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Ein klarer, kalter Februarmorgen tagte, als endlich die Wächter das Pfarrhaus verließen. Der hartgefrorne Boden tönte unter den festen Männertritten, dann und wann klirrte und splitterte das dünne Eis der Pfützen im Weg.
Die Brust dehnend und mit Lust die erquickend frische Luft atmend, sagte Fritz: »Wird ein schöner Tag heute trotz der Nebelstreifen, die noch in den Bergen hängen. Möge das als gute Vorbedeutung gelten!«
Im Herrnhof wurden Fritz und der Schulbauer längst erwartet. Als glückliches Brautpaar kamen ihnen Karl und Margaret entgegen. Der Schulbauer schloß den Jüngling fest in seine Arme, Reinhardt aber flüsterte dem Mädchen zu: »Habe ich's recht gemacht? Sieh, Margaret, du warst auch einmal irre an mir, und doch habe ich in der Stille getan, was ich konnte. Viel war es wohl nicht, aber ich denke, getäuscht habe ich dein Vertrauen auch nicht – wie?«
Margaret konnte nicht antworten, hatte dazu auch nicht Zeit, denn Anna meinte, die Begrüßung habe nun lange genug gedauert, und eigentlich habe sie doch das nächste Recht auf Fritz. Mit einem Blick, gemischt aus Stolz, Sorge und liebevollem Vorwurf, hing sie sich an seinen Hals. »O du böser Mensch du!« flüsterte sie ihm ins Ohr. »hast du nicht an deine arme Anna gedacht, als du dich den Wütenden entgegenwarfst, unbekümmert um Leben und Gesundheit? Und – o mein Gott! – wie willst du das verantworten, daß du mich ruhig zu Hause sitzen lassest, während deine Wunde von anderen Frauen gepflegt wird? Dafür sollte ich dir ernstlich böse sein!«
»Wirklich? Wie aber, meine gestrenge Herrin, wenn ich gar nicht daran denke, mich zu entschuldigen? Wenn ich die mir zur Last gelegten Vergehen offen zugestehe und mich demütig der Gnade meiner holden Richterin empfehle?«
»Das ist alles sehr schön,« sagte der Schulbauer ernsthaft, »und ich würde mit Vergnügen noch länger Zeuge dieser erbaulichen Verhandlungen sein, wenn nicht ein verlockender Kaffeeduft mich ernstlich daran erinnerte, daß ich seit gestern abend nichts gegessen habe – und der Verbrecher da auch nicht, Anna!«
»Ach, bist du abscheulich, Pate!« rief Anna und flog an seinen Hals. »Geh nur, geh mit deinem Schützling, ihr Männer taugt eben alle nichts!« Damit schob sie die beiden in die Stube.
Der Herrnbauer saß schon mit der übrigen Familie und den Dienstboten beim Frühstück. Der Mann war in dieser Nacht sehr gealtert, doch sah er nicht mehr so hoffnungslos drein als gestern. Beim Anblick Reinhardts flog ein Freudenschimmer über sein müdes Gesicht; er ging ihm entgegen und führte ihn auf den Platz an seiner Seite. »Und wo ist meine Frau, wo sind Line und die Kinder?« fragte der Schulbauer.
»Heim!« sagte die Bäuerin. »Den Kindern wurde es unheimlich in Bergheim, was leicht zu denken ist, und auch die Schwägerin wollte Haus und Hof nicht länger allein lassen!« –
Auch hier hatte das Tageslicht erfrischend auf die Gemüter gewirkt. Die dumpfe Betäubung war gewichen, und wenn man sich auch über die Gefahren der Lage nicht täuschte, so wagte man doch wieder auf eine glückliche Lösung zu hoffen. Reinhardt verabschiedete sich bald, um sich auf den Gottesdienst vorzubereiten, den er an des Pfarrers Stelle zu leiten hatte.
Mit freudigen Gefühlen betrat er seine Wohnung, wie heimelten ihn die vertrauten Räume so wohlig an. Mit leuchtenden Augen sah er sich um – das alles hatte er sich ja zurückerobert; nun erst war das Haus seine Heimat!
