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In dieser Nacht wollte Susanne nicht schlafen. Nicht eine Sekunde von dieser letzten Nacht ihres jungen Lebens wollte sie verlieren. Dicht an ihn gepreßt lag sie, ganz still, daß sie ihn im Schlafe nicht störe, und fühlte wohlig seine Iebende Wärme. Und dachte daran, daß sie nun bald einsam in dem wogenden Dunkel liegen würde, ganz einsam und allein. Dann schmiegte sie sich so eng an ihn, daß er aus dem Schlafe auffuhr und sie streichelte und sie einlullte mit kosenden Liebesworten. Und wenn er dann wieder tief atmete im Schlummer, stützte sie sich auf den Ellbogen und betrachtete mit mütterlicher Zärtlichkeit sein Gesicht bei der schwebenden Helle der Sommernacht. Noch einmal wollte sie diese geliebten Züge trinken, sie noch einmal in sich hineinschlürfen, unvergeßlich. Die Furcht vor dem Tage ertrank in ihrer tief flutenden Liebe.
Aber dann war sie doch wohl eingedämmert. Denn sie träumte, sie war Susanne Neubert, aber sie war doch eine weiße schimmernde Wasserlilie. Sie fühlte das Wasser sie warm und liebkosend umspülen. Sanft wiegte sie die linde Strömung, Und dann kam ein Nachen dahergeschwommen, und er saß darin. Immer näher kam er, immer näher, und die gespannte Freude der Erwartung durchzitterte ihre Lippen. Und die waren Kelchblätter. Und dann war er ganz dicht bei ihr und streichelte sie mit seinen guten zarten Fingern. Und sie bat: »Nimm mich mit. Nimm mich doch an dein Herz.« Da zog er sie aus dem See heraus, zu sich ins Boot. Sie fühlte das laue Wasser an ihren Gliedern hinabrieseln. Und er schmiegte sie an seine Brust und drückte den Mund auf ihren Kelch, und sie empfand den warmen belebenden Hauch seines Atems. Und es war so gut und geborgen, so geborgen und lind. Und plötzlich klaffte über ihnen der Himmel weit, weit auf, und eine weiße Helle strahlte auf sie hernieder. Engel traten aus dem Strahlenkreis hervor und streckten die Ärmchen nach ihr. Und eine Harmonika schluchzte: »Muß i denn, muß i denn zum Städtli hinaus, Städtli hinaus, und du, mein Schatz, bleibst hier«, und der See rauschte gewaltig auf, und sie weinte und war doch so selig und die Engel hielten sie an den Händen, und ringsum wogten purpurblaue Ströme, und auf einem goldenen Throne saß ein Greis mit gütig lächelndem Antlitz und –
Da lachte es über ihr. Benommen schlug sie die Augen auf. Sonniger Morgen war's. Hoff beugte sich über sie und lachte. Und er rief munter: »Das muß ja ein ganz seltsamer Traum gewesen sein. Du lächeltest so hold, und Tränen rollten über deine Wangen.«
Da preßte sie das feuchte Gesicht an seine Brust und raunte: »Es war meine Himmelfahrt. – –«
Als er zur Stadt ging, konnte und konnte sie sich nicht von ihm loßreißen. Immer wieder schlang sie die Arme um seinen Hals und blickte ihm in die Augen und strich ihm über die Haare und küßte ihn auf die Lider und Stirn und die Hände, Und er sprach ihr liebreich zu und lachte: »Suse, Herz, in vier Stunden bin ich doch wieder bei dir. Angst brauchst du doch nicht zu haben, Mutter Ebeling läßt niemanden zu dir. So – noch einen Kuß. Und nun muß ich wirklich fort. Es ist höchste Zeit, Liebling.«
Doch als er die Treppe hinabsprang, schrie sie in höchster Seelennot seinen Namen und flog die Treppe hinab noch einmal in seine Arme. Dann stand sie unter der Haustür und winkte und winkte und blickte ihm nach, bis seine hohe Gestalt unter den Bäumen verschwunden war.
Als die Schritte in der Ferne verklangen, ward ihr weh bewußt, daß sie verlassen und einsam stand, ganz einsam in der großen weiten Welt. Steil und dunkel klaffte der Abgrund vor ihren Augen. Sekundenlang hatte sie das Gefühl des Schwebens in freier Luft. Sie spürte deutlich die ziehende, schmerzhafte Empfindung des Fallens, des Stürzens ins Bodenlose. Sie taumelte und tastete nach dem Türpfosten. Ihr Mund zuckte wie bei einem Kind, dem das Weinen kommt. Dann raffte sie ihre Kraft zusammen, stemmte die geballten Fäuste gegen den Busen und sagte vor sich hin; »Ich tu's – ich tu's – ich tu's bestimmt.«
Sie ging hinauf. Ihr Kopf war wirr. Sie handelte in einer Art hypnotischer Betäubung. In ihrem Gehirn pochte es dumpf. Sie wußte nur, daß sie hinlaufen wollte und ertrinken. Mit fiebrig hastender Fingern kleidete sie sich an. Als sie mit dem Badezeug an der Tür stand, fiel ihr ein, daß sie nun nie wieder hieher käme. Da perlten die Tränen. Durch einen feuchten Flor glitt ihr Blick über jeden Stuhl, über den Tisch, das Bett. Und plötzlich lief sie zum Schreibtisch und fuhr mit der Hand sacht über die Blätter seines Manuskriptes. Dann ging sie schnell hinaus.
Im Hausflur begegnete ihr Frau Ebeling.
