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17.

Als Hoff sich der Villa näherte, dämmerte der Morgen. Kühl kam der junge Tag durch die Bäume. Über den Gräsern des Waldes zitterte ein feines, diamantdurchwirktes Gespinst.

Die Augen schmerzten ihn vor Ermüdung. Er blickte scheu im Zimmer umher, warf das Laken zur Erde, verschloß die Tür und ging in das andere Zimmer. Nur schlafen, nur erst schlafen. Er würde seine Kräfte brauchen. Er zog sich aus und legte sich in Susannes Bett. Und schlief sofort ein.

Als er nach wenigen Stunden erwachte, standen die Ereignisse der Nacht sofort in ihrer brutalen Grauenhaftigkeit vor ihm. Er setzte sich im Bett aufrecht und horchte ins Nebenzimmer. Im nächsten Augenblick schleuderte er die Decke von sich und sprang aus dem Bett.

»Jetzt ist keine Zeit zur Gespensterfurcht«, dachte er. »Die Würfel sind gefallen. Handeln gilt es jetzt. Es geht um das Leben.«

Er stellte sich vor den Spiegel und betrachtete aufmerksam seine Züge. Ein bißchen blaß war er. Na ja. Und blaue Schatten lagen unter den Augen. Kein Wunder. Das war kein Kinderspiel gewesen. Wahrhaftig nicht. Hm, die vielen weißen Haare da an den Schläfen. Höchst verdächtig.

Er kleidete sich weiter an und wollte die Schere aus seiner Waschtischschublade holen. Als er die Hand auf die Türklinke legte, zögerte er einen Augenblick. Dann drückte er sie fest nieder und trat ein.

Die Sonne schien hell und freundlich ins Zimmer. Hoff blickte sich um. Es schien ihm unfaßlich, daß hier vor wenigen Stunden dieses – Undenkbare gewütet haben sollte. Er wischte sich über die Augen. Mein Gott, wenn alles nur finsterer Traum war. Wenn sie dort drüben im Bette lag und schlief.

Er blickte hinüber. Die Kissen waren durcheinandergeworfen, die rote Matratze grinste ihn blutig an. Nein, nein, es war Wirklichkeit. Sie war tot und lag draußen auf den Schienen. Ein kalter Frost rann über seinen Rücken, als er daran dachte, wie sie dort lag. Und plötzlich begriff er nicht, wie er die Last diesen weiten Weg hatte schleppen können. Woher hatte er nur die Kraft genommen?

Seine Augen liefen über die Wände. Nein, da war nichts Auffälliges. Die Kugel hatte merkwürdigerweise nicht durchgeschlagen. Einen kuriosen Lauf mußte sie genommen haben. Dann ging er zum Schreibtisch. Hier – war es. So hatte sie gestanden. Er blickte zu Boden. Da war eine kleine Lache schwarzen Blutes. Sie stand da mit einem gebogenen Spiegel wie aus Hartgummi. Ihm wurde übel.

Er ging ins Nebenzimmer zurück und setzte sich auf das Bett. Was nun? Was wollte er denn eigentlich? Er überlegte. Die Sache mußte mal klipp und klar durchgedacht werden. Wie lag es denn? Plötzlich sprang er auf: Herrgott, was wollte er nur? Es war doch so klar. Sie hatte doch den Hahn gezogen. Sie hatte sich erschossen. Selbstmord war es und weiter nichts. Was hatte er denn damit zu schaffen!

Er ging einige Male auf und nieder, und eine Last sank von seiner Brust zur Erde. Doch sofort öffnete die dunkle Leere sich wieder. Er hatte sie doch dort hinausgeschleppt. Er suchte mit irrenden Augen im Zimmer umher nach einem Grunde, weshalb er sie bloß dort hinausgeschleppt hatte. Es war doch Selbstmord. Ihm konnte doch gar nichts zustoßen.

Er saß und grübelte und begriff es nicht.

Endlich hob er den Kopf. Er hatte sie nun aber einmal fortgeschafft und damit seinen Kopf in die Schlinge gesteckt. Jetzt würde ihm keiner mehr glauben. Jetzt lastete der Verdacht des Mordes auf ihm.

Und plötzlich wurde ihm so weh. Er sollte seine Suse ermordet haben! Sie stand vor ihm und ihr weiches Lächeln spielte um ihren kleinen Mund. Instinktiv streckte er die Arme aus. Doch gleich fielen sie tot herab, daß die Finger schmerzend gegen die Bettkante schlugen.

Da erhob er sich. Die Suse lag draußen auf dem Bahndamm mit zertrümmertem Schädel. Das war vorbei. Jetzt galt es handeln, vorsichtig und bedächtig, wenn er leben wollte. Und plötzlich fühlte er, daß er leben wollte. Ja, das wollte er.

Ihm fiel ein, daß Susanne ihm damals an jenem Abend am »Großen Fenster« vorgeworfen hatte, ihm fehle die Energie. Er träume davon, dreihundert Jahre zu spät geboren zu sein, weil er im Grunde alles sei, nur kein Tatenmensch. Er ballte die Fäuste, daß die Sehnen in den Armen sich schmerzhaft spannten, »Hallo, wir wollen doch einmal sehen, wie es mit der Energie steht. Das wollen wir doch einmal sehen, meine arme, kleine, hingeopferte Suse.«

Mit dem einen Opfer aber war es genug. Jawohl, nun galt es einen Kampf auf Leben und Tod. »Wollen doch einmal sehen, ob wir ihn durchkämpfen. Du sollst nun sehen, meine arme Suse, wenn du da oben aus dem Himmelsfensterlein herabblicken kannst. Sollst du mal sehen.«

Und er ging zum Spiegel und rupfte bedächtig die weißen Haare aus den Schläfen. Dann ging er ins Nebenzimmer und wischte mit dem Taschentuch die Blutkruste weg. Die aufsteigende Übelkeit kämpfte er nieder. Das Tuch steckte er in die Tasche. Das würde er später irgendwo fortwerfen. Auf der Diele blieb ein blasser runder Fleck. Hm, dachte er, was machen wir damit? Da fiel ihm Frau Ebeling ein.

Das war das nächste. Ihr eine plausible Erklärung für Susannes jähes Verschwinden geben. Er stellte das Nachdenken hierüber in seinem Gehirn zurück. Das würde der Augenblick schon geben.

Erst mal das da mit dem Laken. Er holte es unter dem Tisch hervor, wohin er es bei seiner Rückkehr geschleudert hatte, und breitete es aus. Sehr sauber sah es nicht mehr aus. Er schabte mit dem Fingernagel an einem dünnen grünen Streifen. Da hatte er wohl einen Baumstamm gestreift. Hm, erwandte es um. Die Seite war sauberer. Ein Schreck schulterte durch seine Knie. Da war ein runder schwarzer Blutfleck. Dort hatte die Wunde gelegen. Wie konnte er auch so blöd sein und das Loch nicht verstopfen! Es hatte ja doch keinen Zweck. Binnen vierundzwanzig Stunden saß er in Moabit. Er war dem ja doch nicht gewachsen.

Er stand da und hielt das Laken schlaff in der Hand. Es flatterte sacht. Sein Gehirn arbeitete unwillkürlich.