Vom Turm klang das erste Zeichen für den Gottesdienst. Wie quoll es in seiner Seele so lebenswarm auf, wie machte der Gedanke sein Herz pochen, daß er zur versammelten Gemeinde reden, so viele bekümmerte Herzen trösten und erquicken sollte. Er wählte aus den ihm zu Gebote stehenden Erbauungsschriften eine Betrachtung über die Worte: »Friede sei mit euch!«
Er kam nicht dazu, dem Schmerz Raum zu geben, daß es ihm als Lehrer nicht gestattet war, in seiner Weise, aus dem übervollen Herzen heraus zu der Gemeinde zu sprechen. Es war kurz vor Beginn des Gottesdienstes, als Karl verstört in sein Zimmer stürzte. »Und du bist noch hier? Weißt du nicht, was im Dorfe vorgeht?« keuchte er atemlos vor Aufregung. »Ein Gerücht behauptet, der Pfarrer werde dennoch in die Kirche kommen, möglicherweise mit Gewalt sich Eingang erzwingen. Es heißt, er habe Militär reklamiert, und ein ganzes Bataillon sei schon auf dem Weg nach Bergheim. Schon ist das ganze Dorf auf den Beinen. Das verrückteste Zeug wird geplant. Die einen wollen im Lindentaler Grund dem Militär einen Hinterhalt legen, die andern die Dorfgassen mit Ketten versperren; die Klügsten aber reden davon, dem Militär zuvorzukommen und den Pfarrer auf alle Fälle gleich aus dem Dorf zu schaffen.«
»Ach, du liebster Herrgott im hohen Himmel droben, Herr Lehrer, es geht schon wieder los!« jammerte die Haushälterin in der Tür. »Schwarz voll Menschen ist das Dorf, und die Preußen und Weimaraner rücken zu vielen Tausenden mit aufgepflanztem Bankenet an, und alle haben geschworen, sie verschonten nicht das Kind im Mutterleib, kämen sie ins Dorf! Ach, du mein Herr Jesus! – ich mach' mich davon, ich verkriech' mich in die Steinbruch'! – Da – ein Brief vom Herrn Pfarrer!«
Reinhardt riß das Kuvert ab und griff sich erbleichend an die Stirn. Da stand es schwarz auf weiß: »Sie haben mich gestern zu einer Erklärung getrieben, die, in der Überraschung mir abgezwungen, von mir nicht für verpflichtend angesehen werden kann. Ich nehme mein Wort zurück. Ich werde predigen und beim Gottesdienst alle Amtshandlungen verrichten. Im Namen Gottes! – Ich kann nicht anders. Amen. – Walter!«
Sprachlos blickten sich die Freunde in die Augen, sie fanden nicht die Worte für ihren Zorn. »Was tun? In wenigen Minuten muß es zur Kirche läuten! Soll nun doch das Unglück noch über das Dorf hereinbrechen?« rief Karl.
»Hast du Mut? Willst du eine Handlung wagen, die allerdings im schlimmsten Fall schwere Verantwortung nach sich ziehen kann?« fragte Reinhardt.
»Wenn es nichts Unrechtes ist – ja!«
»Willst du den Pfarrer mit Gewalt zurückhalten? Ihn in seiner Stube bewachen?« Als Karl erbleichend zurücktrat, fuhr er fort: »Verstehe mich, wir nehmen den Tumult draußen zum Vorwand, halten ihn im Zimmer fest, um ihn vor seinen Feinden zu schützen. Kannst du dich auf deinen Knecht verlassen?«
»Wie auf mich selber!«
»So sage ihm, was er wissen muß, dann eile mit ihm durch den Hinterhof in die Pfarre. Schnell – aber vermeide jedes Aufsehen!«
Reinhardt eilte nach der Pfarre. Karl hatte nicht zuviel gesagt, fast die gesamte männliche Bevölkerung war auf den Beinen, mit Gewehren, Dreschflegeln, Mistgabeln, Knütteln oder ähnlichen Waffen versehen. Reinhardt war sofort umringt, lange kam er nicht zum Wort; als er sich endlich verständlich machen konnte, wollte sich die Menge nicht beruhigen lassen. Dennoch blieb die Zuversicht des Lehreis nicht ohne Einfluß; als nun auch noch der Schulbauer, Bergbauer, Paulesnikel, Beckenjörg, sogar der Veitenbauer ihn unterstützten, verschwanden die Waffen, und die friedlichen Gesangbücher traten an ihre Stelle, einstimmig erklärte aber die Menge, betrete der Pfarrer die Kirche, so gebe es ein Unglück! Wilde Flüche begleiteten den Lehrer auf dem Weg zur Pfarre.