»Morgen, Fräulein.«
»Guten Morgen, Frau Ebeling.«
»Sie gehen baden? Is recht. Schöner Tag heute.«
»Ja, es ist sehr schön.«
»Wenn Sie dann ausgehungert zu Tisch kommen, Fräulein, da gibt's was Gutes«, orakelte die Alte geheimnisvoll. »Nu, ich verrate nichts. Na – adje denn solange.«
»Guten Tag, Frau Ebeling.«
Ohne sich umzublicken, lief sie zum Strande. Sie wollte zum Forsthaus hinüberfahren und den lieben alten Weg gehen, vorbei am »Großen Fenster«, den sie so oft mit ihm gewandert war. Nachher links hinein zur Badeanstalt, neben dem Freibad. Und dann hinausschwimmen, weit hinaus – und dann – –
Als sie durch den Wald schritt, dachte sie einen Augenblick daran, wie licht der Morgen war, wie harzig die Baumstämme dufteten und wie die Sonne durch das dichte Laub den Weg zu dem taukühlen Boden finde. Doch das schwebte nur wie ein Schleier an ihrem Bewußtsein vorüber. Ein dunkler, schmerzender Druck lastete über den Augen. Mechanisch schritt sie vorwärts. Ihr Bündel fest unter den Arm geklemmt. Am »Großen Fenster« blieb sie einen Augenblick stehen und sah hinaus auf den flimmernden, lichtdurchleuchteten See. Flüchtig durchhuschte sie der Gedanke, daß er ihr hier zuerst von seiner Liebe gesprochen hatte. In alter, verklungener Zeit. Sie konnte sich kaum noch erinnern, hatte auch nur einen Farbeneindruck: weiß und hell sah sie es. Und plötzlich blinzelte sie scheu hinauf zu dem Baume, auf dem sich damals der Rabenschwarm krächzend niedergelassen hatte. Da packte sie eine eisige Angst in dem morgenstillen Walde. Sie lief gehetzt den weiten Weg bis zur Badeanstalt, hinab die Hügel, hinauf die Erdwände, lief, lief, fiel hart in die Knie und raffte sich keuchend wieder empor und rannte weiter, immer weiter, und wagte nicht aufzublicken, weil die Raben hinter ihr herflogen und wild mit den schwarzen Flügeln schlugen.
Schweißbedeckt erreichte sie die Schwimmanstalt. Die stämmige Badefrau empfing sie mit lachender Freundlichkeit.
»Morgen, gnädiges Fräulein. Heute is's aber mal schön. So klar und warm haben wir's Wasser lange nicht gehabt.«
Susanne riß die Kleider vom Leibe. So heiß, wie sie war, wollte sie hineinspringen. Vielleicht hatte Gott Erbarmen und machte mit einem Herzschlag ein schnelles Ende. Und sie sprang, kopfüber, in weitem Bogen. Frisch und gewandt tauchte sie auf. Und gewohnheitsmäßig schwamm sie hinaus, in langen ausgetragenen Stößen. Die Kühle des Wassers und die kräftige Bewegung trieb ihr das Blut warm durch die jungen Glieder. Einige Augenblicke berauschte sie die Lebenskraft. Sie schwamm geradeaus und dachte nicht an ihr Vorhaben. Aber als sie sich weit genug vom Strande entfernt hatte, schoß es ihr jäh durch den Sinn: »Jetzt!« Sehnig ausgestreckt warf sie die Arme über den Kopf. Die Beine gingen hinab, langsam versank sie in die Tiefe. Sie hörte das Wasser in den Ohren rauschen und fühlte, wie sie durch weiche Flutmassen hinabglitt. Da warf sie in der Todesangst den Kopf in den Nacken und öffnete die Augen. Sie sah die Sonne gelb durch das Wasser scheinen, jetzt wurde sie grün – immer blasser wurde sie – jetzt war sie schon fast weiß – nur noch ein Hauch – jetzt – war sie schon dunkel – jetzt – ein eisiger Stoß am Herzen – sie wollte schreien – Wasser drang in die Kehle – – in wahnwitzigem Entsetzen preßte sie die Hände nach unten, stieß in verzweifelter Kraft mit den Füßen und schoß wie ein Pfeil von der klingenden Sehne bis über die Brust heraus aus dem Wasser.
Und schluckte und würgte und keuchte.
Sacht trat sie eine Weile im Wasser auf und ab und das Grauen krümmte ihr die Knie an den Leib bei dem Gedanken, daß sie es noch einmal tun müsse. Aber sie mußte es – sie mußte es. Und sie schöpfte tief Atem und versank zum zweitenmal. Und noch einmal. Und noch einmal. Aber im letzten Augenblick, da die Sinne zu schwinden drohten, verlor sie die Herrschaft über den Willen, und der Erhaltungstrieb wehrt sich mit zuckenden Stößen gegen die verschlingende Tiefe.
Weinend vor Mattigkeit und Wut ob ihrer Feigheit machte sie einige müde Tempi. Da sprudelte eine wohlbeleibte Dame neben ihr, pustete wie ein junger Walfisch und lachte: »Das ist heute mollig pht pht – schön ist's heute. Sie sind ja eine ganz brillante pht pht Taucherin. Die beiden letzten Male war mir schon ordentlich pht pht bange. Brr – schmeckt pht dieses Seewasser.
Da begann Susanne vor Kälte mit den Zähnen zu klappern. Die andere lag auf dem Rücken und patschte mit den Beinen ins Wasser. »Sie sollten hinaus«, riet sie. »Sie frieren Ja. Ganz blau sind Sie.«
Susanne nickte und schwamm in hastigen, kurzen Stößen ans Land. Zitternd wickelte sie sich in das Badetuch und stellte sich in die Sonne. Und als ihr die Wärme wohlig durch die Adern strömte und die Brust sich in tiefen, bewußten Atemzügen dehnte, schien ihr die Sonne so hell wie nie zuvor. Und nie, nie ehedem war der Himmel so durchsichtig blau gewesen.
Jetzt wußte sie, so konnte sie es nicht vollbringen. Es war auch Torheit. Eine gute Schwimmerin kann so nicht ertrinken. In Kleidern mußte sie es tun. Sich ein Boot mieten, in den See hinausrudern und kentern. Dann würden die schweren feuchten Kleider sie hinabziehen in den Grund.
Als sie angekleidet war, sah sie, daß sie heute nicht mehr die seelische Kraft hatte, zur Bootsverleihanstalt zu gehen. Morgen früh wollte sie es tun. Ja, morgen hatte es auch noch Zeit. Das durfte sie sich gönnen. Dann hatte sie noch den Tag heute und die Nacht. Das durfte sie noch mitnehmen. Ja, das durfte sie.
Und nie vorher hat ihr das Essen so gemundet, und niemals hat sie dem Liebsten mit so feuchtinnigem Blick zugelächelt und ihn nie mit solch lechzend gierigen Lippen geküßt wie an diesem hellen Tage.
Nach Tisch verkündete Hoff mit irrendem Blick, daß er nach Berlin fahren wolle. »Ich muß doch einmal nachsehen, was sie treiben.«
Sie nickte.
