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Am folgenden Tage saß Hoff still und nachdenklich beim Mittagbrot, das Herta mit ihrem drolligen Geplauder würzte. Sie war sehr guter Laune und hatte dazu allen Grund, von ihrem Standpunkt aus. Die aus dem Schlaf erweckte Freundschaft mit Esther Honigmann zeigte bereits erfreuliche Lebenssymptome. »Das war kein Wunder«, meinte Herta, »denn wer kann dem Zauber widerstehen?«
Dabei zeigte sie mit dem Finger großspurig auf sich. Auch darin hatte sie recht. Ihre muntere impulsive Art, sich zu geben, verlieh ihr die Gabe, sich überall einzuschmeicheln, wenn sie nur wollte. Und in diesem Falle wollte sie sehr.
Der Mutter fielen die tiefen Falten in der Stirn des Sohnes auf.
»Sagt dir die Arbeit im Ministerium nicht zu?« forschte sie behutsam.
»Doch, sehr sogar«, beruhigte Hoff. »Sie sind alle äußerst liebenswürdig zu mir. Weshalb meinst du?«
»Weil du dasitzt wie ein finsterer Hexenrichter«, rief Herta.
»Meine Hexen machen mir auch viel Sorge« lächelte er doppelsinnig.
»Es ging doch so gut«, meinte Lisbeth.
»Ihm fehlen bei dem Umgang mit uns Engeln die Modelle«, erwog Herta.
»Na, Herta, du mit deinem Teufelseifer –!«
Sie lachten. Und Herta schmollte: »Da haben wir's. Ich poussiere seine Erkorene stundenlang und muß des Nachts die verlorene Zeit nachholen und das ist der Dank.«
»Erkorene, ist ausgezeichnet«, lachte Hoff.
»Etwa nicht? Ich habe längst eingesehen, daß ich hier Geschick spielen muß. Also ist sie dir vom – Geschick erkoren.«
Hier erhob sich Frau Hoff, da sie die Tafel gern unter lachenden Auspizien aufhob.
Hoff ging in sein Zimmer und wollte arbeiten.
Die Skizzen von gestern lagen neben ihm. Es wurde aber nichts Rechtes. Er dachte an seine neue Freundin. Ganz hell sah er sie. Nicht nur ihre äußere Erscheinung. Eher ihr Wesen. Und wenn er die Begegnung überdachte, staunte er, zu welchen Bekenntnissen und zu welcher Traulichkeit es in den kurzen Stunden gekommen war.
Und plötzlich packte ihn wieder dieses unbestimmte bange Gefühl, das ihn seit gestern nicht verlassen hatte. Im Grunde seines Gemütes verstand er es recht gut Es lag aber in seinem Charakter, sich treiben zu lassen. Obwohl er sich sagte, daß es in seiner Lage eine Torheit sei, Abwege zu wandeln, die von Esther Honigmann fortführten, ging er schließlich froh bewegt zu dem verabredeten Rendezvous. »Was wird denn groß daraus werden!« mahnte er alle Bedenken zum Schweigen. »Eine schöne kurze Bekanntschaft. Die Freude kann ich mir wahrhaftig noch gönnen, ehe ich wie Decius Mus hinabspringe in das dunkle Grab zur Rettung des Vaterlandes.«
Auf dem Wege zum Bahnhof Zoologischer Garten suchte er sich ihr Erscheinen vorzuzaubern. Er sah ihre junge volle Gestalt in dem blauen Kleide mit dem hübschen gelben Seidenkragen, auf den sich einige blonde Strähne ihres weichen üppigen Haares herabschlängelten. Als sie ihm dann aber an der Unterführung lächelnd entgegentrat, sah er zu seinem Staunen, daß ihr Haar tief braun war.
