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Renate, ohne den Blick von Saint-Georges zu wenden, tastete nach Ulrikas Hand und faßte sie. »Was war dir denn?« hörte sie Ulrika fragen, »du weintest.« Jetzt entfernte der Gugelmann sich mit einem Winken, sie wandte sich zu Ulrika, sah erfreut das zarte und ernste Gesicht, ein wenig entfremdet von der großen, dunkelroten Krone von Haar, die mit grünen Bändern durchflochten einem maurischen Turban ähnlich war, und sammelte ihre Gedanken. »Laß dich anschaun,« sagte sie, »wie köstlich du aussiehst!«
Ulrika ließ sich mit ein wenig ironischer Miene betrachten und befühlen in ihrem großen, grünen Mantel, dessen weißseiden gefütterte Falten sie im linken Arm trug, die goldene engärmlige Tunika darunter, und den weiten, mattlila Kleidrock. »War es denn nicht schön?« fragte sie, wieder besorgten Gesichts, »ich meine, – weil du weintest …«
»Habe ich geweint?« fragte Renate erstaunt. »Richtig, Georg war ja da, – wo ist er denn geblieben? – Ja, es war schön, aber – es war schauerlich – oh!« sie zog die Schultern zusammen. »Ich bin völlig zu Eis geworden, weißt du.« Sie lachte. »Nun, und das hat halt schmelzen müssen. Du weißt doch, Herz, man weint nie, wenn etwas grausig ist oder so, sondern wenn man sich nicht anders zu helfen weiß.«
Wieder schaudernd blickte sie in die letzte Stunde zurück, fand jedoch wenig und sah nun nahe vor sich den Schimmel, dem eben Decken und Sattel abgenommen wurden, auch das Kopfzeug.
»Mein Gott, sieh doch nur, wie schön sie ist!« rief Ulrika entzückt, als die Stute nackend dastand in der Herrlichkeit ihrer edlen Glieder, gedrungen, doch nicht plump, zierlich die Hufe voreinander wie eine Tänzerin, breit von Brust, dicken, kurzen, zum kleinen Kopf stark verjüngten Halses, mit dem starken Wirbelhaar über der Stirn, schnobernd mit den Nüstern, daß leises Wiehern quoll.
»Ja, du bist sicherlich grad so erleichtert wie ich, aus deinen warmen Decken«, sagte Renate, zu ihr gehend, um ihr den Hals zu liebkosen. »Ohne Furcht und Tadel bist du wie ich,« murmelte sie dabei, »was wird aus uns werden?«
Die Stallknechte und ein Geharnischter, der Spielleiter, kamen, legten der Stute eine Trense in weißem Halfter an, in deren Ringen dünne und viele Ellen lange, rote Lederriemen befestigt waren; zwei Edelleute auf schönen, goldroten Pferden lenkten heran und ergriffen die Riemenenden.
»Bitte, wollen Sie nun –« hörte Renate den Schauspieler sagen. Sie griff in den Halfter und führte die Stute einige Schritte gegen den leeren Damm vor, besann sich vergeblich auf ihre Verse und bat endlich unsicher: »Ja, nun mußt du laufen!«
Sie trat seitwärts. Einer der Reiter schnalzte mit der Zunge, hinten knallte eine Peitsche. Die Stute fuhr zusammen, trat drei Schritte vor, blickte sich erschreckt und verwundert mit klugen Augen um, wieder knallte die Peitsche, da sprang sie heftig an, trabte ein Stück, setzte sich in Galopp, die Reiter folgten, und plötzlich schnellte sie ab, flog, ein weißer Pfeil, der Tiefe zu, die Reiter jagten bergunter nach, aber schon schienen die Riemen sich erstaunlich zu verlängern, und schon, gedankenschnell, war der weiße Ball durch die leere Hälfte der Arena geschnellt, auf die vielen weißen Zelthüte der Beuglenburgischen Ritterschaft zu, und, wie ein Blitz wegzuckend, war sie die breite Gasse hinab und draußen im Dunste der Ebenen verschwunden. Nachhetzend, weit zurück, leuchteten noch eine Weile die roten Pferde und schwanden. –
Im Kreis der Zuschauer hinter Renate gab es Gelächter. Sie wandte sich zu Ulrika, die lachend meinte, sie sei neugierig, ob der gute Schimmel richtig von selber zum Bauern Gregor hinlaufe, der draußen im Felde warte. Renate legte den Arm um ihre Schulter und sah wieder weiße Wolkenballen, wie Stiere scheinend, über den fernen Erdrand heraufklimmen.
»Es fing an, weißt du, als ich hier den Damm hinunter reiten mußte,« sagte sie tief in Gedanken, »oder vielmehr –, da hörte etwas auf. Kannst du dir diese Vereinsamung vorstellen, mit der ich da plötzlich der riesigen Tiefe und den zehntausend Augen ausgesetzt war? Ich weiß nur noch, daß ich furchtbar fror, meine Augen wurden unermeßlich weit, aber ich sah trotzdem nichts als den Himmel und diese gewaltigen, weißen Wolken, und wie stürmten sie gegen mich herauf! Wie Stiere sahen sie aus. Wie aber dann der Jubel ausbrach – –, sehen konnten sie, wenigstens mein Gesicht, ja noch kaum, aber es galt doch mir, und das gab einen Sturm, der mich leer ausfegte und mit Eis, – ja mit Eis anfüllte. Ich mußte mich zusammenraffen – furchtbar!« Sie lächelte und fuhr eifrig fort. »Da konnt ich denn freilich merken, – das heißt, weißt du, ich merke es erst jetzt, – wie wenig ich in Wirklichkeit allein gewesen bin, denn es sind doch immer Gedanken dagewesen, Erinnerungen und immer doch auch die Nähe vertrauter Menschen. Psyche auf dem Wege zum Hades, weißt du, der muß so ums Herz gewesen sein. Und erst unten, weißt du, – ja, was lachst du denn?«
»Ich lache, weißt du,« sagte Ulrika, »weil du, weißt du, immer weißt du sagst!«
»Sage ich das? Ja, weißt – nein wirklich! – aber da kannst du sehn, wie ich durcheinander geraten bin. Nein, der Jubel unten, sie rasten, und nun wußte ich doch auch, daß sie mich wirklich sahen –«
»Ha,« unterbrach Ulrika ihren Wortschwall, »das hast du doch gemerkt!«
»Ich habe es gefühlt, du Närrchen,« sagte Renate lachend, »aber ich weiß es erst jetzt!«
»Ist das ein Unterschied bei dir?« fragte Ulrika verwundert. Renate sah sie an. »Ja, bei dir etwa nicht?«
Ulrika schien innerlich zu kämpfen. »Du magst recht haben,« gestand sie endlich, »aber – wenn es so ist – dann –«
»Ist es unsre ganze Macht«, funkelte Renate. »Nein, weißt du, sie rissen mich in Stücke mit ihrem Lärm.«
»Und das war das Grausige?«
Renate blickte versonnen vor sich hin, lächelte, hob die Achseln. »Das Schöne«, sagte sie leise. »Es war nur noch Brausen, ich war wie – weit fort, und doch war ich es, die groß umherging und galt. Es war gut, das einmal erlebt zu haben, – ein zweites Mal …« Sie schauerte.
