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Neuntes Buch
Charfreitag
oder
Die Eltern

 

 

All dies stürmt reißt und schlägt blitzt und brennt
Eh für uns spät am nacht-firmament
Sich vereint schimmernd still licht-kleinod:
Glanz und ruhm rausch und qual traum und tod.

Stefan George

 

 

Erstes Kapitel

Georg

Unermüdlich wanderten die Gedanken.

Georg, mit den Füßen ebenso unermüdlich, wanderte das kalte kleine Helenenruher Zimmer ab. Im Winkel neben dem Fenstervorhang strömte die alabasterne Schale ihr immer gedämpftes Licht aus, in einer Stetigkeit ohnegleichen, die Georgs Auge zu Boden schlug, wenn er ihrer gewahr wurde. Im ständigen Hin und Wider die kurze Strecke durch den Raum streiften seine Blicke unteilhaft Wände und Gegenstände des Kindheitszimmers, die ihm, so wenig ers inne ward, mit Alterslosigkeit und Unwandelbarkeit doch der letzte Halt waren, nicht aus sich herauszufahren, ein unseliger Wirbel, von sich selber zerrissen. Die Nacht war laut. Frühling und Winter schlugen die letzte Schlacht in der Finsternis, und unter einem Sturmwind, der selber von unheimlicher Lautlosigkeit war, tosten die Bäume des Parks, die ferne Stimme der See überbrüllend; das ganze Haus mitunter bebte und verriet knackend seine Fugen. Georg lief, in so rastloser Bewegung wie ein Gesteinsbohrer sich hineinschraubend in den Gneis seiner Ratlosigkeit.

Auf dem Schreibtische vor dem Fenster lagen und standen in dem stillen nächtlichen Licht die Gegenstände der Kindheit, vom gegenwärtigen Augenblick wie von der Vergangenheit unberührt. Aber mitten in ihrem unangefochtenen Stillesein lag das Brennende, die schwälende Fackel, aus der jeder seiner Blicke im Streifen einen neuen Schluck verzweifelter Gluten schöpfte: lagen die wiederaufgefundenen Briefe an seinen Vater – eigentümlicherweise von ihm selber scheinbar in diesem Schreibtisch nur deshalb versteckt, damit er sie fände –, die aus den höllenhaften Septembertagen des Vorjahres. Georg hatte sie gelesen, sich ins Bett geschlagen vor Entsetzen und sich nach endlos flammenden Stunden der Schlaflosigkeit an die Wanderschaft durch den Raum gemacht, entschlossen, noch in dieser Nacht fertig zu werden mit diesem und sich.

Das allerdings, was ihn zuerst aus den Briefen entsetzt hatte, der Irrsinn, das Wiedereintauchen in die Folter von damals, war nun längst schon verschwunden hinter einem mehr würgenden Elendsgefühl. Denn was stand da geschrieben, Zeilen, die sich eingebrannt hatten in sein Hirn, in sein Herz? ›So müßte es mir in der Tat gelungen sein, die ganze Oberschicht menschlichen Daseins, die uns gemeinhin bedeckt, abzukratzen, die ganze moralische Haut sozusagen, jene, in der auch das sogenannte Gewissen steckt, das Alltagsgewissen, nach dem man so behaglich lebt, dieweil es mit Gründen für alles vollsteckt wie ein Brombeerbusch im Oktober. Möglich es ist so. Möglich, das qualvolle Unbehagen, das mir das jetzige Leben verursacht, kommt davon, daß ich die Haut verlor und nun schauderbar friere in der Nacktheit. Worauf es ankäme, wäre dann wohl, nicht, wie ich es unbewußt bereits vorhaben werde, eine neue Haut zu bilden – die nur die alte werden könnte –, sondern vielmehr den Zustand der Hautlosigkeit als dauernden zu ertragen, mit Frieren aufzuhören, ihn lebensfähig zu machen.

›Wie soll mans nennen? Nur – Mensch zu sein. Alle Strahlen des Lebendigseins aufzufangen – mit keiner spiegelnden Netzhaut, die Bilder hervorfluten läßt und verwirrende Gestalten –, sondern sie aufzusaugen in den innerst glühenden Kern des Menschseins, wo sich von selber zu ätherischer Reine und Klarheit die ewigen Begriffe bilden, die zeitlosen, die unwandelbaren Formen, in denen die Gottheit sich darstellt.‹

Und schlimmer noch diese Sätze:

›Gnädiger Gott, der du bist! Wenn es denn möglich sein soll, wenn es aus alldiesem noch einen Weg geben soll für mich, so bewahre mich vor dem einen: ja, wahrlich, wenn ich auch mit Blut und Knochen, mit all meinen Sinnen und Übersinnen wieder hinein muß ins Alte, – so sei mir gnädig und verhilf mir zu dem Einen: nicht der Gewohnheit wieder anheimzufallen mit meiner Seele! Daß ich meine eignen Gedanken sehe wie Sterne, meine eigenen Gefühle wie Blumen; daß ich nicht dem Ungefähren nachtappe, wie ich das Pferd Unkas sich selber nachtappen sah in den ewigen Stall!‹

Ja, gnädiger Gott, war es faßbar, war es nun nicht doch geschehn, war er nicht ganz wieder der alte, hatte er sein Leben geändert? – Seine Gedanken jagten wie herrenlose Hunde in den letzten Monaten herum, suchend nach einer geringsten Veränderung gegen früher. Nichts da, nichts! Da war ja auch keine Zeit zum sich Ändern; da war ja nur von Arbeit ein Ozean, in dem er so hülflos herumpaddelte wie ein Pudel, und – Ich weiß was! knurrte er wild: Wenn du echt wärst, Georg, wärst, der du scheinst, so wärest du ruhig, verlebtest nicht Tag und Nacht in hundert Ängsten vor unerledigten Aufgaben, hättest ein gutes Gewissen, hättest auch Vertrauen zu denen, die du verständig weißt, um ihnen das Übermaß des Deinen zuzuschütten, anstatt daß du nun keine stinkende Ratte von Angelegenheit vorbeilaufen lassen kannst, ohne sie an die Nase zu führen. Also bist du verflucht, mein Prinz, mußt dir selber die Zeit wegrauben, und alldas, alldas von Anfang her, ist deine Schuld!

Herr des Lebens, und sollte er nun glauben, daß jenes Fegfeuer des Irrsinns im vorigen Herbst keinen Sinn gehabt hatte, als einmal zu brennen und zu verlöschen? Ungereinigt war er herausgestiegen ins vorige Sein. – Wie es da ausgedrückt war: den Zustand der Hautlosigkeit zu einem dauernd erträglichen auszubilden, so wars eine poetische Redefigur; eine Haut mußte sich wieder bilden, aber: ein Zeichen, ein winzigstes, mußte doch zu entdecken sein an der neuen Haut, erkennbar zu machen, daß sie neu war.

War er ein andrer Mensch? Hatte er irgendwas gewonnen?

Seine Phantasie, auf der Suche, geriet sofort an Renate.

Da stand, als er nach der Ankunft in Böhne aus dem Bahnhof ins Freie trat, im Zwielicht das Viergespann, das Magda, ihn festlich zu empfangen, vom Gestüt hatte herausfahren lassen, und drin saß sie mit Renate, gut aussehend, heiter, noch angebräunt vom italischen Frühling, und Hut und Kleidung schienen gefälliger als früher. Renate unkenntlich vor Schleiern … Er aber empfand Lust, zu kutschieren, und stieg auf den Bock.