Karl und sein Knecht erwarteten Reinhardt bereits und schlüpften mit ihm ins Haus. Im Hausflur kam ihnen die Pfarrerin mit gerungenen Händen entgegen und schluchzte: »Verhüten Sie ein Unglück – halten Sie meinen Mann zurück um jeden Preis!«
Reinhardt nickte ihr freundlich zu und eilte nach oben. Vor der Stubentür bedeutete er seinen Gefährten zu warten, bis er sie rufe, dann trat er, ohne anzuklopfen, in die Stube. Der Pfarrer war bereits im Ornat, beim Anblick Reinhardts prallte er zurück. Eine jähe Röte flammte über sein Gesicht, dann schrie er: »Hinaus, unsauberer Geist! – Was wollen Sie hier?«
»Sie vor einem Wortbruch bewahren!« entgegnete Reinhardt leise. »Herr Pfarrer, Sie werden bis nach Schluß des Gottesdienstes dies Zimmer nicht verlassen. Ich begehe damit einen Akt der Gewalt; es steht in Ihrer Hand, mich später dafür bestrafen zu lassen. Die Männer, die Sie bewachen werden, handeln nur in meinem Auftrag, unter meiner Verantwortung. Erschweren Sie sich und ihnen die Situation nicht durch unnötigen Widerstand. – Kein Wort, es ist doch umsonst!«
Reinhardt verließ das Zimmer, Karl und sein Knecht traten ein und setzten sich zu beiden Seiten der Türe. Eben wurde der Gottesdienst eingeläutet, und Walter rannte wie toll im Zimmer auf und ab. Der Knecht, der sich auf seine Mission nicht wenig einbildete, kraute sich hinter den Ohren und meinte: »Ja, Herr Pfarr'r, 's sind sakermentsche Kerle! Aber lassen's nur sein, Ihnen wird kei' Haar gekrümmt, kei' Haar! Das sag' ich!«
»Ich muß in die Kirche – ich muß! Laßt mich hinaus, Leute!« schrie Walter.
Der Knecht meinte, der Pfarrer müsse eben des Ansehens wegen ein »bißle so tun«, als liege ihm grausam viel daran, in die Kirche zu kommen. Schlau lächelnd nickte er dem Pfarrer beistimmend zu, als wollte er sagen: schon recht, nur zu so, wir verstehen uns! – kraute sich stärker und sagte: »Ja, das ist schon nix, 'naus därfen's net! Gott's ein dunner, das gäb' 'ne schöne Schweinerei! Nä – na! Dableiben müssen's! da beißt die Maus kein' Faden ab! Aber getan wird Ihnen auch nix, Herr Pfarr'r – daher sind wir da!«
Der Knecht, sehr zufrieden, seine Weisheit an den Mann gebracht zu haben, nickte seinem Herrn verständnisvoll zu, als ihm dieser, heimlich mit der Faust drohend, Schweigen gebot. Der Pfarrer wurde jetzt erst auf seine Wächter aufmerksam. Er trat näher; als er aber dem jungen Bauer ins Gesicht blickte, prallte er zurück. Wo hatten ihn diese Augen schon einmal erschreckt? Ja, ja, dort am Grab der alten Lichtenkunnel war es gewesen, wo er vor diesen Augen gezittert! Schon dort hatten sie ihm das Wort im Munde gefesselt; würde er heute diese stummen Blicke überwinden, die ihn trafen wie Anklage und Verdammung zugleich? – Still saßen sich die Männer gegenüber; schwerlich ahnte Karl, welche furchtbaren Stürme Walters Brust durchtobten.
Und vom Turm erklang brausend das volle Geläute über das Dorf!
