ihn, indem er sich doch wundern mußte, wie die Drei so zusammen gekommen waren, nach Erasmus.

»Wir sind zu Fuß gekommen,« sagte Klemens, »und suchten Bogner auf, um uns herführen zu lassen.« Er wollte noch mehr sagen, aber ein Regenschauer ging so jählings über sie herunter, daß sie auseinanderfuhren, worauf Georg jeden bei einem Arm nahm und mit ihnen die Terrasse empor ins Gobelinzimmer lief. Egloffstein, immer bereit, hielt die Tür schon offen. Ob die Damen schon aus der Stadt zurück seien, fragte Georg. – Noch nicht. – »Um so besser, dann kriegt ihr ihr Frühstück! Sagen Sie auch gleich in der Küche an, Egloffstein, daß noch eine Gans geschlachtet wird. Ihr bleibt doch zum Essen?«

Klemens zögerte höflich und schwieg, Bogner dagegen bedauerte: sein Mittagsmahl erwarte ihn daheim. Er hoffe aber, setzte er hinzu, Georg am Nachmittag bei sich zu sehn. Er wäre auch ohne die Andern gekommen, ihn zu bitten.

Nun zwischen den Beiden sitzend, der offenen Glastür gegenüber, durch die er den leichten Sonnenregen auf die Terrasse niederrieseln sah, glaubte Georg, Klemens nach der ersten Erfreutheit der Begrüßung nicht in einem Zustand des Behagens zu sehn. So braun er war, schien er kaum recht gesund, im Innern erschöpft und außer Ordnung. Das tiefe Schwarz des großen Bartes und der dicken Brauen erhöhte nebst dem glatten Graubraun seiner Stirn das Seltsame der wassergrauen Augen. Sie hatten sich verhärtet, und Georg dachte, er sieht ja aus wie der Dulder Odysseus, der heimkommt und sich nicht zurechtfinden kann.

Bogner an der andern Seite hatte übrigens nichts eben Väterliches an sich, sondern sich erstaunlich verjüngt. Fast vermißte Georg das lange Haar von Hallig Hooge an dem kurzüberschorenen Kopf. Es war dunkler nachgewachsen, nur der Scheitel noch leicht übergraut. Die hellen kleinen Augen in ihren Höhlen hatten einen fast lieblich zu nennenden Glanz, Fleisch und Haut über dem Skelett des Gesichts ihre frühere Festigkeit wieder, und brüderlich erschien nun, was Georg früher als väterlich empfand.

»Giebt es Neues bei dir?« fragte er derweil. »Bilder? Wieviel? Nun, ich komme natürlich!«

»Acht Bilder im ganzen,« erklärte Bogner, »die zusammen gehören. Allerdings mehr inner- als äußerlich, wenn du auch auf den meisten eine Gestalt wiederkehren sehn wirst. Fertig sind allerdings erst drei. Es sind Heldendarstellungen, eine heroische Symphonie könnte mans nennen. Von den übrigen kannst du Studien sehn.«

»Wunderbar! Bekomm ich die alle geschenkt?«

»Ich möchte sie«, sagte Bogner lächelnd, »der Stadt schenken, Altenrepen, wenn du sie annehmen willst?«

»Mit tausend Freuden! Was willst du dafür?«

»Das wird mir noch einfallen. Aber du mußt ihnen ein Haus baun. Höre einmal, was ich mir ausgedacht habe.«

Und Georg hörte ihn langsam seinen Plan auseinandersetzen und sah ihn gleich kostbar entstehen vor seinen Augen. Einen Tempel, nicht eben groß, dem Andenken von Georgs Vater gewidmet. Er würde auf eine Anhöhe zu liegen kommen und die Form einer Sonnenblume haben, mit neun länglichten Blättern und einem Kuppelraum in der Mitte. Dieser würde leer bleiben, mit Eingängen zwischen den Blumenblättern, – Bogner schwankte noch, ob er die musizierenden Engel aus Renates Kapelle, um einige vermehrt, darin wiederholen solle, was Georg begeisterte, da sie bei Renate von niemand gesehen würden. Jedenfalls sollte der Mittelraum nur der Sammlung und Andacht dienen. An die äußeren Enden der Blätter würden die Bilder kommen; an das des neunten eine Statue, oder besser eine Büste des Toten.

Nun, Georg war Feuer und Flamme, aber Klemens murmelte einigermaßen grämlich etwas von »Archaisiererei«, die dabei herauskommen würde. Tempel, heute! Wer denn heut ein Gefühl für Tempel hätte, so daß es ein Gebilde der Zeit würde, zumal hier im Norden.

»Ich weiß nicht,« sagte Bogner, »ob Tempel zeitliche Gebilde oder zeitgemäß sein können. Gott ist nicht zeitgemäß.«

»Gott nicht, aber der Glaube.«

»Dann müßte es mehr Götter geben als einen.«

»Einen, der sich wandelt, wie die Menschheit sich wandelt.«

»Die Kunst«, sagte Bogner nachdenklich, »hat meines Erachtens die Aufgabe, das Unwandelbare darzustellen. Sonst kämen wir zu Problemen, und das Problem Gottes zu lösen, kann nicht ihre Aufgabe sein.«

»Aha, so, dann halten Sie auch das Tempelproblem für gelöst?«

»Ich glaube. Wie das des Glaubens. Wenn im Tempel das Gläubige sich ausdrückt, so löst es sich mit der einfachsten Darstellung der architektonischen Aufgabe. Stütze und Last, Säule und Gebälk, und ewig bleibt, meines Empfindens, die Gestalt des Baumes. Hellas hat die uns empfunden, ihr Inneres läßt sich nicht ändern, aber ich bestehe durchaus nicht darauf, daß etwa das Kapitäl jonisch sein soll oder korinthisch. Das immerhin war zeitmäßig und landschaftlich griechischer Ausdruck, und –«

»Sie machen mittelalterliche Weinlaub- oder Eichenblätterkapitäle auf die dorische Säule? Übrigens«, schloß er in seinem ersten, bisher von Hitzigkeit abgelösten Tone der Grämlichkeit, »machen Sie, was Sie wollen.«

»Du bist zänkisch!« sagte Georg nun, der mit Behagen dem Hin und Wider gefolgt war. »Du wirst der ganzen Architektur den Mund verbieten.«

Klemens nahm Rührei von der Schüssel, die Egloffstein hinhielt, und gab sich Mühe, zu lächeln. Ja, er hätte schon neulich einen Architekten sagen hören, daß sie, die Architekten von heut, sich nur hinsetzen könnten und warten, da die Baukunst nicht – wie vormals – imstande sei, der Zeit einen Ausdruck zu geben.

