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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Inhaltsangabe des Herausgebers. (Der Sülzdorfer Kollege Reinhardts, Robert Schultz, den Lesern als ein junger Mann von leidenschaftlichem Temperament und wenig gefestigtem Charakter schon bekannt, hat sich, da er sich in seinem Berufe höchst unglücklich fühlt, einer verrufenen Gesellschaft leichtsinniger junger Leute in dem benachbarten Städtchen Schottendorf angeschlossen und sich in ihrem Kreise einem Taumel wilder Vergnügungen hingegeben. »Bereitwillig – so erzählt der Dichter – halfen ihm seine neuen Freunde aus Geldverlegenheiten, bereitwillig machten sie die Mittelspersonen bei anderen, schlimmeren Angelegenheiten: zu spät gingen Robert die Augen über seine ›Freunde‹ auf. Eines Tages erhielt er einen Brief aus der Hauptstadt. Eine Dirne, die bis vor wenigen Wochen in Schottendorf gedient hatte, teilte ihm mit, sie befinde sich in Umständen, die eine schleunige Heirat nötig machten ... Wolle er den Schlechten an ihr spielen, so werde sie ihn verklagen.« Jetzt verlangen auch seine Freunde, die er um Hilfe bittet, plötzlich ihr Geld zurück; als er ihre Forderungen, die seine wirkliche Schuld weit übersteigen, nicht anerkennen will, drohen sie ihn ebenfalls zu verklagen.

In seiner Verzweiflung begeht er einen Selbstmordversuch; durch einen glücklichen Zufall aber wird Reinhardt gerade im rechten Augenblick an den Ort der Tat geführt, um den Freund von seinem unseligen Vorhaben abbringen zu können. Er hilft ihm nicht nur durch tröstenden und mahnenden Zuspruch innerlich zurecht, sondern er erweist ihm auch tatkräftige Hilfe, indem er aus seinen eigenen Ersparnissen Roberts Gläubiger befriedigt und sich mit dem angesehensten Advokaten der Hauptstadt, dem Justizrat Stein, wegen einer finanziellen Abfindung der Dirne in Verbindung setzt. Dieser aufopfernde Freundschaftsdienst erfüllt den Verzweifelten wieder mit neuem Lebensmut, gibt aber auch, wie der weitere Verlauf der Handlung zeigt, den Feinden Reinhardts willkommene Gelegenheit, gegen den verhaßten Lehrer bei den Bergheimern, die nur von seinen äußeren Maßnahmen erfahren, den eigentlichen Zusammenhang aber natürlich nicht kennen, die schlimmsten Verdächtigungen auszustreuen.


Wieder war es Sonntag, wieder klangen die Glocken über das Dorf, und wieder wie so anders als zu Pfingsten, wie so anders als am Sonntag nach dem Hagelschlag! Die Glockenklänge brausten dahin in alter Herrlichkeit, aber wie wenige folgten ihrem Rufe? Fast nur alte Frauen und Kinder sah man zur Kirche gehen. Dagegen ging es in den meisten Häusern geräuschvoll her; die Stille des Sonntags war dahin. Knechte und Mägde schlürften mürrisch in Alltagskleidern durch Ställe und Scheunen, die Hausfrauen keiften und weinten, die Männer fluchten und wetterten; dazu pumpte der Webstuhl des Taubenleinwebers und knirschte die Säge in der Werkstatt des Wagnerspaule. – Doch ja, jetzt klangen Haustüren, Männertritte wurden laut; haben sich die Männer vielleicht nur verspätet? Sieh sie nur an, die Männer, die eben aus den Häusern treten! Geputzt sind sie wohl, aber ist die brennende Tabakspfeife im Munde nicht ein Hohn auf den langen Kirchenrock? Und die Bücher, die sie unter dem Arm tragen, sind noch schlimmer als die brennenden Tabakspfeifen. Stolz schreiten die Männer dahin im lauten Gespräch, das oft ein schallendes Gelächter unterbricht; verächtlich blicken sie auf die wenigen, scheuen Kirchgänger herab, lachend nicken sie den Genossen zu, die ihnen aus den Fenstern des Wirtshauses mit vollen Biergläsern zuwinken!