Keinen Sonntag hatte das Geläut geschwiegen; aber warum klang heute das Geläute so ganz anders als vorher? Warum traten den Kirchengängern, die im endlosen Zug, von allen Seiten kommend, den Türen des Gotteshauses zuströmten, die Tränen in die Augen? Warum falteten so viele Männer und Frauen, alte und junge, die Hände und sahen mit Blicken heißer Liebe hinauf zu den Schallfenstern, aus denen die trauten Klänge machtvoller niederbrausten? Ja, das war es – heute war wieder das Sonntagsgefühl über das ganze Dorf gekommen, jenes wunderbare, unbeschreibliche Gefühl, das den Geist durchschauet wie Ahnung eines höheren, reineren Daseins, jenes Gefühl der herzlichsten Vereinigung mit Gott und den Nebenmenschen, das den Bergheimern so lange abhandengekommen war, erstickt in der Parteiwut und den hocherregten Leidenschaften. –
Mit pochendem Herzen und glühendem Gesicht stand Reinhardt auf dem Chor und blickte hinab in den hereinflutenden Menschenstrom. Alle profanen Gedanken waren aus seiner Seele verschwunden, sein ganzes Denken und Sein war ein inbrünstiges, wortloses Gebet. Trotz der Menschenmenge war es tief still in der weiten Halle, die so klein und eng erschien in diesem rings aus allen Brüstungen, Winkeln und Pfeilern hervorwachsenden Wald von Gesichtern. Selbst die Schritte der Ankommenden waren gedämpft, und voll brauste das Geläute durch das Gotteshaus.
Reinhardt überlief es, als er in die Tasten griff, und die Töne der Orgel so majestätisch daherrollten, und als die Gemeinde das Lied anstimmte: Komm, Gottes Geist, komm höchster Gast! – Da konnte er nicht anders, er mußte auch seine Stimme mit dem Gesang der Gemeinde vereinigen!
Und als nun die Töne verhallten, lautloses Schweigen die weiten Räume deckte, als er vor dem Altar stand, rings von hocherregten Gesichtern umgeben, als hundert glänzende Augen erwartungsvoll auf ihn blickten, da kam es über ihn mit unwiderstehlicher Gewalt. Die Worte wurden in seinem Herzen lebendig, sie hatten sich auf seine Lippen gedrängt, ehe er selbst recht wußte, wie ihm geschah. Buch, Zeit, Ort – alles war vergessen, sein ganzes Gemüt eine Empfindung: Friede sei mit euch! – Und wunderbar! Woher kamen ihm plötzlich all diese Bilder und Gleichnisse, die sich wie von selbst fügten? Er wußte es nicht, aber das fühlte er, daß ihm die Worte frisch, klar und lebendig über die Lippen quollen wie ein lebendiger Strom, und von der Begeisterung durchglüht, gab er sich ganz der Bewegung des Augenblicks hin. Was er sprach? – Wer zählt die einzelnen Wellen des gewaltig dahinflutenden Stromes? Es war wohl eine Deutung des Wortes: Friede sei mit euch! eine Beziehung dieses goldnen Spruches auf die gegenwärtigen traurigen Verhältnisse, vor allem aber eine Mahnung, ein heißes, inbrünstiges Bittgebet: Friede sei mit euch! – Und als er, durchglüht und durchschauert von dem, was er aus seinem Innersten dahingab für seine Gemeinde, die er so sehr liebte; als er mit einer Begeisterung und Freudigkeit, die aus seiner heiligsten Überzeugung quoll, den unbeschreiblichen Segen des Friedens ausmalte, immer und immer auf die Mahnung, auf die Bitte zurückkam: Friede sei mit euch! – da belebten sich die Gesichter, die ihn im dreifachen Kranz umgaben; die Hände falteten, die Augen feuchteten sich. Ein wunderbares, unbeschreibliches Brausen, dem kein Ton, kein Geräusch zu vergleichen, erfüllte die Hallen, und als nun endlich Reinhardt in tiefster Bewegung schloß: »Friede sei mit euch!« – da brauste wie rollender Donner ein dreifaches »Amen!« durch die Kirche, und als sei nun eine Steigerung der Feier nicht mehr möglich, erhob sich einmütig die Versammlung und verließ still die Kirche.
