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Vierunddreißigstes Kapitel

Reinhardt saß in der freundlichen Pfarrstube, deren zerschlagene Fensterscheiben die dicht zugezogenen Vorhänge und festverschlossenen Läden verbargen, im weichen, bequemen Lehnstuhl, schwach und angegriffen vom Blutverlust und der Aufregung dieses Abends. Die Pfarrerin, deren blasse, stille Züge noch deutlich die Spuren der überstandenen Schrecken zur Schau trugen, war eifrig bemüht, durch kalte Umschläge, Binden und Kompressen die Blutung zu stillen. Ihre dunkeln Augen füllten sich mit Tränen, ihre Hände zitterten, so oft sie die geröteten Tücher abnahm, und die drei reizenden Mädchen von 8–12 Jahren, die ihr eifrig zur Hand gingen, kaltes Wasser und Leinwand beitrugen, schluchzten leise. »Stille doch, ihr guten Kinder!« tröstete Reinhardt lächelnd und strich der Jüngsten sanft über das volle Haar. »Wer wird so ängstlich sein? Gut, daß sich die unbedeutende Schramme tüchtig ausblutet – desto geschwinder wird sie heilen! – Frau Pfarrerin, Ihr Wein tut mir wahrhaft gut – dürfte ich noch um ein Glas bitten? – Ich danke von Herzen! – Ah – das gibt neues Leben! – Sehen Sie, nun ist auch die Blutung schon vorüber! – Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden, daß Sie meiner Braut einen neuen Schrecken ersparten! – Und euch, ihr lieben Kinder, euch werde ich meinen Dank noch besonders abstatten!«

»O Reinhardt!« flüsterte die Frau weinend, indem sie sich tief niederbeugte, »reden Sie nicht von Dank! – Mein Gott, o, mein Gott! Mir erzittert das Herz! Meinen Mann zu retten, wagten Sie Gesundheit und Leben, nachdem – o, mein Gott! – und er wird es Ihnen nicht danken!«

»Stille doch, verehrte Frau!« sagte Reinhardt herzlich und drückte ihre Hand. »Was ich getan, war meine Pflicht, sonst nichts.«

»O Reinhardt, das waren bittere Stunden! Nicht die Angst um die wilden Männer war das Schrecklichste! – Und Sie wollen mit meinem Manne reden? – jetzt? Wird er Sie anhören?«

»Er muß! – Ich komme im Auftrag der Gemeinde, er darf mich nicht abweisen!«

»Werden Sie verlangen, daß er die Kirche nicht mehr betritt?«

Reinhardt zuckte die Achsel. »Das ist sein Tod!« weinte die Frau. »Ach, und darauf geht er nie und nimmermehr ein! – Gott, Gott, wie wird das enden?«

»Wollen Sie nicht selbst einen Versuch wagen, ihn milder zu stimmen? – Ich meine, auch Ihnen müsse daran liegen, Bergheim sobald als möglich zu verlassen!«

»So werden Sie im Ernst seine Entfernung verlangen?«

»Empfinden Sie nicht, daß er sich hier unmöglich gemacht hat?«

»Es ist hart, einen Ort so verlassen zu müssen!«

»Die Härten sind einmal in der Welt, verehrte Frau! – Ist es nicht besser, der einzelne nimmt ein Ungemach auf sich, als daß eine ganze Gemeinde ins Verderben gestürzt wird?«

»O Reinhardt, wenn Sie wollten –«

»Verehrte Frau! – so nicht! Bedenken Sie, es handelt sich hier nicht um persönliches Wollen und Belieben.«

»O, ihr harten Männer! – Und wenn sich mein Mann weigert, Ihre Vorschläge anzunehmen?«

»So werde ich unverzüglich der Gemeinde Bericht erstatten und zu weiteren Maßregeln treiben!«

»Aber was dann?« schluchzte die Frau, die Hände ringend.