Es dämmerte schon, als die Stadt hinter ihnen zurückwich. Weit vorauf sichtbar die weiße gewundene Straße schien seltsam leidend; weit und verlassen die grünen Gefilde der Wiese, verloren im Abend; vereinsamt in ihrem Dunkel die kleinen Wäldchen fern unter den lastenden schweren Wolkenmassen des ruhlosen Himmels. Tropfen fielen und eintönig die Schläge der vielen trabenden Hufe, ein trappelndes Durcheinander. Und noch im aufatmenden Gefühl, daß er sich nicht mehr beeinflussen ließ von Landschaft und Witterung, wie früher, daß er sie nur um sich her sein ließ zum Beschauen, wandte er sich um, und da saß Renate, Schleier und Hut im Schoß, das Antlitz zur Seite gewandt aus dem Wagen, still, und Tränen liefen naß und glitzernd aus ihren Augen. Ihn streifte sie mit einem flüchtigen Blick, einer verlorenen Bitte, und fuhr einfach mit Weinen fort.

Nun sah er wieder die süßen Farben des einzigen Gesichts, das glänzend rinnende Blau der Augen, das bräunliche Haar, die Blüte der Wangen, – sah es in seiner Vereinsamung mitten im immer dunkleren Kreis des Landes. Der Himmel verfinsterte sich mehr, das Land schwand in der Dunkelheit der Fernen, lauter scholl das Trotten der Hufe, steif in den Händen die Riemen fuhr er dies Weinen durch den Abend hin, und ihm war, als führe er Persephone weinend über das seufzende Land, er, Hades, seinem trostlosen Hause zu.

Das lag dann plötzlich, erhöht über die schwarze Masse des Waldes, aus dem es zu wachsen schien, schwarz mit den Türmen vor dem düsteren Westhimmel, in dem noch geheimnisvolle Röten glühten in Streifen, wie von Bränden und nicht von Sonne.

Beim Aussteigen nahm sie nicht nur seinen Arm, sondern stützte sich sogar, ihres verstauchten Fußes wegen, und er empfand körperlich ihre Weichheit. Daß er sie einmal führen und stützen müsse, hätte er nie gedacht. Beim Essen dann konnte er alles sehn: die Hoheit von einst, den magischen Kreis um sie her, den er immer gefürchtet hatte, und der jetzt durchwirkt war von Weichheit, einem hülflosen Schmelz, für ihn schmerzhaft verlockend und von kaum erträglicher Süße.

Dann erschien Benno, verlegen und strahlend …

Wie, Benno? Das hatte er vergessen, mit Benno hatte sich etwas zugetragen, aber das war nachher zu bedenken, erst weiter – Renate …

Magda sang auf seine Bitte, oben im Klaviersaal am Harmonium, zwei der ernsten Gesänge von Brahms.

Indem fiel Georg ein, daß der Geburtstag seiner Mutter bevorstand, und seine Brust zog sich leise zusammen, halb in Scham, daß er jetzt erst ihrer gedachte, und mit einem jähen und schweren Gefühl des Vermissens sah – nein, empfand er ihr leidvolles Dasein und ganz stark ihre vereinsamte Liebe zu ihm. Wieder brannte ihm das Herz, er dachte Emmaus, und er stöhnte plötzlich unter einer siedenden Woge Leides, eigenen Leides im letzten Jahr, die über ihn hinschlug. – Es geht vorüber, murmelte er dumpf und geduldig, es geht vorüber …

Wieder erschien ihm Benno, wie er dastand hinter seinem Stuhl, die Lehne in Händen, und sich wand und verteidigte.

Also das wars, er komponierte eine Oper. Nein, erst war das mit George, wie kamen sie darauf? Ja nun, wie das so geht … Menschen, die sich lange nicht sahn und vieles erlebten, wovon zu reden wäre, greifen vielmehr nach dem Unpersönlichen. So sprachen sie von Literatur, von Stefan George, und was hatte er gesagt, dieser verfluchte Benno? Er hatte den »Gehalt« vermißt an George. – Da vermißte einer Gehalt am Marmor, dessen Eigenschaft es ist, Marmor zu sein durch und durch. – Georg war sprachlos.

Ja, richtig, Benno bewunderte ihn, George, aber er erschütterte sein Herz nicht. Es fehle am Menschlichen irgendwie. Gewaltig, ja, oh natürlich, und er gab überhaupt alles zu, wie immer, und er sei im Unrecht, das wisse er wohl, aber er könne sich nicht helfen, – und lobte darauf Gerhard Hauptmann. Georg staunte baß und gab zu: Michael Kramer, Florian Geyer und vielleicht das Friedensfest, mehr um keinen Preis, worauf Benno eine schmächtige Hymne sang auf das Hannele, indes Georg begriff und ihm auf den Kopf zusagte, daß, wenn ein Mensch zu ihm träte und sagte, das Menschenherz ist voll Tränen und Sehnsucht, er schon jubelte und schrie: Ecce poeta! Oh uralte Verwirrung der Begriffe, denn wo Welt und Schicksal und Not und Überfeuer zusammengepreßt seien in eine eherne Musik der Sprache, da stehe er leer und dunstig. – Kein Zentrum in ihm, das ists, murrte Georg. Vor sechs Jahren las ich das erste Gedicht von George, verstand ihn vor Jugend noch kaum, und seitdem, Jahr um Jahr, wieviel, wie vieles ist abgefallen und verwelkt, all die Dehmels und Hauptmanns und Wedekinds, bei denen man damals sich freute und meinte, es genüge, wenn da etwas sei, – aber er – und noch Hölderlin –, diese Beiden gingen immer mächtiger und strahlender auf wie die Sterne mit der tieferen Nacht. Die sind freilich nicht leicht zu tragen, aber wer sich nie mit ganzer Kraft um das Leben mühte, wie will der das Wahre gewinnen an der Kunst?

Denn Benno, der komponierte nunmehr glückselig eine Oper. Eine Spieloper? Keineswegs, sondern ein stolzes Musikdrama, und gar war er sichtlich enttäuscht, keine glückwünschende Zustimmung zu erhalten, und gar endlich auf einen Text, den ein Freund oder Vetter seiner Elfe, Schriftsteller, hergestellt hatte aus einer Erzählung von Riehl. Bei den Göttern, so wars, damit nur alles zusammentreffe: Musikdrama und Dramatisierung eines epischen Stoffes, – alle Notwendigkeit beim Teufel! Georg stand wütend auf.

Du, Benno, hielt er plötzlich seine Rede aufgebrachter noch einmal, hast du denn alles vergessen von damals? War dir alldas etwa nur wert, gefühlt und gesungen zu werden? Nichts als Sentimentalität? Nun sind wir Männer und hätten zu zeigen, was wir gewannen, und ich, Benno, ich hab auch Verse gemacht und mich für einen Dichter gehalten; als ich aber einsah, daß es nicht das Ganze war, da verzichtete ich. Hast du, frommer, weicher Mensch, denn nun in Wahrheit keinen Weiser in dir für das Echte? Daß es nicht genügt, dies und jenes zu tun, weil es sich tun läßt, und es nur möglichst gut zu machen, sondern daß es die Aufgabe ist, auch zu lassen? zu prüfen erst und dann zuzugreifen? Da haben eine Menge Leute Musikdramen geschrieben, die Form des Musikdramas steht dir als praktische Möglichkeit leibhaft vor Augen, und sofort hast du vergessen, was du sehr wohl weißt – sehr wohl, Benno, nach früherer Aussage! –, daß du eine Schande begehst, daß du die Musik, den reinen Engel, erniedrigst und entstellst, indem du sie zu dem einzigen verwendest, wozu sie nicht da ist: auszudrücken! Etwas auszudrücken, was sich auch auf andre Weise ausdrücken läßt, Geräusche der Natur, oder durch Handlung und Wort auf der Bühne! Oder das simpel Menschliche auszudrücken, Leidenschaft, Klage, alldas zufällig Tatsächliche, anstatt das himmelhaft Zeitlose! Aber freilich, du mußt auf das Praktische gerichtet sein, mußt auch Geld verdienen für deine Frau, und darum siehst du nichts als die Verlockung des prächtigen Librettos, und daß es halt Musikdramen giebt, und ergo, daß die möglich sind, und fragst wie der Galizier: Gott über die Welt, warum soll ich nicht? – Und daß es an dir ist, alle zehntausend hundsföttischen Möglichkeiten durchzusieben bis auf die eine, die Notwendigkeit heißt, das – – ah, mein Benno, jetzt schwant mir etwas ganz Böses! Wenn wir dazumal einer Meinung gewesen sind, so waren wir doch nicht eines Herzens, und zwar meintest du das gleiche wie ich, aber du meintest es auf andre Weise! – Das wäre des Teufels.