»Ich werde mal sehen, wie es im Bett aussieht«, dachte er. Warf die Kissen und Decken heraus und breitete das Bettuch über die Matratze.

»So schlimm ist es nicht«, entschied er. »Ein bißchen zerknüllt, na ja. Aber diese verdammten Blutspuren.«

Er legte die Decken auf das Tuch und packte die Kopfkissen wieder hinein. Sie bedeckten die Flecke.

Er schüttelte den Kopf, Nein, so konnte es nicht bleiben. Mal ruhig überlegen. Er setzte sich.

Alles so betrachten, als ob nichts geschehen wäre. Das ist die einzig richtige Methode. Die Tat aus seinem Gedächtnis ausmerzen und alle Erscheinungen harmlos erklären. Also: wie kann Blut da oben ans Bettuch kommen? Er dachte nach. Dies fiel ihm ein und jenes. Doch alles schien ihm zu gesucht, zu wenig natürlich. Da blieben seine suchenden Augen an der Wasserflasche mit den Gläsern haften, die auf dem Nachttisch standen. Das war's. Oft genug hatte er Mutter Ebeling schon scherzhaft erklärt, die Gläser seien wie Spinngewebe. Die zerflössen einem förmlich in der Hand. Er nahm eines der dünnen Gläser. Es glänzte prismenfarbig im Morgenlicht. Welche der Hände? Man konnte nicht wissen. Es konnte die Sehne kosten. Lieber die linke. Er legte das Glas in den Handteller und spannte die Finger fest darum. Es lag gut gebettet zwischen Finger und Daumenballen. So – nun kernig zugedrückt! Es knatterte, splitterte, er hielt die Hand voller Scherben. Ein Blutstrom quoll aus den Fingern und der Handfläche. Das hatte aber was Tüchtiges gesetzt! Er schüttelte die Scherben zur Erde und hielt die schmerzende Hand über die Blutflecke. Schwer und rot rieselte es aus den klaffenden Wunden. Bedächtig zog er einige Glassplitter aus dem tiefen Schnitt in der Handfläche. Er ließ es noch einige Zeit auf das Laken hinabträufeln. Es floß jetzt in einem hellroten Rinnsal. Dann ließ er einige Tropfen auf den gelben Fleck der Diele fallen und verrieb das Blut mit der Schuhsohle. Darauf wusch er die Wunden in der Waschschüssel und knüpfte aus zwei Taschentüchern einen Verband.

Als er fertig angekleidet war, drückte er in gedankenloser Gewohnheit auf den Knopf der Klingel. Erst als Frau Ebeling klopfte, drang es auf ihn ein, daß es jetzt das Leben galt. Wenn sie nur den Knall nicht gehört hatte!

»Herein!« rief er mit einer Ruhe, die ihn in Staunen setzte.

Frau Ebeling trat mit dem Frühstück herein und sagte: »Guten Morgen.«

»Morgen, Mutter Ebeling. Gut geschlafen?«

»Danke sehr, Herr Assessor. Bei Ihnen braucht man das ja nicht fragen. Junges Blut wie Sie!«

Sie schmunzelte eindeutig.

»Da Sie gerade von Blut reden, Mutter Ebeling, sehen Sie mal hier.« Er zeigte seine Hand.

»Herrje – was haben Sie da?«

»Geschnitten – an Ihren famosen Gläsern. Die halbe Hand zerschnitten. Was habe ich Ihnen immer gesagt!«

»Aber nee«, rief die Alte, »die Gläser sind doch ganz gut. Dreizehn Pfennig 's Stück bei Jandorf. Wie haben Sie das bloß angestellt?«

»Hatte Durst. Wollte in der Nacht trinken. Weiß der Teufel, ich muß nicht recht aufgepaßt haben. War wohl halb im Schlaf. Wie ich das Glas hinstellen will – fall ich vorn über – gerade auf das Glas –«

»Nee wissen Sie, Herr Assessor, was Sie aber auch für Sachen machen! Ist es sehr schlimm?«

»Na – ein paar ganz tüchtige Risse. Und das ganze Bett ist voll. Sehen Sie mal her.«

»Das is's wenigste. Wenn Sie man nur keinen Splitter zurückbehalten haben! Hab' mal eine Frau gekannt, die Hagelmosern von der Möckernstraße, wie ich noch zu Hause gewesen bin. Die hatte auch mal so was gehabt – Und dann haben sie ihr die Hand abgenommen.«

»Na, so schlimm wird's nicht gleich werden.«

Er riß die Tücher mit den Zähnen herunter. »Sie können mir mal einen ordentlichen Verband machen, Mutter Ebeling. Ich bin nämlich wieder allein. Die Suse ist weg.«

»Was is? Das Fräulein Suse is weg

Hoff nickte und zupfte an der Wunde.

»Wie denn weg? Sie kann doch nicht einfach so weg sein!«

»So einfach ist das auch nicht, Frau Ebeling«, lachte er gezwungen und freute sich über den überzeugenden Ton seines Galgenhumors. »Heute nachts plötzlich fängt sie an, sie muß fort, sie will nicht mehr bleiben –«

»Da hat sie aber auch recht, Herr Assessor. Ich will ja nichts gesagt haben. Aber wie Ihre Leute zu ihr gewesen sind! – Bis unten hin hat man's gehört.«

»Na ja – na ja – ich begreife es. Aber früh am Morgen – wie eine Wilde davonlaufen!«

»Da sollen Sie sich man nich wundern, Herr Assessor. Ich hatte dieser Tage 'ne bannige Angst um das arme Mädel. Wie sie immer dagesessen hat und auf 'n See rausgestiert Ordentlich angst und bange konnte einem werden. Ich wollt' 'n Herrn Assessor schon immer sagen, daß er 'n Auge auf sie haben soll. So 'n armes Ding kommt auf allerhand dumme Gedanken. Wenn sie man bloß nach Hause gegangen ist!«

»Da seien Sie außer Sorge, Mutter Ebeling. Sie hatte solche Sehnsucht nach ihrer Mutter. – Ich hätte sie natürlich auch nicht allein gehen lassen. Glauben Sie denn, ich hab's für Ernst genommen? Keine Idee. In der Nacht sagte sie, sie muß fort, hier hält sie's nicht mehr aus und lauter so was. Ich suchte sie zu beruhigen, und denke, alles ist gut. Und nachher bin ich eingeschlafen – die Wunde da hat mich wohl auch ein bißchen matt gemacht – und wach erst auf, wie sie die Tür zumacht. Ich raus aus 'm Bett und ein Stück hinter ihr her, sie aber lief wie besessen und verschwand.«

Die Alte nickte.

»Ja – ja – ganz wirr haben sie sie gemacht. Wie spät war es denn, Herr Assessor?«

»Hm – wohl so gegen sechs – noch ganz früh.«

»Nee, dann war es das nicht. Ich habe so gegen zwei herum was gehen hören. Ich dachte –«

»Verbinden Sie mal schnell, Mutter Ebeling, das blutet wieder mächtig.«

»Ja – gleich. Ich hol' bloß 'n Stück richtige Leinewand. So 'n Taschentuch taugt doch nichts.«

Als sie hinaus war, atmete Hoff auf. Er lächelte fast vor sich hin. Das war sehr gut gegangen. Wahrhaftig, der Anfang war nicht schwer.