Hochaufgerichtet verließ auch Reinhardt das Gotteshaus, dessen Türen er zu schließen befahl; tiefatmend sog er die würzige, weiche, sonnenwarme Frühlingsluft ein, und als über den nahen Kirchäckern die erste Lerche dieses Jahres ihr Frühlingslied anstimmte, da fand der Jubelgesang ein lebendiges Echo in seinem Herzen. Viele Männer und Frauen schienen ihn erwartet zu haben, allein mit freundlichem Gruß eilte er an ihnen vorüber – jetzt konnte er nicht reden, sein Herz zog ihn zu Anna. Aber als ihm an der Ecke des alten Schulzenhauses eine Greisin schon von weitem zunickte, ihr Enkelkind ihm schüchtern ein Händchen voll der ersten Frühlingsblumen entgegenhielt, da konnte er freilich nicht vorbeigehen. Die kleine Blumenspenderin küßte er, der glückselig lächelnden Alten versicherte er mit einer Bestimmtheit, vor der er selber erstaunte: nun sei alles gut! – dann aber eilte er, die Blumen in der Hand, hinab in den Herrnhof.
Anna, noch im vollen Kirchenschmuck, schöner denn je, kam ihm entgegen und lag lange wortlos an seiner Brust; die Mutter aber drückte mit freudigem Stolz seine Hand an ihre Brust und flüsterte leise: »Du bist mein lieber Sohn!« Der Schulbauer sagte einfach: »hast's recht gemacht!« Der Herrnbauer – er war nicht in der Kirche gewesen – drückte ihm still die Hand. Margaret schmollte mit dem still vor sich hinlächelnden Karl und versicherte ihm, es sei Sünde und Unrecht, daß er diese Kirche versäumt. »Schilt ihn nicht, Margaret!« sagte Reinhardt. »Dein Karl hat heute dem Herrgott auf seine Weise gedient: was ihn von der Kirche abgehalten, das war eine wackere Tat, die uns allen zugute kam!«
Ruhe und Sammlung war jedoch auch heute unsern Freunden nicht beschieden. Noch war das Mittagessen nicht vollendet, als schon der Schultheiß, Ungerskasper, Beckenbauer, Bergjörg, Paulesnikel, der Grundmüller und der Veitenbauer sich zu einer vorläufigen Beratung einstellten, und kaum hatte man sich über die Vorschläge geeinigt, die der Gemeindeversammlung vorgelegt werden sollten, als ein Bote einen Brief des Justizrats überbrachte, der Reinhardt unverzüglich in die Stadt berief. Schon die Verhandlungen waren nicht geeignet gewesen, die noch immer verzagten Gemüter zu erheitern, dieser Brief versetzte vollends alle in heftige Bestürzung. Selbst Reinhardt konnte seine Unruhe nicht völlig bezwingen, und mit Herzklopfen betrat er die Gemeindestube.