Reinhardt fröstelte es in der verödeten Kirche. Nicht nur die Wilden fehlten, auch viele Fromme blieben aus; sie zogen wahrscheinlich vor, zu Hause eine Predigt zu lesen, statt sich über die gewohnten Strafpredigten des Pfarrers zu ärgern. Reinhardts Blut kochte, als der Gesang gar so dünn und traurig klang! Die Predigt, die sich heute besonders gegen die Volksverführer und Jugendverderber wendete, stimmte ihn nicht ruhiger.

Sein Zorn erwachte aufs neue, als ihn das Taufglöckchen noch vor dem Nachmittagsgottesdienst zur Kirche rief. Heute empfand er bestimmt, daß er es nicht mehr lange neben Walter aushalten werde.

Den Kirchhof und Weg vor der Kirche fand er – wie bei solchen Gelegenheiten gewöhnlich – von neugierigen Kindern und Weibern angefüllt. Er mahnte zur Ruhe und eilte in die Kirche, deren Türe er leise hinter sich ins Schloß drückte. Der Täufling war der Sohn eines Wilden – Grund genug für Walter, eine donnernde Strafrede loszulassen, obgleich der Vater gar nicht zur Kirche gekommen war, die Mutter, eine stille, fromme Frau, die, in ihrem Kirchenstand kniend, in Tränen zerfloß, und die Taufzeugen, ein paar junge Leute aus einem Nachbardorf, erstaunt dreinschauten und offenbar nicht wußten, wodurch sie den Zorn des Geistlichen erregt hatten. Reinhardt kehrte sich ab und hing seinen Gedanken nach. Dabei entging ihm, wie die Kinder vor der Türe ungebührlich laut wurden. Plötzlich legte Walter sein Buch auf den Taufstein, rannte nach der Tür, riß sie auf und stürzte hinaus unter die Kinder und Weiber. Ein Schreckensschrei übertönte das Schelten und Drohen des Pfarrers; Geschrei, Heulen, Weibergekreisch folgte. Schwer atmend trat Walter an den Taufstein zurück und vollendete unter Zittern und Beben der Taufzeugen die Handlung.

Reinhardt suchte die trostlose Mutter zu beruhigen, als der hämisch lachende Uhrmacherle heranschlich und ihn vor den Pfarrer in die Sakristei beschied. »Sagt dem Herrn, ich wäre von selbst gekommen!« fertigte er den Erschrocknen ab.

Nachdem der Taufzug die Kirche verlassen hatte, trat Reinhardt in die Sakristei. Den Uhrmacherle, der an ihm vorbeischlüpfen wollte, hielt er zurück. »Ihr bleibt! Ihr sollt meinetwegen nicht in Versuchung kommen, in der Kirche zu lauschen!«

Walter entgegnete darauf nichts; mit tief gesenktem Kopf, die Hände in den weiten Ärmeln seines Priesterrocks verborgen, rannte er auf und ab. Mit zuckenden Lippen, ohne die Blicke zu erheben, brach er endlich los: »Herr, allzu lange habe ich Ihr verderbliches Treiben mit angesehen. Aber nun, da die Wirkungen Ihres Tuns täglich sichtbarer werden, die Zuchtlosigkeit Ihrer Schule schon so weit gediehen, daß die Kinder sich nicht entblöden, den Gottesdienst zu entweihen – nun kann auch ich nicht länger schweigen. Melden Sie sich freiwillig von Bergheim ab, und ich will vergessen, was Sie gesündigt! – Sie haben die heutige Störung des Gottesdienstes verschuldet. Ich werde sorgen, daß die Sache streng bestraft wird – und wehe Ihnen, wenn noch das geringste vorfällt! – Jetzt gehen Sie! Merken Sie, auch in Ihrer Schule werde ich mit Ihnen ins Gericht gehen!«