»Und den Festzug hast du noch vor dir«, neckte Ulrika.
Renaten zog ein schönes Wort durch den Sinn:
Verschmolzen mit der tausendköpfigen Menge,
Die schön wird, wenn das Wunder sie ergreift …
Tiefer schauernd, schloß sie die Augen. War sie verschmolzen gewesen? – Nein, und – nein, das verschmolzen bezog der Dichter ja nicht auf den Dargestellten, sondern auf einen der Gläubigen in der Menge, wenn sie sich recht erinnerte. Die Menge aber, war sie wirklich schön geworden? Im Herzen vielleicht, die Hände lärmten sehr. Aber das war nun so ihre Art … Die Augen öffnend, rief sie: »Sieh nur, was kommt da?«
Durch die Gasse der weißen Zeltestadt und die Gruppen der dunklen und blitzenden Harnischleute kam von jenseit ein großes, braunrotes Pferd dahergebraust; sein Reiter schien sehr klein, – ah, es war der Botschafterjunge! In der einen Hand schwang er etwas Gelbrotes wie eine Fahne. Nun stürmte er über die Wiese heran, der Gaul bockte am Damm, kam aber dann in großen, heftigen Galoppsprüngen herauf, der Knabe, nacktbeinig in kurzer schwarzer Hose und weißem Hemd, schwenkte ein mächtiges Bündel bäurischer, gelber und roter Stockrosen, – jedoch in der Tiefe ward jetzt wieder das weiße Pferd sichtbar, das unter einem Reiter leicht zwischen den Zelten zurückgaloppierte; dahinter die Füchse der Edelleute. – Jetzt war der Knabe heran, warf sich noch im vollen Ansprung von seinem braunen Elefanten, stolperte, fiel aber geschickt und anmutig auf seine Knie vor Renate, die Arme ausbreitend, den Kopf im Nacken, offnen Mundes minutenlang nur keuchend, flammenrot im Gesicht, das mager war mit großen, braunen Augen voll Entzücken. Endlich konnte er mit heller Stimme rufen: »Sie kommen! Der König kommt! Es lebe Heliodora!«
»Herzog muß es heißen,« flüsterte Renate lachend, über sein beflammtes Gesicht huschte leichter Schreck, dann lächelte er und fuhr richtig fort:
»Am eisernen Tische fand dein weißes Roß
Den Auserwählten, doch es war kein Schild;
Des Bauern Pflugschar wars, von der er schmauste
Sein karges Brot!«
Renate, hinter sich das erstaunte Bühnengemurmel ihres Hofes, sagte: »Da, komm, mein braver Junge!« und, den süßen Botenlohn ihrer Jamben verschluckend, hob sie den Jungen kräftig von der Erde auf, drückte ihn – er war klein wie ein zehnjähriger – an die Brust und küßte ihn fest auf den Mund. Der Junge schloß die Augen, hing einen Augenblick still, riß sich erschrocken los, machte eine Bewegung mit dem freien Arm, als ob er sich den Mund wischen wollte, schüttelte sich plötzlich und sprang, sich umwirbelnd, davon. Renate lachte ihm mit der Umgebung fröhlich nach.
Nun waren auch Schimmel und Reiter nahe heraufgesprengt, der Schauspieler im weißen Bauernhemd und blauen, riemenumwundenen Strümpfen, nicht ungeschickt auf dem ungesattelten Pferd, hielt, sah sich staunend um. – Theater, dachte Renate, ist doch was Sonderbares! – Das bartlose, ungeschminkte Gesicht erinnerte weitläufig an Georg, aber die tönende Stimme, mit der er nun sein: »Wo bin ich? Welch ein Traum umfängt mich denn?« hervorsang, enttäuschte Renate. Sie erklärte mit natürlichem Hochmut:
»Heliodora siehst du, Herzogin von Trassenberg. Und wie es scheint, sollst du mein Gatte sein!«
Über ihre eigne Nichtachtung lächelnd, froh, daß eine Schauspielerin im nächsten Akt Heliodoras Zähmung darzustellen habe, fuhr sie fort: woher er komme, wer er sei. – Gregor, der erstaunte Bauer, sprang nun vom Pferde, es wurde fortgeführt, er sank aufs Knie, flüsterte: »Sakrament, Sakrament, Fräulein, wie schön sind Sie!« und ließ die Jamben des Stadtpoeten rollen:
»Wie leicht ist Fragen, – Antwort, ach, wie schwer!
Du fragst: Wer bist du? Frage, wer ich
war!
Kaum weiß ich dies; verzaubert bin ich wohl,
Ein Roß, ein holdes Weib …«
Renate überhörte den folgenden Schwall, nahm beim Nahen ihres Stichwortes den Mantel von der Achsel, schleuderte ihn über eine Schulter des Knieenden, indem sie dachte: Handeln ist besser als Reden! und herrschte ihn kühl an:
»Ich erkenne – Den Spruch des Schicksals an. Da ist mein Mantel. – Zeichen der Würde, weiter nichts. Ich selbst – Bleibe mein eigen, hörst du wohl –« Sie endete, plötzlich selbst erregt: »Mein eigen!«
Das Übrige ging sie nichts mehr an, sie drehte sich um, sah Ulrika dastehn, trat zu ihr und sagte, den Arm um ihre Schulter legend, lächelnd: »Das Stück ist aus, – nun wollen wir zu Georges, der Bauer machte Augen wie ein Dorsch!« worauf sie, zierlich und hochmütig angelehnt, wie es die Rolle wollte, mit ihr durch die Gasse ihres Hofstaats in den Wald hineinging.
»Verstehst du denn die Menschen?« fragte sie, stehen bleibend, und drückte die Handflächen lachend gegen die Wangen. »Du weißt doch, was für einen Kampf es gegeben hat, bis die Schauspielerin zugab, daß ich ihr diese paar Worte raubte, weil Georg darauf brannte, mich den Ritt aufführen zu sehn, – ja, wo ist er denn nur geblieben?«
Ulrika bückte sich zu einem Grashalm am bemoosten Wegrand, riß ihn aus und sagte nachdenklich im Weitergehn:
»Ich verstehe sie, ja. Wenn ich gespielt habe, wenn ich fertig bin und die Leute klatschen, und ich gehe hinaus und komme wieder, sooft man mich hineinschiebt, – das ist – Lärm, davon verstehe ich nichts. Aber vorher – – die Erwartung, und das Gefühl: zu können, Macht zu haben, und – das Zurechtrücken im Stuhl, und das Präludieren … ja, es ist sonderbar und ist doch so: besser spiele ich wohl nicht, als wenn ich mit dir oder sonst jemand im Zimmer allein bin, – aber anders spiele ich, ganz anders, und sie Alle spielen mit …«
Renate vergaß, etwas zu antworten, denn sie waren im Burghof; die beiden Ankleidezelte waren da, aus dem einen spähte eine Frau mit nackten Armen, eine andre ging hinein, Saint-Georges war nicht zu sehn.