»Davon«, sagte Georg, »schreibt Victor Hugo sehr schön in Notre-Dame. Sonst übrigens ein albernes Buch. Völker, sagt er, haben ihre Geschichte in Baukunst geschrieben. Heut ist die Mannigfaltigkeit nun zu groß geworden. Auch hat immer eine Kunst die Oberstimme gehabt in den wechselnden Zeiten.«

»Und welche wäre das heute? Die Dichtung? Literatur? Da redest du wieder aus der Vergangenheitsperspektive. Wenn du darin gesteckt und gelebt hättest, würdest du alles anders gesehn haben, und ganz ungenau. Du hebst einen Faden aus der Vergangenheit und sagst: das ist der Faden. Du, in deiner Abstraktion, kannst relativ sein, aber hier handelt es sich um Wirklichkeit, um Gegenwart, und das nötige Mittel der Relation, die Vergleichung, fehlt.«

»Meinetwegen. Aber hat denn nicht die Baukunst einen Ausdruck für etwas Neues und Zeitmäßiges gefunden?«

»Das Warenhaus wohl?«

»Vielleicht.«

»Lassen Sie das auch gelten, Bogner?« Klemens schien sich zu erleichtern im Wortstreit.

Das Warenhaus, meinte Bogner, sei freilich kaum eine geistige Erscheinung.

»Aber wieso?« fragte Georg. »In einem weiten Sinn als Verkehrssinnbild?«

»Nun, Kaufhäuser gab es auch im Mittelalter. Das Warenhaus aber setzt die Dinge nur in Beziehung, ist – ganz Fläche. Das mittelalterliche Kaufhaus war ein Ausdruck des ganzen kaufmännischen Geistes und –«

»Ja, das bringt mich auf einen Hauptunterschied von heute und damals«, rief Georg. »Damals gab es nur zweierlei Bauten, Kirchen und Profangebäude. Die heutige Hundertfältigkeit –« Georg verstummte einen Augenblick, um Klemens sagen zu lassen, das ließe sich höchstens von der italienischen und deutschen Renaissance behaupten, – um dann fortzufahren: »Immerhin wurden die Häuser früher allesamt von außen gebaut; sie bekamen eine Fassade, und die Räumlichkeiten wurden irgendwie hineingepackt. Heute dagegen ist das Wichtige das Innre, die Unterbringung einer bestimmten Anzahl von bestimmt gearteten –«

»Na, und wo bleibt da deine Mannigfaltigkeit?« hohnlachte Klemens. »Worin unterscheidet sich denn eine Postdirektion von einer Lebensversicherung, einer Bank, einer Konsumgenossenschaft, einem Rathaus? Eins wie das andre eine große Verwaltungsanlage. Das ist es eben. Heut ist alles geistig erklügelt, was damals aus einer Freiwilligkeit entstand, wenn auch aus einer dumpferen.«

»Und wer ist dran schuld?« rief Georg nun hitzig. »Du bist schuld! Denn der Staat ist es, der heut auf alles die Hand gelegt hat, und du willst den noch einfältigeren Sozialstaat. Nun, aber das weiß ich schon lange, daß die Zerrüttung überall herumprasselt.«

»Ich freilich fühle die neue Grundlage.«

»Schon? wo denn? Wir müssen ja immer tiefer. Jetzt kommt doch erst Amerika, und Taylor und die ganze Mechanisierung. Schon muß Bogner sich Kunstmaler nennen, damit man ihm glaubt, daß er kein Anstreicher ist, und der heutige Geistestyp ist der Schriftsteller.«

»Das«, widersprach Bogner langsam, »kannst du so wohl nur für Deutschland festlegen.«

»Und in Frankreich vielleicht? Da giebts ja nur Schriftsteller.«

»Den homme de lettres, den écrivain – kaum im deutschen Sprachsinne. Der Franzose freilich ist immer der artiste, der, der diese Dinge macht.«

»Ja, da hast du recht, und der Deutsche ist der, der sie erfindet, erdichtet. Form und Gehalt.«

»Freilich,« sagte Klemens sardonisch, »er nennt sich Schriftsteller, aber selbst Rudolf Herzog hält sich für einen ›Dichter‹ und wird auch gehalten.«

»Womit du etwas sehr gutes Deutsches zum Ausdruck bringst. Der Deutsche, als Künstler, fühlt Verantwortlichkeit, nämlich gegen etwas, das über ihm ist und Allen. Er fühlt sich fraglos unterworfen dem namenlosen Zwang, ohne zu denken, und einsam. Der Schriftsteller in Frankreich ist öffentlich, wie der ganze Mensch dort, ist vergesellschaftet, ein Staatsinstrument. Racine, Corneille waren Staatsdichter.«

»Und Baudelaire? Und Verlaine, Mallarmé?«

»Lyriker, mein Lieber. Der Vers macht einsam. Nun, ich denke, das dürfte wohl doch klar sein, daß wir in Deutschland eine Art, ich will sagen dichterischer Menschen haben, die einzig ist. Der Franzose hat immer seine gloire, dargestellt in äußerer Ehre, und Balzac hätte alles hingeworfen, so groß er war, wenn er auf andre Weise den Ruhm hätte erlangen können, der ihm vorstrahlte. Der Poet in der Dachkammer, hungernd und frierend, verachtet und entzückt, das ist unsre Form.«

Georg stand auf, da fertig gegessen war. Egloffstein stand schon mit Zigarren vor Klemens; Georg zog seine Dose und bot sie Bogner. Als sie alle Drei rauchten, trat er an die Glastür und dachte, es sei doch das Beste im Leben, sich um nichts und wieder nichts unter Männern mit Worten zu schlagen.

Er wandte sich um. Bogner stand hinter seinem Stuhl, die Arme auf der Lehne. Klemens saß am Tisch, verfinsterten Gesichts, und wickelte an seiner Zigarre.

Ob Irene nicht bald kommt? – Und Birnbaum, dachte er beunruhigt, Birnbaum wollte kommen … Georg blickte verstohlen auf die Uhr und fand, daß es drei Viertel eins war. Um halb drei sollte gegessen werden.

Draußen war es wieder dunkel geworden, und der Regen plätscherte nach Kräften auf der Terrassenfläche.