Und ich, mußte er sich jetzt wieder fragen, bin ich eigentlich anders gewesen? Habe ich geprüft? Nein, bei Gott nicht! Aber wie, konnte ich das ebenso echt empfinden – und doch unrecht haben? Was gab mir denn recht?

Eine Stimme in ihm sagte: Leiden. – Erst glaubte er, sie überhören zu müssen, gab aber nach: das möchte wahr sein.

Und dann, jählings, als habe ihn jemand geschüttelt, so daß alles eben Empfundne und Gesehne von ihm abfiel wie Lumpen, stand er wieder in voller Glut seiner Scham, sah er am herumliegenden Abfall, wohin er abgeirrt war, und daß er der alte war, unabänderlich unverändert der alte.

Eine Nebelwand vor den Augen, das ist das Leben für mich, und dahinter ein dünnes Licht. Was für ein Licht? Das Licht bin ich selber, ich, den ich suche, um den ich mich bemühe, und was mich anleuchtet, ist die Angst, nicht zu werden, zu verlöschen im Alltage. Früher – habe ich mich da schon gesucht? Auch, ja, aber dumpf nur und kaum bewußt. Ich strebte, wohl, ich strebte nach einem menschlich hohen und wertvollen Ziel, und was ich auch vornahm, was ich betrieb –, wenn ich aus der Trunkenheit aufwachte, so hatt ich doch Augen für die Sterne, – Hölderlins und Georges Form, in sie konnte mein Leben doch eingehn und in der Wahrheit lebendig sein, – oh mein Gott, daß ich dies immer wieder vergaß! Das Schlechte erkannt ich doch immer als schlecht, wenn auch nachträglich nur, und ich quälte mich dran, wollt es verleugnen, wand mich am Ende heraus; und das Gute – war es mir jemals ganz gut, war es mir – wirklich? Hatt ich nicht immer die Qualen der Unwirklichkeit, die Reue, daß selber der höchste Augenblick Augenblick war und verlöschen mußte, und sucht ich nicht immer nach – nach – Renate? Und immer wieder vergaß ich Renate und nahm jemand anders, – und zuletzt, da ich zugriff wie ein Taps, so entzog sie sich selber, für immer, und da steh ich und starr' ins Symbol Renate, hoch und nie zu erreichen.

Dumpf damals und im Dunkel, jetzt etwas heller, in Dämmrung: wäre das wahrlich der ganze Unterschied? Wäre das Hoffnung, daß langsam, aber doch sicher, die Helle zunähme? Daß deshalb Nächte kommen wie diese, wo ein guter Dämon mir Öl ins Feuer der Reue gießt?

Georg wanderte auf und nieder. Augenwinkel und Schläfen brannten von Schlafverlangen, auch peinigte ihn die Unaufhörlichkeit des Nachtsturms, den er immer wieder, nachdem das Tosen der Bäume fernhin versaust war, heranrollen, schwellen, toben, sich im Gewipfel wälzen hörte. – Ich lasse dich nicht, murmelte er sinnverloren, du segnest mich denn! O Gott, mein Gott, diese Einsamkeit! Und wären sie Alle hier, die mich jemals liebten, die Lebenden und die Toten, und könnte ihrer Aller Liebe sich zu einem allmächtigen Leuchtfeuer vereinen –, ich würde es wie einen Sternfunken klein in der Nacht sehn; meine Nacht würde Nacht bleiben. Niemand kann helfen, niemand, niemand, nur Gott.

Und in einer Verzweiflung, stehen bleibend, die Augen schließend, stieß er aus seinem Unglauben die Worte: Gott, Gott, Gott, wenn du bist, gieb mir ein Zeichen, gieb! Laß diesen Sturm sich legen, wenn du bist, und ich weiß, daß ich auch einmal Ruhe finde!

Danach lauschte er lange Sekunden. Der Sturm wurde schwächer, entfernte sich, es grollte von weitem gedämpft, wurde stiller, still. Und dann machte es sich wieder auf und rollte heran, Woge um Woge.

Georg ließ die Arme fallen. Einen Augenblick später saß er plötzlich und schrieb.

Mein Leiden, schrieb er, war und ist noch immer eine Art Cäsarenwahnsinn, nicht der Tat, sondern des Verstandes. So wie jene Kaiser, geboren zu einer Zeit, wo das Leben des Untertans weniger wert war, und erzogen zu dem Herrscherempfinden unumschränkter Gewalt über Leben und Tod, sich über Vorstellung und Leidenschaft hinaus zügellos hinreißen ließen zu den Ausführungen schrecklicher Art, Massenmord, Muttermord, Brandstiftung, was es auch war: so wirkte in mir ein an sich zügellos beschaffenes, durch unbewußte Betätigung ins Unermeßliche und Schamlose gesteigertes Denkvermögen. Mit ziemlich offenen Sinnen versehen, war mir Beobachtung, Ergreifung sowohl aller sinnlichen Vorgänge um mich her, wie der in Büchern erreichbaren geistiger, seelischer, humaner, gesellschaftlicher, natürlicher, künstlerischer Art, immer Vergnügen und leichte Gewohnheit. Die Fertigkeit, Bezüge herzustellen, von einem aufs andre, von zweien aufs dritte zu schließen, ein ähnliches Drittes als erhärtet und verbürgt anzusehn durch Erstes und Zweites, diese Fertigkeit ist nicht nur mir, ist jedem Menschen von Natur eigen, und ich übte sie nach Gefallen. Und das Wichtigste: eine unbegrenzte Ichsucht, schaurig durch Unbewußtheit vertieft, die jeden begegnenden Vorgang, jede Erscheinung des Lebens und noch mehr: in der Lektüre jede Meinung, jedes Urteil innerhalb des ganzen Bereiches des menschlichen Wesens nur in der einen Beziehung auf das eigene Ich, die Wahrscheinlichkeit des selber so handeln, denken, empfinden Könnens oder Wollens oder Mögens aufnahm. Alldies – und gewiß noch andres in Menge mehr – züchtete diese geistige oder nervische Leidenschaft des alles Denkenkönnens; des alles für – nicht nur wahrscheinlich, möglich, plausibel, sondern für wahr Haltens, nicht weil es wahr, sondern weil es so denkbar erschien. In keinem Stoffgebiet, keiner Kunst oder Wissenschaft wirklich zu Hause, keiner menschlichen Weisheit, keiner Wesenheit wirklich auf den Grund gekommen, erregte mich vielmehr gerade die Leichtheit des – scheinbar – alles fassen, umfassen, durchschauen und verbinden Könnens. Es ist ein gealtertes Wort, daß jeder Mensch nur sich herausliest aus dem Buch, das er liest; er ist sich selber der Held eines jeden Romans, und sei der ein Herkules oder Cäsar Borgia.