»Eins,« hörte sie Ulrika sagen, »du hast es leider nicht gesehn, das war köstlich. Der Junge, den du geküßt hast, – ich sah ihn nachher unter dem Gedränge stehn, versteckt, nur den Kopf streckte er nach dir hin, und auf einmal zog er ihn zurück, sah seine Hand an, und dann legte er sie auf den Mund, – so –« Ulrika machte es vor, den Kopf in den Nacken legend, als schütte sie Beeren in den Mund. – »Danach nahm er die Hand wieder fort, schaute hinein, als ob es nun darin wäre, deckte die Hand drüber, ganz vorsichtig, und schlich sacht damit fort.«
Renate begriff noch nicht recht. »Ach, er konnte meinen Kuß nicht im Mund behalten?« sagte sie lachend. »Ja, wie alt war der Junge denn?«
»Dreizehn,« versetzte Ulrika, »er sieht viel jünger aus, weil er so klein ist. Bogner hat ihm die Rolle gegeben, er ist sein kleiner Schüler, und Bogner sagt, er könnte jetzt schon mehr als er.«
»Ja, so ist Bogner«, lachte Renate, den Vorhang hebend.
Stühle und Tische im Zelt waren mit den Teilen des zweiten Kleides bedeckt, die Zofe drängte, Renate ließ sich entkleiden, setzte sich in Unterrock und Leibchen vor den Spiegeltisch und sah über sich Ulrikas Gesicht im Glas, etwas schief, aber auch, wie es schien, sehr ernst, während ihre Hände das Perlennetz behutsam aus dem Haar lösten.
»Du siehst so dunkel aus«, sagte Renate in den Spiegel. Ulrika antwortete nicht. Erst nach einer Weile, als die Zofe sich entfernt von ihnen beschäftigte, sagte sie halblaut: » Mio marito è ritornato.«
»So …« Ihr Mann war wiedergekommen … Renate mochte nicht gern vor einer Dienerin in fremder Sprache reden und fragte erst nach einer Weile: »Anderthalb Jahr war er fort?«
Ulrika antwortete, er sei vor ein paar Tagen gekommen, sei nun in Wilhelmshaven stationiert, komme aber alsbald zum Admiralstab nach Berlin … Weiter ließ sich zur Zeit wohl nichts sagen.
Nun war auch das Haar zu kämmen und zu bürsten, die Zöpfe mit Perlen und Goldbändern neu zu flechten, dann der grade Kronenring auf dem Kopf mit weißem Flor unter dem Kinn zu befestigen. – Renate stand auf.
Die Zofe kam, auf den Armen den mächtigen Bausch des dunkelvioletten Kleidrocks. Renate, vor Ulrika stehend, fragte leise: »Was soll denn nun werden?«
Sie schüttelte traurig lächelnd den Kopf, faßte in die Falten des Kleides und zog sie nach unten, während die Zofe sie oben über Renates Kopf und Schultern auf die Hüften senkte. Dann fuhr sie in die schilfgrüne, engärmelige Tunika mit goldenen Säumen und Stickerei; Ulrika brachte einen Gürtel aus schwarzen und goldenen Quadraten.
»Den kenne ich ja gar nicht«, sagte Renate verwundert und betrachtete voll Freude die Bildnerei in den Goldvierecken, die Tiere der Wendekreise und Figuren aus den Sternen. »Seine Durchlaucht«, gestand die Zofe lächelnd, »haben ihn mir heute morgen gegeben.« Ulrika sagte nur: »Ha!« während Renate errötete und sich freute. Das war schön, das war ein schöner Gedanke, sie heute zu gürten. Sie hakte den Gürtel wortlos über den Lenden zusammen, sah das freibleibende Ende mit einer großen goldenen Scheibe daran zwischen den Knien niederfallen, dann stand die Zofe da mit den schneeweißgefütterten, goldenen Überärmeln, riesengroßen Tüten, deren Zipfel, als sie übergezogen waren, bis auf die Füße hinunterhingen.
»Bin ich schön?« fragte sie, sich vorm Spiegel drehend und zurücktretend, die händefaltende Ulrika, »ach, es ist eine Lust heute, schön zu sein! Den Mantel nachher,« sagte sie und mußte plötzlich zum Türvorhang eilen, im Gefühl, jemand stehe draußen. Die Falte hebend, sah sie wirklich den Gugelmann, streckte freudig die Hand nach ihm, erfaßte die seine und sagte leise: »Komm herein, Georges, ich bin so froh, daß du –«
Die Gugelkappe bewegte sich langsam, verneinend, hin und her. »Wir befinden uns in einem Irrtum«, sagte eine nicht völlig unbekannte Stimme; er lüpfte die Kappe über der Achsel; im Dunkel, dort wo das Gesicht war, wurde etwas häßliches Rotes sichtbar.
»Josef!« stieß sie halblaut hervor, erschreckt. Er ließ die Kappe wieder fallen und nickte. Sie sah jetzt durch die Schlitze dunkel den Schein seiner Augen, dazu auch seine Größe, da er Georges doch um einen Kopf überragte. Sie ließ seine Hand fallen.
»Komm herein«, sagte sie und trat zurück. Er folgte.
Für Minuten verwirrt, nach zwei Seiten gerissen von wünschenden, hoffenden, begierigen Gedanken, rauschte Renate in den großen Raum hinein, bemerkte einen Karton, an dem die Jungfer packte, und bat sie, einen Augenblick ins Freie zu gehn. Rauschte wieder zurück, sah den schwarzen Josef still an der Tür stehn, drehte sich um, stand und sagte kurz zu Ulrika hinüber: »Es ist mein Vetter Josef.«
Ulrika grüßte freundlich und murmelte etwas. – Renate vergrub die Unterarme in die Ärmelfalten, dachte schwirrend deutlicher an den Herzog, an ihren Onkel, warf den Kopf in den Nacken und sagte: »Ich habe damals nicht gewollt, daß du meinetwegen zum Vater gingest. Sagtest du nicht, daß du gehen würdest?« Die schwarze Kappenspitze bewegte sich bejahend. »Heute muß ich wünschen, daß du um meinetwillen gehst, meine Gedanken verkehren sich, ich weiß nicht mehr, was Recht und was Unrecht ist.«
»Wie unverständlich«, hörte sie Josef sagen. »Wenn du dir von meinem Kommen etwas versprichst für deinen Onkel, so dürfte es wohl gleich sein, aus welchem Grunde ich komme.«
»Ich wußte es längst,« murmelte Renate unwillig, »ich fühlte es.«
»Wir sind es immer,« hörte sie Josefs kühle Stimme sagen, »die alle fremde Angelegenheit durch unsre eigenen entstellen. Immer müßt ihr selber zwischen euch stehn und den Dingen.«
»Du sprichst gegen dich selbst, Josef?«
»Ich sehe, was kommt,« versetzte er ruhig, »und außerdem äußere ich eine Meinung, weiter nichts. Wenn jemand imstande ist, von sich selber abzusehn, so bin ich derjenige, – du weißt.«
Renate mußte da lächeln, heftete die Augen fest auf ihn und sagte: »Seit heute morgen bin ich die Verlobte des Herzogs.« Ihre Augen glitten zu Ulrika, die überrascht und heiter den Kopf zurückbewegte. Josef regte sich nicht; aber es verging eine halbe Minute, bis Renate etwas vernahm, das halb ein Pfeifen war, halb ein Seufzer, schwer, und doch wieder – erleichtert. Dann hörte sie ihn sagen:
»Ich gratuliere. Ziemlicheres ließ sich kaum erdenken. – Er ist ein Mann,« setzte er großmütig hinzu, kam zu Renate, sie ließ ihm die rechte Hand, er ergriff und küßte sie. Auch Ulrika kam und umarmte sie schweigend und mit Innigkeit.