Seine Sorge war nur allzu berechtigt; solch stürmische Versammlung mochte die alte Gemeindestube wohl selten erlebt haben. Alles schrie und tobte durcheinander. Erst als Reinhardt, der Schulbauer – als Vertreter seines Schwagers – die Beckenbrüder und andere ernstlich mit Aufbruch drohten, wurde es stiller, und der Bergbauer übernahm den Vorsitz. – Mit Schmerz mußte Reinhardt nun bald merken, daß sein Gebet: Friede sei mit euch! noch nicht erhört, daß seine Mahnungen völlig wieder vergessen seien. Da war von Friedfertigkeit, Milde, Versöhnlichkeit nichts zu spüren. Zwar die Petition an die Regierung, in der in ziemlich energischer Sprache um baldige Versetzung des Pfarrers Walter und sofortige Amtssuspension des Genannten gebeten wurde, fand lauten Beifall, und in wenig Minuten war sie mit den Unterschriften sämtlicher Nachbarn bedeckt. Als nun aber Reinhardt nach längerer Rede mit dem Antrag hervortrat: Die Gemeindeberechtigten sollten von einem Prozeß gegen den Jockenhannes, Schultheißen, Ungersbauer und Herrnbauer in Sachen des Gemeindewaldes absehen, da der Jockenhannes ja ohnedies schwerer Strafe entgegengehe, die andern Beteiligten aber nach dem Geständnis des Jockenhannes von ihm durch eine gefälschte Urkunde betrogen und zur heimlichen Grenzveränderung verlockt worden seien; da ferner durch den Prozeß der Gemeinde nicht der geringste Vorteil erwachse, derselbe vielmehr bloß unsägliches Elend über viele Familien bringe und die Ehre bis jetzt gänzlich unbescholtener Männer für immer vernichte – während durch einen gütlichen Vergleich nicht nur all jenes Unheil verhütet, sondern auch das Interesse der Berechtigten am sichersten gewahrt werden würde: da brach ein Sturm des Unwillens los, wie ihn Reinhardt nicht für möglich gehalten hätte. Die wenigen Getreuen ausgenommen, die den Antrag vorher mit durchberaten, erklärte sich die Versammlung einstimmig dagegen und verwarf den Antrag, ohne sich auf eine Debatte darüber einzulassen. Ja, die Heißsporne, der Holsteiner natürlich voran, bedrohten sogar den hart, der ähnliche Vorschläge einbringen werde.
Reinhardt saß wie auf Kohlen, der Schweiß stand ihm in großen Tropfen auf der Stirn. Mit wachsender Besorgnis sah er dem Ende der Versammlung entgegen – wenn die Gemeinde hartnäckig jeden Vergleich zurückwies, auf Bestrafung der Schuldigen beharrte: wer konnte dann den Herrnbauer retten? Und es kam noch etwas dazu, seinen Unmut zu steigern. Der Holsteiner hatte weder den Sturz von der Treppe, noch das unfreiwillige Nachtquartier im Spritzenhaus vergessen; für beides hatte er Reinhardt Rache geschworen, und jetzt schien der Augenblick gekommen, sie ins Werk zu setzen. Von seinen Genossen unterstützt, begann er erst so allgemein über die Zudringlichkeit gewisser Menschen zu lärmen, die sich in alles mischen, was sie nichts angehe. Als er damit Anklang fand, wurde er dreister, wendete sich direkt gegen Reinhardt, dessen Anwesenheit er als eine Schande für die ganze Gemeinde darstellte und dessen augenblickliche Entfernung er verlangte. Wie auf Verabredung fielen die Erhitzten über den erstaunten Lehrer her, schrien mit dem Holsteiner um die Wette, man kenne seine Praktiken! Nur den Herrnbauer wolle er aus der Patsche ziehen, und weil er allein das nicht könne, solle die Gemeinde für ihn die Säcke Zu Markte führen! Aber man sei nicht so dumm, um anderer Vorteil willen sein Recht aufzugeben. Das sei von jeher die Folge gewesen; wer zu weit greife, kriege etwas auf die Finger! und das sollten zehn Schulmeister und Schulbauern dem Herrnbauer nicht ersparen, daß er im Zuchthaus darüber nachdenke, was es heiße, die Grenze verrücken! Er, der Schulmeister, tue allsfort das Gegenteil von dem, was andere ehrliche Leute wollten. Aber man habe seine Art nun dick satt, und er solle nur gleich das Maul halten, oder man werde sich ihn vom Halse schaffen!
Es waren freilich nur wenige, die so schrien, allein da sie das Lärmmachen aus dem Fundament verstanden, machte ihr Unfug Eindruck, und wer nicht gerade entschieden fü Reinhardt war, hütete sich wohl, für die Ordnung einzutreten; man mußte doch erst sehen, wo das hinauswollte, und dem Schulmeister wie dem Schulbauer schadete es ja auch nichts, wurden sie einmal gedemütigt.
Des Lärmens müde, griff Reinhardt nach Hut und Stock, zerriß die Petition in kleine Fetzen und wendete sich zum Gehen. Allgemeines Staunen und tiefe, tiefe Stille folgte. Was das bedeute? fragten einige verzagte Stimmen.