»Was sehen Sie mich so an?« fragte sie ein wenig verwirrt und faßte an den kleinen Hut aus buntem Filz. »Sitzt der wieder mal schief?«
»Nicht die Spur«, versicherte er eifrig und gab ihr fröhlich die Hand. »Ich hatte mir nur eingebildet, sie seien blond.«
»Daher die Entgeisterung!« neckte sie. »Trösten Sie sich. Andere sind darauf auch schon 'reingefallen. Das kommt von meinem hellen Teint und den farblosen Augen.«
Er wollte etwas entgegnen, sie machte aber kehrt und ging zur Kasse. »Bei Ihnen hat es ja noch seine besonderen »Gründe« lachte sie. »Sie wollen unbedingt eine blonde Hexe haben.«
»Nein, wirklich –«
»Reden Sie nicht«, unterbrach sie ihn munter, »ist Ihnen ganz gesund. Nun haben Sie Ihre erste Enttäuschung weg. Was brauchen Sie auch über mein Haar zu tüfteln!«
»Wenn ich auch mal ein Wort sagen darf«, rang er sich jetzt endlich durch »so möchte ich zunächst feststellen, daß Sie zu den Menschen gehören, die eigentlich nicht enttäuschen können. Das ist meine feste Überzeugung. Sie haben etwas so Gutes und Ehrliches –«
»Aber verehrtester Herr Assessor eines preußischen Ministeriums«, bat sie mit lachenden Augen, »versetzen Sie mir diese köstlichen Worte doch nicht hier in diesem Gedränge. Der dicke Herr da vor mir benutzt mich als Patentfußboden und absorbiert den größten Teil meiner Aufnahmefähigkeit. Und ich will nicht ein Titelchen verlieren von Ihren tiefgründigen Phantasien über das Thema Susanne Neubert. Au, nun hat er mich demoliert!« Damit sprang sie aus dem Gewühl heraus.
»Hat er Ihnen weh getan?« fragte Hoff besorgt.
»Ich werde mich mit den Resten abfinden müssen«, tröstete sie. »Und nun wollen wir erst vernünftig überlegen, wo wir hinauswollen, und uns erst dann an der Kasse diesen alten Herren, die durchaus nicht mehr auf eigenen Füßen stehen können, zur Verfügung stellen.«
»Gegen Platzgebühr«, ermahnte er ernsthaft, auf ihren Ton eingehend.
Da lachte sie und rief: »Nun stehen wir hier und machen schlechte Witze, statt nachzudenken, wohin die Fahrt geht.«
»Ja, denken wir nach«, sagte er brav.
»Daran haben Sie noch gar nicht gedacht, Sie Mann der Tat!« rief sie kopfschüttelnd. »Sehen Sie, während Sie über die Farbe meiner Haare gegrübelt haben, habe ich unsere Exkursion ausgeklügelt Kennen Sie Grünheide?«
»Ja – ich war draußen. Besser freilich kenne ich den Westen.«
»Gehört sich auch für Sie als vornehmen Ministerialassessor. Ich, das ›schlichte Mädchen aus dem Volke‹, bin mehr für den Osten. Also Grünheide.«
Sie fuhren nach Erkner, bestiegen dort das Motorboot, kreuzten über den Falkensee nach Woltersdorf hinüber und glitten dann hinein in die stille liebliche Löcknitz.
Während der langen Eisenbahnfahrt plauderte sie munter und ausgelassen, neckte ihn, hatte tausend bunte Einfälle und erinnerte ihn zuweilen an seine Schwester Herta. Er blickte sie oft erstaunt von der Seite an und wunderte sich, daß sie ihm gestern so verträumt und beseelt erschienen war.
Als sie aber in dem kleinen prustenden Motor die schmale Löcknitz hinaufglitten, die sich in unzähligen Windungen dahinschlängelte, ward sie still und sinnend. Und nun erkannte er das junge Weib wieder, das er an der Telegraphenstange gefunden hatte. Sie saßen stumm nebeneinander. Ihre Augen waren weit geöffnet und tranken das satte Grün. Hoff sah nichts als ihr schönes klares Gesicht. Wenn sie vor sich hinblickte, träumte um die feinen Äderchen ihrer Lider ein schwärmerisches Sehnen, ihr Bewußtsein schweifte weit fort, zu strahlenden Wundern und blühenden Märchen. Und ein Abglanz ihres holden Staunens lag wie ein stilles Leuchten auf der zarten Haut ihrer Wangen. Eine zärtliche Ehrfurcht vor ihrer gemütstiefen Versunkenheit zitterte ihm durchs Herz. Doch ebenso lieblich dünkte sie ihm, wenn sie den Kopf zu ihm wandte und ihn anlächelte. Dann bildeten sich außen an den Augenwinkeln entzückende kleine Falten und aus dem tiefen dunklen Schwarz der Pupillen strömte eine warme Flut gütigster Weiblichkeit auf ihn ein, so stark und elementar, daß ihm war, als streife etwas Wohlig-Sanftes sein Gesicht.