Als Frau Ebeling zurückkam, sagte sie: »Und alle Sachen hat das Fräulein Susanne hiergelassen. Was soll denn nun damit?«

»Ich gehe gleich mal zu ihr. Ich muß sie doch sprechen. Wenn sie nicht zurückkommen will, werden wir ihr sie hinschicken. Aber ich hoffe, sie wird Vernunft annehmen.«

»Nee, Herr Assessor, die lassen Sie man. Die hat nicht das Zeug. Die hat zu schweres Blut. Lassen Sie die man lieber. Es geht mich ja nichts an. Aber wenn ich es sagen darf: die paßt nich zu sowas. Lassen Sie der man ihren Frieden bei Muttern. Gibt ja noch genug andere zu so was. Ich habe mich gleich am ersten Tage gewundert, wie ich sie gesehen habe. Man sieht 'nem Mädel das gleich an. Die Fräulein Suse war nicht für freie Liebe! Lassen Sie der man ihren Frieden.«

»Wollen mal sehen, Mutter Ebeling. Danke auch schön. Haben Sie fein gemacht. Wie'n ausgedienter Regimentschirurgus. Packen Sie die Sachen man vorläufig in den Schrank. Dann wollen wir weiter sehen.« – – –

Als er später in den Dienst ging, sagte er im Vorbeigehen zu der Alten: »Schade ist's doch. War so schön, wenn man nach Hause kam und sie einem entgegenflog.«

Frau Ebeling lachte: »I – Herr Assessor wird doch 'n Kopf nich hängen lassen! Gibt noch viel andere bunte Vögel, die einem gern entgegenfliegen.«

Hoff lächelte und sprang nun die Stufen vor der Haustür hinunter.

Während er zum Bahnhof schritt, überlegte er, was nun vor ihm lag. Zu Hause mußten sie so bald als möglich erfahren, daß – daß Susanne – fort war. Sonst geschahen mich dort furchtbare Dinge. Daran war es jetzt genug. Plötzlich fiel ihm ein, daß er den Frauen nun doch nicht helfen konnte. Jetzt Esther Honigmann – mit dem Verdacht des Mordes auf den Fersen? Er schob es zurück. In seinem Hirn bildete sich eine wundersame Fähigkeit, Fragen zurückzustellen, deren unmittelbare Entscheidung der Augenblick nicht erforderte Zunächst mußte man zu Hause erfahren, daß er frei war. Das andere – ach, die Zukunft barg ja so viel Verworrenes.

Und dann. Er wurde fahl bei dem Gedanken. Ja – dann mußte er zu ihrer Mutter, Das mußte er. Dort loderte Gefahr. Er mußte ihr – – –

Er erreichte den Bahnhof und kaufte eine Zeitung.

Ein hastiger Zwang trieb ihn, sie auseinanderzureißen und zu durchfliegen. Vielleicht stand da schon? – Er besann sich. »Du mußt immer denken, du wirst beobachtet,« huschte es durch seinen Schädel. »Nichts tun, was darauf hindeutet, daß du – es getan hast. Nicht in der geringsten Nichtigkeit deine Gewohnheiten ändern.«

Er versenkte die Zeitung gelassen in die Aktentasche und ging nachlässig auf dem Bahnsteig auf und nieder. Er kannte die meisten dieser Leute vom Sehen. Sie warteten hier täglich um diese Zeit. Es tat ihm wohl, daß sie ihn in seinem Gleichmut auf und nieder wandeln sahen.

Im Abteil blickte er erst eine Weile aus dem Fenster, ehe er langsam und gleichgültig die Zeitung zur Hand nahm. Er vertiefte sich in den Leitartikel und las mit Teilnahme. Auf Augenblicke vergaß er fast, daß auf der dritten Seite unter »Lokales und Vermischtes« sein Schicksal lauerte. Dann überflog er wohlwollend die einzelnen Blätter. »Liebesdrama in der Chausseestraße« – »Feuertod in den Flammen« – »Mysteriöses Verschwinden einer jungen Dame.« Das Herz pochte ihm bis an den Hals. Er fühlte, wie er erbleichte. Die Schriftzeichen tanzten vor seinen Augen. Mit eiserner Gewalt zwang er sich zur Ruthe. Ließ die Zeitung auf die Knie sinken und blickte angelegentlich hinaus auf die Felder. Erst als der Zug in Zehlendorf hielt und eine Dame in das Abteil stieg, hob er das Blatt wieder. Halt, da war's. Er las: »Mysteriöses Verschwinden einer jungen Dame.« Er las: »Eine junge Dame aus den besseren Ständen, Fräulein Grete Meise –« Etwas in ihm pfiff einen lustigen Gassenhauer.

Dann suchte er weiter. Nein, in der Morgenzeitung stand noch nichts. Man hatte sie am Ende nicht gefunden. Aber der Landjäger mußte doch Bericht erstattet haben! Da sah er wieder diese geheimnisvolle Jagd. Wer war der Mann, der da auf dem Damm im Mondlicht geflohen war? Warum war er entwichen? Ob der Landjäger ihn gefangen hatte? – – –

Hundert Fragen forderten Antwort.

Im Ministerium arbeitete er umsichtig und schnell wie immer. Die Tat lag wie ein bleicher Nebelstreif am Horizont seines Bewußtseins. Im Laufe des Vormittags besuchte er einen Kollegen, seinen Stubennachbar. Er wollte sich für alle Fälle einige einwandfreie Zeugen seines Gemütszustandes an diesem schwarzen Dienstag sichern.

Bald darauf meldete der Diener, der Direktor wünsche den Herrn Assessor zu sprechen.

»Gleich?« fragte Hoff und ärgerte sich über das heisere Klirren seiner Stimme.

»Er hat nichts gesagt, Herr Assessor. Also wird's wohl gleich sein.«

Als der Mann gegangen war, bemerkte Hoff, daß seine Knie schlotterten. Die Beine wippten wie die Federn einer Maschine.

»Verdammte Nervosität!« fluchte er und trat vor den kleinen Spiegel. Fleckig grau war das Gesicht und die Augen flackerten.

»Zum Kuckuck«, zwang er sich zur Ruhe. »Sei kein solcher Idiot. Es ist etwas rein Dienstliches. Gib die Sache gleich auf und leg deinen Schädel auf den Richtblock oder benimm dich wie ein siegbewußter Kämpfer.«

Er zögerte noch einige Augenblicke, dann ging er festen Schrittes hinüber. Als der Diener ihn meldete, wurde ihm übel vor Erregung. Es war etwas Dienstliches. Dann erkundigte der Direktor sich teilnehmend nach dem Fortgang des Werkes.

»Danke sehr, Herr Geheimrat, es geht voran.«

»Überarbeiten Sie sich nicht«, mahnte er. »Sie scheinen arg zu forcieren. Vor allen Dingen merken Sie sich eins: seine Gesundheit pflegen. Dem Gehirn keine Kraftleistungen zumuten. Das rächt sich später bitter. Hat man erst mal seinen Knax weg, ist es vorbei.«

Hoff murmelte etwas davon, daß er die letzten Nächte allerdings etwas stark gearbeitet habe.