Und als er scheu und eilig gegangen war, dachte sie, daß sie es nun doch tun müsse. Ja, lieber jetzt gleich. Aber sie wollte ihm schreiben. Es war doch etwas sonderbar, daß sie allein auf den See hinausruderte. Nein, nein, er sollte keinen Verdacht schöpfen.
Als sie am Schreibtisch saß, fiel ihr ein, daß sie heute morgen nicht einen Augenblick lang an die Mutter gedacht hatte. Ein tiefes, weinendes Mitleid mit der alten Frau ergriff sie. »Armes Mütterchen«, dachte sie, »armes, liebes Mütterchen«.
Ein Verlangen, zu ihr zu eilen und ihr zum Abschied die guten Hände zu küssen, packte sie. Sie rang es nieder. Nein, nein, das nicht! Dann erfuhr er davon. Still und heimlich mußte sie gehen, »Armes, liebes Mütterchen!«
Sie raffte sich zusammen und schrieb:
»Liebster, ich bin nach Wannsee gegangen« um zu rudern. Ich wußte nicht, was ich beginnen sollte. Es schien mir so schön, auf dem Wasser zu liegen und zu träumen. Falls Du vor mir zu Hause bist, ängstige Dich nicht. Ich bin um sechs wieder zurück.
Deine Suse.«
Das Blatt legte sie auf den Schreibtisch.
Doch auch jetzt gelang es ihr nicht. Sie hatte das Boot weit hinausgetrieben in den See. Und schaukelte und schaukelte, so stark sie nur konnte und klammerte sich an die Rampe, und schaukelte – aber der Kahn kippte und kippte nicht. Und als sie gerade den Mut der Verzweiflung zu einem letzten wuchtigen Schwünge zusammenraffte, zog drüben am Ufer eine weißgekleidete Kinderschar singend dahin. Eine Gemeindeschule auf dem Ausflug. Und die reinen Kinderstimmen stiegen jubilierend hinauf in das freudige Blau des Sommertages. Da trieb Susanne den Kahn zum Ufer und schlich beschämt und kleinmütig nach Hause. – –
Hoff war schon gekommen. Sein Besuch in der Frobenstraße war sehr kurz. Doch er hatte die Kluft zwischen ihm und den Frauen vertieft. Herta blieb unsichtbar. Und die Mutter forderte nach einigen freundlichen Worten in losstürmender Raserei wieder von ihm, »dem Frauenzimmer den Laufpaß zu geben«. Da war er ohne Erwiderung gegangen. Alles Verhandeln blieb hier aussichtslos.
Als er dann in der Eisenbahn saß und sein Blick über die Felder der Vorstädte hinschweifte, kam wieder diese todesmüde Abspannung der letzten Tage über ihn, diese schlaffe Sehnsucht nach Ruhe und Frieden. Ja, dachte er, wenn Suse nicht wäre! Dann würde er sich hinlegen, einfach Schluß machen und hinlegen. Ja, wenn die Suse nicht wäre!
Der Zug hielt in Lichterfelde-West.
Als er weiter ratterte, wanderten auch wieder Hoffs Gedanken.
Wenn die Suse nicht wäre, wäre doch auch alles dieses nicht, diese furchtbare Beklemmung, diese würgende Schlinge, in der er und die Frauen sich verstrickt hatten. Ja, wenn die Suse nicht wäre! Zum ersten Male stieg eine leise Erbitterung gegen sie in ihm auf. Wenn sie an jenem Abend nun nicht mit ihm gegangen wäre! Dann wäre alles gut. Dann wäre – –
Aber sofort faßte ihn tiefe Reue und Scham. Das weiche, süße Mädel! Sie war mit ihm gegangen, sie hatte ihr Leben unlösbar mit seinem Dasein verknüpft, und damit war zu rechnen, und damit mußte gerechnet werden. Doch wenn er in die Zukunft starrte, ward es dunkel vor seinen müden Augen. Kein Licht war da, kein Weg. Nichts als sternenlose Nacht und undurchdringliche schwarze Finsternis.
Hoffnungslos, die Seele wund, glanzlos die Augen, trat er ins Haus. Er war schmerzlich überrascht, als Frau Ebeling ihm mitteilte, daß »Fräulein« fortgegangen sei. Niedergeschlagen stieg er hinauf ins Zimmer. Seltsam, daß sie nicht auf ihn gewartet hatte! Sie lief doch sonst nicht allein im Walde einher!
Endlich bemerkte er den Zettel auf dem Schreibtisch. Hastig griff er danach und las ihn, las ihn immer wieder und schüttelte verständnislos den Kopf. Rudern? Seit wann ging sie allein rudern? Sie war doch immer so ängstlich auf dem Wasser. Und nun ging sie. – – Plötzlich sank die Hand, die den Zettel hielt, leblos herab. Das Papier entglitt seinen absterbenden Fingern, schlug mit der Kante auf die Erde und klatschte dann breitseitig auf den Boden. Hoff hatte hellseherisch eine Vision. Es sah sie mit dem Tode ringen. Er wußte plötzlich alles, Sie hatte sich als Last empfunden und ging in den Tod. Gestern ihre Fragen über Sterben und Jenseits. Und ihre nervöse einraffende Zärtlichkeit. – – – Er stürzte zur Tür – er mußte nach Wannsee. – – Sein Hut? Sein Hut? Herrgott, wo war sein Hut? Er suchte in wilder Hast und bemerkte endlich, daß er ihn auf dem Kopfe hatte.
Als er die Tür aufriß, prallte er auf Susanne.
Bleich stand sie vor ihm. Zwischen Tür und Angel nahm er ihr Gesicht in beide Hände, beugte ihren Kopf zurück und sah ihr in weher Erschütterung und klagendem Leid in die Augen. Kein Wort wurde gesprochen. Ihre Seelen strömten rauschend zusammen. Lautlos gestand er sein Ahnen, weinend erzählte sie von ihrer Not dort draußen auf den Wassern.