»Du kommst also mit mir, Josef? Ich verlasse das Haus nicht, eh dein Vater dich gesehn hat.« Er neigte den Kopf.
»Dann fort!« rief Renate, »auf dem Festwagen wird Platz für dich sein.« Sie lief zur Tür, winkte der Zofe, die herlaufend rief, Herr Bogner ließe sagen, das Automobil stünde am andern Ende der Burg. – Sie verließen das Zelt.
Durch den Burghof, am Fuße der Mauern hin, gelangten sie zur Fahrstraße; dort, in der Nähe des schwarzen Wagens, saß auf einem Baumstumpf der rotbeinige Maler; sein kleiner Schüler lehnte ihm am Knie und zeichnete auf einem Block. Nun blickten Beide auf, der Junge sprang zur Seite und errötete tief, vielleicht weil er seine linke Hand mit dem Taschentuch verbunden hatte, und da Renate ihn sacht herbeiwinkte, kam er trotzig hergeschlendert, die Hände mit seinem Zeichenblock auf dem Rücken und mit der Miene eines jungen Hundes: es paßt mir gerade diesen Weg zu gehn … Renate fragte leise, sich zu ihm bückend: »Was hast du mit deiner Hand gemacht?«
»Mich gerissen,« log er finster und flammenrot im Gesicht.
»Laß mal sehn«, lockte sie, aber er schüttelte nur abweisend den Kopf. Da ehrte sie seinen männlichen Ernst und stieg in den Wagen, Ulrika zu sich nehmend. Die Zofe nahm mit ihrem Pappkarton den Platz neben dem Fahrer, auch der Junge kletterte zu ihr. Bogner und Josef standen noch, miteinander sprechend, zusammen, es schien, sie hatten sich schon begrüßt, – kletterten dann auf die hochgeklappten Vordersitze nebeneinander, so daß Renate Bogners Rücken und Hinterkopf vor sich hatte, Ulrika Josefs Gugelkappe. Sie rollten ab.
»Welch ein schöner, keuscher Junge, Bogner,« sagte Renate nach einer Weile, »keusche Männer sind so selten.«
Bogner, sein Profil herwendend, fragte spät: »Warum keusch?«
Renate fand nicht gleich eine Antwort, und Josef, sich herumsetzend, sagte hurtig: »Keusche Männer sind etwas Unleidliches. Ich sage nichts gegen deinen Knaben Tobias, der ja kein Mann ist.«
»Heißt er Tobias?«
»Er heißt nicht so, wird aber so genannt, weil er ein Hündlein hat und einen Engel in Bogner.«
»Und keusch ist wie Tobias,« lachte Renate, von dem Gleichnis erfreut, »oder betete Tobias nicht drei Nächte mit seinem Weibe Sarah, ehe er sie nahm?«
»Sarah, siehst du,« erwiderte Josef, »war keusch; sieben Männer mußten Todes sterben und durften nicht an sie heran, dann kam der rechte, und ›Azaria, mein Bruder‹ trieb den Teufel der Unkeuschheit aus.«
»Was ist denn unkeusch, Josef, bitte, ich habe dich so lange nicht plätschern gehört!«
»Vielleicht stehts im Tobias, Renate, du wirsts wissen.«
Renate, alle väterliche Bibelkenntnis zusammenraffend, suchte und fand: »Höre zu, ich will dir sagen, über welche der Teufel Gewalt hat. Nämlich über diejenigen, welche Gott verachten und allein um der Unzucht willen Weiber nehmen, wie das dumme Vieh.«
»Oh, verblüffend!« staunte Josef, »wie das dumme Vieh!« und Renate erkannte mit heller Freude trotz der Maske seine Lieblingsbewegung, da er über dem schwarzen Zeug mit der flachen Hand nach unten strich, und sie sah sein Gesicht darunter, ganz und heil wie je, hochgezogne Brauen, hängende Mundwinkel und trüb lächelnde Augen, während sie, Hoffnung und Zuversicht im Herzen, eifrig und skandierend fortfuhr:
»Wenn aber die dritte Nacht vorüber ist, Josef, so sollst du dich zur Jungfrau zutun mit Gottesfurcht, Bogner, mehr aus Begierde der Frucht, denn aus böser Lust, Josef, daß du und deine Kinder den Segen erlangen, der dem Samen Abrahams zugesagt ist, Bogner, – ach Gott, jeden und jeden Sonntag nachmittag habe ich Papa das predigen hören in seinem Zimmer, und dann kamen sie mit gesenkten Ohren heraus wie die Pudel, aber Papas Traugelder erhöhten sich in keinem Jahr, in keinem, und als ich geboren wurde, da sollen die Ammen das Haus gestürmt haben, Ulrika!«
Ulrika sah geistesabwesend auf und lachte gezwungen. – Mio marito … klang es Renate im Ohr, sie konnte aber ihr Lachen nicht gleich zerdrücken, sah sich vielmehr genötigt, es zu erneuern, da sie Josef sagen hörte: »Caramba, Kusine, was bist du doch unkeusch!«
»Rede weiter, Josef«, befahl sie, ihn anblitzend.
»Jedermann,« sagte Josef, »der handelt, ist gut, also Mönche, Asketen, Einsiedler. Eine Frau kann keusch sein, nicht bloß so in der eben beliebten Art: die keusche Dirne, – denn wer, Bogner, hätte sich nicht eine letzte Zelle im Gemüt reinlich erhalten? – sondern durchaus bis zu einem schönen Grade von Prüderie, nämlich: in ihrer Haltung, in ihrer Geste, in dem, was sie angreift, tut und läßt, nicht in den Büchern, die sie liest, sondern in der Art, wie sie darin liest. Was aber Keuschheit beim Weibe ist, das ist Selbstzucht beim Mann. Unterhält es Sie, Frau Tregiorni? Vielleicht wundert es Sie, daß ich mein Gesicht verhülle? Glauben Sie mir, es würde Ihnen keine Freude machen, es zu sehn. In einem Lande –«
Ja, wie er nun plätschert, dachte Renate und glaubte fast schon zu sehn, wie das weiche, leichte Geriesel die Starre seines Vaters auflöste.