In Grünheide verließen sie den Motor und gingen – wie Susanne es nannte – auf Entdeckung. Nach einigem Wandern kamen sie zu einem Kirchhof, hoch auf der Höhe.
»Es mag gut sein, hier oben über dem See zu liegen«, sagte sie und schritt durch das Tor, »wenn man das Leben ganz gelebt hat. Alle Freuden, die unendlichen, und wenn es ohne das nicht geht, meinetwegen auch all die Schmerzen, die unendlichen. Und dann hier zur Ruhe gelegt werden, hoch über dem See. Und der Seewind raunt über das Grab. Und es ist still und gut.«
Sie ging durch die Gräberreihen dem höchsten Punkte des Friedhofs zu. Dort stand eine Bank. Sie wies mit dem Finger auf einen Grabstein. »Sehen Sie, ›geboren 1885, gestorben 1902‹. Eine Siebzehnjährige. Bei der wollen wir bleiben. Sie soll fühlen da unten, daß Jugend bei ihr ist.«
Ganz zart streichelte sie über die seidigen Knospen eines Rosenstocks, der einsam auf dem Grabe trauerte.
Dann setzten sie sich auf die Bank. Tief unter ihnen lag der Werlsee. Das Wasser ebbte leise. Die Sonne verzauberte es zu fließendem Gold. Sie schwiegen lange. Susanne hatte den einen Arm auf den Rücken der Bank gelegt, stützte den Kopf in die Hand und sah hinaus in das flimmernde Licht Ganz leise sprach sie:
»Ich kann mir nichts Schöneres denken, ah diese Seen. Ich bin nie weit hinausgekommen. Hab' auch kein Verlangen danach. Nicht nach den Bergen, nicht nach der See. Soweit meine Sehnsucht auch trägt, landschaftlich ruht sie immer an diesen vertrauten Ufern.«
Er betrachtete sie stumm. Die langsam sinkende Sonne entzündete kleine weiße Lichter in ihren Augen. Nach einer Pause bat er: »Erzählen Sie mir ein wenig von sich. Ich weiß nichts von Ihrem Leben.«
»Viel ist es nicht«, meinte sie mit einem kindlich-wehmütigen Lächeln. »Das Leben eines jungen Mädchens aus dem Mittelstande. Vater ist lange tot. Mir hat er nie gelebt. Ich wohne bei meiner Mutter. Ich bin ihre ›Einzige‹. Das ist fast alles, was es zu berichten gibt. Wie ich lebe, wissen Sie ja. Ich liebe meine Mutter als meine Freundin. Sie läßt mir volle Freiheit. Sie weiß, daß ich heute mit Ihnen bin. Sie hat unbegrenztes Vertrauen zu mir. Ich glaube auch, sie darf es haben. Und sonst? Ja, manchmal packt mich eine Scham, daß ich so herumgehe und nichts arbeite. Eine Zeitlang war ich auch im Fröbelhaus und wollte Kindergärtnerin werden. Ich war heilfroh, als ich mit Ehren aufhören konnte, da man fand, daß ich bleichsüchtig sei. Ich glaube nicht recht an die Bleichsucht. Es gefiel mir einfach nicht. Am wohlsten ist mir, wenn ich ein gutes Buch habe und träumen kann. Dann baue ich mir mein Leben. Und weiß im innersten Gemüt, daß es so kommen wird.«
Das sagte sie mit solch kindlich-trauter Zuversicht, daß er am liebsten ihre Hände genommen und sacht gestreichelt hätte. Er fürchtete aber, ihre liebliche Unbefangenheit zu verscheuchen. So sagte er innig und es war doch wie eine Liebkosung: »Ja – Ihnen muß es kommen. Sie sind eine köstliche Schale, in die das Leben all sein Glück ergießen will.«