Mildernde Umstände machen die Tat ebensowenig ungeschehn, wie sie die Schuld aufheben können; mildernde Umstände enthalten recht eigentlich die Erklärung, die Anlässe der Verbrechen, machen sie verständlich, erkennbar. So habe ich etwa die mildernden Umstände für mich, daß ich am Leben bin zu einer Zeit, die ebensolche hervorbringt wie mich; Menschen, die zu einer Zeit ihres Lebens, beim Übergang von der Jugend zum Mannesalter sich im Besitz eines leicht und handlich arbeitenden Verstandes, offener Sinne, leidlich geschulter Logik und der oder jener Begabung oder Kunstfertigkeit sehen, ›hochbegabt‹, wie man sie nennt, ›talentiert‹, ohne dabei von einer seelischen Festigkeit, einem innern Ausgerichtet- oder im Gleichgewichtsein, mit einem Wort: von Charakter zu sein, in dessen Händen allein jene Begabungen wahrhaft leistungsfähig, notwendig und gerecht wären. Tausend Dinge ohne innerstes Müssen zu tun, weil sie sich tun lassen, das ist der Fehler. Fertigkeiten zu haben, die das Maß der innern Bedürftigkeit übersteigen, wie das Angebot die Nachfrage auf dem Markt. Mit den Augen größer zu sein als mit dem Magen. Kein Ernst, immer Spiel. Übung der Geschicklichkeiten zu keinem nützlichen Zweck, sondern um der Geschicklichkeit willen. Grammatik Treiben am Homer. Immer jenseits der Grenze des Notwendigen im Elysium alles Möglichen. Keinerlei Beschränkung im Geistigen, Zügellosigkeit, Cäsarenwahnsinn des Verstandes.

Und noch möchte alles das hingehn, blieb es auf sich, auf mich selber beschränkt. Gäbe es nicht Menschen, die bei solcher Beschaffenheit das beschaulichste Leben führen? Und zwar dies, teils weil das Leben sie auf einen Platz stellte, wo kein Handeln, also kein Mitgefühl, kein Denken und Sorgen für Andre von ihnen verlangt wird; teils weil sie niemals darauf verfallen sind, sich selbst zu erkennen. Ich aber war unzählige Male zu einer Zeit, wo ich nicht daran dachte, daß ich es sei: hineingestellt mitten in das menschliche Labyrinth des Wollens, Tunsollens, Unterlassens und der Schuld; bin es heute wie je mit dem einen Unterschied, daß ich nun weiß. Hinderte mich aber am Rechten damals die riesige Wucherung meiner Sinne, meines Verstandes, die mir alles zeigte wie ein Glück, es wahrnehmen und denken zu können, aber nicht rechtzeitig hineinzugreifen und auszuführen: so hemmt mich nun, da ich Erfahrung gewonnen habe, eben sie. Nun bin ich so belastet mit Wissen, wie wenn eine Schnecke ein Haus hätte, das zu schleppen ihre Kraft nicht ausreichte, so daß sie zwar drin hausen kann, aber es nicht hinbringen, wo Nahrung ist. Wußte ich früher nichts und war geblendet durch die Last, Wissen – oder was ich dafür ansah – zu erwerben – und was schien mir nicht erwerbenswert? –, so bin ich nun blind …

Voll Unmut und Widerwillen schon während der letzten Sätze gegen das Hinschreiben, legte Georg die Feder hin und das Gesicht in die Hände. In diesem Augenblick ging durch die schwere Beklemmung, die ihn erfüllte, ein sanftes Licht. Dem gab er nach, erweicht, und dachte so in schwerer Nachgiebigkeit:

Es ist nicht möglich, Georg, daß es nur dies ist. Es ist nicht möglich – denn es wäre nicht menschlich! –, daß irgend jemand so wie du sich im tiefsten belastet fühlen, im tiefsten unglücklich sein könnte durch die reine Erkenntnis seines Soseins, das Wissen um – psychologische Vorgänge. Alldies ist das Allgemeine; was aber ist das Persönliche, in dem es sich bei dir darstellt? Was ist das Wesen?

Gieb es zu, Georg, gieb es zu!

Es ist die Lüge. Es ist ganz einfach. Wäre es jenes allein, so würde ich wie jeder Andre auch drüber hinwegkommen. Würde es bestehen lassen, würde suchen, es zu verarbeiten, würde aber weitergehn, würde mich nicht, o mein Gott, bei jedem Atemzug so gehindert fühlen am Leben. Gieb zu, daß es die Lüge ist! Daß du scheinst, was du nicht bist. Daß du nicht, so eitel gern du es möchtest, beschlossen bist in dir, unabhängig von den Andern und ihrem Meinen. Denn du stehst an einer offenbaren Stelle, du weißt dich in jedem Augenblick von einer Menge gesehn, bedacht, beurteilt, und was in dir Seelenstoff ist, das steht mit allem Seelenstoff um dich her in Beziehung, und du empfindest auch, was dein Verstand leugnen möchte. Du stehst an sichtbarer Stelle und lügst. Versetze dich in die Andern, betrachte dich selber von außen! Stelle dir eine Bronze vor und dich in dem Augenblick, wo du entdeckst, sie ist Gips und bemalt. Rede dich nicht heraus mit allfälliger höherer Einsicht, die hinterdrein kommen könnte. Den ersten Augenblick nimm: Gips und nicht Bronze! So! Weißt du nun, was du empfandest? Kannst du die erste Enttäuschung verwinden? Nützt es, dir einzureden, daß im besondern Fall Gips zweckdienlicher sein kann als das Edelmetall?

Ich hab keine Kraft mehr! stöhnte Georg und stand auf. Ich kanns nicht mehr erwehren. Ich sehe alles ein. Aber dem wollt ich mein Herz geben, der mir die Kraft gäbe, es zu ändern.

Da, mitten in seine Aufgelöstheit, in Unkraft hinein blühte das Antlitz Jason al Manachs, kaum lächelnd, weiß wie eine Narzisse, und Georg flüsterte staunend: Du Lieber! Sieh, auch du hast mir nicht helfen können! Aber du, o dies ist wohl dein Zauber! du liebst uns, du liebst Alle und alles, liebst, was du ansiehst, und liebst, mit wem du sprichst, mit unwiderstehlicher Liebe, die durchdringt und so süß und milde das Leben macht, solange du bei uns bist …

In diesem Augenblick kreuzten sich zwei verschiedene Wahrnehmungen in Georg: die eine, daß er Jason so angeredet hatte, als wäre er Jesus; und die andre, daß der Sturm sich gelegt hatte, ja, daß er vor langer Zeit schon verstummt war.

Nicht ein einziger Laut war in der Nacht. Georg stand müde, erschlafft, dachte kummervoll seiner Anrufung des göttlichen Wesens, – hatte Gott doch ein Zeichen gegeben? Der Sturm schwieg. Hatte er wieder einmal nicht warten können und bemerkte das Zeichen erst, als es schon welk geworden war, – nein, er selber welk, es zu fühlen?

Er stützte die Hände vor sich auf die Lehne des Stuhls und suchte nach dem Gefühl, das er hatte, als er zu Gott schrie.

Was sich einstellte, war nun die Frage, was für eine Nacht dieses sei; und gleich die erschreckende Antwort dahinter: die Nacht vom Gründonnerstag zum Charfreitag.

Sein Herz fing an zu klopfen. In dieser Nacht … In dieser Stunde vielleicht, in dieser Nacht kniete einer am Ölberg, schrie zu Gott, und Alle schliefen, für die er schrie.

Und nun – er wußte nicht, wovon an die Erde hinunter gezwungen, ob von einem überwältigenden Schamgefühl über die Ähnlichkeit, ob von einer äußersten Sehnsucht, zu liegen, zu knien, widerstrebend voll Verzweiflung ließ er sich an dem Stuhl hinunter, kniete, ließ den Stuhl fahren, fiel langsam vornüber, und in dem Augenblick, wo er von Scham übergossen aufspringen wollte, lag er und küßte den Fußboden.