»Da haben wir's ja!« rief der Geheimrat. »Die Nacht ist zum Schlafen, werter Herr Kollege. Sie scheinen übrigens des öfteren Nachtschichten zu machen. Es ist mir schon wiederholt aufgefallen, daß Sie bleich und übernächtig aussehen. Ich warne Sie dringend davor. Denken Sie an Ihre Karriere. So was rächt sich später.«

Die Audienz war beendet. Hoff verbeugte sich und ging. Er jubelte innerlich, daß seine Blässe dem Geheimrat schon früher aufgefallen war. Alles festnageln. Alles genau festnageln – – –

Als er am Mittag die Friedrichstraße herabkam und in die Leipzigerstraße einbiegen wollte, brannte ihm von der Litfaßsäule her das bekannte rote Plakat des Polizeipräsidenten in die Augen. Es war eben angeheftet worden. Ein Schwarm Neugieriger staute sich davor.

Das Blut sprühte Hoff ins Gesicht. Da war es! Ganz sicher war es das. Er konnte von seinem Platze aus deutlich die fette schwarze Überschrift: »1000 Mark Belohnung« entziffern.

Ein unwiderstehlicher Trieb hetzte ihn auf die Säule zu. Doch im letzten Augenblick siegte die Klugheit. Kurz vor der Ecke bog er über die Straße. »Vorsicht! Vorsicht!« surrte sein Hirn. Immer denken, daß jemand hinter einem hergeht, der beobachtet.«

Er blieb vor Gladenbeck stehen und betrachtete mit Kennermiene die ausgestellten Bronzen. Wie zufällig blickte er zurück. Er wollte doch mal sehen, ob da jemand stand und ihn fixierte. Nein, da war nichts Auffälliges. Er wandte sein Interesse wieder den Bronzen zu.

Wenn nun plötzlich einer auf dich zutritt, dachte er, und flüstert: »Sie sind verhaftet. Bitte, zur nächsten Droschke. Erregen Sie in Ihrem Interesse kein Aufsehen,« Was dann? Was sollte er dann tun? Es war geradezu selbstmörderisch, hier herumzulaufen, ohne sich über das Notwendigste klar zu sein. Wie ein ertappter Junge würde er dastehen, in den Knien zittern und alles verraten. Er überlegte, was er tun müßte, wenn – – –

Vorsichtig schielte er wieder umher. Entrüstet sein natürlich. Empört auffahren. »Sind Sie irrsinnig!! Ich bin der Assessor Hoff. Verbiete mir jede Belästigung!« Er probierte es leise. Er hörte in den gedachten Worten den falschen Ton. Nein, das war auch nicht richtig. Humoristisch mußte er es nehmen. Natürlich scherzhaft. Das täuschte. Also? »Nanu – Sie verwechseln wohl das Datum, Bester? Warten Sie bis zum nächsten ersten April, mein Verehrtester.« »Ich ersuche Sie, mitzukommen, machen Sie keine Flausen!« »Regen Sie sich bloß nicht unnötig auf. Sie blamieren sich und die gesamte heilige Hermandad. Ich bin der Assessor Hoff.« »Weiß ich.« »Ja, wollen Sie nicht die Liebenswürdigkeit haben, mir mitzuteilen, welchem Glücksumstand ich Ihre werte Bekanntschaft verdanke?« »Das werden Sie bald genug erfahren. Wenn Sie mir jetzt nicht sofort zur Droschke folgen –« »Ich komme natürlich. Sie sind ein solch erheiternder Begleiter. Stehe selbstverständlich zu Diensten. Widerstand gegen die Staatsgewalt, Gott bewahre! Habe nur Mitleid mit Ihnen, lieber Mann. Machen einen unsterblich lächerlichen Fehlgriff. Ist für den Fachmann aber immerhin interessant, einmal die Sache am eigenen Leibe kennen zu lernen. Wenn's Ihnen recht ist, nehmen wir das Auto dort. He, Chauffeur!«

Na ja, so ungefähr, dachte er. Und siedend heiß rann ihm die Erkenntnis durch die Brust, daß er sich bei dem ersten Verhör unentwirrbar verheddern würde. Er hatte ja keine Ahnung, was er sagen sollte. Ganz genau mußte er sich das bis ins Kleinste festlegen und dann unerschütterlich sicher bei allen Kreuz- und Querfragen dabei verharren.

Hm, um drei etwa hatte der Landjäger sie auf dem Bahndamm entdeckt. Zu blöd, daß er der Ebeling gegenüber sich auf eine bestimmte Zeit festgelegt hatte. So eine Torheit! Er hatte sich eben geirrt. Basta. Sie war gegen zwei fortgegangen. Frau Ebeling hatte sie ja auch um diese Zeit gehört. Und dann – ja, dann war sie eben überfallen und ermordet worden.

Er atmete auf. Das war sehr plausibel. Ja – aber warum lief sie mitten in der Nacht von dannen? Wirr – fiebrig – ohne klare Denkfähigkeit. Und er hatte geschlafen. Sehr gut. Sie stahl sich fort. Selbstmordgedanken. Klappte alles ausgezeichnet.

Da fiel ihm ein, daß er auffällig lang hier an dem Schaufenster gestanden hatte. Er ging in den Laden und fragte nach dem Preise einer der ausgestellten Statuetten. Dann ging er bummelnden Schrittes zur Mauerstraße. Wieder leuchtete ihm das rote Plakat blutig entgegen.

»Nicht hinsehen!« warnte seine Wachsamkeit »In der Bülowstraße kannst du es lesen.«

Doch der Drang in ihm war stärker. Er ging vorbei, machte dann Halt, als sähe er plötzlich, daß heute in der Oper »Tannhäuser« gegeben wurde, und trat vor die Theateranzeigen. Bedächtig legte er den Zeigefinger auf das Plakat. Ah, Neuinszenierung. So so. Sehr sehenswert, sehr. Um halb acht. Er betrachtete noch einige andere Plakate und blickte dann wie zufällig auf das rote Dingsda.

Mit gelangweilter Miene trat er unter die Gruppe der Gaffer und las:

»1000 Mark Belohnung.