»Warum quälen Sie sich und mich? Was bleibt uns dann übrig, als uns an die Regierung zu wenden? – Lassen wir das! Wollen Sie nicht lieber einen Versuch machen, Ihren Herrn Gemahl milder zu stimmen?«

»Ich – ich? Ach, er wird mich nicht anhören! Er duldet nie eine Einmischung in sein Amt!«

»Allein hier handelt es sich nicht bloß um amtliche Entschließungen, auch um Familienfragen, und dabei darf doch die Stimme der Hausfrau nicht umgangen werden! Gehen Sie, verehrte Frau, melden Sie uns als eine Gemeindedeputation und benutzen Sie die Gelegenheit! – Und noch eins! Die Ruhe scheint zwar völlig hergestellt, allein dem Frieden ist doch nicht zu trauen. Ich möchte, wenn Sie es erlauben, für die Nacht gerne eine Art Hauptwache hier errichten und wollte Sie bitten, uns ein Zimmer anzuweisen, das ...«

»Ach, Sie nehmen mir abermals einen Stein vom Herzen. Fast wagte ich nicht meinen Wunsch um eine Sicherheitswache auszusprechen, und doch wäre es mir schrecklich gewesen, mit meinen Kindern allein sein zu müssen! Natürlich steht Ihnen das ganze Haus zur Verfügung!«

»Nicht doch! Wir wollen nicht genieren. Wie wäre es, wenn Sie die Konfirmandenunterrichtsstube für uns heizen ließen? – Gut! – Und nun bitte, wollen Sie uns anmelden? –«

Die Kinder waren lange wieder zu Bett gegangen, und als die Frau Pfarrerin die Stube verließ, war Reinhardt mit seinen Freunden allein. »Armer Junge, wie geht's?« rief der Schulbauer.

»Die Wunde ist trotz der großen Blutung kaum bedeutend, allein der Hieb war gut gemeint; seit einiger Zeit empfinde ich ein ganz wunderliches Brummen und Dröhnen im Hirn! – Jetzt aber berichtet: wie fandet ihr das Kirchbauernhaus? – wie steht's im Dorf?«

»Den Umständen nach gut!« nickte der Beckenbauer, »wenn ich gleich nicht behaupten will, daß es mir besonders behaglich zumute ist. Die Wirtshäuser sind besetzt, Schleichwachen durchziehen das Dorf – die Sülzdorfer Männer tun gute Dienste – und der Holsteiner mit seinen Saufbrüdern ist im Spritzenhaus sicher aufgehoben.«

»Und wer blieb im Kirchbauernhaus?«

»Wirst's wohl kaum erraten!« sagte der Schulbauer bewegt. »Als ich vorhin abends vom Herrnhaus dahin kam, fand ich den Beckenkarl bei der Line. Ist doch ein braver Bursch', der Karl, bei Gott! Also, der Karl bemühte sich um das noch immer halb ohnmächtige Mädchen, und ich hörte ihn sagen: Lina, du weißt, wie ich an dich gekommen bin; du weißt auch, daß ich die Herrnbauersmargaret nimmermehr vergessen kann. – Heute aber kann ich deinen Jammer nimmer mit ansehen. Aus freier Wahl sage ich dir: in meinem Hause bist du nicht fremd, und wenn du willst, bist du in vierzehn Tagen Beckenbäuerin! – Ja, ja, Fritz, ich war auch ganz erstaunt, wie wurde mir aber erst, als nun die Line begann: Gott segne dich für dieses Wort, Karl! Das hat mir wohlgetan! – Ach, ich bedarf der Teilnahme, soll ich nicht zugrunde gehen. – Hab' Dank für deinen Antrag! Annehmen kann ich ihn nicht! – Ich habe schwer gefehlt, Karl, ich war ein unnütz, hoffärtiges Ding – lieber Gott! Ich könnt' vielleicht sagen, ich wäre auch anders geworden, hätte sich jemand in aufrichtiger Liebe meiner angenommen – allein was nützt solch' Reden? – Ach, Karl, ich bin grausam heimgesucht! Tröste nicht, für mein Leid gibt's keinen Trost! – Nochmals, habe Dank für deinen Antrag, du hast's gut gemeint, Gott wird dich dafür segnen! Aber du hast kein Recht mehr über deine Hand, die gehört der Margaret und soll ihr bleiben, und eigentlich wäre auch im Herrnhaus dein Platz; aber sie wird es dir wohl verzeihen, wenn du dich noch eine kleine Weile einer Verlassenen annimmst. – Tröste nicht, Karl, mir nützt kein Menschentrost! Was aus mir wird, weiß ich noch nicht; aber sei unverzagt, zugrunde gehe ich nicht, ich darf ja nicht, schon um der Geschwister willen nicht!«

