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Voller Glockenton brauste vom Turm herab in die winterlich öden Gassen des Dorfes und kündete den Bewohnern, daß abermals ein müder Erdenpilger heimgegangen und nun sein letztes Ruhekämmerchen finden solle. Da und dort, an Haus- und Scheunenecken, in Höfen und Durchgängen standen Gruppen von Weibern und Kindern zusammen, ihr leises Geflüster wurde oft durch Weinen unterbrochen. Draußen aber in der Badergasse standen zu beiden Seiten schwarzgekleidete Männer und Frauen, sie erfüllten auch den kleinen Lichtenhof, in dessen Mitte ein schmuckloser braunlackierter Sarg aufgebahrt stand. Eben zog Reinhardt mit seiner Schuljugend, der das Kreuz vorgetragen ward, in den Hof und sang ein Sterbelied, in welches die Frauen ringsum leise weinend einstimmten. Danach hoben die acht Träger den Sarg auf die Schultern, aus der Haustür wankte der weinende Lichtennikele, vom Schulbauer sorglich gestützt; die Herrnbauersanna geleitete das Annedorle, die Schulbäuerin und Herrnbäuerin führten die Kinder. Sie folgten dem langsam dahinschwankenden Sarg, dem die Schuljugend mit dem Kreuz, Pfarrer Walter und Reinhardt vorausschritten, hinter ihnen ordnete sich zwanglos ein langer Zug. Im tiefen Herzen bewegt, wandelte Reinhardt inmitten seiner Kinder durch stille Gassen der Kirche und dem Gottesacker zu. Ein scharfer Wind hatte sich erhoben, pfiff rasselnd durch die blattlosen Baumzweige, klapperte mit den Holzkreuzen, raschelte in den dürren Totenkränzen und trieb die armen Blattleichen im tollen Wirbeltanz über den hartgefrornen Boden. Der kurze Dezembertag neigte sich bereits; eben öffneten sich die grauen Wolken, die den ganzen Tag den Himmel bedeckt, die untergehende Sonne übergoldete mit roten Lichtern den Sarg, der schon über der Grube schwebte und nun mit der Sonne zugleich verschwand. Der Grabgesang der Kinder verhallte, unterdrücktes Schluchzen klang leise nach, dann wurde es still, alle Häupter entblößten sich – Pfarrer Walter stand am Grab.
Der Priesterrock flatterte im Wind, während Walter mit tiefgesenktem Haupte leise betete. Endlich hob er das bleiche Gesicht; die Blicke zum Himmel gerichtet, die gefalteten Hände fest auf die Brust gedrückt, begann er mit lautschallender Stimme: »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt, und er wird mich hernach aus dem Grabe auferwecken! Amen! – Ob die Tote, deren sterbliche Reste wir soeben der Erde übergeben, in diesem Glauben starb, weiß ich nicht. Meine Erfahrung spricht dagegen. Nicht allein, daß sie, sonst das gewissenhafteste Beichtkind, in letzter Zeit jeden Zuspruch ihres Beichtvaters verschmähte und in diesem sündhaften Trotz nur allzusehr von den Ihren und – sogenannten Freunden bestärkt wurde, sie verlangte auch nicht nach den Gnadenmitteln unserer heiligen Religion, sie ging hinüber in die Ewigkeit, ohne sich durch den Genuß des heiligen Nachtmahls für die letzte große Reise zu bereiten. – Sie ist tot, unsre arme, beklagenswerte Mitschwester, die noch in ihren letzten Tagen ihren Herrn und Heiland in ihrem alten Herzen verriet und kreuzigte! Sie steht vor Gott, und wir können sie nur seinem Erbarmen empfehlen, wir können nur für die arme Seele beten!«
Heftiges Weinen brach gewaltsam hervor, als Walter, augenscheinlich selbst aufs höchste erregt, eine Pause machte und mit dem Taschentuch über Stirn und Augen fuhr. Viele Männer waren bleich geworden, der Bergbauer und Beckenjörg verließen mit hallenden Tritten den Gottesacker, der Beckenkarl lehnte an einem Baum und blickte wirr und wild um sich, der Schulbauer bebte vor Zorn an allen Gliedern, dennoch gab er sich Mühe, den Lichtennikele zu beruhigen, der wie außer sich die Hände rang und leise stöhnte: »Meine Annekunnel! meine gute, gute Annekunnel! womit hast du das verdient!«
Und doch war dies nur ein schwaches Vorspiel gewesen, die eigentliche Strafpredigt kam nun erst. – Das Weinen der Frauen verstummte, ein Flüstern ging durch ihre Reihen, immer weiter zogen sie sich von der trauernden Familie zurück, bald stand der Lichtennikele mit Tochter und Enkeln vereinsamt; nur der Schulbauer, seine Lisbeth, die drei Herrnbauersfrauen hielten noch bei ihm aus. Anders war der Eindruck bei den Männern. Diese Weise, die Toten zu verunglimpfen, war selbst den Gleichgültigen zuviel.