Auf dem Eisenbahndamm, 500 m östlich von dem Forsthaus Schlachtensee, ist heute morgens gegen halb drei der Gelegenheitsarbeiter Otto Rüdebusch von dem Landjäger Müller II dabei überrascht worden, wie er einen anscheinend leblosen Frauenkörper auf die Eisenbahngeleise werfen wollte. Der Täter ergriff die Flucht, wurde indessen von dem Landjäger eingeholt und nach heftiger Gegenwehr zur Haft gebracht. Er bestreitet, die Frauensperson getötet zu haben, ist indessen nach dem vorliegenden Tatbestand als des Mordes dringend verdächtig ins Untersuchungsgefängnis in Moabit eingeliefert worden. Der Täter verweigert jede Auskunft über die Person der Getöteten. Während der Verfolgung des Täters hat der am Tatorte passierende Zug Nr. 12 den Kopf der Frauensperson vollständig zermalmt, so daß eine Agnoszierung der Leiche unmöglich erscheint. Da die Feststellung der Person der Getöteten indessen für fernerweite Ermittlungen unabweislich ist, wird die obgenannte Belohnung für solche Personen aus dem Privatpublikum ausgesetzt, die in der Lage sind, zweckdienliche Angaben zur Identifizierung der Getöteten zu machen. Es liegt offenbar Lustmord vor. Die genannte Frauensperson ist in völlig entkleidetem Zustande aufgefunden worden. Von Kleidern usw. hat sich bisher eine Spur nicht gefunden. Es handelt sich um eine Frau von etwa 20-25 Jahren, kräftigem Gliederbau, Größe 1,75 m. Keine besonderen Merkmale. Die Leiche ist im Schauhause ausgestellt. Anzeigen nimmt das Polizeipräsidium sowie jedes Polizeirevier entgegen.«

Hoff ging gelassen weiter. In ihm war nichts als ein blutiges Weh. »Arme, holde Suse«, klagte es in ihm. »Arme, süße Suse!« So keusch und schamhaft war sie. Nun lag ihr weißer, junger Körper draußen im Schauhause. Und sie standen um sie herum, betasteten sie, untersuchten sie, maßen sie. – Er dachte daran, wie warm sie sich oft an ihn geschmiegt hatte. Wie sie ohne Prüderie, ohne Schranken sich ihm gegeben hatte. Wie er ihren Körper, diesen biegsamen Körper mit der glatten, kühlen Elfenbeinhaut geküßt hatte. Und der lag jetzt im Schauhause – vor den geilen Blicken der Gaffer.

Sein irrender Blick fiel in eine Fensterscheibe. Sofort richtete er sich auf und straffte seine Züge. »Um Himmelswillen«, dachte er, »zieh' nicht solche Unglücksmiene. Auf hundert Schritt sieht dir jeder die Tat an.«

Während er die Stufen zur Untergrundbahn hinabstieg, überlegte er, wer wohl der Aufforderung des Polizeipräsidiums Folge leisten könnte. Frau Ebeling? Nein, die kümmerte sich um nichts als um ihr Haus. Und sprach auch kaum mit den Nachbarn. Andere Leute in Schlachtensee? Wer kannte die Suse? Kaum einer. Sie hatten so einsam und zurückgezogen gelebt. Er überlegte, ob er wohl eine der Damen, die dort draußen wohnten, erkennen würde, wenn sie ihm hier entgegenkäme. Keine, nicht eine. Wer blieb dann noch? Die Mutter. Ja, wenn die es las, konnte eine bange Ahnung – – Ja – zu ihr mußte er gehen. Noch heute. Und – – –

Er trat in den überfüllten Waggon.

»Tag, Hoff!« rief eine schneidige Stimme. Hoff fuhr zusammen und wandte sich hastig um. Seine Mundwinkel zerrten sich tief zum Kinn herab.

»Donnerwetter!« lachte der andere, »Sie sind da im Ministerium aber schön nervös geworden!«

Hoff hatte sich wieder in der Gewalt.

»Tag, Herr Staatsanwalt!« sagte er. »Ja, habe ein bißchen viel gearbeitet in letzter Zeit«

»Glaube ich wohl«, nickte Grunau, »Auf Rosen ist man da in der Wilhelmstraße nicht gerade gebettet. Wir haben aber auch nichts zu lachen. Wissen ja Bescheid. Haben ja lange genug bei uns gearbeitet.«

Eine Weile schwiegen sie. Es war nicht leicht, sich in dem stark schleudernden Wagen auf den Füßen zu halten.

Plötzlich sagte irgendwo eine Stimme: »Mit diesen Morden ist es wirklich unerhört. Keinen Tag kann man die Zeitung aufschlagen, ohne von einem neuen zu lesen.« Und jemand entgegnete: »Diesmal haben sie den Kerl wenigstens gleich erwischt.«

Der Zug sauste, zur Seite geneigt, in die Kurve der Eisenbahnbrücke über der Potsdamer Bahn. Hoff taumelte gegen seinen Vordermann. »Pardon!« stammelte er. Da sagte der Staatsanwalt mit regem Eifer: »Wieder ein Mord?! Haben Sie davon gehört, Herr Kollege?«

Hoff krallte die Finger um die Messingstange, an der er sich festhielt, daß die Nägel schmerzend in das Fleisch der Hand hineindrangen. Sekundenlange Überlegung. Dann erwiderte er: »Ja, ich habe eben das Plakat gelesen.« Und mit einer Überlegenheit, die er später selbst nicht begriff, fügte er hinzu:

»Übrigens ist der Tatort Grunewald. Und der Täter, den sie gefaßt haben, heißt Rüdebusch – – wenn ich nicht irre. Fallt also in Ihr Dezernat.«

Da schmunzelte Grünau. »Lieber Hoff, Sie sind doch noch mit dem Herzen bei uns draußen in Moabit geblieben, trotz Ihrer Erhöhung in die olympischen Sphären des Ministeriums. Mit dieser treffsicheren Rubrizierung ins Dezernat liest nur ein Staatsanwalt solche Mordgeschichte. Na, da werden wir ja heute nachmittags die Bescherung haben.«

Der Zug hielt im Bahnhof Bülowstraße. Grünau reichte Hoff sehr zuvorkommend die Hand, »Mahlzeit, lieber Herr Kollege. Vielleicht besuchen Sie uns mal draußen in Moabit. Wir gedenken Ihrer alle noch sehr oft und sehr gern.«

Dann arbeitete er sich durch die Umstehenden zur Tür hinaus. Draußen schwenkte er noch einmal sehr höflich den Hut. Man konnte nicht wissen. Der Hoff saß da im Ministerium so nahe an der Quelle. Er konnte die Personalien unter die Finger bekommen, ehe man sich's versah.

Hoff fuhr noch weiter bis zum Nollendorfplatz und ging in gehobener Stimmung der Frobenstraße zu. Das war ein Dusel! Er lachte leise auf. Wirklich ein köstlicher Witz dieser Farce Leben, ihm heute gerade den Mann in die Arme zu führen – – Lisbeth öffnete die Tür.

»Ewald?!« rief sie erstaunt.

»Guten Tag«, nickte er und ging ins Wohnzimmer. Es war leer. Der Tisch am Fenster starrte blank und nackt. Es sah so unwirklich aus, daß die großen Leinwandhaufen dort fehlten.

»Wo ist Mutter?« fragte Hoff.

»Im Bett. Sie ist matt. Sie liegt schon seit zwei Tagen und will nicht aufstehen.«

»Und Herta?«

Lisbeth zeigte mit dem Kinn auf das Nebenzimmer.

»Liegt sie auch?«

»Nein. Sie sitzt da und döst vor sich hin.«

»Deine Hand ist verwundet?« fragte sie besorgt.

Er schüttelte den Kopf.

»Es ist nichts.«

Dann war eine Pause.

»Es sieht hier – so – sonderbar – wüst aus« sagte Hoff endlich.