Das war es aber, was Reinhardt gewollt. Hoch richtete er sich auf und rief: »Was das bedeutet? – O, nicht viel! Ihr habt mir ja soeben deutlich genug gesagt, daß ich hier gar nicht mitreden darf. Sodann aber, wenn auch jetzt euer Mißtrauen noch gegen mich dauert, wenn ihr darauf besteht, meinen Schwiegervater unglücklich zu machen, dann ist meines Bleibens nicht länger in Bergheim, und es liegt für mich durchaus kein Grund mehr vor, für die Entfernung Walters zu arbeiten. Freilich, ich hätte euch am Ende auch wenig nützen können, doch würde sich auf meine Bitte gewiß der Justizrat Stein der Sache angenommen haben, und was dessen Wort gilt, wißt ihr alle. Damit ist es nun natürlich auch vorbei. So – nun gebt Raum, ich will fort!«
Der Holsteiner war abermals spurlos verschwunden, die langen verblüfften Gesichter, die Reinhardt umgaben, schienen durchaus nicht geneigt, seinem Wunsche nachzukommen. »Warum laßt ihr mich nicht durch? Was starrt ihr mich an wie ein Wundertier?« fuhr Reinhardt auf die Umstehenden los. »Eine saubere Gesellschaft seid ihr, das muß ich sagen! Bis heute noch bedauerte ich euch; jetzt sehe ich, ich tat euch unrecht, ihr seid in der Tat noch viel schlechter und verdorbener, als ihr bis heute an den Tag gegeben! – Ihr macht mir zum Vorwurf, daß ich mich meines Schwiegervaters aus allen Kräften annehme? – Ihr? selber Väter und Schwiegerväter? Ha, wißt ihr, was ihr damit getan? Welche Saaten ihr für die Zukunft ausstreutet? Schmach und Schande über euch, die ihr die heiligsten Ordnungen mit Füßen tretet, nur um eurem Haß zu genügen! – Und es ist nicht einmal wahr, daß ich bloß darauf ausgehe, meinen Schwiegervater zu retten! Was ich für ihn erreiche, kommt es nicht auch dem Ungerskasper und Schulzen zugut? Und nun merkt auf, ihr Tugendhelden, die ihr im Gefühl eurer Unschuld so großartig über eure Nachbarn richtet! – merkt auf: In Wahrheit vertritt mein Antrag in gleicher Weise eure eigenen Interessen wie die der Grenzverrücker. Willigtet ihr ein, daß der Prozeß gegen eure unglücklichen Nachbarn niedergeschlagen wird, so hieß das mit andern Worten: Ihr wünschtet, daß überhaupt durch die traurige Vergangenheit ein dicker Strich gezogen und so endlich dem Dorfunglück ein Ende gemacht wird. – Da ihr jedoch auf strenge Bestrafung der Schuldigen besteht, so hat das die Bedeutung: Ihr fordert strengste Untersuchung aller vom Jockenhannes und seinen Helfern ausgehenden Ungesetzlichkeiten. – Habt ihr aber auch bedacht, wohin das führen wird? Welche schmutzigen Geschichten an den Tag kommen werden? – Gewiß, der Schultheiß, der Herrnbauer und der Ungerskasper werden furchtbar bestraft – aber, wie mancher von euch selbstgerechten Richtern dann ebenfalls im Gefängnis Zeit hat, über den Unterschied zwischen Recht und Unrecht nachzusinnen – wer kann das voraussehen? – So! das wollte ich euch noch sagen! Und nun gebt Raum, ich will fort!«