Reinhardt bebte vor Zorn und Aufregung. Dennoch fühlte er, daß er an sich halten müsse; ein Wort zuviel an dieser Stätte mußte ihm verhängnisvoll werden. Gewaltsam den Zorn niederzwingend, sagte er langsam: »Wohl, Herr, tun Sie, was Ihres Amtes ist. Machen Sie sich aber auf einen harten Kampf gefaßt, wenn Sie ernstlich daran denken sollten, mich wegen der heutigen Störung des Gottesdienstes zur Rechenschaft zu ziehen. Es waren nicht vorzugsweise Schulkinder, die den Lärm verursachten, sondern kleines, noch nicht schulpflichtiges Volk, sowie ältere Frauen, auf welche sich mein Einfluß nicht erstreckt. Und nun erlauben Sie mir eine Frage: was hat wohl die Taufhandlung mehr gestört: das harmlose Lachen der Kinder vor der Tür oder Ihre heftige Unterbrechung des Vortrags, Ihr Davonrennen, Ihr Schelten und Drohen? Glauben Sie mir, Herr, wäre der Täufling mein Kind gewesen – Sie hatten die Taufhandlung nicht vollendet!«

Der Pfarrer hemmte plötzlich sein Aufundabgehen, halb abgewendet von Reinhardt senkte er den Kopf und nagte an den Lippen. Leise sagte er: »Ich gestehe – ja, ich habe mich übereilt! Der Geist ist wohl willig, das Fleisch ist schwach! Aber das mindert in nichts Ihre Schuld, Herr! Ich werde mich vor Gott demütigen und meine Strafe auf mich nehmen; aber auch Sie sollen büßen für Ihr Versäumnis! Denn ohne Ihre Gleichgültigkeit bei Ausübung Ihrer kirchlichen Ämter, ohne Ihre erbärmliche Disziplin in der Schule, die man füglich besser Unzucht nennen sollte, hätte da je solche Störung vorkommen können?«

»Gut!« entgegnete Reinhardt verächtlich. »Klagen Sie! Es wird dadurch Klarheit in unser Verhältnis kommen. Meine Schulzucht nennen Sie Unzucht? Klagen Sie, ich bitte darum!«

Ohne das Rufen des Pfarrers zu beachten, verließ er die Sakristei. Dem Uhrmacherle, der ihn auf Nachmittag vier Uhr in das Pfarramt beschied, gab er kurz zur Antwort: »Sagen Sie dem Herrn Pfarrer, nach den heutigen Vorfällen habe ich persönlich nichts mehr mit ihm zu verhandeln; er soll mich verklagen!«

Sein Herz zog ihn nach Sülzdorf; voll Sehnsucht rüstete er sich, dorthin zu gehen, als die Herrnbauernmagd ins Zimmer stürzte und ihn im Namen ihrer Herrin sogleich in das Herrnhaus beschied. Das verstörte Mädchen war verschwunden, ehe er eine Frage an sie richten konnte. Was mochte auch dort wieder vorgefallen sein?

Im Herrnhaus traf er den Herrnbauer am Tisch sitzen. Der Kopf hing tief herab auf die Brust, so daß seine Gesichtszüge, vollständig beschattet, nicht zu erkennen waren. Die linke Hand lag auf der Tischplatte; krampfhaft umschloß sie eine Tabakspfeife, deren silbernes Kettengehänge leise klirrte; die rechte Faust war fest auf den Schenkel gestützt, durch die Finger lief ein heftiges Zucken. Bei Reinhardts Gruß erhob er wie erschreckt das Gesicht, strich sich über Augen und Mund und sagte gedämpft: »Sind Sie's, Schulmeister? – Ist gut, daß Sie kommen! Der Teufel ist los drinnen beim Weibsvolk! – Verrückter Unsinn! Als ob's nicht vorauszusehen war, daß der Beckenkarl über kurz oder lang Freierei mit der Jockenline machen würde!« – Reinhardt seufzte unwillkürlich tief auf – also das war es! Der Bauer mußte seine Bewegung für Zustimmung nehmen, bedeutend zutraulicher fuhr er fort: »Setzen Sie sich zu mir, Schulmeister, wir sind ja doch nun einmal Leut' und gehören zusammen. Hätt' einen Vorschlag – sollt' Ihr Schaden nicht sein, wollten Sie vernünftig sein.«

»Meine Bereitwilligkeit versteht sich von selbst, wenn es gilt, Ihnen gefällig zu sein!« sagte Reinhardt und holte sich einen Stuhl.