In diesem Augenblick – da er sich schon nach drinnen wenden wollte mit einer Frage und gleichzeitig den Trieb verspürte, in den Regen hinein zu laufen – gingen Haltung und Fassung mit so reißender Schnelligkeit von ihm, daß er nur noch mit einem ratlos haschenden Blick über die Beiden streifen konnte, bevor er zur Tür schritt, um den Nebenraum zu betreten. Dort stellte er sich ans nächste Fenster, legte die Stirn an die Scheibe und überließ sich dem inneren Toben.

Warum, mein Gott, warum tu ich alldies? Das ist doch alles nur Krampf und nur Einbildung! Es sind ja ganz andere Dinge! Warum denn? Wie komm ich denn da hinein? Ich war mit Renate. Auf einmal erschienen die Andern, ich konnte mich nicht entziehn. Aber warum? Warum hab ich mich nicht vor ihre Füße geworfen, oder warum gestand ich ihr nicht wenigstens ein, was mich quält, oder daß ich in einem ganz andern Netz hänge, und bat sie, mich allein zu lassen oder zu helfen? Und warum Renate? Warum nicht Allen, dem nächsten, Bogner, Klemens? Was sind da für Widerstände? Renate? Daß ich sie liebe? Höllengelächter, und das machten wir uns zum Hindernis, statt zum Hebel? Wir? Sind Andre anders? Und bei Bogner, bei den Andern, was war da die Schranke? Daß ich hier Herzog bin? Das wäre fürchterlich. Das kann nicht sein; kann der innerste Grund nicht sein.

Und warum denn, fing er von neuem an, warum nicht noch jetzt? Ich brauche ja nicht zu schreien, ich kann mich ganz ruhig zu ihnen setzen und sagen: Bogner … Ihm brach die Brust von Verlangen nach ihm, aber schon im Wenden mußte er denken, daß doch wieder ein Hindernis da sein würde, und ihm fiel schon ein, daß Birnbaum sich angemeldet hatte. Er zog die Uhr, es war kurz vor eins, in einer Viertelstunde konnten sie hier sein. – Ist, fragte er wieder, eine Viertelstunde nicht genug? Kann Birnbaum nicht warten? Aber nein – nun, das sind wenigstens Pflichten, die kann man gelten lassen.

Er fühlte sich wie mit Blut übergossen, zauderte aber wieder. – Nun such ich nach Ausflüchten, dachte er wirr. Ja, Klemens hat mit sich selber zu tun, das sieht man ja. Und ist es mit ihm nicht dasselbe wie mit mir? Hier rennt er allein durch die Welt, wäre vielleicht längst wieder davongerannt, wenn man ihm gesagt hätte, daß sie hier ist, anstatt sich mit ihr zusammenzutun, um, da sie schon Beide um dasselbe leiden, wenigstens zusammen zu leiden. Der liebt sie auch und läßt sich auch hindern, wie ich. Und was, was ist denn der Grund, daß die Menschen sich lieben und heiraten, wenn nicht der, daß sie sich zusammen hinsetzen können, um von ihren Leiden zu reden, statt – von Architektur.

Aber wir wollen unser Leiden immer für uns allein haben. Warum sind wir denn so? Und hinterdrein klagen wir dann, daß wir einsam sind und keiner uns hilft. Oder liegt es am Leiden? Ist Leiden so, daß es allein gehabt sein will? Gott im Himmel, bist du es denn also, der im Leiden wohnt und sich nicht will teilen lassen mit jemand? Warum denn enthüllst du dich nie?

Es blieb still; auch Georg wurde stiller. Die Fensterreihen des Nordflügels blitzten in der vorbrechenden Sonne auf, gewaltige Speichen aus Golddunst drehten sich magisch über dem Wäldchen, und stark leuchtende Wolkenballen quollen empor. Die nußbraune Terrasse dampfte.

Georg drehte sich um nach einem Geräusch. Egloffstein ging durch den Saal mit einem Stoß Servietten, und Georg war nahe daran, sich zu schämen, weil er vielleicht die ganze Zeit nicht allein gewesen war. Danach zauderte er nicht länger, nebenan einzutreten.

Klemens

Dort stand jetzt Klemens an der Glastür, schräg, eine Schulter gegen den Rahmen gestemmt, die Hände in den Rocktaschen, löste aber seine Haltung bei Georgs Eintritt. Bogner saß pfeiferauchend seitwärts vom Tisch. Im Gefühl, freundlich zu Klemens sein zu müssen, fragte ihn Georg, wo er das halbe Jahr gewesen sei. In Italien, war die Antwort.

»Aus besonderen Gründen?«

»Keinen politischen jedenfalls.« Sich mit dem Rücken anlehnend, die Arme kreuzend und so ins Freie blickend, begann er nach einer Sekundenpause zu erzählen. Er sei gewandert, zu Fuß, wie schon einmal als junger Student, seine Geige im Wachstuchsack auf dem Rücken und ohne einen Heller Geld; allein, oder in der Gesellschaft von Bettlern, fechtenden Handwerkern aus Deutschland, entsprungenen oder entlassenen Sträflingen und dergleichen.

»Komische Käuze,« sagte er, »diese deutschen Handwerksburschen. Sie arbeiten nur bei deutschen Meistern, kehren, wenn es irgend geht, nur bei deutschen Wirten ein, lernen kein Wort von der Sprache, laufen an allem vorüber. Höchstens daß sie ein bißchen was sehn, und wie es scheint, wandern sie also nur wegen der Freiheit und wegen des Wanderns. Unter den Bettlern hab ich manchen Freund gefunden. Da war ein armer Kerl in einem Asyl in Bologna, dem war sein Geld mitsamt den Papieren gestohlen, er lag und jammerte die ganze Nacht durch. Am andern Morgen nahm ich meine Geige und hab in den Höfen gespielt. Was einkam, haben wir redlich geteilt, und dieser Mensch wird mir bis ans Ende des Lebens ein Herz voll Dankbarkeit bewahren.«