Endlich fand er Worte. »Armes, süßes Lieb«, liebkoste er sie. »Ganz allein wolltest du gehen! Du armes, tapferes Kind.«
Da jammerte sie und ballte die Fäuste: »So feige bin ich. So jämmerlich feige! Es ist so schwer. Ich habe es nicht gekonnt, trotz meiner Liebe habe ich es nicht gekonnt.«
Dann zog er sie ins Zimmer, Und als sie eng aneinandergeschmiegt saßen, fragte er: »Suse, hast du gar nicht an meinen Schmerz gedacht?!«
»An dein Glück habe ich gedacht.«
»Ja, aber glaubst du denn, ich könnte ohne dich leben!«
»Ja, ich glaube es. Wenn du vor der Tatsache stündest, könntest du leben. Und – am Ende auch wieder glücklich werden.«
»Nein, nein«, rief er heftig; »dann hast du keine Ahnung von meiner Liebe!«
»Doch«, sagte sie innig. »Ich weiß, wie sehr du mich liebst. Das fühle ich so gut, wie eng wir zusammengeschlossen sind. Aber, Lieber – jetzt – heute abend weiß ich auch – wie unlöslich man mit dem – Leben, – all dem hier auf Erden, von dem man so geringschätzend reden kann, – verkettet ist.«
»Ja«, nickte er, »wir haften an der Erde. Und darum –« Hastig fuhr sie fort:
»Ich könnte ohne dich nicht leben. Weil ich eine Schlingpflanze bin, die mir auf ihrem starken Baum gedeihen kann. Mein ganzes Leben ist auf dich gebaut, seit ich an jenem Abend zu dir kam. Von dir gehen kann ich nun nicht mehr, und mein gesondertes Leben leben. Dazu fehlt mir die Kraft. Andere Frauen könnten es. Ich weiß. Und für sich und ihr Kind arbeiten. Mir graut vor der Einsamkeit. Und zu meiner Mutter –«
Sie schüttelte den Kopf.
»Kind, quäl' dich doch –«
»Aber du –«, rief sie lebhafter, »du wirst leben. Du wirst mich betrauern – lange – ja –, lange. Doch dann – – So soll es auch sein. Du gehörst dem Leben.«
»Und du gottlob auch. Und nun, Suse, wollen wir davon nicht mehr reden.«
»Ewald«, beharrte sie, »wir wollen ganz ehrlich und offen darüber reden. Wo wir jetzt stehen, gibt es keine Scheu mehr und keinen kleinen irdischen Schmerz und kein feiges Bangen, die Dinge zu benennen. Sieh – so wird es kein Glück für uns werden. Solange ich neben dir stehe, kannst du den Deinen nicht helfen. Du kannst es einfach nicht, weil wir doch auch leben müssen. Und über sie hinwegzuschreiten zu unserem Glück – dazu bist du nicht robust genug, das weiß ich jetzt – und ich, ich bin es auch nicht. Wir würden ihre bleichen, anklagenden Gesichter in all unsere Helle hineinstarren sehen und – –«
»Sie werden sich –« fuhr er heftig auf.
»Sie werden nichts, Liebling. Wir wollen heute der Wirklichkeit ohne Blinzeln ins Auge blicken. Sie werden uns unser junges Glück zerreiben, zermalmen, zertreten. Ihr Leid wird wie eine schwarze Wolke unseren Himmel verdunkeln. Nein, nein. Laß nur. Ich weiß. Und du weißt es im Innersten auch.«
Er machte eine ungeduldige Bewegung.
Sie sann: »Wenn ich von dir ginge, das wäre keine Rettung, So lange ich lebe, kommen wir voneinander nicht los. Das wissen wir nun auch. Und wenn ich von dir liefe bis ans Ende der weiten Welt. Du würdest mich ruhelos suchen. Und wenn du mich nicht fändest, würde ich an meiner Sehnsucht sterben. Und wenn ich daran denke, daß eine andere bei dir – Nein, nein – – Ich muß meinen Weg gehen. Ich habe es mir so wohl überlegt. Ich will ihn auch gehen. Jetzt in meinem Glück. Ich will den Becher absetzen, ehe ich den Boden sehe. Und wenn du mir hilfst –«
Er sprang hoch.
»Bist du toll, Suse!«
Sie blickte flehend zu ihm auf. »Du mußt mir helfen, Ewald. Allein ist es so furchtbar schwer.«
Da zog er sie an sich. »Du bist krank. Kind. Vollständig nervös überreizt. Du redest irre. Wahrhaftig, du kannst einen selbst ganz wirr machen mit deinem tollen Gefabel.«
»Nein, nein, Ewald«, drängte sie, »ich bin klar und gesund. Ich weiß nur –«
Er hielt sie eng umschlungen. »Du fieberst ja, Kind. Komm, lege deinen Kopf an mein Herz, Krank haben sie meinen Liebling gemacht. Ganz krank und wirr.«
»Ich bin gesund und klar«, wiederholte sie und richtete sich straff auf. »Ich sehe alles so deutlich. Wie deine Liebe in diesen zermürbenden Kämpfen verdorren muß. Und du mich eines Tages mit kalten Augen ansehen wirst. Wie mir davor graut! Das will ich nicht erleben. Das ist schlimmer als das bißchen Sterben. Und dann, Ewald, glaube nicht, daß mir dies alles überraschend kommt Ach, nein, im Grunde meiner Seele habe ich es geahnt. Als ich an jenem Abend zu dir kam, raunte eine Stimme in mir, daß – daß es – in den – Tod ging.«
Da richteten sich die Haare auf seinem Schädel vor Grauen steif in die Höhe und er schrie, als sehe er Gespenster; »Du auch?!! Suse, auch du?!«
Sie starrte ihm bleich ins Gesicht: »Wie – Ewald – du auch?!«
Er nickte. Sein Mund kaute nervös. »Ja, ich habe es gewußt«, stieß er zwischen den zusammengepreßten Zähnen hervor. »Als du mit dir rangst, wußte ich – klar wußte ich es – wenn sie ›Ja‹ sagt – ist es der Tod. Ich habe es gewußt.«
»Und doch nahmst du mich zu dir!« jubelte sie auf. Sie umschlang ihn stürmisch und sah nicht, daß sein kalkig-weißes Gesicht sich zu einer starren Totenmaske entstellte.
Ein furchtbarer, wahnwitziger Plan schlug einen eisernen Reif um seinen Schädel.
Jäh befreite er sich von ihren Armen und ging einige Male mit schweren Schritten durchs Zimmer. Die Augen waren zusammengekniffen. Aber er sah den Weg, der herausführte aus dieser unlöslichen Wirrnis.
Plötzlich lachte er mit erzwungener Heiterkeit. – Es gellte wie das Lachen eines Knaben im Stimmwechsel, »Es ist ja alles Unsinn, Suse. Auch alles unnötig. Ich wollte nur deinen wundervollen Heldenmut bis zur Neige trinken. Es ist ja schon längst alles gut.«
Sie blickte ihn verständnislos an.