»In einem Lande, wo die Gesichter weniger kostbar sind als Spiegelglas, hielt jemand es für eine Fensterscheibe, so ging es in Scherben. Erinnerst du dich übrigens an Dorian Grays Bildnis, Renate? Sein Gesicht blieb das gleiche an die dreißig Jahr, derweil seine Seele sich schandbar verwandelte. Nun sehen Sie, Frau Tregiorni, mit mir verhält es sich genau umgekehrt, obgleich ich dir damals weissagte, ich würde an Antlitz und Seele gleicherweis –«
»Du schweifst ab, Vetter!« unterbrach ihn Renate. Sie fühlte wieder die alte, stolze Dankbarkeit für die Leichte, mit der er all und jedes, nicht zum wenigsten sich selber, aufnahm und zur Schau trug, Haltung und Gebärden wie eines Tierbändigers, der einen funkelnden Jaguar auf der Achsel um die Arena trägt.
»Keuschheit«, erklärte Josef, »hat mit der Selbstzucht wie mit allen übrigen Tugenden das gemein, daß sie allesamt aufhören, Tugenden zu sein, sobald sie von sich wissen. Ach, zum Schriftsteller bald wird der einst so poetische Jüngling! Wird der Knabe zum Mann, wird er wissend, wird er klug. Eine Frau braucht nicht zu wissen –« Ulrikas Züge spannten sich aufhorchend –, »sie verfügt über die verblüffende Gabe der Willkür, diese Gabe – – es giebt ein Augenleiden, das besteht in sogenannten Ausfällen im Gesichtsfeld, das heißt in einer Lückenblindheit für eben die Stelle, die das Auge fassen will – und solche Ausfälle hat sie dann in ihrem seelischen Gesichtsfeld. Der Schmutz ist da, hell in der Sonne, aber sie sieht ihn nicht, sie sieht ihn wahrhaftig nicht, sie übersieht, was ihr mißfällt, überdenkt oder überfühlt, was ihr Empfinden verletzen müßte. Es ist nicht keusch, von Mutterschaft, Zeugung oder Liebeskrankheit nichts zu wissen, sondern es ist keusch, dergleichen auf keusche Weise zu wissen, ebenso wie es nämlich nicht genial ist, anders zu sein, zu handeln als die Andern, sondern: was jeder sein könnte, auf geniale Weise zu sein, das ist genial, – glauben Sie mir, Bogner, wenn Sie ein Genie genannt zu werden verdienen, so geschieht das aus keinem andern Grunde, als weil Sie eins sind.« Nun spricht er genau wie Georges, dachte Renate wehmütig, wo bleibt er nur den ganzen Tag? –
Josef hatte Atem geschöpft und spielte leicht und rauschend weiter:
»Nicht anders verhält es sich mit der Selbstzucht. Die Frau kann Gefahren vermeiden. Da sie nicht zu lernen braucht, sondern alles eingeboren auf die Welt bringt wie ein Tier, so weiß sie, gesetzt sie ist grade beschaffen, in jedem Notfall das Richtige und Heilsame zu treffen; sie tut es blindlings, sie verjagt als Henne blind den Sperber, sie gebiert blindlings ein Kind ums andre und kennt keine Furcht und keinen Schmerz, weil eins not ist! Der Mann muß all und jedes ganz von vorne lernen, und er kennt keinen Lehrmeister als die eigne Erfahrung. Darum sucht er die Gefahr, bildet sich an der Gefahr, nährt sich mit ihr. Er will wissen, er soll wissen, er hat sich nirgend zu verschließen, denn er soll zeugen. Wer zeugen soll, muß wählen, wer wählen soll, muß forschen, erkennen, wissen. Die Frau kann sich rein halten, der Mann kann das nicht, aber er kann sich reinigen. Die stärksten Seelen gehn am längsten fehl, las ich bei einem Dichter. Es kommt nicht darauf an, sich nicht zu verlieren; sich immer wieder zu gewinnen, darauf kommt es an. Und darauf freilich, gute Renate, daß es ein Gewinn wirklich sei, nämlich ein Mehr, nicht bloß ein Ebensoviel. Ich zum Beispiel verlor ein halbes Gesicht und verdoppelte die Spannkraft meiner Seele. Aber auch die verbliebene Hälfte meines Hauptes, sei überzeugt, werde ich nicht verloren geben, und hier endet unser Gespräch.« Der Wagen hielt.
Renate, an Bogners Hand nach rechts aus dem Wagen auf die leere und sonnige Landstraße kletternd – sie seien dicht vor der Stadt, erklärte Bogner –, fand sich nahe gegenüber einer haushoch scheinenden goldenen Wand, die fast die Breite der Straße ausfüllte und über und über mit einer leuchtenden Malerei von altertümlichen Figuren bedeckt war. Indem kam um die Ecke, staunend nach oben verdrehten Kopfes, der eine himbeerfarbene Kugel war, der Erzbischof, unterm Arm die gespaltene Mitra, ein golden und weißes Faß auf Füßen, warf gegen Renate einen verwirrten Blick, fuhr sich mit dem Taschentuch über den blanken Schädel und fuhr fort, zu schauen und zu staunen. Die Wand war in hohe und schmale gotische Flachnischen geteilt, drei oben und sechs darunter; die Umrahmungen waren von Gold, golden auch der Grund des Inneren, das die gemalten Figuren füllten. Bogner hinter ihr sagte, es sei die Rückwand des Festwagens. Die Gestalten – Heilige schienen es in reichen Trachten – waren so schön gemalt, daß sie nach dem Künstler fragte. Statt Bogners antwortete nun Josefs Stimme hinter ihr, Bogner habe sie entworfen, und Tobias und sein Hündlein hätten sie gemalt. Ja, da stand Tobias, blaß und mit ängstlich gerunzelten Brauen. Renate nahm ihn beim Kopf, lobte ihn sehr und sagte, nun müßte er ihr die Bilder auch erklären.
Es wären die neun Monate, fing der Junge an.