»Wurdest du dort für einen Italiener gehalten?«

»Nur bis ich zu sprechen anfing, ich kann nicht sehr viel. Nun, aber die Menschen dort solltet ihr sehn! Da ist soviel natürliche Herzlichkeit, soviel Offenheit und Entgegenkommen, soviel Dankbarkeit und Anmut dabei! Soviel dort Musik gemacht wird, bleibt doch der Musiker, der Künstler immer geehrt, und nun – wenn ich so am Abend in eine kleine Stadt marschiert kam, und auf dem Marktplatz, neben der Kirche unter den Kastanien die ersten Striche beim Stimmen tat, und dann so mit recht süßer Kantilene das Adagio aus dem Mendelssohnschen Konzert – so weit hab ichs grade gebracht! – durch die Stille und in die offenen Fenster zog: was das gleich Leben giebt und Hervorkommen, als fingen überall Wasser an zu laufen. Die Kinder kommen aus ihren Betten und drängen sich ans Fenster, und überall lächelnde Gesichter, und jede Frau, der man unterm Spiel einen feurigen Blick zuwirft, empfindet sich schön. Nun, und wenn das Konzert zu Ende ist, da kommen schon von der Veranda des Gasthauses die Honoratioren, der Pfarrer, der Herr Apotheker, und der Bürgermeister, und drücken mir die Hände und sind die feinsten Kenner und erlauben sich, mich zu einer Flasche Spumante einzuladen.« Klemens lachte nicht ohne Wehmut. »Ich war dann immer der Sohn des Kammervirtuosen d'il rege di Prussia, und schon damals, vor zehn Jahren, hielten sie mich meines Bartes wegen für einen sehr würdigen Mann und fragten gleich nach der Frau und den Kinderchen. Endlose Geschichten hab ich von denen erzählt. Die Kinderchen, das war ihre größte Freude, und wie oft hab ich Tränen in ihre Augen gelockt mit einer unendlich rührenden Erzählung von meiner jüngsten Tochter, die an Diphtheritis gestorben war. Wie ich sie hin und her gewogen hab, und sie war so geduldig …«

Er lachte jetzt ganz fröhlich und sagte noch: »In Pisa, da war ein Schutzmann, der mir zu spielen verbieten mußte, denn es gab einen Auflauf. Ja, das ist ein Land, da halten die elektrischen Bahnen, wenn einer Geige spielt. Der wartete schön, bis das Stück aus war, und dann entschuldigte er sich noch vielmals. Er sah auch vollkommen ein, daß ich für dies Stück doch noch sammeln mußte, und fast hätte er selber seine – Kappe hingehalten. Es war ein rührender Mensch.«

Bogner und Georg lachten herzlich. Dann sah Georg, nicht ohne ein Gefühl, als sei dies alles nur die Vorbereitung zu etwas andrem gewesen, ihn seine Haltung verändern. Er nahm die frühere wieder ein, die Hände in die Rocktaschen bohrend, und seine undeutlichen Augen schienen ins Ferne eingestellt, während er sehr langsam sagte:

»Ja, und dann kam doch wieder die Unrast, und ich bin über die Alpen gelaufen und nach Deutschland, aber da war kein Zuhause. Aber wer die Hände einmal in fremdes Blut getaucht hat, dem ergeht es immer wie Lady Macbeth; die Flecken wäscht kein Wasser herunter.«

Er verstummte, nickte trübe und fuhr fort:

»Dann habe ich meinen Freund Erasmus gefunden, der jetzt hier ist. Dem war es böse ergangen. Ich, wenn ich nachdenke, ich kann mir vorstellen, daß man eines Tages seinen Bruder erschlagen muß. Vater nicht, und Mutter nicht, auch keinen Juden und keine alte Wucherin wie der Raskolnikoff. Aber seit Kain muß die Möglichkeit in der Natur des Mannes liegen. Drei Nächte lang schüttete er mir sein Herz aus. Das war grauenerregend. Dieser Mensch, den ich kannte, hatte sein Leben lang gehungert. Wessen Leib hungert, kann stehlen, wem die Seele hungert, kann nicht stehlen. Er lebte noch immer, aber nun war er ein Schatten des Lebens geworden. Die Natur hatte ihm gegeben, daß er nicht vergessen konnte, was ihm je widerfahren war. Eines Tages fand er sich so behängt mit Vereinsamung, mit zehntausend Lieblosigkeiten, Gehässigkeiten, Verachtungen und Verhöhnungen bis hinunter zur ersten und letzten der Kindheit, daß er nicht mehr vorwärts gehn konnte. Da ballte er den ganzen scheußlichen Klumpen zusammen mit sich selbst und stürzte sich in den Schlund. So wars, und daß er noch jemand mit sich riß, war nicht seine Sache, sondern Anlage des Daseins. Und nun fuhr er seit jener Nacht, seit jener Tat, rasend wie der Fliegende Holländer, ohne Wind und ohne Ruder, rückwärts über das Meer seiner Leiden, weil sich die Wage nicht einstellen wollte. Die Wage, deren eine Schale den Jammer seines Lebens trug, und deren andre jenen Tod. Er hielt den Kopf des Toten in den Händen und fragte in die erloschenen Augen hinein abertausendmal: Hab ich gedurft? – In einer Nacht bin ich mit ihm unterhalb des Wehrs auf dem Flusse gefahren, und wir haben gesucht bis zum Morgen. Er war vor dem Irrsinn und nahe daran, unter die Menschen zu laufen und sich auszuschrein. In den drei Nächten, die ich mit ihm verbrachte, ist mir das Herz grau geworden. Ich hatte auch einen Bruder.«

Er verstummte und begann, mit ungelenken Schritten auf und nieder zu gehn. Georg dachte: Herzbruch … bewegt von solcher Freundestreue, und war nahe daran, nach ihm zu fragen, als Klemens am Tisch stehn blieb, die Finger einer Hand daraufsetzte und sagte, Georg ansehend, doch ohne festen Blick: »Aber ich glaube, daß einmal geheilt werden kann, von Menschen, was Menschen zerbrochen haben. Da hab ich ihn denn hergeschleppt, zu Renate.«

»Zu Renate?« entfuhr es halblaut Georg.

»Zu Renate. Und wie es scheint, da sie nicht zum Vorschein kommen –« Er verstummte. Georg sah noch ein sehr weiches und zartes Lächeln in seinen Augen, im Bart aufkeimen, bevor er den Blick niederschlagen mußte.

Diesen? fragte er dumpf. Das soll ihr Geschick sein?

Er konnte aber, trotz der heißen Stiche in seiner Brust, erkennen, wie sehr wahrhaftig der Verzicht war, in den er sich eingegraben hatte, dort im Wald. Eine Weile noch kochte die schmerzliche Eifersucht in seiner Brust, derweil es ihm schien, als sei jemand – er selber? – beschäftigt, dies Heiße zu blasen, damit es erkalte. Es erkaltete jedenfalls langsam, sank zugleich tiefer und blieb liegen als ein dumpfer und dunkler Klumpen angstvoller Beklommenheit, wie er sie aus früheren Jahren kannte. – Damit, dachte er, Atem schöpfend, werde ich ein andermal fertig. Sein Mund zuckte in einem Hohngefühl über die ganze Verderbtheit der Welt.