»Ja«, antwortete sie, »es geht hier zu Ende, Ewald. Wir haben die Arbeit verloren. Heut hat Lister das Material abholen lassen. Ich allein konnte es nicht schaffen.«

Er blickte zu Boden. Die Blume dort auf dem Teppich glotzte ihn an wie eine verzerrte boshafte Menschenfratze. Leise sagte er: »Die Suse ist – weg.«

Einen Augenblick war es so still im Zimmer, als schweige die Zeit und das Leben. Dann hielt sie seine Hand und preßte inbrünstig ihre Lippen auf seine Finger. Worte fand sie nicht.

Da kam all sein Jammer über ihn. Er löste sich von ihr, sank auf einen Stuhl, legte die Arme auf den Tisch, drückte das Gesicht auf die gefalteten Hände und weinte wie ein Kind.

Lisbeth stand erschüttert hinter ihm. Ihre Tränen rannen. Mit zuckenden Fingern glitt sie über sein Haar. »Armer, lieber Junge«, flüsterte sie kaum hörbar. »Das arme, tapfere Mädchen!«

Dann richtete er sich auf, wischte die Tränen von seinen Händen und sagte: »Das hilft nun nichts! Das ist vorbei.«

Er küßte ihre feinen kühlen Hände.

Da erwachte das Hausmütterchen in ihr. »Du wirst Hunger haben«, rief sie, »ich habe nichts Rechtes gekocht.«

Und hinaus lief sie, erst hinein zur Mutter. Und zu Herta. Dann schlug draußen die Tür. Sie rannte hinunter zum Fleischer. Nun brauchte sie die letzten paar Mark nicht so eisern festzuhalten.

Hoff blickte sich um. Er dachte an die Jahre, die sie in diesem Zimmer gelebt und gelitten hatten. An all die vielen Entbehrungen dachte er. An all die kühnen Pläne und bunten Hoffnungen. Und das war nun das Ende! Daß er dasaß – als Verbrecher. Er erhob sich. Donnerwetter, er hatte nichts getan. Er hatte –

Da trat die Mutter herein. Sehr verfallen und abgezehrt. Rote Flecken brannte die Erregung auf das fahle Grau ihrer Wangen.

Sie sagte nichts. Kam nur zu ihm und streichelte sein Gesicht, stumm und zärtlich. Hoff blickte zur Seite. Und dann stand Herta auf der Schwelle, bleich und mager. Und wagte nicht, näherzukommen. »Tag, Herta«, rief er ermunternd. »Komm doch her. Willst du mir nicht guten Tag sagen?«

Da flog sie ungestüm auf ihn zu, herzte und küßte ihn und rief: »Ach, Ewald. Es ist wie ein Traum. Wie wenn man erwacht und von Mördern und so was geträumt hat und sieht, daß es nur ein Traum war.«

Dann fuhr sie lebhaft empor. »Es ist ja noch nicht gedeckt und nichts ...!«

Und hinaus flitzte sie und rumorte draußen mit Tellern und Schüsseln.

Hoff trat ans Fenster. Die Mutter deckte still den Tisch. Und dann saßen sie und redeten vom Wetter und von hundert gleichgültigen Dingen. Und die drei Frauen sprachen mit leisen, kosenden Stimmen. Und jede suchte ihm etwas Liebes zu tun. Die Mutter fand ihm den besten Bissen, und Lisbeth hatte starken, duftenden Kaffee gebraut, wie er ihn gern trank nach dem Essen, und Herta spendierte ihre feinsten, ängstlich behüteten Gastzigaretten. Hoff saß stumm dabei. In seiner Brust ebbte leise ein schwarzer, tiefer See. Und alles Fühlen und Sinnen, aller Schmerz und alles Leid versank tot in den dunklen Wassern. Und nichts mehr war in ihm lebendig, als dieser weite, schwarze, atmende See – –

Bald nach Tisch ging er.

Die Frauen saßen lange wortlos beisammen, Dann stand Herta verlegen wie ein kleines Schulmädchen vor der Mutter und stotterte: »Mama – ich werde nie mehr zu – ihm gehen. Ich werde ihm schreiben, daß es jetzt – daß wir nun doch heiraten können.« Und als sie das ihrer Scham abgerungen hatte, blühte sie auf wie eine junge Rose. Ihre Augen glühten wieder keck und feurig, und auf den Wangen strahlte ein duftiger Schmelz. Und sie rief voll Eifer: »Jetzt ziehe ich mich fein an und gehe zu Esther. Werde ihr sagen – na, das werden wir schon deichseln.« Und hinaus zwar sie.

Und als sie gegangen war, beriet die Mutter lange mit Lisbeth.

Von Hoffs Liebe sprachen sie und dem armen Mädel, der Susanne. In Lisbeths Augenwinkeln glitzerte es silbrig. Und sie sagte, sie würde von Ewald ihre Adresse erfragen und zu ihr gehen, ihr die Hände küssen und ihre treue Freundschaft anbieten. Doch Frau Hoff meinte, es wäre wohl das beste, sie ließen sie still und einsam darüber hinwegkommen. Lieber nicht mehr daran rühren! Und so sehr tief würde es ihr wohl auch nicht gehen. Schließlich sei sie ja doch ein Mädchen, das tagelang bei einem Manne gelebt habe.

Lisbeth entgegnete nichts. Doch in der Nacht lag sie lange wach und dachte an Susanne und ihr heldenhaftes Leid. Und ihre Augen brannten. – –

Als die Entreetür hinter ihm ins Schloß schlug, durchbebte es Hoff, als sperre sich das Tor einer friedevollen Freistatt. In diesem altgewohnten traulichen Zimmer, in dem die ahnungslosen Frauen ihm liebevolle Dankbarkeit zulächelten, ging sein furchtgehetztes Gemüt lind zur Ruhe. Die Späheraugen seiner bang gespannten Wachsamkeit hatten sich geschlossen. Jetzt auf der Treppe schlugen sie aufgescheucht die müden Lider wieder empor.

Nun galt es das Schwerste, das Allerschwerste. Er ging langsam am Rinnstein entlang, überlegend. Der Weg bis zur Neuen Winterfeldtstraße war nur kurz. Dort durfte er sich nicht auf die Eingebung des Augenblicks verlassen.

Psychologisch, mahnte er sich, sehr psychologisch zu Werke gehen! Es ist eine alte kranke Frau. Sie wird nicht Lärm schlagen. Und sie schämt sich der – Schande der Tochter. »Schande der Tochter«, ja. Damit ist zu rechnen. Er überdachte noch einmal den Plan und stieg entschlossen die Treppe hinauf.

Ihm fiel ein, daß er diesen Weg schon einmal gegangen war. An dem Nachmittag, ehe – sie zu ihm kam. Wenn er damals nicht hier heraufgeirrt wäre – ja, dann. – Dann stünde er jetzt nicht vor dieser Tür – mit dem Tod und der Tücke in der Faust. Sentimentaler Unfug! Er stand hier.

Er schellte. Sein Gesicht begann plötzlich hysterisch zu zucken. Er brauchte seine äußerste Willenskraft, die Züge zur Ruhe zu meistern. Die Muskeln an den Backenknochen spannten.

Da öffnete sich die Tür. Er stand Frau Neubert gegenüber.

Fassungslos starrte er die Frau an.

Sie war in diesen Tagen eine Greisin geworden.