»Neun, Tobias, seit wann haben wir neun?«
Tobias sah verlegen zu Josef auf. »Weil es«, hörte Renate seine Stimme hinter der Maske, »nur neun giebt, mein Knabe. Ihr könnt das erstens daran erkennen, daß der Mensch sich neun Monate im Mutterleib aufhält und nicht zwölf, seine Natur müßte sich also an eine ganz neue Rechnung gewöhnen. Ihr wißt aber, daß es die Eigenschaft der Natur ist, sich an nichts und niemals zu gewöhnen. Du kannst aber auch anders rechnen, mein Junge, indem du dir sagst, daß von unsern zwölf Monaten drei keine Gezeiten sind, sondern nur Zeit, nämlich Dezember, Januar und Februar, wo die Erde schläft oder sich erholt. Im ersten Falle müßtest du jedem unsrer Monate vier Drittel seiner jetzigen Tageszahl zuteilen, und wenn du dann das Ganze durch Drei teilest, so bekämest du drei schöne Jahresstücke, die ungefähr unsrem März bis Juni, Juli bis Oktober und November bis Februar entsprechen würden, mit Werdezeit, Reifezeit und Sterbezeit. Deinen Lehrer Bogner aber siehst du hier das Jahr mit dem Frühling, mit dem März beginnen, einem schönen Sankt Sebastian, dessen Stricke gesprengt zu seinen Füßen liegen, der ins Goldgewölk lächelt, und dessen Leib und Marterstamm über und über gespickt sind mit farbigen Krokus, Schlüsselblumen, Hyazinthen und Narzissen, in die sich die Pfeile oder Hagelgeschosse des Winters verwandelt haben, – aber, Renate, es wird Zeit, wenn du den ganzen Wagen noch beschauen willst …«
»Nein, diesen noch,« bat Renate entzückt, »das scheint Sankt Christofer –« sie zählte ab, »– Oktober, warum Oktober?«
»Siehst du nicht,« sagte Josef, »daß es nicht Sankt Christofer ist, sondern der griechische Gott Herakles mit seiner Keule, der den kleinen Dionysos-Christus auf der Schulter trägt, Weinlaub im Haar, und daß es die große, blaue Traube in seiner Kinderhand ist, die dem Alten so viel Beschwerde macht? Du kannst es dann bei Hölderlin nachlesen.«
»Was doch dieser Maler alles weiß!« lächelte Renate verwundert und bemerkte, sich umdrehend, ihre Zofe, welche die goldene Wand ihres Mantelfutters entfaltete. Sie ließ sich den dunkelblauen Mantel auf die Achseln legen und wollte den hohen, nach außen gebogenen Kragen der Wärme wegen offen lassen, aber nun bat Josef: »Einen Augenblick!« hakte den Kragen zu, raffte die dunkelblauen Falten unten, belud ihr den linken Arm damit, spreizte auch leicht die Finger der Hand unter dem Bausch, trat zurück und sagte: »Erstaunlich! Wem gleichst du nun auf ein Haar?«
Renate, an sich herunterblickend, meinte: »Der Naumburger Uta? Seh ich so hold und kindlich aus?«
»Oh, sie hat ja auch keine Zöpfe,« sagte er, »aber die Hand mit dem Bausch und dem Faltensturz und die blaue Farbe, das ist kostbarer als der alte graue Stein. Komm weiter!«
Er zog Renate um die Wagenecke, aber sie prallte heftig zurück, denn dort hinten, vor den riesigen Wagen geschirrt, standen zwei Elefanten, nein vier, nein sechs! zu zweien hintereinander, Ungetüme von hellgrauer Farbe, seltsam von einem rötlichen Hauch bedeckt, und von Josef hingezogen, sah Renate, daß es die künstlichsten Ornamente, Ranken, Blumen und Tiere waren, mit feinem, rotem Pinsel aufgetragen.
»Dein Ritter Georg hat es so gewollt,« äußerte Josef, »man macht es so in Indien, aber ohne meinen Chinesen hätte er es nicht bekommen.«
»Chinesen? Ach, der auch deine Maske –«
»So hast du sie gesehn? Sie taugt nicht viel, außer bei Dämmrung,« meinte Josef, »aber der Brave liebt mich sehr und brachte sie eines Tages an.«
Renate fuhr in diesem Augenblick, langsam weiter schreitend, von einem Anblick zusammen, dessen Art und Gewalt sie fürs erste gar nicht begriff. Wo war sie denn? Ein schneeweißes Tier hielt ein langes weißes Horn auf sie gerichtet … Auf der leeren Straße, einsam in einem weiten Kreise von seltsam bunten Menschen, stand, die Vorderhufe zierlich eingestemmt, milchweiß – das Einhorn. Das Legendentier, das heilige, – am Nacken breit fiel das gewellte Tuch der weißen Mähne nieder, vor der Stirne, gerade auf Renate gerichtet, stand – wunderbar – die lange Düte des großgewundenen weißen Horns.
Schauder von Furcht, Schauder von Süße durchwirbelten Renate; sie faltete die Hände, ihr ward glühend heiß und jetzt auf eine unerklärliche Weise furchtsam, immer furchtsamer zumut, bis es sie kalt durchlief und sie sich ermannte. Da stand Josefs schwarze Gestalt mit unsichtbarem Kopf neben ihr, unheimlich genug, aber, kaum wissend, was sie tat, trat sie dicht vor ihn hin, drängte sich an seine Brust und sagte angstvoll zu den Augenschlitzen hinauf:
»Was will das Tier, Josef? Oh, Josef, das schreckliche, heilige Tier!« Seltsam fern hörte sie Josefs Stimme:
»Erkennst du denn deinen Schimmel nicht wieder, Renate? Das Horn ist Papiermasse und mit einer kleinen, silbernen Platte befestigt, siehst du?«
Sie lächelte nun, denn er sprach ihr zu wie einem Kinde. Nachdenklich stützte sie das Kinn in die linke Hand, den Ellbogen in die Rechte setzend, und betrachtete das Wunder, wie es den Kopf senkte und aufwarf und das weiße Horn stieg und fiel. Die Stute war so viel kleiner geworden und sah zugleich mutwillig, fromm, klug und ganz und gar fabelhaft aus.
»Welch gutes Herz du doch hast, Renate,« hörte sie Josef sagen, »aber das kommt davon, wenn man nie ins Theater gehn will, dann nimmt man alles für Natur.«
Sie lächelte zerstreut. Dazu die Trachten ringsum, tiefes Mittelalter … Ein wenig entfremdet wurden für Renate all diese Edelleute, Frauen in Mänteln und engärmeligen Tuniken, diese Mohren in reichen Gewändern, Sarazenen, durch ihre Buntheit, da sie eben noch das graue Mittelalter der steinernen Uta vor sich gesehn, aber nun wurden es schon die alten Evangelienbilder Stefan Lochners und der namenlosen Meister von Cöln und Niederland, und schließlich erschien langsam die neue Zeit in den von der Tracht veränderten Zügen der Gegenwart, zudem in einem Schwarm von Negerknaben in dunkelblauen Hemden mit kleinen goldenen Kardinalskäppchen auf dem Kopf, die, sich balgend, über das Feld zur Seite dahinstoben. Ah, die gehörten wohl auf den Rücken der Elefanten, wo auf kleinen grünen Schabracken dunkelblaue Enziankelche, wie Kessel groß, befestigt waren. Nun sah sie auch die Straße hinab das wogende Getümmel, hochgetürmte Wagen hintereinander, seltsame, riesige Puppen, Tiere, Berittene in Kettenhemden und ringsum den Hain der Masten, Fahnen, Wimpel und Banner in allen Farben, vor allem den heiteren Blau, Weiß und Grün, und dieser Strom war am Straßeneingang links und rechts flankiert von den fensterlosen Ziegelwänden zweier Neubauten wie von den Wänden eines Steinbruchs. Die Häuserfronten an der Straße waren kaum sichtbar vor hangenden Fahnentüchern, Teppichen und den Gesichtern und Oberkörpern in allen Fenstern. Gläsern wie über Korn oder Haide flackerte darüber die Sonnenluft in den heißen, blauen Himmel.