Als er die Augen hob, stand ihm gegenüber Egloffstein und meldete, Herr Dr. Birnbaum und Herr Schley warteten im Jagdzimmer. Auch Hauptmann Rieferling sei dort mit der Kuriermappe.

So verabschiedete Georg sich von Bogner mit dem Versprechen, am Nachmittag zu kommen, entschuldigte sich bei Klemens und ging.

Birnbaum

Mit dem Öffnen der Tür fiel Georgs Blick auf den alten Mann, der neben dem, noch von Georgs Vater her am Kamin stehenden grünen und hochlehnigen Sessel aufrecht stand und so gewartet zu haben schien. Hinter ihm Schley hatte eine Hand unter seine Achsel geschoben. Er trug seinen langen und würdigen schwarzen Rock. Georg, der ihn vor einer Woche zuletzt im Bette gesehn hatte, erschrak nun über sein gespensthaftes Aussehn, in dem Elendigkeit stritt mit einer Erhabenheit. Sein Nacken war gebückt, die Wangen hingen faltig und waren zwischen Schnurrbart und Augen rot gesprenkelt von Adern. Die Nase dazwischen hing übermäßig heraus, und in den geröteten Augen – das linke hing ab nach außen – war Verwirrung. Ach, dachte Georg, das ist Saul, der bei der Hexe war! – Und so verstört, daß er sich nicht einmal verbeugt! Oder kann er das nicht?

Indessen tastete Birnbaum mit der Hand an der Brust, räusperte sich, machte einen Ruck zur Verbeugung und sagte heiser: »Ich bin gekommen, um Eure Hoheit untertänig um meine Entlassung zu bitten.«

Georg zauderte. Er wollte noch sagen, was er zwanzig und hundert Mal gesagt hatte: Urlaub, soviel Sie wollen, aber keine Entlassung, – um die der Alte, nur nicht so förmlich, schon lange gebeten hatte. Aber dann sah er ein, daß hier nichts mehr zu erwarten war. Eine Ruine, die nur noch gänzlich zerfallen konnte. Er ging auf ihn zu. Noch ehe er ein Wort sagen konnte, hatte der alte Mann ihn umschlungen, weinte bitterlich auf über seiner Schulter und klagte laut: »Ich habe ja keinen als dich, Georg, ich habe ja keinen als dich, aber nun kann ich nicht mehr!«

Georg stand erschüttert von dem unbegreiflichen »keinen als dich« und hielt diesem Jammer stand, bis er sich von selber beruhigte. Danach sprach er dem Alten begütigend zu und führte ihn mit Schley zur Tür, ihm zuredend, daß er sich eine Weile niederlege und ausruhe. Von der Tür aus sah er Schley und den Hauptmann ihn durch den Raum führen, der öde und kahl war mit leeren Regalen und Schreibtischen, und zu dem alten Sofa, auf dem er früher in den Arbeitspausen geruht hatte. Augenblicke später fand er sich sitzend am Schreibtisch, ohne Gedanken als den: Das ist kein leichter Schlag! Was fang ich an ohne ihn?

Erst als die Gestalt Rieferlings nahe vor ihm erschien, der die daliegende Unterschriftmappe mit ihren großen Löschblattbogen auseinanderschlug, die Feder eintunkte und ihm hinhielt, sagte er, zu ihm aufblickend, trübe: »Ein gesegneter Charfreitag, Rieferling, Sie hatten ja auch was auf dem Herzen! Wollen Sie auch weg? Dann fangen Sie lieber gar nicht –« Das Ende des Satzes ließ er in ein Gemurmel fallen, denn eben traf sein Blick auf die in zierlichen Schnörkeln stehenden Druckzeilen am Kopf des weißen Bogens, der vor ihm lag: Wir, durch Gottes Gnade Georg VIII., Großherzog – und so weiter …

»Ich will heute nicht schreiben«, sagte er kleinmütig und legte die Feder hin.

»Hoheit haben ja Zeit bis morgen«, sagte der Hauptmann.

»Rieferling,« versetzte Georg verdrießlich, »Sie wissen immer was! Wo soll ich denn morgen die Zeit hernehmen? Also muß ich doch schreiben!« Ich grinse ja, dachte er und konnte die Augen nicht abwenden von Rieferlings sachtem Lächeln.

Was heißt denn nun bloß von Gottes Gnaden? grübelte er nach, die Feder wieder zwischen den Fingern. Letzten Endes war es ja wohl Papa, von dem die Gnade ausging. Von Gottes Gnaden … Es ist eine Floskel, dachte er noch und fand als letzte Möglichkeit die, den Kopf zu schütteln, worauf er begann, Bogen um Bogen an die gewohnte Stelle, über der zum Überfluß Rieferlings Zeigefinger leicht in die Luft tippte, und nach einem Überfliegen des Bogens, seinen Namen zu schreiben. Er traf dabei auf andre geschriebene Namen – Ellerberg, Alsen, von Dreyling, Gewecke, Fuchs, Richter und mehr, immer mehr – zwischen Druckzeilen, in denen von Beförderungen die Rede war, Auszeichnungen, Versetzungen in den Ruhestand und Erteilungen von Charakter, aber auch das jedesmalige ›Geruhen‹ hatte längst den letzten Hauch anfänglicher Skurrilität verloren. Lauter Dinge, die Zeit hatten bis morgen. Aber woher morgen die Zeit für sie? Merkwürdige Widersprüche, dachte er. Ist das überhaupt zu verstehn? Sie haben bis morgen Zeit, und morgen ist keine Zeit für sie da?