Da setzte er sich zu ihr, nahm ihre Hände, streichelte sie und sprach, wie man einem Kinde eine Geschichte erzählt: »Ich war doch zu Hause.«
»Ja – und? – Ewald, was war? Sprich doch – sag es schnell!« Wie zwei Sonnen leuchteten ihre Augen in aufquellender Lebenshoffnung.
»Es hat sich da«, überlegte er beim Sprechen, »du weißt, Liebling, es gibt da immer Onkels. In Romanen haben sie ihr Lächerliches, weil sie zu ausgiebig verwandt werden. Unser – oder vielmehr Hertas Schauspieler aber hat solch echten leibhaften, reichen Onkel. Und der gibt die Aushilfe und auch –«
Weiter brauchte er nicht Märchen erzählen. Sie fiel über ihn her, umklammerte ihn mit den Armen, daß es schmerzte, lachte an seinem Munde und weinte und lachte wieder dazwischen und stammelte: »Und beinahe läge ich auf dem Grunde des Wannsees« – und küßte und herzte ihn wieder und rief: »Es gibt einen Gott, Ewald, jetzt weiß ich es. Heut weiß ich es!«
Und dann schlug sie erschüttert die Hände vor das Gesicht und weinte, daß ihr Körper zuckte. Weinte vor inbrünstiger, bebender Freude, daß sie leben sollte, leben mit ihm; daß das Leben so reich und lichtgetränkt vor ihr lag, und daß in der höchsten Not das Wunder, das rettende holde Wunder vom Himmel herniedergesunken war.
Später besann sich Hoff, daß er noch eine kurze dienstliche Arbeit zu verrichten habe. Er setzte sich an den Schreibtisch und schrieb:
»Liebe Mutter, liebe Schwestern!
Ihr sollt sehen, daß ich Eure Aufopferung in all diesen schweren Jahren seit Vaters Tode nicht vergessen habe. Ihr sollt mich nicht pflichtvergessen und undankbar schelten dürfen. Ich bringe Euch alles dar, was ich habe. Das Schwerste, das ein Mann tun kann, tue ich für Euch.
Von meinem Leben spreche ich nicht. Ich habe in diesen Tagen ein so großes Glück genossen, daß ich mein Leben voll gelebt habe. Die Zeit, die man lebt, ist ohne Bedeutung. Der Inhalt ist alles. Was jetzt noch kommen kann, muß hinabführen. Und meine Arbeit? Die Natur ist so unendlich reich, daß sie sich gestatten darf, eine Kraft wie mich ungenützt zu vergeuden.
Aber daß ich Euch meine Suse geopfert habe, –«
Er setzte ab. Seine Finger zitterten vor Entsetzen so stark, daß der Federhalter tanzte. Heimlich sah er nach ihr hin. Sie kauerte selig – träumerisch auf der Chaiselongue und lächelte lebenstrunken vor sich hin. Nein, er konnte es nicht. Das würde er nie können. Sie in ihrer lieblichen Ahnungslosigkeit – – Aber was? Was denn? Sie hatte recht: ihr Glück würde unter diesen häßlichen Kämpfen zerrinnen. Und was blieb dann? Visionär sah er sie bleich und abgezehrt mit großen wehen Augen auf ihn starren –
Er schrieb weiter:
»das ist so furchtbar – so unausdenklich grauenvoll. – Ihr müßt Euch damit abfinden, wie ich mich mit diesem Entsetzlichen abgefunden habe. Ich will Euch an der Schwelle nicht grollen. Es ist am Ende meine Schuld. Ich habe eine Last auf mich genommen, für die meine Schultern zu schwach sind. Doch wer will hier von Schuld reden? Schicksal war es. Die graue Macht war, es, die uns würgt, die uns böse Bahnen leitet. – Lebt wohl. Die Polizze liegt in dem Schreibtisch. Der Schlüssel ist in meiner Tasche. Die Gesellschaft muß auch bei Selbstmord zahlen. Von der Summe könnt Ihr bei Eurer Bescheidenheit ohne Arbeit etwa sieben Jahre leben. Bis dahin wird hoffentlich Hertas – Liebster Karriere gemacht haben. Und wenn Ihr zu Lisbeth zieht, kann sie jetzt heiraten. Ich wünsche, daß nun das Glück zu Euch käme.«
Mit kräftigem Zug unterzeichnete er, steckte das Schreiben in den Umschlag und verschloß den Brief in der Schublade.
Dann plauderte und scherzte er mit Susanne. Wie eine blutige Ahnung schwelte in ihm die dunkle Stunde.
Und als es Nacht geworden und Susanne nach den seelischen Foltern des Tages lächelnd schlummerte, verließ er leise das Lager. Auf den Zehen schlich er zum Schreibtisch und nahm seinen kleinen Revolver. Sorgfältig lud er sechs Kugeln. Man konnte nicht wissen. – Dann legte er den Brief an die Mutter auf den Tisch und schloß die Schublade. Den Schlüssel steckte er in die Tasche. Sein Gehirn war klar. Er ergriff die Waffe.
Da bewegte sich Susanne. Hurtig barg er die Hand hinter dem Rücken. Sie hob den Kopf aus den Kissen und sah zu ihm herüber. Der Mond spiegelte sich weiß in ihren Pupillen.
»Was tust du dort?« fragte sie.
Er antwortete nicht.
»Sprich doch«, rief sie in ahnungsvollem Grauen »Wie du dastehst im Mondlicht! Ganz grün, Ewald, sprich doch! Mir ist so angst. Ewald – was hast du?!« Sie sprang aus dem Bett und huschte zitternd zu ihm. Als sie die Arme um ihn warf, stieß sie sich hinter seinem Rücken an etwas Kaltem, Eisernen.
Sie schrie gurgelnd auf, Sie witterte den Tod in seiner Hand. Und dann schmiegte sie ihren Körper an ihn, warf den linken Arm um seinen Hals – fest – wie einen Ring – hing sich an seine Lippen – ehe er wußte, was geschah, riß sie seinen Arm in die Höhe – stieß etwas Eisiges an ihre Schläfe – zerrte an seinen Fingern. – Ein dumpfer Knall irrte an den Wänden des Zimmers umher – er fühlte eine Stichflamme seine Finger brennen – sie schnellte zusammen wie eine Spirale – stieß ihn mit den Knien in den Leib. – Es dauerte alles nur Sekunden. Alles war vorüber, ehe er es recht erlebte.