Der Schulbauer nickte freundlich, als er den ungeduldig fragenden Blick des Lehrers bemerkte. »Kannst du zweifeln? Die Line und ihre zwei Brüder sind einstweilen im Herrnhaus einquartiert; wir sind schon ganz gut befreundet, mit Freuden haben mir die Kinder versprochen, zu mir nach Sülzdorf zu ziehen. Und so sollen wir, wenn du uns auch die Anna entführst, dennoch nicht ohne Kinder sein!«

»Ja, es sind wundersame Zeiten!« sagte der Bergbauer und wischte sich heimlich die Augen. »Was ich heute erfahren, wiegt ein ganzes Leben auf! – Der Beckenkarl hat's übernommen, vorläufig den Kirchbauernhof in Ordnung zu halten!«

»Gott sei Dank – es wird Licht!« seufzte Fritz aus tiefstem Herzen.

»Ja, daß dich der Hund beißt!« meinte der Grundmüller und kraute sich die Haare. »Wenn uns der da droben keinen Strich durch die Rechnung macht. – Ich wollt' wir wären fertig mit ihm!«

Die Frau Pfarrerin kehrte zurück. Die Augen, noch mehr gerötet, deuteten auf heftiges Weinen; mit zuckenden Lippen, bebenden Händen winkte sie Reinhardt ins Nebenzimmer, dort sank sie in einen Sessel und brach in krampfhaftes Weinen aus. »Gott – deine Prüfungen sind allzu hart! – Wie ich voraussagte! Er beharrt auf seinem Willen, verbittet sich die Deputation, will keinen Vorschlag auch nur anhören. Und morgen will er aus Anlaß dieser bedauerlichen Vorfälle noch eine besondere Betstunde halten!«

»Will er auch mich nicht hören?«

Die Augen der Frau erweiterten sich, fest drückte sie die Hände auf die Brust, mühsam brachte sie ein kaum hörbares »Nein!« hervor.

»Bitte, Frau Pfarrerin – es tut mir leid, daß ich Sie plagen muß, aber leider kann ich es nicht ändern! – bitte, sagen Sie dem Herrn Pfarrer: der Lehrer Reinhardt verlange in dringenden, unaufschiebbaren Angelegenheiten sofort den Pfarrer von Bergheim zu sprechen. – Um mich nicht einer zweiten Abweisung auszusetzen, werden Sie erlauben, daß ich Sie sogleich begleite!«

Im Wohnzimmer bat er die Männer, ihn in der Konfirmandenstube zu erwarten, damit die Frau Pfarrerin nicht länger gestört werde. »Der Herr Pfarrer wünscht mich allein zu sprechen!« wendete er sich an den Bergbauer und Grundmüller. »Zu rechter Zeit werde ich euch rufen lassen.«

»O, daß dich der Hund beißt!« platzte der Grundmüller heraus. »Mein Verlangen nach dem geistlichen Herrn ist nicht gar groß! Werdet nur allein mit ihm fertig; ist grad' so gut, als wären wir dabei gewesen, Euer Wort gilt!«

Die Hausfrau seufzte tief, dann schritt sie mit dem Licht voran die Treppe empor. Fritz wollte sich zwingen, ruhig zu sein, allein sein Herz begann doch heftig zu schlagen, als er sich dem Studierzimmer näherte. Die Tür war verschlossen, auf schüchternes Pochen erfolgte keine Antwort. Fritz empfand herzliches Mitleid mit der armen Frau, die heftig zu zittern begann und in Tränen ausbrach. Er führte die Willenlose ruhig die Treppe hinab: »Ruhen Sie aus, Sie sind angegriffen! – Keine Sorge, der Herr Pfarrer wird mir den Eintritt nicht weigern!«

Zum zweitenmal schritt Fritz durch das schweigende Haus, das noch vor kurzem von solch wildem Lärm umtobt war. Das Licht knisterte und flackerte, wunderliche Gestalten huschten wie Gespenster durch die Flure und das Treppenhaus – eben schlug es auf dem Turme elf Uhr! Er griff sich an die fieberheiße Stirn, Schwindel wandelte ihn an, doch nur einen Augenblick. Kräftig pochte er an die Türe; als auch jetzt keine Antwort erfolgte, sagte er laut: »Herr Pfarrer, ich, der Lehrer Reinhardt, habe in dringenden Dienstangelegenheiten mit Ihnen zu verhandeln – wollen Sie öffnen?«

»Es ist Mitternacht! Kommen Sie zu einer passenderen Zeit, jetzt muß ich allein sein!« klang es dumpf zurück.