Etwas nötigte ihn, die Augen zu erheben, und er sah Schley vor dem Fenster stehn. Weiter schreibend, seufzte er nun und fragte: »Kannst du dir denn vorstellen, wie das ohne ihn werden soll? Ist Zimmermann denn wenigstens eingearbeitet? Sonst kann ich von morgen an mir nur noch die Haare raufen. Sag etwas! Ist keine Möglichkeit vorhanden, daß es besser mit ihm wird?«

Am Fenster lehnend begann Schley, während Georg die letzten Bogen versorgte, mit seiner langsamen und öligen Stimme, die Georg immer als überaus lindernd empfunden hatte durch die innere Ruhe, die unterhalb ihrer strömte:

»Er will nämlich nach Palästina.«

»Was! Birnbaum? Das ist das Neueste!«

»Ja, das hat sich nun alles so eigentümlich zusammengedrängt. Und du weißt ja, Hoheit, wenn alle Türen verrammelt sind, brichts durch die Wand. Da ist dann kein Halten mehr. Zusammengebrochen ist er ja eigentlich schon, als dein Vater starb. Man sieht sowas ja nicht gleich. Und nun grenzte es ja lange schon an Verfolgungswahn. Dir wird das ja nicht unbemerkt geblieben sein. Die Arbeit verfolgte ihn nun; er hat glaub ich kaum noch geschlafen vor Angst, am nächsten Morgen keinen Gedanken mehr zu haben oder so.«

Georg nickte. »Ich weiß ja. Aber ich hielt es für Einbildung, und er sagte selber, es sei Einbildung.«

»Und dann hat er auch damals einen Brief bekommen, nach dem Attentat, – ja, eben von dem Sigurd Birnbaum. Seine Frau hat ihn unterm Kopfkissen gefunden und zeigte ihn mir. Er ist scheinbar am Tage vor dem Attentat geschrieben. Das meiste ist ohne Sinn und Verstand. Aber er spricht da viel von den internationalen Aufgaben des Judentums. Na, und das scheint nun eine ganz gegenteilige Wirkung gehabt zu haben. Auf einmal hat er sich glaub ich erinnert, wer er ist, und daß er doch immer im Grunde hier nur geduldet ist. Das weißt du ja auch. Er sprach auch mit mir darüber, – na, sie wollen den Juden ja lange aus deiner Nähe weghaben. Und gestern – gestern schickt er auf einmal zu mir, und da finde ich ihn in der größten Aufregung. Es war ganz jammervoll. Er wußte fast nicht wohin vor Angst, teils weil, wie er sagte, es jeden Augenblick zu spät sein könnte – ja, mit Palästina, er hat da nun die sonderbarsten Vorstellungen –, teils vor dir, daß du ihn nicht weglassen würdest. Und auch vor sich selbst, daß er nun fahnenflüchtig würde. Ja, es ging so weit, daß er sich vor dir niederwerfen wollte, ich konnte ihn nicht anders beruhigen, als indem ich ihm versprach, ihn heut herzubringen. Eigentlich sollt ich ihn verteidigen. Auch daß Charfreitag ist, spielte eine gewisse – ja – eine Rolle.«

»Aber diese Palästinaidee«, versuchte Georg schwermütig zu widersprechen, »will mir noch nicht in den Kopf. Wenn –«

»Ja, Hoheit, da sehn wir das nun mal wieder. Nun klammert er sich ja an dich, aber – ich darf das wohl sagen –, in Wirklichkeit wars doch alleine dein Vater, an dem er so gehangen hat. Der ist nun tot, und das ist denn so wie'n Mensch, der aus'm Stück Land weggetrieben wird und kriegt 'n andres dafür, das genau so ist, aber es ist doch nicht das alte. Ich hab nicht in seiner Haut gesteckt, aber – heimatlos, Georg, heimatlos ist er doch immer gewesen. Wenn er Gefühl gehabt hat, ist er heimatlos gewesen!« wiederholte er erregter, »und ob das nun Galizien ist, wo er eigentlich herkam, oder Palästina, da ist wenig Unterschied. Man muß sich da mal hineindenken! Nun grad diese internationalen Ermahnungen, das ist es, die haben ihn eben drauf gebracht, wo die wirkliche Kraft des Menschen steckt. Die steckt doch im Boden, na, das ist doch allbekannt, oder sagen wir mal: in der Sprache. Er ist doch 'n fühlender Mensch gewesen, Georg, und hat er denn jemals seine richtige Sprache sprechen können? Wenn er gedurft hätte, er hätt es ja nicht mal ordentlich gekonnt! Nu fällt ihm das alles auf einmal ein, und er weiß doch genug vom Zionismus und all diesen Bestrebungen, und das fällt ihm nun ein, und daß er mit all seinem schönen Dienen vielleicht seine Kraft an der richtigen Stelle weggezogen hat. Es ist ja merkwürdig, es giebt so Menschen, die bringen es zu allem Möglichen, und dann – auf einmal – drehn sie sich um und müssen alles im Stich lassen. Tilly, das war auch solch ein Mensch, wie Ricarda Huch das beschreibt; der wollt eigentlich immer nur 'n kleinen Garten haben. – Das hat sich nun eben alles so zusammengezogen.«

Georg schwieg und wußte nichts zu erwidern, zumal Schley lauter Dinge gesagt hatte, die nur in ihm selber warteten, gesagt zu werden.

Augenblicke später hörte er aus dem Nebenzimmer Husten und ein Geräusch, und Georg winkte Schley, hinüber zu gehn. Sich im Stuhl drehend, folgte er ihm mit den Augen durch die Tür und blieb lange Zeit an ihr haften. Dann näherten sich Schritte, und von Schley geleitet, erschien wieder der alte Mann.

Er ging jetzt wie ein Blinder, und der Blick seiner offenen Augen schien keine Nähe mehr wahrzunehmen. An dem Stuhl beim Kamin angelangt, wartete er eine Weile, ehe er sich langsam darein niederließ, worauf er sich aufrecht anlehnte, den Kopf nach den Fenstern gewandt. Georg sah voll Ehrfurcht seine Schultern bedeckt mit einem Mantel, der gewebt war aus Stille und Frieden. Der Ausdruck seiner Stirn, seiner Augen, all seiner Züge zeigte ein erstaunliches Gemisch von Stolz und – Knechttum, wie Georg es empfand; den geheimnisvollen Ausdruck des Menschen, der durch langes Dienen zum Herrscher geworden war. So wenig königlich er erschien, versammelten sich doch biblische Könige großäugig hinter seinem Stuhl.

Nachdem er ihn so eine lange Zeit hatte still sitzen sehn, fühlte Georg für eine kleine Weile seinen Blick mit großer Liebe auf sich gerichtet. Dann wandte er ihn wieder ab, und dann hörte Georg seine Stimme, die aber so fern herzukommen schien, wie seine Augen hingingen, und obgleich leise, ja kaum hörbar mitunter im Folgenden, hatte sie einen tieferen und volleren Klang als jemals, so daß es war, als wäre seine Brust ganz voll davon und begänne nur geheimnisvoll in Worten zu tönen. Seltsam auch war, daß er eine andre Sprache redete als die gewohnte, denn plötzlich war es die, die er doch höchstens über seiner Wiege gehört haben konnte, ohne sie noch zu verstehn, Laute und Satzbau, zerdrückt und verkrümmt, wie jener ewig zerdrückten und verkrümmten Menschen, die Georg einmal erstaunt im Getto von Konstantinopel zu sehn bekommen hatte. War er so halben Wegs schon zurückgekehrt, nach Galizien, der so spät noch nach Palästina wollte?