Er vergaß sekundenlang den Zweck seines Kommens, so verdutzt war er von dieser grausigen Veränderung der Frau da vor ihm.

Auch sie blickte entsetzensbang zu ihm auf.

»Um Gott – Sie!« Jäh hob sie die weißen Greisenhände.

Da kam Hoff zur Besinnung. Eine Szene hier auf der Treppe! Die Tür nebenan brauchte sich nur zu öffnen. – Ohne Federlesen schob er die wirre Frau zur Seite, trat in den Flur und schloß die Haustür. »Sie gestatten wohl?« sagte er dann und trat In das Wohnzimmer, in das sie ihn damals geführt hatte.

Die Frau folgte, blieb an der Tür stehen und sah ihn wieder mit ihren glanzlosen, toten, schreckhaften Augen an. Jetzt wollte er es sagen. Er hatte es sich unausführlich schwer vorgestellt, das Grauenhafte über die Lippen zu bringen. Jetzt fühlte er seine selbstsichere Beherrschung. Seine Ruhe wurde ihm bewußt. Er empfand, wie ehern er sich in der Gewalt hatte. Mitleid spürte er nicht.

Er spielte seine Rolle – mit klarer Überlegung. Langsam senkte er den Kopf und sagte leise: »Gnädige Frau, ich habe Ihnen etwas sehr Trauriges mitzuteilen.« Frau Neubert schnellte einige Schritte auf ihn zu, hob wieder diese mageren, aderreichen Hände und flüsterte: »Nein – nein – Herr Assessor – sie ist nicht – sagen Sie nicht –!!«

Er nickte zweimal und hielt den Kopf tief gebeugt, das Gesicht zur Erde gekehrt.

Was jetzt vorging, sah er nicht. Er hatte instinktiv die Augen geschlossen. Er wollte nicht Zeuge dieser Verzweiflung sein. Er sah nicht, wie die Frau die Arme in die Luft warf, wie sie den Mund weit aufriß, wie ihre Zunge aus dem Rachen herausirrte, wie sich die Finger haltlos in die Luft einkrallten. Er fuhr erst auf, als sie unheimlich lautlos zu seinen Füßen niederfiel.

Er starrte hilflos auf das schwarze unansehnliche Häufchen, das da am Boden lag. Wie ein Blitz durchzuckte es sein Gehirn: »Wenn sie tot wäre! Dann ist alles überstanden!« Im nächsten Augenblick kniet er nieder und hob ihren Kopf, Die violetten Lippen atmeten nicht. Doch die Hände zitterten ruckartig.

»Da muß etwas geschehen«, dachte er, es muß etwas geschehen.«

Und ohne klare Vorstellung seines Tuns lief er hinaus in den Flur, durchschritt ein dunkles Berliner Zimmer und gelangte in einen zweiten Korridor.

»Fräulein«, rief er, »der gnädigen Frau ist schlecht geworden!«

Kein Laut.

Er drang vor bis zur offenen Tür der Küche. Da war niemand. Kurz entschlossen riß er einen Krug vom Bord, füllte ihn mit kaltem Wasser und eilte zurück in das Wohnzimmer. Er dachte plötzlich an Raskolnikow. Wie der nach dem Morde in dem Koffer der alten Frau wühlte.

Frau Neubert lag auf der Seite, in voller Bewußtlosigkeit. Hoff kniete nieder, befeuchtete sein Taschentuch und netzte ihre Schläfen. Dann öffnete er die Haken der Bluse und legte das nasse Tuch auf die linke Seite der Brust. Gleich darauf nickten die Lider empor. Aus weiter Ferne starrten die Augen ihn an.

Da hob er die kleine Frau in die Höhe und legte sie auf das Sofa. Den Kopf recht tief lagern, dachte er, damit das Blut ins Gehirn strömt. Er befeuchtete seine Finger und rieb ihr die Schläfen.

»Also nicht«, dachte Hoff. Stand vor ihr und wartete.

»Soll ich einen Arzt holen?« fragte er halblaut.

Sie bewegte unmerklich, schlaff verneinend den Kopf.

Dann machte sie eine Anstrengung, sich aufzurichten. Er half ihr. Und als sie klein und hilflos in der Sofaecke hockte und ihr verzweifelter Blick umherflatterte wie ein angstgescheuchter Falter im Netz, wurde er weich und mutlos. Er stand da und blickte zu Boden.

Endlich rang sie mit keuchender Mühseligkeit hervor; »Suse – ist – – tot?«

Hoff raffte sich auf. Ohne die Augen zu heben, antwortete er: »Ja. Sie schwamm in den See hinaus – und – ist nicht wieder – gekommen.«

Tiefe Stille. Dann schluchzte die Frau winselnd auf. »Glauben Sie – daß – es – Absicht – war?«

Er nickte stumm.

Der kleine Körper der Frau bäumte sich vor Schmerz. Das datierte geraume Weile. Plötzlich schrie sie auf: »Sie Mörder!«

Hoff zuckte zusammen. Wie ein Peitschenhieb fetzte es über sein Gesicht Er hatte irgendwie die verworrene Vorstellung, die Frau dort wisse alles.

»Ich, ich?« stammelte er.

»Ja – Sie!« rief sie heftig und wuchs aus ihrer Ecke hervor.

Da hatte Hoff sich gefunden.

»Gnädige Frau«, sagte er bündig, »mit demselben Recht könnte ich Sie ihre Mörderin nennen. Ich glaube sogar mit weit größerem Recht. – Ihre Kälte gegen Susanne – Ihre Verständnislosigkeit, – das hat sie nicht überwunden.«

Da fiel die Frau in die Sofaecke zurück und lag dort. Ihre Hände hasteten irre auf ihrem Schoß, die bläulichen Augenlider klappten auf und nieder wie bei einer Blinden. Plötzlich taumelte ihr Oberkörper nach der Seite, fiel auf das rotseidene Polster des Sofas, das Gesicht stemmte sich in den starren, prallen Überzug, und klagend heulte sie auf. Dumpf hallte es aus den Federn der Polsterung. Hoff stand starr und regungslos. In seiner Brust tickte etwas Eisiges. Er rührte kein Glied. Endlich richtete sie sich auf und tastete nach dem Taschentuch. »Erzählen Sie mir«, weinte sie leise. »Sie hat mir geschrieben – vor einigen Tagen.« Sie winselte wieder pfeifend. »Ich wollte ihr antworten – ich fand nicht den rechten Ton – ich. – Und nun –« Sie bog sich in qualvollster Pein.

Hoff sprach heiser. »Sie konnte es nicht überwinden. Als sie damals, nach ihrem Besuch hier, zu mir zurückkehrte, war sie tief gebeugt. Immerfort sprach sie von Ihnen. Und als sie auf ihren Brief keine Antwort erhielt –«

Frau Neubert zog die Beine hoch hinauf zur Brust, dann taumelte ihr Oberkörper vornüber. Die Stirn schlug auf ihre Knie.

»Und ehe sie starb? – Erzählen Sie – erzählen Sie alles.«

»Ich hatte keine Ahnung. Sie zeigte keinerlei Aufregung. Sie ging baden, wie täglich. Und – ertrank.«

»Wo ist sie? Wo ist sie jetzt?« fragte die Frau plötzlich ruhiger und sprang auf.