»Außerordentliche Ereignisse heben die gewöhnlichen Formen des Verkehrs auf; ich muß mit Ihnen reden und zwar sogleich. Öffnen Sie!«

»Morgen ist Sonntag, und ich muß mich auf den Gottesdienst bereiten! Verlassen Sie mich, es sollte mir leid sein, müßte ich Sie als Eindringling abfertigen!«

»Betrachten Sie mich als was Sie wollen, aber im Namen Ihrer Pflicht – öffnen Sie! Herr, die Folgen über Sie, beschwören Sie durch Ihren Starrsinn einen neuen Sturm herauf! Öffnen Sie!« Der Riegel klirrte zurück, Reinhardt trat rasch ein, jeder mit einem Licht in der Hand, standen sich die Gegner gegenüber und maßen sich mit zornfunkelnden Blicken. – »Sie werden zu verantworten haben, daß Sie sich mit Gewalt in das Heiligtum eines Geistlichen drängten und seine wichtigsten Arbeiten störten!«

»Lassen Sie dergleichen Deklamationen, die schlecht zu Zeit und Umständen passen. Wie? – Sie wagen nach den heutigen Verhandlungen im Schulamt mir noch zu drohen? Wagen mir noch von Verantwortung zu sprechen? Sie? –«

Der Leuchter begann in der Hand des Geistlichen zu klirren, die Flamme flackerte und knisterte und erleuchtete grell das blutlose Gesicht, in dem eine schauerliche Veränderung vorging. Die halbgeöffneten Lippen schlossen sich, die Zornesfalten der Stirn verschwanden, die zusammengezogenen Augenbrauen zogen sich empor, die eben noch funkelnden Augen quollen stier und glanzlos aus ihren Höhlen hervor. Als erblickte er eine Furchterscheinung, so starrte Walter auf Reinhardt, unwillkürlich streckte er abwehrend seine Hand nach ihm aus. Plötzlich kehrte er sich um, setzte klappernd den Leuchter auf den runden Tisch inmitten der Stube, eilte nach dem kleinen Betpult unter dem großen Christuskopf, warf sich auf die Knie, rang die Hände und begann heftig zu beten.

Reinhardt ward starr vor Staunen, ein heimliches Grauen überschlich ihn fröstelnd beim Anblick des im heißen Gebetskampf ringenden Mannes. Er gewann es doch nicht über sich, den Betenden zu stören. So stand er einsam im matt erleuchteten Zimmer, das nur allzu deutlich die Spuren der großen Aufregung seines Bewohners zeigte. Überall waren Papiere unordentlich durcheinandergeworfen, ganze Haufen halbgeöffneter amtlicher Schreiben deckten zu beiden Seiten des Schreibpultes den Boden, Papierfetzen, oft zusammengeknüllt, waren durchs Zimmer gestreut. Sonderbar kontrastierte mit diesen Zeichen eines heftigen, aufbrausenden Charakters der im Winkel kniende eifrig betende Mann! – Der Sturm brauste um das Haus, warf den Regen prasselnd an die Fenster, zerrte und riß den Pflaumenbaum hin und her, daß seine Äste an der Wand hinschurrten und ächzten, summend verkündete die Turmuhr Viertelstunde um Viertelstunde, die Lichter waren tief herabgebrannt, knisterten und rauchten, und noch immer rang der Mann nach Fassung.