Als nun der Pfarrer nach Beendigung seiner Rede in der Tat ein Gebet für »Abgefallene« abzulesen begann, konnte der Schulbauer nicht länger an sich halten. Festen Schrittes trat er neben Walter an das Grab, streckte ihm seine Hand entgegen und rief mit hallender Bruststimme: »Halt da! – Kein Wort weiter!« Vor den blitzenden Augen des Schulbauern wich der Pfarrer unwillkürlich zurück; erstaunt drängten die Nachbarn heran und schoben ihn noch weiter vom Grab ab. Ehe sich der Geistliche fassen konnte, war er von dem Grab gänzlich abgeschnitten, und der Schulbauer begann zu der atemlos lauschenden Versammlung zu sprechen: »Ihr Nachbarn, ihr seid gewiß mit mir eines Sinnes, daß wir nicht gekommen sind, die selige Anna Kunigunde Winkler vor ihrem offenen Grabe schmähen zu hören. Die letzte Ehre wollten wir ihr erzeigen, indem wir sie zu Grab geleiteten. Ihr alle habt die Selige gekannt; wer ist unter euch, der ihr eine Schlechtigkeit vorwerfen könnte? Fürwahr, die Schläferin da drunten bedarf unsrer Rechtfertigung nicht, ihr Leben selbst zeugt für sie. Wenn ich dennoch für sie eintrete, so geschieht das nur, um der Wahrheit vor allen Menschen zum Recht zu verhelfen. Ja, ich kann's nicht geschehen lassen, daß dein Andenken beschimpft wird, du gute Kunigunde! Ich kenne dich von Jugend auf, lange Jahre lebten und arbeiteten wir zusammen; allezeit habe ich dich treu erfunden in allen Stücken, im großen und kleinen. Freudig bekenn' ich's: niemals war eine bessere Magd, niemals eine bessere Hausfrau auf meinem Hof. Und wie du dich bewährt hast in fremden Diensten, so auch im eignen Haus; wir alle sind Zeugen deiner großen Treue, Liebe und Güte, wir alle wissen, daß die Tränen, die dir dein Nikel, dein Annedorle nachweinen, aus dem Herzen kommen. Und wer ist unter uns, der sich nicht gewundert hätte über die immer gleiche Geduld, mit der du dein schweres Leiden getragen, über die freudige Ergebung in den Willen Gottes, über dein unwandelbares Gottvertrauen? Wer kann vergessen, wie du auch noch im größten leiblichen Elend so liebreich um die Deinen sorgtest? Und um dir volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, so bekenne ich, daß du im vollen freudigen Glauben an den Herrn Jesus, den du dein lebelang als dein Heiligtum gehütet hast, auch gestorben bist! – Und so schlafe in Frieden, du müde Erdenpilgerin! Ruhe sanft, ach, dir wird die Erde leicht sein, du glaubensstarke, glaubenstreue Dulderin! Der Friede Gottes, der schon bei Lebzeiten dein Herz erfüllte, wird auch um dein Grab wehen und fortdauernd für dich zeugen. Ja, schlummere in Frieden, treue Seele, dein Andenken wird in unseren Herzen leben und unsre Liebe bleibt dir gewiß. Schlummre sanft im stillen Kämmerlein!«
»Amen – Amen!« schluchzte Nikel. »Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr erleuchte sein Angesicht über dir und sei dir gnädig; der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden. Amen – in Gottes Namen: Amen!«
Reinhardt hatte längst seinen Chor um sich gesammelt; ehe der Pfarrer dreinfallen konnte, erklang in sanften Akkorden der Schlußgesang.