Sie lächelte ihn traulich an. »Wie gut Sie sind! Am Ende würden sie spöttisch lächeln, wenn Sie wüßten, wie banal im Grunde meine Träume sind. Da ist ein kleines Haus am See – sehen Sie dort unten die Waldlichtung – die eignet sich sehr dafür – und da ist ein Mann – –«
Er nickte. »Sie müssen heiraten und Kinder müssen Sie haben. Sie sind der mütterlichste Mensch, der mir begegnet ist.«
Da rückte sie im Eifer näher an ihn heran, reckte die kräftigen Arme über ihren Kopf und jubelte: »Ja – Kinder – eine große Schar. Das möchte ich haben. Und mit ihnen mich balgen im Grase und mich mit ihnen jagen und sie alle über mich wegkugeln lassen und unter ihnen sitzen und ihnen Märchen erzählen, und dann müssen sie mich alle angucken mit großen ernsthaften Augen und lachen müssen sie mit mir und weinen mit mir und – und – ihre einzige große dumme kluge Freundin müssen sie haben in mir.« – – Sie schwieg und strich die Haare aus dem Gesicht Er lächelte versunken vor sich hin. Dann fügte sie leise hinzu: »Das sind meine Träume. Und nun wissen Sie alles von meinem Leben.«
»Es ist sehr viel Schönes«, sagte er.
»Es ist das Leben eines Mädchens, das in der Masse verschwindet«, erklärte sie. »Ein Dutzendleben, das Ihnen sehr gering erscheint. Ich weiß es, wenn Sie natürlich auch jetzt verneinen. Ich kenne Sie schon ganz gut. Sie wollen sehr weit hinaus. Das sollen Sie auch. Sie sind ein Mann und einer, der viel kann. Ich weiß, Sie werden eine große Karriere machen und was erreichen.«
»Vielleicht«, sagte er und ward ganz ernst. »Ich habe zwei Leben, liebes Fräulein. Eins draußen – – und eins – ja – das draußen in meiner Arbeit, das ist schön. Ich arbeite jetzt mit an der Reform des Strafprozesses. Es ist ein stolzer Gedanke, an der Gesetzgebung eines großen Volkes mitzutun. Auch meine wissenschaftliche Arbeit ist – sehr – – schön. Mein ganzes Leben hängt daran. Und doch – glücklich –? Ach, liebes Fräulein! Auch Männer haben, wie wir gestern feststellten, so ihre Träume. Aber da ist oft so viel – – viel Enge ist bei mir zu Haus. Es – – reden wir nicht davon. Sehen Sie lieber auf den See hinab. Die Sonne ist schon fast fort. Schauen Sie dort die glänzenden Silberflächen. Das sind die Fittiche der Nacht.«
Sie blickten hinab. »Es ist so schön, zu schweigen«, sagte sie, unwillkürlich flüsternd, »manchmal denke ich, wir sind noch in einem Übergangsstadium. Der Ochs und der Hottentotte brüllen. Wir reden. In tausend Jahren wird man schweigen und sich ohne Worte verstehen.«
Er lächelte und nickte.
Der See unten dehnte sich immer ferner in die Dämmerung. Er war jetzt ganz bleifarben. Und die Stille wuchs. Plötzlich zitterte der hohe Harfenton der Heimchenserenade durch den lauen Abend. Drüben im Dorf klagte eine Harmonika: »O du Jugendzeit – schöne Jugendzeit. –« Sie lächelten einander verständnisinnig zu. Und Hoff sagte leise: »Wie schön das ist! Läsen wir das in einem Roman, würden wir das Buch hinlegen und spöttisch den Mund verziehen und sagen ›Pfui – wie limonadenhaft‹ Im Leben – hier oben über dem Leben – ist es so zart.«
So saßen sie lange, und die Nacht hüllte sie ein, weich und traut.
Endlich erhob sie sich. »Wir müssen gehen«, sagte sie und ihre Stimme klang rauh von der tiefen Gemütsbewegung, »es wird spät.«