Eine Sekunde später hatte er mit den Kleidern alles von sich geschleudert, lag im Bett und stürzte sich wie einen Stein in den Schlaf.

Renate

›Der Tod Christi‹, so las Renate in ihrem Zimmer, bezeichnet uns das Größte – nicht in seinem Wesen, aber in seinem irdischen Leben. Niemand ist eines so vollkommenen Todes gestorben. Darum sollst du die Tage seines Sterbens als die heiligsten halten im Jahr, und sie sollen ganz allein dem Heiland gewidmet sein.

›Zu dieser Versenkung deiner Seele bedarf es einer Überwindung zuvor. Denn es fällt der Seele nichts schwerer, als aus der Gewohnheit ihres Treibens von selber den Übergang in ein größeres Dasein zu finden, und zumal der Geist bedarf des besonderen Antriebs. Darum sollst du zwischen Alltag und Feiertag die Mauer einer Überwindung aufrichten und am Mittag des Gründonnerstags ein vollkommenes Fasten beginnen, das bis zum Samstag in der Frühe währt. Erst wenn es dir vermittels dieses Fastens gelungen sein wird, dein leibliches Dasein zu verleugnen, kann das seelische in dir geboren werden, das nur Liebe ist, und du –‹

Renate legte das Buch hin; ihre Augen flimmerten und versagten, noch eine Weile zuckten die Lettern der väterlichen Handschrift vor ihren Augen und zerflatterten im Lampenlicht; dann waren die Wimpern gefallen, sie saß im Dunkel.

Das erstemal in ihrem Leben fühlte sie die alte Charfreitagsübung versagen. Der Hunger, der sie aus dem Schlaf geweckt hatte, peinigte, ohne daß sie etwas andres empfinden konnte als ihn, es sei denn ihr Frieren. Schaudernd vor Kälte, öffnete sie die Augen wieder, kniff sie, geblendet vom Licht, wieder zu, stand auf, ging und löschte die grell brennende Lampe.

Nun fiel durch die halboffene Tür zum Schlafzimmer der Schein der verschleierten Lampe auf dem Nachttisch, und die Hälfte des Zimmers, in dem sie wanderte, lag im Schatten der Tür. Doch immer wieder, in die Nähe der Türöffnung gekommen, mußte sie anhalten und nach nebenan spähn, in den schmalen Raum, wo nichts war als die kleine gelbe Schleierlampe auf der Platte des Nachtkastens neben dem leise glänzenden Armband mit der Uhr, und vorne das Fußende des Bettes. Ihr war dann, als läge jemand krank in dem Bett, ihr unsichtbar – Jason vielleicht, der vor Jahren dort gelegen, oder ihre eigene Seele, und was hier von ihr rastlos umging in der Nachtstille, war nur ein kranker Traum der sehr kranken. Lange versunken in den Anblick, zog sie dann den Schal fester um Schultern und Arme, machte den Blick – so schwierig, fast wie die an Gedörn verhakten Zipfel eines Kleides oder Schleiers – los von dem Licht und ging auf die Fenster zu, die kaum sichtbar waren im Finstern.

Im Gehen fing ihr rechter Fuß mit der noch aus Italien heimgebrachten Sehnenentzündung sofort Feuer, obwohl sie ihn immer mit ganzer Sohle aufsetzte und nur leicht – weniger ein Schmerz als eine Behinderung mehr zu den andern. Ah, wozu ein Glied schonen, wenn das ganze Wesen sich hülflos verzehrte!

Und zum hundertsten Male, seit sie dies Fasten begonnen hatte, versuchte sie sich aufzurütteln mit dem Gedanken an ihren Vater. Was sie aber denken konnte, war nur, daß sie, solange er lebte, solange sie mit ihm Charfreitage beging, niemals auch nur einen Hauch von Hunger verspürt hatte, so vollkommen gesättigt, wie sie war, von dem unversieglichen, an diesem Tage süßer und herrlicher als alle Tage strömenden Quell seiner Liebe und Weisheit. Und noch die nächsten Charfreitage waren ernst und schön im Geleit seiner niemals gestorbenen Augen, seiner niemals versiegten Liebe. Heute zum ersten Mal war sie allein wie ein Tier und litt Hunger.

Sie fror unablässig. Zuweilen hauchte sie in die Luft, um ihren Atem zu sehn und sich zu beweisen, daß die Nacht wirklich so kalt war, doch zeigte sich kaum ein dünnes Gebilde von Dunst. Nein, diese immer erneuten Wellen von Schauder kamen von innen! Sie ächzte fast weinend. Ich kann nicht mehr! Ich kann nicht mehr frieren! Senkte den Kopf und ging weiter.

Die Stille nach dem vertosten Sturm blieb unverbrüchlich. Zuweilen knackte eine Diele unter ihrem Tritt; im Nebenzimmer, unermüdlicher als sie selber, doch gleichmäßiger, wurde bei jedem Näherkommen das feine Ticken der Uhr hörbar. Ein Fenster stand jetzt offen, nachdem sie es zehnmal geschlossen und wieder geöffnet hatte, schwankend zwischen dem Schauder vermeintlicher Kälte von draußen und dem Gefühl, ersticken zu müssen. Draußen knisterte es dann und wann. Über der See stand ein Frühlingsgewitter, und in Pausen regte sich dort ein dünnes Lichtzucken, lautlos. Oder vielleicht wars ein Blinkfeuer.

Ach, sie hätte auf einem Schiff sein mögen in dieser Nacht, keinem großen, einem kleinen, festen Ding, das mit dem unermüdlich schlagenden Herzen sich durch die schwere See hinarbeitete, ein geduldiges Tierwesen, folgsam und standhaftig. Zu fühlen sein leises eifriges Ächzen, das Knacken und Dehnen seiner Glieder, und daß die schwere Arbeit ihm doch eine Lust war, und immer wieder ein Behagen, den Kopf aus der zusammengestürzten Woge zu heben, triefend, augenlos in das Finstre und doch mit einer Art Lächeln …

Renate erholte sich an solchen Vorstellungen minutenlang. Sie waren wie Streichholzflammen, an denen sie die gewölbten Handflächen wärmte, heftiger fröstelnd, wenn sie erloschen. Wieder und wieder durchsuchte sie ihr Leben nach ähnlich wärmlichen Bildern, – ach deren gab es zu Hunderten, allein ihre Wärme war kraftlos, drang nicht her bis zu ihr, oder ein Keim Eises war drin, der, aufgehend in magischer Schnelle, einen Schauer von Schnee über sie wölkte. Die Stunden mit Saint-Georges – jede voll Ausdauer und Frieden und Versöhnlichkeit – und in jeder der Keim des Unheils, des Todes, der Unseligkeit. Die Stunden der Friedliebenden Gesellschaft, ach alle zerstäubt und verblasen. Aus Magda, aus Sigurd und Esther, aus Ulrika, aus Irene – was war aus ihnen geworden? Gräber, – und wenn sie in geträumter Lebendigkeit vor Renate erschienen, so hatten sie eine Geducktheit an sich, als schleppten sie unsichtbar ihre eigenen Leichname. Hatte der Tod nicht gewütet um sie her? Und waren sie es am Ende, all diese Toten, die um sie her die Luft töteten mit ihrer Starre, und war darum kein Hauch mehr von Wärme zu finden? Aber Magda lebte, die liebste, und von ihr entströmte doch immer eine unendliche Glut ebenmäßiger Fülle.

Die Müdigkeit zitterte schon in ihr, aber sie wußte, daß sie sich nur hinzulegen brauchte, um wacher und unseliger zu sein als zuvor. Also schleppte sie weiter ihren Fuß, als wäre ein Gefäß voll Gluten daran gebunden, das sie mit Vorsicht bewegen mußte, nichts zu verschütten. Die Gedanken gingen ihr aus.