Josef mahnte, den Wagen zu besteigen. Sie wandte sich, – sieh, da stand auf der untersten breiten Plattform, – mit buntem Steinmosaik belegt, zwei Schuh hoch über dem Pflaster, – der riesige Erzbischof mit dem Krummstab auf einem flachen Podium, eine weiß und goldene Glocke, die gespaltene Mitra noch in der Hand. Ritterlich bot der dicke Mann – in Wahrheit der Postdirektor, sie kannte ihn vom Sehen – ihr die Hand, sie stieg die Stufen zur Plattform empor und stand vor einer Terrasse in fünf Streifen, breit von der obern Plattform droben herunterströmende Gefälle von mannshohen Lilien, drei, an den Seiten und in der Mitte; dazwischen die schmaleren, goldenen Streifen waren sechs oder sieben, fußhohe Stufen mit goldenen Geländern. Darauf kämen viele holde Jungfrauen zu stehn, erklärte Bogner, der plötzlich wieder da war und ihr nach oben verhalf. Im Hinaufsteigen sah sie die obere Plattform; zwei schwarze, überlebensgroße Reiher standen da links und rechts, die scharfen langen Schnäbel senkrecht eingestellt, und in der Mitte ein goldner Sessel ohne Rückenlehne vor einer ganz goldnen Wand von drei grünspangrünen gotischen Bögen, die blendend glitzerte, mit gehämmertem Goldblech belegt. Ja, dieser Georg! Wo war er nur geblieben? – Er hatte scheinbar Wert darauf gelegt, daß alles an diesem Wagen echt sein sollte. Ganz verwirrt ließ sie sich zwischen den Reihern nieder, aber nur um jählings zusammenzuschrecken von dem unverhofft schwindelnden Niedersturz ihres Blickes aus dieser Höhe. Sie mußte sich halten und sammeln, die Lilienkatarakte wimmelten schon von bunten Mädchen, Kränze im Haar und lange Lilienstengel in den Händen, unten der Erzbischof war klein geworden, klein sogar die Elefanten, und klein wie ein Zwergtier stand vor ihnen die Stute in der Tiefe, jetzt von Renate abgekehrt, an langen, dünnen Goldketten den Rüsselungetümen vorgespannt. Aber kühn geworden jetzt, wie eine Seeschwalbe schweifte ihr Blick über den wogenden Strom der Straße, wegschnellend über Bannerwälder in die Täler der brodelnden Menge des Zuges und der Zuschauer tief hinunter, zu kleinen Gesichtern, Händen, Schwertern und Blumen, hundert durchschatteten, flimmernden, beweglichen, hundertfach wechselnden und sich verändernden Farben, und jählings durch ein riesenhaft erschreckendes, in die Flucht schlagendes Wanken, Schwanken, Wogen und Gebausche von Fahnen über Fahnen hoch hinauf in den Himmel rechts, anprallend, zurück und um taumelnd vor einer gigantischen, still im Azur hangenden, smaragdgrünen Raupe, von deren Bauchseite lange blauweiße Fahnentücher in sachter Faltenbewegung nach unten hingen, zum Lachen schön und gelassen und deutlich mit jeder Schattenregung auf einem der Farbenstreifen, – und schon – weit in die Ferne davongeschossen, kreiste ihr Blick um eine andre, in der Entfernung kleinere Raupe, schneeweiß blitzend, unterwärts behangen mit langen Purpurtüchern, und schließlich verging ihr das Schauen an einer flimmernden goldenen Riesenkugel hoch über dem Dächermeer der Stadt.
Gottseidank, da lächelte und nickte Ulrikas Gesicht aus dem Schwarm der Frauen herauf. Und sieh da, zu ihren Füßen kniete ja Bogner, mit den violetten Falten ihres Kleiderrocks beschäftigt, die er – ganz mit den Bewegungen eines gefälligen Ladeninhabers – um ihre Füße die Stufen hinunter in gebrochene Wellen fallen ließ. Blutrotbeinig und schwarzbewamst – Bogner war doch sehr vertraueneinflößend, und obendrein wand sich auch jetzt mit vieler Mühe ein schwarz Geharnischter durch die kreischenden und sich windenden Mädchen, unter dessen Topfhelm das graue und heiße Gesicht des Erasmus sichtbar wurde, ungemein passend zu diesem Rahmen von Helm und stahlmaschigem Halskragen, der fest das Kinn umschloß. Nun war er oben, lachte vergnügt, indem er Renate die Hand hinstreckte, und setzte sich alsbald zu ihren Füßen links auf die oberste, frei gebliebene Stufe. – Bogner ordnete noch ihre blauen Mantelfalten, daß der Goldstoff seines Futters und ihrer Überärmel sichtbar wurde, turnte dann durch die Frauen nach unten und setzte sich auf den Wagenrand unterhalb des Erzbischofs neben sein Henkerbeil, das auf dem roten Mantel lag, so daß seine Beine herunter hingen. Im selben Augenblick fühlte auch Renate schon, daß sie sich bewegte. Die Elefantenbeine in der Tiefe schritten; eifrig, vornübergebogen mit stählernen Schenkeln zog das weiße Pferd an, und unaufhörlich im Auf und Nieder zeigte sich und verschwand das lange Horn.
Sanft, kaum schaukelnd auf weichen Rädern fühlte Renate sich hinbewegt in der Höhe des ersten Stockwerks an den Häusern vorüber. Sie freute sich, alle Furcht war verflogen, sie lächelte heiter und gelassen, als nun wieder der Jubel, unten überm Pflaster und die langen Reihen der Fenster und Balkone hinunter, aufbrach bei ihrem Nahen, immer neue, weiter wallende, voraufeilende Bewegung, geschwungene Hüte und Tücher, winkende Hände, hundert und tausend eifrige Arme, hundert und tausend staunende, bei ihrem Anblick sich einander zudrehende und zurufende Gesichter, Augen und schallende Münder, so viele immerhin, daß die Häßlichkeit nicht eines einzigen sich gewahren ließ, wenn es sie gab. Zu ihren Füßen Ritter, Bischof und Henker, die Träger ihrer Macht, gezogen von Fabel- und Legendengetier, – es war eine sonderbare Wanderschaft durch die Stadt. Sie hatte nie dergleichen geträumt, aber wie töricht war es auch, zu erschrecken! sie mit Heiterkeit und Gelassenheit zu ertragen, war das einzig Mögliche, das Nötige mit Anmut zu leisten. Wie war sie nur dahineingeraten? – Sie konnte sich im Augenblick nicht besinnen, jedoch wurde nach einer Zeit das Gesicht des Herzogs hinter diesen transparenten bunten Wänden sichtbar, sie nickte ihm zu und sagte: Guter Woldemar, so komme ich nun zu dir, was sagst du denn dazu? – Ein großer Mummenschanz, Renate, hörte sie ihn gutmütig murren.