Ein Murmeln und Flüstern ging durch die Menge, ein Räuspern und Drängen begann – Raum, daß ein Mann hätte durchkommen können, wurde jedoch nicht, im Gegenteil, die Masse schloß sich fester zusammen. Das Flüstern schwoll bald zu lautem Murren, Schelten und Drohen an, und plötzlich schrie der Mäurerslang: »Potz Blitz und Wetter! so wollt ich doch, daß der neunschwänzige Teufel den nichtsnutzigen Holsteiner lotweise holte – und uns dazu! Sind wir denn unreife Buben oder haben wir Häckerling, wo andern Leuten das Gehirn sitzt, daß wir allsfort in den Tag hineinwüten und uns von jedem Lumpen und Maulmacher heut' daher, morgen dorthin, immer aber in den Dreck zerren lassen? Himmelschwenfelens auch! Satt hab' ich die Wirtschaft, dick satt! Und der Herr Lehrer hat recht von A bis Z; dagegen ist nichts linsengroß einzuwenden. Und das sag' ich, kommt mir noch einmal so'n Hasselant und Stänker und will ehrliche Leute überschreien, hat er's mit mir zu tun! – Und Sie, Herr Lehrer, haben's die Gütigkeit und machen Sie den G'satz gegen den Pfarrer noch einmal, weil wir jetzt alle beisamm' sind, und während wir unterschreiben, setzen Sie's auf: die Bergheimer Gemeinde verlangt, daß die Sach' gegen den Ungerskasper und Herrnbauer – der Schulz ist's freilich nicht wert, das war von jeher ein Kniebohrer und Pfennigfuchser, aber setzen Sie ihn nur auch 'nein, damit doch dem Teufel die Freud' nicht gänzlich verdorben wird – also daß die Sach' gegen die drei niedergeschlagen wird, hergegen daß auch sonst auf dem Jockenhannes, dem Wagnerspaule und Uhrmacherle ihr Geschwätz nichts gegeben, keine alten abgetanen Geschichten aufgerührt und den Lumpenkerlen wegen den Nachbarn hintennach Ungelegenheiten gemacht werden. Punktum! – Können Sie das merken, Herr Lehrer, oder soll ich's noch einmal hersagen? Brauchen sich nicht zu genieren, dürfen's herzhaft sagen, nehm's Ihnen nicht für ungut, denn seh'n Sie, ich bin auch ein Mann von Kopf, wenn ich auch mit der Feder nicht umzugehen weiß. – Und ihr da hinten,« schrie er nun plötzlich seine Nachbarn an, »ihr Klößmichel und Bierbankrutscher, ihr alten Lausewenzel ihr – wer was dagegen zu sagen hat, 'raus mit ihm, daß ich ihm's Lästermaul stopfe! – 's kommt keiner? – Na, 's ist auch euer Glück, denn der Mäurerslang hat's nicht bloß im Kopf, der hat's auch in den Fäusten! – So, nun geht her, unterschreibt und enthaltet euch hernachmals jeglicher Einrede, sonst soll euch gleich ein siediges Himmeldonnerwetter die vernagelten Strohköpfe verhageln. Punktum!«
Reinhardt blickte verwundert drein, solche Art der Beweisführung war ihm neu. Aber sie wirkte, das war doch die Hauptsache, und die Nachbarn schienen nichts Besonderes in dieser Standrede zu finden, umgekehrt, das heitere Murmeln bekundete, daß allen durch diese kurzgefaßte Entscheidung ein großer Stein vom Herzen genommen worden war. Alles drängte sich zur Unterschrift, Reinhardt erntete viel Dank und Lob, der Mann des Tages war aber entschieden der Mäurerslang. Als er nun gar noch nach Beendigung der Geschäfte Reinhardt vertraulich auf die Schultern klopfte und sagte: »So – das hätten wir nun rund! – Nun machen's aber, daß Sie in die Stadt kommen und fahren Sie ernsthaft durch, reden Sie deutsch mit den Herren – etwa so: Gott'seindunner! – verstehen Sie mich? – Und nur keine Angst nicht, Herr Schulmeister! die großen Herren sind auch keine Herrgottle, und ich steh' hinter Ihnen, ich, der Mäurerslang!« – da schüttelten viele Nachbarn bedenklich den Kopf, und der Beckenkarl sagte auf dem Heimweg: »Weißt du, Fritz, daß sich der Mäurerslang heute einen Platz im neuen Ausschuß erschimpft hat? Ja, vor nichts hat das Bauernvolk solchen Respekt, als vor richtiger, herzhafter Grobheit!«
Vor dem Bernerwagen schnaubten schon im Herrnhofe die Rosse, nach kurzem Abschied stiegen Fritz und Karl auf, und fort ging es in sausender Flucht.