Endlich – Reinhardt hatte sich eben vorgenommen, ihn anzurufen – erhob sich Walter. Er war noch bleicher als vorher, seine Züge verstört, seine Augen glanzlos. Ohne Reinhardt anzusehen, legte er die Hände aufeinander, als verstecke er sie in den weiten Ärmeln seines Priesterrockes, senkte den Kopf tief auf die Brust, schlich mit müden Schritten auf und ab und begann endlich so leise, so tonlos, daß sein Sprechen fast mehr einem Rascheln trockenen Laubes ähnelte, als menschlichen Lauten: »Der Herr legt mir schwere Prüfungen auf, meine Beharrlichkeit zu erproben. Und ich höre, wie die Welt mich verdammt, wie man meine Niederlage bejubelt; ich sehe, wie selbst Freunde mich als einen Gottverlassenen beklagen! Allein noch bin ich nicht besiegt! Der Gott, der mich erniedrigte, wird mich auch erhöhen, bin ich treu erfunden! Und ich will nicht wanken, nicht zagen und klagen! Sollt' ich mich nicht freuen, daß mir ein solches Kreuz auferlegt, solche Bewährung mir vorbehalten ist?«

Walter aber hatte sich hoch aufgerichtet, das Feuer des Eifers brannte wieder auf seinen Backenknochen, die Augen leuchteten in unheimlicher Glut. »Ja,« rief er, »vor der Welt und ihren Augen haben Sie gesiegt. – hier,« er deutete mit der Fußspitze verächtlich nach dem Haufen Briefe, »hier wurde mir vom Schulamt der Bescheid, daß alle meine Anklagen falsch, grundlos! – nach einer Verhandlung von wenigen Stunden! – Genug! Sie sind völlig gerechtfertigt, natürlich mit allen Ehren in Ihre Stelle wieder eingesetzt; obendrein bin ich angewiesen, Ihnen volle Genugtuung zu geben, was ich hiermit abgemacht haben will.«

»Was aber wohl keineswegs hiermit abgetan wäre, läge mir an Ihren Erklärungen auch nur das allergeringste. Sie hätten sich sogar das ersparen können. Deswegen bin ich auch nicht gekommen –«

»Natürlich kann ich nicht erwarten, daß sich Ihr Hochmut nach dem heutigen Siege mindert!« unterbrach ihn der Pfarrer. »Merken Sie auf! Meine heutige Niederlage, um dem Sprachgebrauch der Welt zu folgen, ist in meinen Augen nichts als eine Prüfung des Höchsten! Sie mögen die Herren im Amt täuschen – mich täuschen Sie nicht, ich durchschaue Sie, und auch nicht ein Jota meiner Anklagen nehme ich zurück! Das letzte Wort in dieser Angelegenheit ist noch nicht gesprochen, das Kirchen- und Schulamt ist nicht die letzte Instanz! Sie sind ein Feind der Kirche, ein Materialist, ein um so gefährlicherer Gegner jeder Moral, alles Glaubens, als Sie Ihre gotteslästerlichen Irrlehren hinter hochklingenden Worten zu verbergen, durch ein äußerlich anständiges Leben die Menschen für sich einzunehmen wissen. Ich werde nicht ablassen, Ihnen entgegenzuarbeiten, bis Sie aus der christlichen Schule entfernt sind! Darum werde ich meine Anklagen stets aufrechterhalten in allen Stücken und so oft wiederholen –«

»Auch die wegen unsittlichen Umgangs mit einem Weibsbild aus Schottendorf?« fragte Reinhardt, der sehr bleich geworden war.

Walter fuhr zurück. »Ach – hier, ja hier wurde ich selbst belogen! hier trifft mich keine Verantwortung!«

»Keine?« rief Reinhardt schneidend. »Ah! war mein Leben nicht wenigstens eines Versuches wert, die Wahrheit dieser Gerüchte zu prüfen, ehe Sie dieselben als Anklagen benützten? – Doch wir sind fertig zusammen, persönlich habe ich mit Ihnen nichts mehr zu schaffen! Sie müssen selbst fühlen, daß nach Ihren letzten Worten ein ferneres Verhältnis zwischen uns ganz unmöglich ist. Entweder Sie oder ich verlassen Bergheim – ein drittes gibt es nicht!«

»Der Erfolg macht Sie übermütig!« rief Walter, der wieder bleich geworden war. »Ha, Sie bauen auf die Bewegung im Dorf, auf den plötzlich gegen mich losgebrochenen unmotivierten Zorn! Täuschen Sie sich nicht! Der Sturm wird vorübergehen – und endlich wird das arme, betörte Volk seine wahren Freunde erkennen. – Der Gewalt trotze ich, der Lärm eines tollen Pöbelhaufens schreckt mich nicht, zumal wenn ich, wie hier, der unsauberen Quelle der Aufregung so nahe bin!«

Reinhardts Wunde brannte, seine Schläfen pochten, aber er bezwang sich. »Grade über letzteren Punkt scheint Ihre Frau Gemahlin anderer Meinung!« sagte er kalt.