Jesus, wie schwefelgelb war diese Riesenfahne, zehn Meter lang gewiß, die der Kerl da auf dem Schornstein schwenkte. Da bog der Wagen um die Ecke, langsam, langsam in eine breitere Straße hinein, die nun unabsehbar vor ihr dahinrollte, ein tosender Strom, kochend von Sommerhitze und Geschrei, brodelnd, überschäumend in Blumengirlanden, Teppichen, Teppichen, Fahnen, Fahnen, Fahnen, schlagenden, Schatten groß niederwerfenden, brandend aufwärts, klatschend und spritzend die steilen Ufer empor, über Gesichter und Gelächter in die Fenster, in die Zimmer hinein und wieder hinausgeschüttet mit vollen Händen: es regnete Blumen. Renate fühlte ihren Aufschlag auf Kopf und Schultern und Schoß, um sie her bedeckte der Boden der Plattform sich mit kleinen Sträußen, einzelnen Rosen, Reseden und Kornblumen, ununterbrochen kreuzten sich in der Luft vor ihr von beiden Seiten die Sturzbögen des bunten Regens, die Mädchen schleuderten sie wieder nach den Seiten empor und nach unten, Erasmus – da hatte er den ganzen Helm voll gesammelt im Arm und schien begeistert und schleuderte Blumensträuße, wohin sichs schleudern ließ, mit ungeheurem Eifer. Unübersehbar vor ihr wankte die Wagenreihe, ohrbetäubend scholl das Gebrause, Toben und Gelächter, in Lüften tauchten auf und schwebten vorüber andre Ungetüme, Lindwurme mit beweglichem, feuerzüngigem Rachen und schlagenden, gezahnten Schweifen, aus der Gondel eines drohend und gewaltig daherlenkenden schneeweißen Luftschiffes regneten blitzende Schauer grünweißer Fähnlein, ein feuerfarbener Flieger, ein zitronengelber mit blauen Ringen, ein flammendblauer, schlugen herzbeklemmende Kreise, schleuderten sich in schwingenden Bögen durcheinander und hoch davon, wieder rollte zu Renates Füßen der Strom, der tausendstimmige, und wieder, in seiner Einsamkeit immer wieder fremd und ganz Legende, erschien das weiße, gehörnte Tier, ein kleiner Knabe in himmelblauem Kaftan ging daneben mit einem Mandelzweig, jetzt sah sie es erst, aber sonst schien alles sich fern zu halten, immer schritt es in freiem Raum, immer voll Eifer in seiner Arbeit, als schleppe es die sechs rüsselschwingenden Riesentiere auch, die ihm großmütig nachschritten. Da warf jemand von einem Eckbalkon einen ganzen Schwarm weißer Tauben in die Luft, daß es überall von geschwungenen Flügeln blitzte; eine, zwei, dreie strichen, laut flatternd, dicht über und vor Renate dahin; sie hielten Blumen in den roten Krallen. Ach, da unten saß ja dieser geduldige Bogner auf dem Wagenrand! Was tat Bogner? Er hielt eine Banane in der linken Hand, zog mit der rechten das Fell sorgsam in Streifen nach unten und biß hinein mit Behagen, während er schon mit der freigewordnen Hand nach einer neuen griff, denn ein ganzer Haufen davon lag in den auseinandergeschlagenen Falten seines roten Mantels.
Welch süßer Wohlgeruch aber, welcher feuchte Regen von Frische umstäubte mit einem Mal ihr erhitztes Gesicht? Ah, diese Reiher! Da stießen sie in Pausen haardünne Silberstrahlen aus den Pfeilschnäbeln in die Lüfte, wo sie zerstäubend Kühle und Erquickung nach unten regneten. Dieser Georg hatte an alles gedacht. Aber wo war er denn? Diese Fahrt mit ihr zu machen, war doch sein ganzes Trachten gewesen … Herr des Lebens, und nun tat sich der Boden vor ihren Füßen auf, eine Klappe schlug hoch, und herauf stiegen schwarze Gugelkappe, schwarze Schultern und Arme, die Josef, Renate den Rücken wendend, zu beschwörender Gebärde über die Tiefe ausbreitete. Wie der Teufel aus dem Kasten, dachte Renate, lachend und entrüstet mehr als erschreckt, raffte ihr Kleid und stieß ihm die Fußspitze zwischen die Schultern. Seinen Namen zu rufen, verhinderte sie sich rechtzeitig, gewahrte freilich mit einem Seitenblick, daß Erasmus weiter unterhalb so in seinen Blumenschleuderkampf verwickelt und vertieft war, daß er von dem Auftauchen seines Bruders nichts merkte.
Ob das auch zum Programm gehöre, fragte Renate leise, sich vorbeugend, da Josef sich langsam zu ihr umdrehte.
»Nicht eigentlich,« hörte sie ihn raunen durch das Getöse, »ich sitze unten bei dem Mechaniker und der Musik und wollte mich nur überzeugen, ob die Reiher ordentlich arbeiteten.«
»Musik?« fragte Renate erstaunt.
»Ja, hast du sie nicht gehört? Gieb acht, sie fangen gleich wieder an!«
Die ganze Luft war zum Bersten und Reißen gefüllt mit Musik, Fanfaren, Märschen, Glocken und dem menschlichen Gelärme dazu, aber jetzt plötzlich prasselte, rasselte und stampfte aus der geöffneten Klappe ein seltsam barbarisches Getöse von gestopften Hörnern, Fagotten, Becken und Schellen. Vor Josefs Gesicht bewegte sich das schwarze Zeug, aber Renate konnte nichts mehr verstehn. Die Gugelkappe nickte und tauchte langsam in die Tiefe, die Klappe fiel, gedämpfter scholl die Janitscharenmusik und verging im übrigen Brausen.
Jetzt, da sie erst des Getöses bewußt geworden war, ermüdete Renate schnell. Ihre Ohren weigerten sich, ihre Augen ebenso. Neue Taubenschwärme, neue Luftungeheuer, rosige und schwarze Fische mit ungeheuren, schleierartigen Schwänzen und Flossen, neue Riesenraupen, Paradiesvögel, Böllerschüsse, Kanonenschläge, Glocken, Schreie vernichteten allmählich alle Empfindungen, sie saß kalt und matt, aufatmend, da am Ende der verengten Gasse der Marktplatz sichtbar wurde und die blumenbunte gotische Front des Rathauses; bald hielt ihr Wagen vor der Treppe, allein; der übrige Zug war abgeschwenkt, um von andrer Seite her vorbeizuziehn.
Irgendwie nach unten gelangt, fühlte Renate mit schwachen Beinen das Pflaster unter den Füßen, als sei sie von einer Seefahrt gelandet, jetzt schwankend auf festem Boden. Irgend jemand half ihr die Seitentreppe zur Empore hinauf, sie fand sich in einem Saal, sie saß in einem Sofa, vor ihren Augen kreiste es und zuckte, ein Glas berührte ihre Lippen, sie sah aufblickend Ulrikas gute, besorgte Züge, trank und schmeckte kühle Limonade von Zitrone. Vor ihr stand der gute Erzbischof, ein Weinglas in der Hand und zu Tode erschöpft, auch den Spielleiter sah sie und sagte ihm ein paar Worte, da er nach ihrem Befinden zu fragen schien. Sie hatte sich nun wieder und war bereit, den Vorbeizug abzunehmen, aber nun fehlte die königliche Hoheit. Der Darsteller des bäurischen Herzogs erschien in großem Krönungsornat, bereit für Georg einzutreten, wenn er ausblieb. Sie warteten.