Jetzt fiel ihr Kopf zurück und wackelte unheimlich steif hin und her, als säße er an einer Stange – der Körper zog bleiern nach hinten – immer unwiderstehlicher – er konnte die Last mit dem linken Arm nicht halten – es war ihm, als brächen die Armknochen glatt durch – ein eisiger Schmerz schnitt durch die Muskeln –, mit dumpfem, glucksendem Laut schlug der Körper auf den Boden.
Mechanisch legte er die rauchende Waffe auf den Tisch und kniete bei ihr nieder. Das Gesicht war in ihrem weichen Haar vergraben. Er hob den Haarwulst auf seine Knie und entwirrte das Gesicht. Es war grün, und die Augen starrten. Entsetzt ließ er ihren Kopf zur Erde fallen. Hart pochte er auf die Diele.
Hoff sprang empor und trat an das offene Fenster. Er blickte hinaus auf den See. Vollmond schwebte da oben im Weltraum.
Er stand und stierte. Wagte vor Angst kaum Atem zu holen. Die Zähne schlugen klirrend zusammen. Immer geradeaus starrte er. Ein eiserner Schraubstock hielt seinen Kopf fest, daß er ihn nicht zurück ins Zimmer wenden konnte.
Eine Diele knackte. Er schrie leise auf und stützte sich mit den Händen schwer auf das Fensterbrett und lauschte gespannt. Röchelte sie noch? Nein – ganz still war's. Ganz still. Kein Laut. Heimlich schielte er hinter sich. Nichts regte sich. Endlich wandte er sich um und preßte den Rücken hart gegen das Fensterkreuz. Er brauchte Halt.
Sie lag langausgestreckt auf dem Rücken. Sehr groß war sie in ihrem langen Nachthemd, starr, weiß. Leise, nach allen Seiten spähend, schlich er an sie heran. Auf dem Sprunge, zurückzuweichen, beugte er sich nieder und berührte mit der Zeigefingerspitze die aus dem Hemd herausquellende Brust. »Tot«, dachte er. »Tot. Sie ist tot.«
Vorsichtig schlich er zum Fenster zurück und beobachtete sie voller Grauen und Mißtrauen. Das, was da so lang ausgestreckt lag, war – seine Suse? Er begriff es nicht daß das Grausige dort die Suse war. Er empfand nichts als Grauen, nur Grauen vor dem Leichnam.
Da erklangen draußen Schritte. Hoff sah den Helm eines Landjägers zwischen den Kiefern blinken. Und ohne Überlegung, ohne recht zu wissen, was er tat, ohne sich Rechenschaft über sein Tun zu legen, fiel er in die Knie und duckte den Kopf. Dann lauschte er gespannt. Vor Furcht, unten gehört zu werden, hielt er den Atem an. Die Schritte klirrten vor dem Hause – Hoffs Puls setzte aus – jeden einzelnen Kiesel hörte er unter den schweren Reiterstiefeln knirschen, so gespannt waren seine Sinne – jetzt ging es weiter – zum Bahnhof zu – immer weiter – –
Er zauderte noch eine Weile. Dann hob er den Kopf ganz wenig über das Fensterbrett und lugte hinaus. Der Platz lag weiß im Mondlicht. Da war niemand.
Und plötzlich fiel ihm ein, daß er jetzt die Waffe an die Stirn drücken müsse. Er blinzelte sie unschlüssig an. Das Mondlicht umspielte sie. Sie glitzerte silbern. Leise schlich er hin und nahm sie zur Hand. Der Lauf war noch warm. Er wirbelte spielerisch den Kugelhalter.
Hoff setzte die Mündung fest und rund an die Schläfe.
»Ich werde mich lieber setzen«, dachte er, »damit ich nicht – – dorthin falle.«
Er setzte sich auf die Chaiselongue. Der rechte Arm mit der Waffe hing schlaff an seinem Bein entlang. »Jetzt werde ich sterben«, ging es ihm durch den wirren Kopf. »Ja, sofort – gleich doch! Einen Augenblick hat's doch wohl noch Zeit, wie?! Also: ich werde sterben. Paff – weg! Hinfallen und mit dem Kopf wackeln und daliegen und starren – gespenstig starren wie – das – da.«
Er erhob sich, ging um die Chaiselongue herum und setzte sich mit dem Gesicht zum Fenster. Er wollte – das da nicht vor Augen haben. Das lag da so dumm – klotzig. Es störte ihn.
Er blickte mit gedankenvoll zerfurchter Stirn hinauf zum Himmel. Graue Wolken zogen langsam über den hellen Hintergrund. So hoch und unendlich war die Ferne.
»Ob sie dort oben ist?« dachte er. »Wo sie nun wohl sein mag?«
Der Rücken schmerzte, als bohrten sich die toten, starrenden Augen immer in eine bestimmte Stelle im Kreuz. Er kauerte ängstlich zusammen und äugte furchtsam hinter sich.
Ob sie etwas sehen konnte? Ob das, was da lag, alles war, was noch – übrig war von ihr? Wo war jetzt all ihr geistiger Liebreiz – ihr Lächeln – ihre holde Wärme? Wo wohl? Alles tot – tot, wie dieser schwere, häßliche, stumme Klumpen dort?
Er sah wieder hinauf in den Sommermachtshimmel. Und sein Hirn klärte sich. Er dachte daran, daß er jetzt sterben mußte.
Mit einem schmerzlichen Lächeln ergriff er wieder den Revolver, der zu Boden geglitten war, und sah gedankenvoll auf ihn nieder.
Da drinnen also lauerte der Tod. Ein Nichts. Ein Gedanke. Nein, nein – ein blitzendes Ungetüm. Hu – wie es vorhin herausgepoltert war!
Er preßte den erkalteten Lauf gegen seine heiße Wange. Wie es wohl sein wird? Ob man es spürte, wenn das Eisen zischend herausfuhr? Wie ein glühender Wisch riß es wohl durch das Gehirn.