»Ah – wie ist mir?« rief Walter zurückfahrend und griff mit der Hand an die Stirn. »Mein Gott – träume ich? Sagte sie mir nicht, Sie hätten für uns –«

»Lassen Sie das und kommen wir endlich zur Sache!« unterbrach Reinhardt rauh. »Ich stehe hier im Auftrag hiesiger Gemeinde, besonders aber derjenigen Partei, die bis heute treu und fest zu Ihnen gestanden. Mancherlei Ereignisse, die Sie wohl kennen, haben Ihre Anhänger erschreckt und aufgeregt. Das bisherige Vertrauen verwandelte sich in tiefes Mißtrauen. Besonders Ihr Verhältnis zum Jockenhannes erschreckt und ängstet die armen Leute. In dem Augenblick, da Sie sich mit dem Jockenhannes einließen, waren Sie ein aufgegebener Mann! – Genug! Ich habe die Anklagen, welche Ihre Anhänger gegen Sie erheben, nicht zu wiederholen, ich habe Ihnen nur ihren Willen mitzuteilen. Man will Sie nicht langer auf der Kanzel dulden; man verlangt, daß Sie die hiesige Pfarrstelle niederlegen. Dies mein Auftrag! Nicht verhehlen darf ich Ihnen, daß man fest entschlossen ist, diese Forderung möglicherweise mit Gewalt durchzusetzen. Ein Aufruhr ist nicht zu verhüten, betreten Sie morgen die Kirche. In Anbetracht nun der Sachlage –«

»Nein – nein – nein!« schrie plötzlich der Pfarrer und rannte wie toll in der Stube auf und ab. »Stille, kein Wort weiter! Der versuchende Teufel soll mich nicht überwinden! Von Christus habe ich mein Amt empfangen, er hat mich auf diesen Posten gestellt – und ich werde ihn behaupten, ob auch die ganze Hölle sich tobend wider mich erhebt. – Gehen Sie – sagen Sie denen, die Sie schickten, ich bleibe – ich bleibe allen Gefahren zum Trotz, und morgen und immer werde ich die Kanzel besteigen. Keine menschliche Gewalt soll mich von dem Posten verdrängen, den mir mein Heiland anvertraut; nur ein Ruf Gottes kann über mich bestimmen, nur seiner Stimme werde ich gehorchen.«

»Ha! – und was erwarten Sie nach den heutigen Vorgängen noch für einen besonderen Ruf Gottes?« rief Reinhardt und trat mit flammenden Augen dicht vor den Geistlichen. »Wenn Ihnen die Vorgänge dieses Tages nicht das Gewissen rührten, wenn selbst der Umstand, daß Ihre gehaßtesten Feinde sich Ihren ehemaligen Freunden entgegenwerfen mußten, um sie samt Weib und Kind vor ihrer Wut zu schützen – wenn das alles Ihnen noch nicht als warnender Ruf Gottes gilt – auf was wollen Sie warten? Hoffen Sie auf persönliche Offenbarung Gottes? Herr – empfinden Sie nicht, auf welche schiefe Bahn Sie geraten sind, ahnen Sie nicht, daß Sie im Begriff stehen, sich göttliche Unfehlbarkeit anzumaßen?«

Entsetzt fuhr Walter zurück; mit weit aufgerissenen, gläsernen Augen starrte er auf Reinhardt und streckte wie abwehrend beide Hände nach ihm aus. »Nein – nein – und immer nein! Es ist nicht wahr! ich stehe auf dem rechten Grund, auf dem ewigen, unzerstörbaren Grund des allein wahren seligmachenden Glaubens! Und was ich getan, war recht!«

»Zum letztenmal,« unterbrach ihn Reinhardt barsch, »willigen Sie darein, freiwillig Bergheim baldmöglichst zu verlassen? Werden Sie morgen die Kirche meiden?«