Wieder das Fenster schließend, bildete sie sich ein, sofort die Zimmerwärme zu spüren, und stand so eine Weile, die Hände leis reibend, vor dem dunklen Glas und dem eigenen, eben erkennbaren Widerschein darin, bis aus der Bewußtlosigkeit eine Stimme sie zu sich rief, die hinter ihr melodisch laut ward mit den Worten:

»Es kommt alles nur von der Wärme und der Kälte …«

Nur wenig erschreckend, wandte sie sich um und merkte, daß sie in ihrem Zimmer daheim war; daß die Lampe auf dem Schreibtisch brannte – und jetzt, daß in der Türöffnung zum Schlafzimmer eine nicht eben große Gestalt in einem rosenfarbenen Kleide stand: Ech-en-Aton, der König.

Er sah ruhig umher. Sein kleines Antlitz war weiß wie Apfelblüte mit rosigen Hauchen; fast unsichtbar das helle Blond des Haars, die Augen von fast nächtiger Bläue. Der Kleidrock von glanzloser Rosenfarbe stand in jener rhomboiden Form, die Renate von den alten Bildern her kannte, unten, zwei Hände breit über den nackten geschlossenen Füßen ab, und ein kurzer Kragen von gleicher Farbe bedeckte Schultern, die Brust und die Arme. Plötzlich erschrak sie doch, da er sie ansah, sie durchdringend mit dem Blick, der nicht von ihrer Welt war. Aber er lächelte, und schon machte es sie glücklich, ihn, diesen Göttlichen, so menschenhaft zu sehen und das Königliche, zur Schau getragen weder in Haltung und Miene, nur in so unbeschreiblicher Weise vorhanden an ihm wie die Unschuld im Auge eines Kindes. Und wieder doch verging sie fast, als jetzt unter dem Mantelkragen ein lebendiger Arm zum Vorschein kam, eine zarte, längliche Hand sich erhob und in die weißen Falten des Vorhangs über seinem Haupte hineingriff. Ach, sie hätte der Samt sein mögen, jetzt!

Er sagte, langsam sprechend, mit tiefer Milde:

»Ängstige dich doch nicht, Schwester! Sorge dich doch nicht um dein Leben, Schwester! Liebe Seele, habe Geduld! Süße Vollkommenheit, du darfst mir nicht zerblättern! Sei ruhig! Sei weise! Da bin ich ja! Ich will dich trösten! Wir wollen zusammen sein und etwas sprechen …«

Renate hatte sich so weit gewonnen, daß sie etwas sagen konnte von ihrer Beglücktheit und Überraschung, was er freundlich anhörte, ohne zu erwidern. »Setz dich nur!« sagte er dann, »ich stehe lieber; ich stehe gern.«

Sie nahm einen Stuhl am Tisch. Seine zarte, farbige Gestalt war dem lichten Raume umher schon so natürlich geworden, als hätte dessen vorher unsichtbares Wesen nur diese Gestalt angenommen. Renate bebte fast im Verlangen, nur die Müdigkeit seiner Stimme wieder zu hören, die sich ihr einflößte wie ein himmlischer Trank, wärmend, bezaubernd und doch nicht berauschend. Da sprach er auch schon.

»Sprechen wir vielleicht von diesen Dingen, der Wärme und der Kälte, die dich so bewegen. An ihnen läßt sich ja alles erklären, und um zu erklären, bin ich gekommen. Man muß wohl die Geduld verlieren unter den Menschen, wenn man nicht wie ich in die Unveränderlichkeit eingegangen ist. Da nahm ich unter den stillen Geschwistern deiner seit langem wahr, und da du nun meiner so sehr bedarfst – sieh, da bin ich!«

Renate fiel ein in sein Lächeln und löste sich darin – ihr deuchte mit einem Harfenton.

»Erinnern wir uns einmal daran,« begann er still, »was du gelernt hast. Licht und Finsternis hast du gelernt, die Urzustände.

»Licht und Finsternis. Aber du wirst gleich begreifen, daß dies falsch sein muß, wenn du nur bedenkst, daß Nacht eine örtliche Erscheinung ist. Überall ist die Sonne. Nur dich verläßt sie zuzeiten.

»Die Schlaflose – immer irgendwo ist die Sonne, die alleine der Anbetung würdig ist.

»Bedenke nun Wärme und Kälte. Es ist Winter, nicht wahr? Es stürmt bei dir in dem Norden, es schneit, die Sonne blickt vor, aber es ist doch nicht warm. Sommers aber, der Himmel ist bewölkt, Regen fällt, die Sonne ist nirgend, und dir ist doch warm genug, unter leichter Decke zu schlafen.

»Oder das Wasser. Es ist Juli, die Fläche des Weihers glüht, – du aber, Kühlung bedürftig, tauchst die Hände hinein, und sieh, du erfährst eitel Kaltes unter der Glanzhaut der Glut.

»Also sieh an, du kannst dir Kälte und Wärme bereiten, wann du willst, Nacht und Tag aber kannst du dir nicht bereiten, ob du tausend Lampen entzündest oder die stärksten Mauern errichtest, denn immer wo sie sein will ist die Sonne.

»Wärme und Kälte dagegen können überall sein zugleich, an tausend Stellen unter der Sonne, und was heißt das? Es heißt, daß die ganze Erde ein Gemisch ist von Warm und Kalt. Kannst du dir vorstellen, es gäbe ein ähnliches Gemisch von Dunkel und Licht? Licht mit schwarzen Stellen oder umgekehrt? Gewiß nicht.«

Er schwieg eine Weile und schien zu bedenken, wie er fortfahren solle. In Renate war jedes seiner Worte eingegangen wie eine Flocke reiner Süßigkeit; sie war schon erfüllt davon, wußte sich aber unendlich an Raum und Verlangen nach mehr. Wenn der Saum seines Rockes bebte, bebte sie mit, – so war ihr ganzes Wesen an das seine geschlossen.

Der König fuhr fort:

»Vom Leibe sprachen wir bisher und den leiblichen Wahrnehmungen, aber uns beschäftigt die Seele. Daß auch sie ein solches Gemisch ist, wie wir erkannten, das weißt du; ein Gemisch zweier Richtungen, zweier Triebe, die du gut und böse zu nennen gewohnt bist nach ihrer Wirkung. Da nun auch hier im Gebiet der Seele, einer andern Erde, nicht Nacht herrschen kann mit Flecken des Lichts, wie wir sahen, so muß es wohl auch das Kalte sein und das Warme.

»Und willst du noch einen Beweis? Erinnere dich, wo warst du, bevor du geboren wurdest?«

»In der Mutter«, sagte Renate.

»Und wie war es allda?«

»Warm.«

»Wie also mußt du das Dasein dahier empfunden haben, als du zu ihm eingingst?«

»Als kalt.«

»Und diese Kälte an den Gliedern wie?«

»Schmerzlich.«

»Denn du schriest. Und was ward seitdem die Folge? Ich will es dir sagen: Die Folge ward ein unbegrenztes Verlangen nach Wärme, jener Wärme, aus der du kamst.

»Ja, meine Schwester, dieses ist Lust: Wärme. Und Kälte ist alle Pein. Und alles was entstand, ist aus diesem Gegensatz entstanden, aus dem Mangel an Wärme. Alle Wissenschaft, alle Weisheit und Bildung und die erlauchten Geheimnisse der Kunst.