Also jetzt los: eins – zwei –
Nein, so wollte er nicht sterben. Er hatte ja die ganze Nacht vor sich. Nicht wie ein Wahnsinniger sinnlos drauflos – knallen. Er hatte ja Zeit. Er wollte seinen Tod erleben. Diese letzte unwiederbringliche Stunde. Er wollte es bewußt durchfühlen, dieses Taumeln außerhalb der Welt schon – dieses Schweben dort draußen in dem blauen Äther – losgelöst von allem menschlichen Begreifen. – –
Er legte die Waffe neben sich. Preßte das Gesicht in die Hände, um sich zu sammeln, und hetzte sein Gehirn zum Denken. Also – grübeln. Sich hineinbohren. Also – wie war ihm? Dastehen – hinübermüssen – kein Zurück – vor der hohen Wand stehen – anstarren – in sich hineinhorchen – horchen, was er empfand – Was –?
Er schloß die Augen, drückte die Zeigefinger fest in die Schläfen und horchte. Suchte seine Gefühle zu analysieren. Und plötzlich sah er seinen Ordinarius aus der Oberprima auf dem Katheder sitzen und den Horaz deklamieren.
Er schüttelte die Erscheinung ab. Grübeln – in sich aufschlürfen dieses Gleiten zwischen den Welten – dieses tiefste, lebendigste Bewußtsein, daß ihm nichts Menschliches mehr begegnen konnte, daß er jenseits stand von Gesetz – Moral – Weh – aller Macht der Erde. – Alles nichtig – Schein – Wort – Klang – Begriff. Für ihn tot. Er war die Welt, die starb. Wenn er sich tötete, tötete er den Himmel dort oben – alles. Von sich aus gesehen – tötete er das All. Ja. Einfach ein Loch in das Weltall schoß er.
Ihm schwindelte einen Augenblick, Er stellte sich die gleitende Bewegung des Versenkens vor. Das Aufpoltern des Sarges auf den Boden des Grabes ist peinlich. Es schüttert so dumpf – –
Die Kirchturmuhr schlug eins.
Er fuhr auf. Nicht grübeln. Hatte keinen Sinn. Hineindringen konnte man doch nicht. Wozu denken?
Ja – na, nun also. Er nahm wieder die Waffe.
Und plötzlich wurde er neugierig. Er wollte doch einmal sehen, wie groß solche Wunde war. Die Neugier verscheuchte die Furcht. Er kniete neben der Leiche nieder, wendete den Kopf zur Seile und betrachtete das schräge, blutgeronnene Loch dicht über dem Auge. Hm, so also war es. Nicht so arg. Wo die Kugel wohl steckte? Da drinnen, mitten in der – – Seele?
Er sah ihr ins Gesicht. Schwarzblau war es. Gar nichts zu erkennen. Nichts von der Suse. Ihn schauderte. Er legte ihren Kopf voll Ekel auf den Boden. Suse war nicht da – ganz fort – weit fort war die Suse. Ja, die hatte es gut. Sie war drüber weg – die hatte es gut.
Und jetzt bedachte er, wie es gekommen war, daß sie schon so weit fort sein konnte. Wie war es bloß gekommen? Der Klumpen hatte doch nicht immer da gelegen. Als sie schlafen gingen? – –
Er setzte sich nieder und sann. Schritt für Schritt zwang er sein müdes Hirn zurück. Ja – so war's: sie hatte sterben wollen, und er hatte – ja, er hatte – warum hatte er? – Er suchte und suchte und konnte keinen rechten Grund finden, warum sie hatten sterben wollen. Er sann noch einmal. Vielleicht war das Ganze ein Irrtum. Vielleicht hatte er gar nicht – – um Christi willen, wenn er gar nicht hatte – –
Er fand keinen Grund, wie er auch alle Erinnerungen wandte und betastete. Das mit Herta konnte es doch nicht sein. Das war doch kein Anlaß, sich das Leben zu nehmen. Alle Tage kam das doch vor. Deswegen sterben? Wahnsinn. Da mußte irgendwo eine Lücke in seinem Denken sein. Er erinnerte sich genau, daß da dringende Gründe gewesen waren. Er würde sie schon wieder finden, er würde sie schon finden.
Plötzlich fiel ihm ein, daß Susanne tot war. Ja, warum hatte sie denn sterben müssen? Das war's ja gerade. Er hob den Kopf – sah starr geradeaus – und jäh wich die halb irrsinnige Dumpfheit aus seinem Schädel und sein Gehirn wurde leicht und hell.
Es war kein Grund da zum Sterben. Das war es. Es war ja alles heller Wahnsinn. Sie hatte ihn mit ihren Todesgedanken ganz wirr gemacht. Er hätte sich auch im letzten Augenblick noch besonnen – bestimmt. – Der Wahnwitz wäre vor der Tat von ihm gewichen – nein, nein, nie hätte er sie umbringen können – niemals. Wenn sie still dagelegen und geschlafen hätte – nie hätte er das Herz gehabt –
Ja – ja, dachte er, aber nun ist sie tot. Dort liegt sie. Daran ist nichts zu ändern. Kein Grübeln macht sie wieder lebendig. Nein, nein, er brauchte sich nicht noch einmal überzeugen. Tot war sie. Und nun war die Reihe an ihm. Ja – warum nur? Wenn er nur einen einzigen Grund sähe! Es war so widersinnig, sich ohne jeden Grund wie einen Hund niederzuknallen. So für nichts und wieder nichts. Ohne jeden Nutzen für irgendeinen. Nein, nein, im Gegenteil. Wie es jetzt lag, konnte er – – sie war doch nun einmal tot. Daran war nichts zu ändern. Jetzt konnte er den Frauen zu Hause – –
Nein, nein – er mußte mit ihr sterben. Das mußte er. Natürlich. Was denn? Das mußte er, wohl schon. Wenn er nur wüßte, ob es noch ein Trost für sie war. Ob sie etwas davon wußte. Er blickte auf die starren Augen. Jäh kniete er nieder und preßte sie zu.
Mein Gott, was hätte sie davon, wenn ich mich nun wirklich hinstellte und losknallte? Was hat – das – davon?! Ob sie irgendwo auf ihn wartete? Nein, so war sie nicht. Sie würde wollen, daß er lebte. Sicher – würde sie das wollen. Sie hätte nie gewünscht, daß er sich ihretwegen ein Leid zufüge. Es war sinnlos, bloß zu sterben, um ihr Gesellschaft zu leisten. Na ja, so war's doch.