Halb ein Murmeln und fast ein Gesang, so hörte Georg, der bald nicht mehr hinzusehn wagte, seine klagende Rede.

»Ich will dirs nun mal sagen, Georg, damit du's weißt und dir keine verkehrten Gedanken machst. 'n Mensch, der nicht darf gehn in die Kirch und hat keine Stelle, wo er darf allein sein mit seinem Gott, der ist kein rechter Mensch. Und ich bin solch 'n Mensch immer gewesen. Ich hab 'n nich abgeschworen in meinem Herzen und hab 'n doch abgeschworen mit meinem Handeln. Darum bin ich 'n bescholtener Mann gewesen, von 'nem bescholtenen Volk. Du sagst, ich hab 'n gutes Leben gehabt, auch 'ne Frau und auch Kinder. Und ich will ganz schweigen von deinem Vatter. Bin ich deshalb wohl 'n glücklicher Mensch gewesen? 'n Mensch, der nicht darf gehn vor die Tür, daß nicht die Andern 'n Finger aufheben un sagen: das ist keiner so wie wir, un: den könn' wir nicht achten? Recht haben gehabt die Leute mit mir, und recht haben sie überall, wenn sie die Stelle nicht achten, wo der Jud steht, denn er steht mit verkehrten Füßen. Er denkt, daß er geht nach vorn, und er geht immer nach hinten. Weil er geht weg von seiner wahrhaftigen Heimat. Darum muß er auch gehn so schnell und muß machen Fisimatenten und 'n Gemeres unter die Leute, und ans Ziel kommt er doch nicht. Wenn er hat zugeben müssen, daß seine Heimat ihm zerstört worden ist, hat er doch nicht brauchen zugeben, daß er nicht hingeht und baut sie noch mal. Darum wird er auch nich geacht' von den Leuten. Das Leben ist schwer, und wer geboren is im Galuth, der sagt: soll ich auch müssen sterben im Galuth! Nee, Georg, aber nee, das will ich nu nich sagen! Da darf einer arbeiten sein Lebtag, der verdient sich doch bloß die Sohlen unter seine Füße, damit er eines Tages kann heimgehn, oder er verdient sich gor nix. Ich weiß doch was ich weiß! Und wenn du kommst, Georg, und sagst zehn Mal: Nein! und sagst: ich will kämpfen den Kampf um 'n alten Mann, – nun, was is 'n Jahr, und was sind selbst zwei Jahr für 'n Menschen, der jung ist? Und du wirst müde, Georg, und ich kann gehn und sitzen vor der Türe, – ich weiß doch, was ich weiß …

»Wer wohnt in einem Volk, der soll auch werden wie 's Volk, der soll essen seine Speise und beten in seiner Kirch, auf daß er kriegt 'ne Sprache und vernünftige Sitten. Wer glaubt denn, daß einer Gott 'n Gefallen täte mit dem koscheren Essen und Stehn in der Synagoge am Schabbes und lesen aus 'm Buche 'ne Sprache, für die er hat keinen Sinn! Oder glaubst du 'n, daß Gott will reden 'ne Sprache, die der Mensch bloß kann reden mit ihm allein, und die Gott bloß versteht selber, und die er nicht zugleich kann reden mit Menschen? Wer nicht kann reden mit Gott, wie er will reden mit Menschen, der kann auch nicht reden mit Menschen, dem kommt keine Wahrheit aus 'm Herzen, und wenn er vielleicht nicht betrügen wird andre Leut, wird er doch betrogen haben sich selber. Denn er hat betrogen den Herrn um seine menschliche Sprache. Zweierlei Rede, das ist nix. Ich will hingehn und reden die Sprache. Ich wills versuchen.«

Georg hörte ihn noch eine Weile murmeln, aber nun war nichts mehr zu verstehn. Vor seinen verdunkelten Augen verschwamm der entfernte Wald zwischen den Flügeln des Hauses, schwärzlich und grünlich im Sonnenschein, und in das gereinigte Himmelsblau hob sich eine schneeichte Wolke hoch wie ein schöner Berg. So saß er, kaum sich zu regen wagend in seiner Ergriffenheit, längere Zeit und wandte sich endlich. Da stand Schley, der sich vor das Gesicht des Sitzenden beugte, als ob er horchte. Gleich darauf hob er langsam den Kopf, auch die Hände und strich mit beiden Daumen behutsam über die Augen hin.

Und dies Letzte enthielt so viel Feierlichkeit, daß Georg bei aller Erschrockenheit sich nicht zu rühren vermochte. Gestorben? dachte er dumpf. Hier, in diesem Augenblick gestorben?

Schley legte die Hände des Toten im Schoß zusammen und wandte sich zu Georg um. »Heimgegangen«, sagte er einfach.

Georg saß noch lange und blickte den alten Menschen an, der dort saß, und an dem noch keine Verschiedenheit wahrzunehmen war von Andern oder dem, der er selbst vor Minuten noch war. Vielleicht, daß er noch edler aussah; und daß seine stille Haltung auf die Länge der Zeit nicht natürlich mehr schien; oder daß er so gar nicht atmete in diesem Schlaf.

Endlich spürte er, daß ihm schon lange die Tränen aus den Augen liefen, und nun weinte er hellauf, daß es ihn schüttelte. – Danach stand er auf, um nachzusehn, ob Magda zurück war, und ihr Nachricht zu bringen.

Irene

Noch schwer mit Herz und Gedanken an dem Toten hangend, den er in dunkler Vorstellung sah wie einen gestürzten Baum, herausgebrochen aus seinem, Georgs, Leben, voll mit Früchten, unersetzlich an täglicher Leistung das Jahr durch, und überdies mit unsterblichen Blüten der Erinnerung – oh die ersten Spiele der Kindheit! –, ging Georg durch die Räume, irgendwie in der Einbildung, die Anna im Gobelinzimmer zu finden. Da gewahrte er mit einem Zufallsblick durch ein Fenster – das letzte im Vogelsaal, wie er nun erkannte – Klemens auf der Terrasse allein, vor sich hingehend, gebeugt, die Hände auf dem Rücken, und Georg trat ans Fenster, klopfte und deutete mit der Hand an, daß er ins Gobelinzimmer ginge. Gleich darauf öffnete er die Tür. Der Raum war leer.