»Woher aber die Seele? Wo ihr Keim, wo ihr Beginn? Dein Ahne im Norden hat wohl nicht viel von ihr gewußt, da er aus Schlachten und Jagden zu den ewigen Schlacht- und Jagdgründen einging. Aber südwärts der wärmere Grieche, was glaubte der? An den Hades, an sinnlose Schatten, die wesend nicht lebten, weshalb? Hatten sie nicht Schein von Gliedern und Sinnen, und hörtest du nicht, daß sie blickten und sprachen, daß sie wieder liebten und haßten, wenn sie – etwas bekamen? Was? – Blut – das warme Blut. Kalt war es im Hades, eingefroren waren ihre Sinne, taub, abgefroren mit dem Augenblick des Sterbens und mit der Seelengeburt. Siehe aber, das wußte der Grieche, daß sie leben kann, die Seele, wenn nur Wärme vorhanden ist. Er wußte von der Seele, denn er wußte von der Wärme, von dem Glück seines Blutes, von dem Frühling, von Persephone und Demeter, von – Dionys. Kalt, so nannten sie den Hades, und warm war ihnen das heitere Land, aus dem ihnen, vom Tyrsos geschlagen, tausend und tausend feurige Quellen sprangen im Wein. Die Andern waren noch nichts – Dionysos war der seelische Gott, Schöpfer der Seelen, da er im Kalten die Wärme gab, Feuer der Seele, gewaltige Lust, Trunkenheit, sich den wärmlichen Göttern ähnlich zu fühlen.

»Mein Volk wußte viel, aber dumpf. Sie ahnten die Seele, aber das Leben hatten sie noch nicht. Ihnen war wohl ein wenig zu heiß in der ewigen Sonne, und also suchten sie die Dunkelheit auf und die Kühle und liebten den ewigen Stein. Wie aber heißt das Wort vom Leben?«

Renate sagte: »Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe.«

Der König leuchtete seltsam auf, und höher erscheinend, auch die andre Hand hebend, sagte er wie einen Gesang:

»Jesus von Nazareth, der Christus. Er kam und sagte: Hier ist mein Blut! Hier wohnt deine Seele. Du sollst warm sein, sprach er, dann fühlst du, daß eine Seele in dir ist, und du hast den Himmel auf Erden. Und: Seid wie die Kinder, sagte er, – und nun – was giebt es Wärmeres als ein Kind?«

Es rieselte in Renate. Der König lächelte tiefer, bis das Lächeln im Sinnen verging, er die Lider senkte und leiser fortfuhr:

»Wenn ich auf meinen Terrassen stand, im Antlitz die brennende Wüste, im Antlitz das große Goldbrodeln der Höhe … Wenn alles erwarmte in mir, in mir erglühte der süße, der flutende Baum aus Purpur, tausendästig – dann wußte mein ganzes Wesen vom Scheitel bis zu den Füßen: Es ist das Blut!

»Sie verstanden mich kaum, – sie gehorchten nur –, wann hätten sie jemals verstanden? Sie zerstörten meine Stadt, sie zerstörten meine Bilder, aber sieh dort!« Seine Augen winkten zu seinem Bildnis hinüber. »Sie konnten mich nicht zerstören, und ich bin ewig.

»Ach, auch Ihn, den ganz Warmen, verstanden sie nicht! Nehmet und esset, sagte er, und sie glaubten, sie müßten nun Menschenfresser werden und seinen Leib vertilgen wie den des Viehs. Wein gab er und setzte ihn gleich dem heiligen Blut, und sie verstanden nichts, sondern begannen einander totzuschlagen um der Frage willen, ob sie trinken dürften oder nicht.

»Sie sagten: Gut und Böse und Vergebung der Sünden. Ich sage: Kalt und Warm.

»Und wer ist gut? Der warm ist, der warm hat und jedem die Wärme gönnt, und für jeden die Wärme will. Für sich Wärme wollen und die eines Andern nehmen, – meinst du nun, das wäre das Böse? Ach, das ist das Menschliche nur, der alte Trieb, die Gier nach der Wärme und nur Übertreibung. Dies ist nur schädlich. Alles was schädlich ist, kommt aus dieser Übertreibung. Nimm einem die Wärme, so schadest du ihm – und wem noch? Dir. Denn woher kann Wärme allein kommen? Aus dir. Siehe noch einen Beweis, daß nicht Dunkel und Licht, daß Kälte und Wärme die alten sind und die einzigen. Denn kannst du Dunkel empfinden am hellen Tag? Nein, aber hast du noch nie gefroren in der Mittagsglut? Wann ist das gewesen? Wenn du dich schuldig fühltest. Was kommt aus dem Dunkel? Das Traurige, die Verlassenheit, der Gram. Das ist nichts Böses. Das ist nur eine Art Leiden, nur eine. Wenn du Schlechtes getan, wenn du Schaden angerichtet hast, dann fröstelt es dich, nicht wahr? Glaubst du, dich fröstelt aus Bosheit? Nein, in dir friert die dem Andern geraubte Wärme, und dich friert, weil du dir genommen hast, was du als Pein empfinden würdest, wenn man es dir nähme. Du hast nur übertrieben, hast nur Wärme genommen oder gedacht, sie zu bekommen, anstatt sie zu bilden. Bekamst du sie? Kannst du Feuer nehmen und dich daran wärmen? Ja, aber lege das Feuer fort, und dir ist wieder kalt.

»Nun aber denke folgendes: Du liegst im Bett und dich friert. Wie kannst du dir helfen? Mit Kissen und Decken. Sind solche warm an sich? Befühle sie oben, wenn du darunter liegst und schon glühst; wie fühlen sie sich an? Eisigkalt. Aber so beschaffen sind sie, daß dir warm wird, – solchen Charakters sind sie, daß sie dir helfen, Wärme zu bilden!

»Und weiter nun: Ist ein Mensch an sich kalt oder warm? Nicht das eine noch das andre, aber was kannst du tun? Du kannst ihn benutzen, um in dir Wärme zu erzeugen, und du kannst dich benutzen, ihm warm zu machen. Und dies ist das Leiden: nicht warm sein! nicht warm sein können!«

»Ach,« sagte Renate, »das meine!« erfreut, es zu wissen. »Aber,« setzte sie hinzu, »dann gäbe es gar keine Bosheit?«

»Wie? sie gäbe es nicht?«

»Sondern nur Leiden. Nicht warm sein können.«

»Vielleicht. Aber meinst du nicht, daß es eine noch fürchterlichere Art der Übertreibung giebt? Die Übertreibung bis zur Bosheit; das: nicht Maß halten können, welches ist: nicht warm sein können und auch nicht warm sein wollen.«

»Das wäre der Teufel!«

»Wörtlich, gewiß. Denn er war der Abtrünnige aus Gottes Wärme, und der sich Verhärtende in der Kälte, welcher trotzte in seiner Teuflischkeit, sich erstarrte, und übertrieb. Und was mußte er wollen in seiner Maßlosigkeit des nicht warm werden Wollens? Daß nirgends mehr Wärme sei, daß niemand mehr Wärme habe, alles erstarre, und wo er also eine Wärme betraf, da schleuderte er die Eislanze hinein, sie, den Zweifel am Warmen, den eisigen Zweifel am warmen Glauben, den fröstelnden, der um sich frißt wie der Frost in der Märznacht, und am Morgen schaudert dichs vor der ergrauten Natur. Und was ist Altern? Nicht mehr jung sein können, erkalten, ergrauen, ergreisen, vereisen, sterben.

»Er fiel ab aus der Liebe. Was ist Liebe? Wärme zu bringen, glaubst du? Ach nein, sondern sie ist: Wärme zu bilden. Liebe! so ist dir warm. Liebe entzündet sich an der Liebe wie Licht am Licht, darum sollst du die Kalten nicht lieben, nicht sie, die Tausend, die Toren, die nicht warm sein wollen. Aber wo der Keim eines Willens zur Wärme ist, da lege dich über ihn mit deiner ganzen, nähre ihn, ziehe ihn gläubig groß! Frage nicht! Fragt auch die Sonne? Wen erwärmt sie? Der sie liebt, sonst keinen. Heut aber lieben sie das Kunstlicht aus den Nachtschächten der Erde. Was wird er, der sie liebt? Fruchtbar. Fruchtbar wird, der sie empfängt, der Wärme bildet aus ihr wie die Erde. Weißt du aber, ob nicht auch der Felsen der Einöde sie liebt und es dauert nur länger? Klagte nicht Memnons Säule bei Abend- und Morgenrot? Das ist die Klage der Welt: Oh Morgenrot, und ich werde nicht erwarmen können! Oh Abendrot, und ich blieb kalt!