Der Bauer sendete ihm einen lauernden Blick nach und spielte, ungewiß, wie er beginnen sollte, mit den Ketten seiner Pfeife. »Hören Sie!« nahm er endlich das Wort, »mit dem Beckenkarl ist's also aus, die Margaret ist frei wie der Vogel in der Luft. Nu ist das aber ein arger Schimpf für das Mädle, daß der Bursch, der sie verlassen hat, vor ihr Freierei macht. Alles müßt' ihr nun daran liegen, sobald als möglich auch Verspruch zu halten. Ich mach' denn auch vorhin dem Mädle den Vorschlag, sie sollt's dem Karl, dem Maulaffen, zum Possen tun und sich heut' noch mit dem Schäfersfrieder verfreien! Potz heiliges Kreuz! da kam ich schön an! Fuhren nicht die Weibsbilder auf, als habe ich in ein Hornissennest geschlagen? – Nun hört, Schulmeister! Ich hab' mir's nun einmal in den Kopf gesetzt, die Margaret und der Frieder sollten ein Paar werden. In der einen Sach' wenigstens will ich meinen Willen haben! – Also, Schulmeister, Sie gelten was bei dem Weibervolk, Ihnen ist's ein leichtes, sie zum Nachgeben zu bringen – tun Sie Ihr möglichstes! Schulmeister, bringen Sie die Sach' fertig – ich will Sie forthin als meinen besten Freund achten!«

Reinhardt war schon lange wieder aufgestanden; traurig sagte er: »Es tut mir herzlich leid; aber in dieser Sache kann ich Ihnen nicht zu Willen sein – und wenn mein eigenes Geschick auf dem Spiel steht!«

Der Bauer antwortete nicht, sein Kopf hing wieder tief auf der Brust, und seine Finger zuckten. Seine Wut war grenzenlos, am liebsten hätte er den Lehrer sogleich niedergeschlagen. »Wartet nur!« kochte es in ihm. »Noch ist nicht aller Tage Abend. Ehe ihr euren Willen durchsetzt, rede ich auch noch einmal darein – ich, der Herrnbauer! Und der Schulmeister besonders soll sich in acht nehmen – o Pestilenz, wenn ich einmal Gelegenheit hätte, an ihn zu kommen! Aber wartet nur – noch bin ich da, ich, der Herrnbauer!«

Reinhardt war zu den Frauen gegangen. Margaret war trostlos; nicht der Verlust des Geliebten war es allein, der sie so gänzlich niederwarf; ein unsäglicher Schmerz fraß an ihrem Herzen, daß Karl ihr auch das Leid antun und gerade die Line freien konnte. Die Mutter wieder war in höchster Angst um ihr Kind, daneben auch erregte sie die Herzlosigkeit ihres Mannes, der sogar in dieser Stunde, ungerührt von solchem Jammer, nur an seine Pläne dachte. Reinhardt hatte viel zu beschwichtigen, die Bäuerin ging ernstlich damit um, nach Sülzdorf zu flüchten, und langer Zeit bedurfte er, bis er ihr diesen Gedanken ausredete.

Lange erst nach Mitternacht verließ er das Haus. Hell strahlten die Fenster des Kirchbauernhauses durch die Nacht, heller Jubel, lautes, fröhliches Gelächter schallte ihm entgegen. Reinhardt hüllte sich schauernd in seinen Überrock und beschleunigte seine Schritte. Er konnte ja nicht ahnen, wie trotz des lauten Jubels so wenig Freude an der Festtafel zu finden war, welche friedlosen nächtlichen Gedanken sich hinter lachenden Augen und Lippen verbargen. Und hätte Reinhardt vollends den Bräutigam heimwanken sehen, so zerstört und gebrochen, hätte er gesehen, wie der bleiche Bursche zusammenzuckte, als er sein altes Mütterlein, die durch nichts zu bewegen gewesen war, das Kirchbauernhaus zu betreten, mit tränennassen Augen, über das Bibelbuch gebeugt, seiner harrend antraf – hätte er gesehen, wie der bleiche Bursche auf seine Kammer floh und sich stöhnend auf seinem Lager umherwarf – sein Kummer wäre noch größer gewesen, als jetzt sein Zorn war.


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