Tief ergriffen standen Männer und Frauen um das Grab, selbst die härtesten Gemüter waren bewegt; aus manchem Auge sprach die Frage: ist's möglich – der Schulbauer, der sich so unverzagt seiner alten Magd und Hausmannsfrau annahm, dessen Worte so viel christlicher klangen als die des Pfarrers, das soll ein Abgefallener sein? – –
Nur Walter war ungerührt. Ein grenzenloser Zorn kochte in ihm. Die Heiligkeit des Ortes würde ihn nicht abgehalten haben, den Schulbauer zu unterbrechen; allein plötzlich stand der bleiche, verwilderte Beckenkarl neben ihm. Walter erschrak vor den düsteren Blicken des Jünglings. – Er rang mit Macht gegen den »teuflischen« Zauber, der ihm Zunge und Glieder lähmte, allein, ehe er die alte Herrschaft über sich gewann, wendete sich die Versammlung schon zum Gehen. Was nun tun? – Während er noch mit sich selber rang, ging der entscheidende Augenblick vorüber; die dumpf auf den Sarg dröhnende Erde klang ihm wie ein verhängnisvolles: Zu spät! Hastig trat er dem Schulbauer in den Weg. »Wissen Sie, was es bedeutet, einen geweihten Diener der Kirche gewaltsam in Ausübung seines Amtes zu hindern? Sie sollen Ihren Übermut bereuen; heute noch werde ich eine Klage gegen Sie erheben!«
»Weiter wissen Sie nichts?« entgegnete der Schulbauer verächtlich. »Gut, klagen Sie, ersparen Sie mir dann doch noch eine Mühe! Ja, glauben Sie, Herr, ich und der Lichtennikel würden diese offenbare Beschimpfung einer Toten so ruhig hinnehmen? Klagen Sie, lassen Sie mich strafen. Aber wir werden uns dann an einem Ort gegenüberstehen, an dem keine Rücksicht meine Zunge bindet; und ich freue mich darauf, Ihnen vor Gericht meine ganze Herzensmeinung sagen zu können!«
Walter verbarg die Hände in den Falten seiner weiten Ärmel und blickte dem Schulbauer nach. Das Murmeln und Raunen der Umstehenden weckte ihn aus seiner Versunkenheit; den Kopf tief gebeugt schritt er langsam dem Pfarrhofe zu. In seiner Studierstube schloß er sich ein; dort fiel die Maske der Ruhe, Sicherheit und demütigen Siegesgewißheit! Aus dem unfehlbaren Glaubenshelden wurde ein schwacher, von Zweifeln zerrissener Mensch. Oft schon hatte er äußerliche Niederlagen und Demütigungen erlitten – mit jener stolzen Unnahbarkeit, welche seine Freunde bewunderten und seine Gegner fast mehr noch als seine Rücksichtslosigkeit fürchteten. Heute war das anders. Er hatte gezweifelt, geschwankt – darum war er unterlegen! Und schlimm! Auch seine Gegner, seine Freunde selbst mußten seine Niederlage erkannt haben. Wohin sollte das führen? Walter lag vor dem Bilde des Gekreuzigten auf den Knien, er rang im heißen Gebetskampf mit Gott. – Umsonst – die frühere Sicherheit und Klarheit fand er nicht wieder. Den Blick des Schulbauern konnte er nicht vergessen; das verstörte Gesicht des Beckenkarl, seine verwilderten Blicke peinigten ihn. Es lag eine furchtbare Anklage in diesem bleichen, leblosen Gesicht! Es stand zwischen ihm und Gott. – Die ganze Nacht brannte Licht in der Studierstube des unglücklichen Mannes.