»Dies aber ist Bosheit. Die Bosheit des menschlichen Herzens. Dies ist der Böse, der niemandem Wärme gönnt, die er selbst abgeben müßte; der lieber selber erstarrt in dem Frost, nur um nicht abgeben zu müssen. Der immer Wärme verlangt und nicht geben will. Ach, die uralte Eisestorheit der Erde! Wie denn ists mit dem Sünder? Er darf bereuen und wieder in Wärme gelangen. In sich gehn, heißt es darum von dem Sünder; innen ist die Wärme zu bilden. In sich gehn, dorthin, wo es warm ist von Urbeginn, kann der Mörder, der Betrüger, der Seelenverkäufer, der nur Wärme für sich wollte und Kälte bildete, ihm kann wieder warm werden, aus innen, wenn er an Wärme glaubt, wenn er einsieht, daß sie sich nicht gewinnen läßt von außen und nicht durch Übertreibung. Bereit sein ist alles. Schwester, warst du nicht bereit? Denn wo ist der ewige Quell? Im Herzen. Und wo wohnt Gott? Im Herzen. In keinem Himmel, in keinem Draußen. Draußen ist kalt, und der Himmel ist kalt. Von keiner Sonne saugt kein Mond einen Tropfen der Wärme, er bleibt kalt, tot, erloschen, unfruchtbar. Glaubst du, sie erhalte von der Sonne ihr Warmes, die alte Erde? Warum ist denn sie fruchtbar, der Mond aber nicht? Nein, sondern weil ihre Beschaffenheit so ist, daß sie Wärme bilden kann, darum ist sie fruchtbar und nicht der Mond. Sie erschuf sich meinen ewigen Nil, und sie erschuf sich den warmen Menschen, sich zu bedecken mit seiner Wärme, sich helfen zu lassen zu ihrer Wärme im Segen des Ackers.

»Nicht Gut ist, nicht Böse. Fruchtbar ist und das Unfruchtbare. Auch Schädliches wuchert in der fruchtbaren Erde dazu, und es hat sein Gutes an sich, sein warmes Leben, seine Lust an dem Licht, seine Sehnsucht nach Morgen, seine Angst vor dem Frost, sein Erwarmen und Erkalten, Erglühn und Erlöschen, sein Wachstum und seinen Tod. Es ist nicht unfruchtbar deshalb. Unfruchtbar allein ist das Böse; böse allein ist das Unfruchtbare, das nicht fruchtbar werden will, und du, meine Schwester, bist gut.«

»Ich?« erschrak Renate. »Ich bin nicht schuld?«

»Ja, woran solltest du schuld sein?«

»Ich fror so …«

»Willst du denn frieren?«

»Nein.«

»Oder unfruchtbar sein?«

»O nein!«

»Also was, Schwester?«

»Wie kann ich denn frieren, wenn nicht …?«

»Weil du menschlich bist, Schwester! Weil du die Geduld verloren hast! Geduld ist die Wärme des Einsamen. Bist du nicht vereinsamt? Hast du nicht geliebt? viel geliebt? Habe Geduld!«

Es schien, er bereitete sich zum Gehen vor; er ließ die Hand sinken und zog den Mantelkragen zusammen. Renate erschauderte leise vor dem Augenblick, wo sie allein sein würde, und bat:

»Wenn du wieder gegangen sein wirst, Bruder, werde ich dann nicht alles vergessen haben?«

Er nickte lächelnd: »Alles.«

»So tröste mich für diesen Augenblick nur! Ich will wieder Geduld haben nachher, aber sage mir jetzt nur: wird es noch lange dauern?«

Der König schwieg eine Weile und prüfte sie mitleidvoll. Endlich sagte er langsam und wie mit einem Seufzer:

»Morgen und ewig.«

»Was willst du sagen?«

»Morgen schon wirst du nicht mehr warten, o Schwester, und ewig mußt du noch warten.«

»Wie soll ich verstehn?«

»Ich meine die Wandlung. Es zieht eine Wandlung durch die Welt von ewig zu ewig, und immer andre Wandlungen ziehen in ihr, die sich jeweils vollenden und in andere münden. Eine Wandlung ist die Erde. Eine Wandlung ist auf Erden der Mensch. Viele Wandlungen sind das Leben des Menschen. Aber fürchte nichts, Schwester, du wandelst dich nie!«

»Niemals?«

»Niemals, Schwester, du bist das Weib. Der sich wandelt allein, ist der Mann. Gebärende, immer gebierst du. Das ist deine Wandellosigkeit. Sein ist das Töten und der Wandel. Du die Geduld, er die Ungeduld. Du die Ruhe, er die Unrast. Du das Opfer, er das Schwert. Du Liebe, er Haß. Du Seele, er Geist. Du Dienerin, er Herrscher. Er erobert die Welt, du nützest sie. Unzählbar seine Wandlungen, unwandelbar du. Er sündhaft, du ohne Sünde. Er der Zwinger, du die Bezwungene. Kain gebarst du und Jesus, Mörder und Sühner, Teufel und Gott. Entarte, so neigst du noch immer zum Guten. Torheit deine Sünde, Eitelkeit, Oberflächlichkeit, Nichtigkeit, Vergessenheit der Seele, Tanz in das Tier, das nur tanzen mag und sich zur Schau stellen. Was liegt an denen? Ewig im Kern mußt du gut sein. Du mußt gebären.«

Renate zitterte in ahnungsvollem Schrecken, und sie flehte: »So sage mir eines noch, Bruder! Da wir so ungleich sind, Mann und Weib, schließen die Reihen sich nie?«

Der König lächelte: »Sie werden sich schließen.«

»Und ich, Bruder, hilf mir, ich, kann ich nichts tun?«

Der König lächelte mehr und heller, während er fragte: »Was denn möchtest du tun?«

»Kann ich mich nicht wandeln wie er?«

Immer stärker lächelte der König und sagte: »Nein.«

»Bruder, Bruder!« flehte Renate, »ich sehe es dir an! an deinem Lächeln sehe ich, daß ich etwas tun kann, daß ich etwas tun muß! Sage es mir, ich lasse dich nicht!«

Sein Lächeln schwoll. »Ja, du mußt etwas tun. Was du immer getan hast, was all deine Schwestern taten, das mußt auch du tun!«

»Was denn, Bruder, ach was?«

»Du mußt helfen, daß er dem Ende der Wandlung näher kommt!«

»Wie denn, Bruder, ach wie?«

Sein Lächeln flammte ungeheuer auf und erlosch augenblicks mit dem letzten Worte:

»Ihn gebären!«

Es war dunkel. Renate fand sich auf einem Stuhl sitzend und vor sich den Tisch. Sie sah Lichtschein hinter einer Wand und sah, daß die Wand der Türflügel war, der ins Zimmer hineinstand vor ihr, und an dem vorüber der Lichtschein von nebenan ins Zimmer fiel, und sie sah auch die Ritze erleuchtet zwischen Tür und Wand zwischen den Angeln. Ihr war sehr warm, aber ihre Müdigkeit so groß, daß sie die Augen kaum offen halten konnte, um ihren Weg zum Bett zu finden. Die Uhr war drei. Sie wußte nichts mehr. Sie entschlief.


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