Indem er aber im spiegelnden Glase des Türflügels zur Rechten den Widerschein des Herankommenden gewahrte, wurde die Flurtür zu seiner Linken geöffnet, und rückwärts gehend herein kam ein mädchenhaft weibliches blondes Wesen in einem hellgrünen, farbig überblümten Kleide mit Achselbändern und weißen Blusenärmeln, an einer Hand sehr behutsam hereinführend die Anna, hinter der Benno sichtbar wurde; Irene.

So, dachte Georg, was mag nun kommen? – Klemens stand da und blickte nur. Überdem wandte sich Irene, fuhr leise zusammen, ließ Magdas Hand fahren, machte zwei Schritte und schien, haften bleibend, zu schweben. In ihre Augen, die im kleiner gewordenen Antlitz Georg blauer schienen als jemals, trat ein sehr bittender Ausdruck, während ihr Kopf langsam nach hinten sank. Ihre eine Hand sah Georg zittern in den Falten des Kleides, wo sie hing wie vergessen.

Klemens rührte sich nicht vom Fleck, schlug aber jetzt seinen Rock vorne zusammen und schloß langsam die beiden Knöpfe.

»Klemens!« sagte sie endlich, und Staunen und Bitten ihrer Züge schmolz in ein nahezu triumphierendes Warten.

»Mensch!« grollte nun Georg, »worauf wartest du noch?«

Klemens sah ihn an. In seinen undeutlichen Augen erschien ein grübelndes Fragen, als ob er durch Georgs Erscheinung sich erinnern wollte an etwas, was er selber vor einer Stunde gesagt hatte. Dann setzte er sich in Bewegung, als ob er stürzte, umkreiste den großen Rundtisch, und plötzlich bückte er sich, hatte Irene auf den Armen, drehte sich wortlos um und trug sie um den Tisch, durch den Raum und ins Freie hinaus.

Georg brachte es nicht fertig, ihm nicht nachzugehn, und in die Nähe der Tür folgend, sah er ihn draußen stehn, mitten auf der Terrasse. Über sie und Hofraum und Dächer fiel ein goldener Regen. Darin stand er kräftig und hielt mit erhobenen Armen die leichte grüne Gestalt in den tausendfach rieselnden Glanz hinauf.

Georg drehte sich weg und mußte lächeln. Wieder hinsehend, fand er die Terrasse leer, glaubte aber die gedrungene und beschwerte Gestalt des Menschen mit seiner Last über eine dampfende Wiese voll Primeln gehen zu sehn, langsam, ein Pangott mit seiner gesicherten Beute, die er in grüne und rauschende Höhlen des alten Waldes zurücktrug.

»Was war denn hier?« fragte Magda.

Georg wußte weiter nichts zu sagen als: »Klemens.«

»Ach! Wo sind sie denn nun?«

»Verschwunden. Er hat sie weggetragen.«

»Gott sei gelobt!«

»Das sei er! Es giebt also doch noch –« Findungen in der Welt, wollte Georg schließen, als ihm in seinem Stuhl der Entschlafene erschien.

»Aber,« sagte er leiser, »unser alter Birnbaum ist hier eben gestorben.«

Sie streckte die Hand aus, gab aber keinen Laut von sich. Auch als Georg auf sie zutrat, um sie in die Arme zu schließen, bewegte sie sich nicht.

»Das war der Letzte!« sagte sie nach einer Weile, – wohl im Gedanken an andere Tote. Sie hielt die Augen geschlossen.

»Ja, dann bringe mich bitte –« Sie verstummte, machte eine abwehrende Bewegung und sagte: »Aber ich kann ihn ja nicht sehn«, und trat weg von Georg.

In der Tür erschien Egloffstein, zeigte sich Georg und verschwand, zur Meldung, daß angerichtet sei.

Keiner sagte etwas. Georg sah eine einzelne Träne an den Wimpern des Mädchens hängen, wartete noch Sekunden und sagte dann: »Egloffstein meldet, daß angerichtet ist.«

Da wandte sie sich zu ihm, kam mit niedergeschlagenen Augen und ließ sich an seine Brust ziehn. Sie blieb so lange Zeit ohne Bewegung, hob dann den Kopf, und Georg sah sie blind und seltsam in eine ewige Ferne lächeln. Sie sprach wie im Traum: »Irgendwo – irgendwo – sind sie Alle wieder beisammen.«

Er ergriff ihre Hand und führte sie hinüber. –

Sie aßen dann schnell und schweigsam an der für zehn Personen gedeckten Tafel, an der außer ihnen nur noch Benno, Schley und Rieferling erschienen. Georg empfand wie eine Wohltat das Fehlen Renates. Einmal fragte ihn Anna, ob er am Nachmittag Zeit für sie habe. Sie habe ihn ja eigentlich für sich eingeladen und ihn noch den Tag über kaum gesehn. Auf Georgs Erwiderung, daß er nur Bogner seinen Besuch versprochen habe, aber erst gegen Abend hingehen wolle, bat sie ihn, sie in einer kleinen Stunde nach dem Essen in seinem Zimmer zu erwarten und mit ihr Tee zu trinken; sie möchte nur vorher etwas ruhn. – Gleich darauf wagte Benno eine bescheidene Frage nach einem Beisammensein mit Georg und war hocherfreut, daß Georg ihn gleich nach dem Essen mit sich nehmen wollte.

Zwar fühlte Georg sich müde und schlafbedürftig, brachte es aber nicht über sich, weder Benno abschlägig zu bescheiden, noch ihn mit der Anna zusammen zu bitten, denn an eine stille Stunde mit ihr dachte er mit weicher Erwartung, – davon abgesehn, daß sie ein Recht hatte, mit ihm allein zu sein. Auch sagte sie selber nichts, um Benno aufzufordern.

Allein hinter den Türen saß noch der ruhige Tote, umringt von seinen nicht mehr geträumten Träumen, die ihn lächelnd und weinend bekränzten …

Georg legte die Hand auf die neben ihm liegende Annas und fühlte ihre Finger sich schließen. Bald darauf hob sie die Tafel auf, nickte Georg zu und ging sicher zur Tür. Er schob seinen Arm in Bennos, schüttelte Schley, der sich zu verabschieden kam, die Hand, und sie gingen.


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