»Nie – nie!«

»Unsel'ger Mann! Haben Sie noch nicht genug Unheil angerichtet? Wollen Sie mit Gewalt Ihre ehemaligen Anhänger zum Verbrechen treiben? Ihre Familie vielleicht für immer elend machen? – Noch einmal frage ich: wagen Sie die Verantwortung auf sich zu nehmen, wenn morgen das Gotteshaus der Schauplatz gewaltsamer Auftritte wird?«

Walter lag wieder vor dem Christuskopf. Endlich richtete er sich mühsam auf. »Ich habe schwer – schwer gerungen! Aber der Himmel bleibt mir verschlossen, keine Erleuchtung von oben erfrischt meine Seele. – Sei's drum, und wenn ich fehle, Gott wird mir diese Schwachheit verzeihen! Um eine Schändung des Heiligtums zu verhüten, will ich morgen und in den nächsten Tagen die Kirche nicht betreten! Gehen Sie jetzt – ich muß allein sein!«

»Sie werden sich nicht abmelden?«

»Nein, nein – nie! Ich bleibe, bis mich ein Ruf Gottes gehen heißt!«

»Wohl denn! Wir werden versuchen, Ihnen einen solchen Ruf zu verschaffen!« Ohne Walters erstaunte Frage zu beachten, verließ Reinhardt rasch die Stube. –

»Ja, er ist ein harter Mann und hat mir heiß gemacht!« berichtete Reinhardt den Freunden, die ihn ungeduldig erwartet hatten. »Viel habe ich nicht erreicht, vom Wegmelden ist keine Rede, er bleibt!«

»Daß dich der Hund beißt!« schrie der Grundmüller und schlug auf den Tisch. »Das ist eine saubere Geschichte! Und was nun?«

»Ja, jetzt gilt es eben arbeiten!« seufzte Reinhardt. »Soviel ist gewiß: einer von uns muß gehen – er oder ich! Zusammen können wir nicht länger bleiben!«

»Beim Teufel! dann wollte ich, Sie hätten heute den Leuten Raum gelassen – jetzt wäre das Feld rein!« wetterte der Beckenbauer. »Und was soll nun geschehen?«

»Vor allen Dingen muß die Ruhe erhalten werden!« entgegnete Reinhardt. »Ich habe wenigstens sein Wort, daß er morgen und in den nächsten Tagen die Kirche nicht betreten will. Das ist schon etwas. Um neue Aufregung zu vermeiden, muß dem Volk die Weigerung Walters verschwiegen bleiben – morgen halten wir Gemeindeversammlung und beraten eine Petition an das Staatsministerium. – Also vorsichtig, meine Freunde, daß nicht ein neuer Sturm losbricht! – Die alten Herren mögen nun heimgehen und ausruhen; der Beckenbauer, Bergbauer und ich halten Wache, hoffentlich wird keine weitere Störung vorfallen!«

Der Grundmüller war mit dieser Anordnung sehr einverstanden, der Schul- und Bergbauer weigerten sich jedoch entschieden, Reinhardt zu verlassen, und auch der Beckenbauer ging erst, als sein Bruder Karl eintrat und erklärte, die Nacht hierbleiben zu wollen.

Der Schulbauer und Bergbauer machten es sich auf dem Sofa bequem, und ihr kräftiges Schnarchen bekundete bald ihren gesunden, festen Schlaf. So saßen sich die ehemaligen Freunde bald ungestört gegenüber. Lange blickten sie sich prüfend in die Augen, dann streckte Karl dem Freunde die Hand entgegen und sagte leise: »Fritz!«

»Karl!«

Abermals blickten sich die Männer lange ins Auge, fest und fester schlossen sich die Hände zusammen.