Ja, aber, er hatte sie doch erschossen. Richtig, endlich hielt er die Notwendigkeit in der Faust. Das war's. Das Holz des alten Schrankes knackte. Er fuhr zusammen. Scheu sah er um sich. Das Weiße in seinen Augen glänzte. Ja – aber wohin? Das war klar. Das – das mußte fort. Gleich. Wohin?
Er kleidete sich hastig an und überlegte kaltblütig.
Wenn sie hier gefunden wurde, war es im günstigsten Falle Tötung auf Verlangen. Gefängnis – Ruin. Vielleicht glaubte man ihm auch nicht – Totschlag – Mord. Er warf den Kopf zurück, um seine Gedanken zu klären. Er fuhr sich in die Haare und überlegte. Ja, Frau Ebeling hatte wohl nichts gehört. Die schlief weit ab. Er würde ihr sagen – – Später das bedenken. Die Nacht verrann. Geblutet hatte es wohl nicht sehr. Nachher wegwischen. Hatte Zeit. Erst fort. Nur erst hinaus damit. In den See, See? Ausgeschlossen.
Fand man gleich – alles entdeckt. Durfte nicht erkannt werden –
Er grübelte nervös.
Plötzlich hatte er es. Ja – drüben – hinter dem Forsthaus – war der Eisenbahndamm. Dort – –
Er wagte nicht Licht anzuzünden. Nur erst im Walde sein. Der Weg um den See war weit. Mußte versucht werden. Den Revolver jedenfalls einstecken.
Er zog das Laken aus dem Bett, prüfte sorgfältig, ob ein Monogramm darin war. Er fand keines. Los!
Er breitete es neben der Leiche auf dem Boden. Zog ihr das Hemd vom Körper – vorsichtig – daß nicht unnötig Blut aus der Wunde sickere – nach unten über die Füße – dann rollte er sie auf das Laken.
Nun zugeknöpft die Enden! Fest zog er zu, wie einen Pack Wäsche wickelte er sie zusammen, Einen Augenblick regte sich ein weinerliches Gefühl in ihm, als er sie so zusammengeknüppelt liegen sah. Er stieß es nieder. Kopf hoch, dachte er, es geht um das Leben. Sie ist tot.
Er hob prüfend das Bündel. Schwer. Hilft nichts. Er verbog den Hut und zog ihn ins Gesicht. Los! Er schulterte die Last. Weich, matsch schlug sie gegen den Rücken. Vorsichtig die Treppe hinab. Das verdammte verrostete Schloß ging wieder nicht. Endlich! – Leise schließen! So. Er lief über den silbern-sprühenden Kiespfad und verschwand in den Wald. Schritt vor Schritt drang er vorwärts auf dem weichen Moosboden. Die Arme schmerzten ihn, die Knie zitterten vor Erregung und Ermattung, doch er ging und ging und horchte und jeder Nerv hatte sein Ohr. Und rief ein Nachtvogel, so drückte er sich an einen Baum, platt wie ein Schatten, und knackte ein Zweig unter seinem Fuß, so blieb er stehen, atmete nicht und lauschte, ob sich etwas rege. So ging er wohl eine Stunde.
Endlich erreichte er die andere Seite des Sees. Jetzt vorsichtig hinauf auf den Damm – – er glitt zurück – dieser elende, seichte Boden – so – noch einen großen Schritt – so – Er stand oben. Er blickte die Strecke hinauf und hinab. Die Schienen liefen goldglänzend in der Ferne zusammen. Sein scharfes Auge entdeckte, daß ein Signal in der Nähe sein grünes Licht aufgezogen hatte. Er ließ die Bürde zur Erde gleiten und löste das Tuch.
Da hörte er aus einiger Entfernung Schritte und ein munteres Pfeifen. Mit einem Ruck zog er das Laken unter der Leiche hervor, sprang wie ein Panther über die Schienen fort, erreichte jenseits den Waldboden und schlich weiter in den Forst hinein, lautlos von Baum zu Baum. Dann stellte er sich hinter eine Kiefer und wartete.
Das Pfeifen schallte immer höher am Damm hinauf. Wo wollte der hin? Hoffs Augen traten aus den Höhlen. Fest packte er den Kolben des Revolvers.
Drüben tauchte ein Kopf auf – der Körper folgte. Jetzt stand der Mann, hell vom Mond beschienen, auf dem Damm. Er ging entlang – nach links – gerade auf die Leiche zu. Jetzt stutzte er, sah sich spähend um – ging einige Schritte weiter darauf zu – stockte wieder – ging weiter – immer ängstlich um sich blickend. Jetzt stand er bei ihr. Er stieß sie an – prüfend mit der Fußspitze. Dann beugte er sich nieder – kniete plötzlich hin – betastete die Brust – hob den Kopf und starrte in das tote Gesicht.
Da sah Hoff, wie der Mann plötzlich zur Seite blickte. Etwas Spannendes mußte drüben am Abhang des Dammes sein. Wenn er nur wüßte, was den dort drüben so bannte! Im nächsten Augenblick schnellte der Mann in die Höhe, stieß den Leichnam von sich, daß er auf die Schienen kollerte, und sprang wie ein Hirsch vor den Hunden den Damm entlang. Da rief eine tiefe Stimme: »Halt – oder ich schieße!« Der Mann lief. Jetzt erschien der Helm des Landjägers über dem Damm. Er rief wieder: »Halt – ich schieße.« Jetzt stand er auf dem Damm. Hoff sah es aufblitzen – der Schall hallte durch den Wald. – Der Mann lief. Sprang im Zickzack, um der Kugel zu entrinnen. Wieder knallte ein Schuß – der Mann lief. Der Landjäger hinterdrein. Jetzt sprang der Mann den Damm hinab. Der Landjäger folgte.
Hoff lauschte, sehen konnte er nichts mehr. Aber er verfolgte die wilde Jagd mit dem Gehör. Da drang plötzlich ein Sausen und Raunen und Stoben dicht bei ihm in sein fernhorchendes Bewußtsein. Zwei grelle Feueraugen blendeten ihn. Hoff preßte sein Gesicht an die Borke des Baumes, an dem er stand. Er wollte das nicht sehen. – Das Brausen verrannte in der Ferne.
Da hob Hoff den Kopf und kroch auf Händen und Füßen über den Damm. Das Laken hielt er zusammengeballt in der Faust. Er schielte dorthin, wo – es – gelegen hatte. Der Zug war darüber weggegangen. Er wandte den Kopf ab. Und huschte von Baum zu Baum seiner Wohnung zu.