»Ich habe dir unrecht getan, habe dich gekränkt, schwer beleidigt!« begann Karl heftig atmend. »Kannst du verzeihen?«

»Davon ist gar nicht die Rede. Du hast mir wehe getan, ja – doch dir selbst am wehesten. Überdies hast du alles Vergangene mehr als ausgeglichen durch dein Vertrauen zu der Zeit, als alle von mir abfielen.«

»Ich habe den Gerüchten nie geglaubt.«

»Du hast es bewiesen! Komm an mein Herz, du Treuer!«

»Noch nicht! Höre mich an. Du weißt, ich wollte auswandern. Es war das mein Ernst. Jetzt, wo eigentlich jeder ein neues Leben anfangen muß, jetzt, wo ich mich wieder frei und ledig fühle, kommt mir das Scheiden schwer an. – Darf ich bleiben? Kann ich erwarten, daß man meine Torheiten vergißt, mich trotzdem für einen rechten Mann estimiert?«

Fritz lächelte. »Weiter!«

Karl wurde rot und schlug die Augen zu Boden. »Du hast mir noch nichts gesagt, ob du meinen Auftrag in allen Stücken ausgerichtet, und wie er aufgenommen ward.«

»Schlecht, Karl, so schlecht, daß du gar nicht daran denken darfst, auszuwandern!«

»Ich klopfte gestern nacht dreimal vergeblich an ihr Fenster.«

»Natürlich vergeblich, weil ich erst heute dazu kam, deinen Auftrag auszurichten!«

»Gott im Himmel! wär's möglich? – Und Margaret? – Der Herrnbauer?«

»Alle warten nur auf dein Kommen!«

Karls Hand zitterte leise in der Reinhardts; er wurde bald rot, bald blaß. Endlich sagte Reinhardt: »Du hast noch etwas auf dem Herzen. Sprich dich aus, aber mach's kurz, vergiß nicht, Margaret wartet!«

Karl holte tief Atem, fuhr sich mit der Hand ins Halstuch, als würde es ihm da zu eng; leise sagte er: »Fritz – du täuscht dich in mir, ich komme nicht, wie du mich erwartet hast.«

»Erkläre dich!«

»Du sagtest einmal, du hofftest nicht, daß ich zum positiven Glauben zurückkehren würde.«

»Nun? – was weiter? Meinst du nun, weil es doch geschehen, würde ich gering von dir denken? – Hast du vergessen, was ich damals noch hinzusetzte?«

»Nein! – Aber ich komme mir mit meiner wilden Tollheit selbst so verächtlich vor, daß ich meine, allen Leuten müsse es mindestens ebenso ergehen. Wird man meinem Glauben Vertrauen schenken?«

»Was die Leute jetzt über dich urteilen, darf dich nicht anfechten: für die Zukunft zwinge sie, daß sie an deine Aufrichtigkeit glauben müssen.«

»Also verachtest du mich wirklich nicht, wenn – wenn –«

»Du wieder gläubig würdest? – Nein – darum nicht, wohl aber hängt es von der Art deines Glaubens ab, in welchem Verhältnis wir künftig stehen werden.«

»Dann bin ich getröstet!«

»So komm an mein Herz, du braver Mensch! – Und nun weiß ich ein Haus, wo ein treues Mädchenherz voll schmerzlicher Sehnsucht auf dich hofft und harrt. – Sieh, schon dämmert der Morgen, und ihr habt euch viel zu sagen! Geh hin, Bruder! – gesegnet sei euer Bund!«

Reinhardt stand am Fenster und blickte hinein in den aufschwimmenden hellen Streifen am fernen Horizont, durch dessen blasses Licht noch die Sterne schimmerten. Unwillkürlich falteten sich seine Hände. Da fühlte er sich umschlungen, er wandte sich und lag an der Brust des Schulbauern. »Mein Sohn, mein geliebter Sohn!« flüsterte der alte Mann, in dessen Augen ein Schimmer wie ein Widerschein der fernen Morgenröte glänzte. »Wohl ist die Welt schön, groß und reich – nie habe ich das so lebhaft empfunden, als eben jetzt. Ich schlief nicht; wirst du zürnen, daß ich eure Unterredung anhörte? Einen neuen Bundesbruder haben wir gewonnen! – Wie töricht, über den Wert positiven Glaubens zu streiten! Wer will den Menschen schelten, der gläubig zum Himmel die Augen erhebt, um von daher Ideale zu holen, die er in sich nicht gefunden? – Und nun komm, du bedarfst der Ruhe. – Mache dir's bequem in diesem Lehnstuhl, schlafe, mein Sohn! Du hast die Ruhe verdient!«

Der Schulbauer führte Reinhardt in den Sessel und half ihm zu bequemer Lage. Das aufquellende Morgenrot vor sich, schloß sich bald des Ermüdeten Auge zum süßesten Schlummer.


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