»Man hat sie nicht gefunden. Da sind Binsen und Winden im See, die festhalten, – und Strömung. Sie mag die Havel hinabgetrieben sein. Man bat noch nichts gefunden.«

Frau Neubert sank wieder ins Sofa und weinte laut. »Das Kind«, jammerte sie, »das unglückliche Kind. Wie sie gelitten haben muß!! – Mein Kind – mein armes Kind!«

Hoff verlor seine kalte Beherrschung. Die Augen wurden ihm feucht.

»Gnädige Frau«, flüsterte er, »Sie hassen mich. Denken Sie an meinen Schmerz, der so groß ist wie der Ihre. Ich – –«

Frau Neubert blickte zu ihm auf. In ihren Augen flackerte ein grünes Licht. »Ist es nicht möglich, daß sie lebt?« raunte sie und plötzlich schrie sie auf: »Wenn Sie sich irren!! Vielleicht lebt sie doch. Alles ist Täuschung! Um Himmelswillen – wenn sie noch irgendwo lebt!«

Er schüttelte den Kopf.

Die Frau strich mit gespreizten Fingern von der Stirn aus über das Gesicht. »Sie kann doch nicht tot sein! Suse kann doch nicht tot sein! Sie war doch Leben, strömendes, warmes Leben! Die Suse kann doch nicht tot sein?!

Er antwortete nichts.

Sie stammelte eine Weile abgerissene Worte. Als sie ermattet schwieg, sagte Hoff: »Gnädige Frau – ich wußte, Sie sehen das alles mit andern Augen, daß Susanne zu mir gekommen ist. Ich dachte, es würde Ihnen recht sein, wenn man nicht erführe, daß es Susanne Neubert ist, die dort draußen den Tod gesucht hat. Ich habe den Behörden einen andern Namen genannt.«

»Tun Sie, was Sie denken«, sagte die Frau matt. Es ist ja alles so gleich –« Und eine Weile flüsterte sie vor sich hin: »Alles ist tot – alles ist nun tot – –«

Er wartete noch einige Zeit.

Wehe Trauer stieg in ihm auf und er sagte: »Ich möchte Sie hier nicht so allein lassen. Ich –«

Sie schüttelte den Kopf. »Gehen Sie nur. Ich behelfe mich schon.«

»Die Aufwartefrau ist nicht im Haus«, meinte er.

»Ich habe keine Frau mehr.«

Er wartete. Dann fragte er: »Keine Aufwartefrau?«

»Ich habe sie fortgeschickt. Sie ging mit solch wissenden Augen herum.« Sie schluchzte wieder auf. »Ich habe mich geschämt«, klagte sie sich an, »Meines Kindes habe ich mich geschämt! Den Leuten im Haus und den Bekannten habe ich gesagt, Susanne ist ins Ausland gegangen. Geschämt habe ich mich! Meines unglücklichen Kindes habe ich mich geschämt.«

Sie krümmte sich wieder in Schmerz und Reue.

Hoff überlegte kalt.

»Ich bitte Sie, nichts zu unternehmen«, sagte er jetzt. »Ich lasse die Nachforschungen nach – der Leiche anstellen. Ich werde Ihnen Bescheid geben.«

Sie weinte still.

»Und – ihre Sachen. Die habe ich alle. Soll ich sie Ihnen schicken?«

Sie nickte tränenschwer.

Er stand unschlüssig. Und plötzlich war er dicht bei ihr und flüsterte: »Frau Neubert – der gemeinsame Schmerz – kettet uns zusammen. Ich bin mitschuldig, daß Sie Ihr Kind verloren haben. Der Gedanke, daß Sie nun einsam hier hausen, ist mir furchtbar. Darf ich – ich möchte oft zu Ihnen kommen. Wenn ich wüßte, daß Sie mich nicht hassen – –«

»Ja – ja – kommen Sie«, weinte die Frau.

Da beugte er sich nieder und küßte ihre wächserne Hand.

»Ich komme morgen nachmittags«, sagte er.

Dann stand er wieder unentschlossen.

»Kann ich irgend etwas für Sie tun?« fragte er weich.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich helfe mir allein«, sagte sie und stand auf. »Kommen Sie morgen.«

Dann begleitete sie ihn hinaus. Und plötzlich dachte er: »Es ist Suses Mutter. Ihre Mutter ist es.« Es quoll ihm heiß und dick in der Kehle auf. Und ehe er recht wußte, was er tat, nahm er ihre Hände und stammelte mit tränenerstickter Stimme: »Ich möchte Ihnen ein Ersatz sein – Sohn – daß Sie nicht so verlassen stehen.«

»Susanne hat Sie so geliebt – so sehr geliebt hat sie Sie!« schluchzte die Frau.

Da überwand er die Weichheit und sagte: »Ich komme also morgen. Wir wollen suchen, es gemeinsam zu tragen.«

Dann küßte er ihr wieder die willenlosen Hände und drückte die Tür leise, zaghaft ins Schloß. Langsam schritt er die Treppe hinab. Er ging zum Bahnhof. Das Gehirn lastete wie eine bleierne Masse in der Stirnhöhle. Aber eine milde Erleichterung ließ ihn freier atmen.

Die erste Gefahr war jetzt abgewendet. Die 1000 Mark Belohnung würde sich keiner verdienen.

Als er in den Hausflur trat, fragte Frau Ebeling sofort: »Na, Herr Assessor, die kommt wohl nicht wieder?«

»Nein«, antwortete er kurz.

Die Alte nickte befriedigt. »Is recht so. Was gegen die Natur is, soll man nicht erzwingen.«

»Ja – Frau Ebeling – da müssen wir wohl die Sachen packen. Ich soll sie ihr schicken.«

»Denn will ich gleich mit nach oben kommen«, erklärte Frau Ebeling.

Als sie dann Susannes Kleider auf dem Bett ausbreitete und ihre Wasche und lieben Kleinigkeiten, packte ihn ein zermalmender Schmerz, Und plötzlich hielt Mutter Ebeling eine vertrocknete Rose in der Hand.

»Die kann ich wohl wegwerfen?« meinte sie.

Hoff nickte nur. Er wußte, wann er sie ihr gegeben hatte. Damals, auf ihrer ersten Fahrt nach Grünheide. Er wandte sich zum Fenster und biß sich die Lippen blutig. Die Alte fragte nichts mehr.

Und dann saß er dort und blickte hinaus auf den See. Der Tag verblich über den Ufern, und der Abend klomm nieder aus den Gipfeln der Kiefern. Und dann flimmerte dort oben Stern bei Stern. Wie blinkende Tränen. Er sah hinauf und dachte an jedes Streicheln ihrer zagen, warmen Finger. Weite, weite wogende Trauer umhüllte ihn. Plötzlich stand der Mond groß und gelb hinter den regungslosen Bäumen. Da hob er jäh den Kopf und schielte hinter sich. Es war ihm, als liege der stumme Klumpen wieder dort neben der Chaiselongue.

Er stand auf und ging durch das Zimmer. Er wollte sich zusammennehmen. Zähne zusammenbeißen und ausharren. Aber die Nerven schwirrten wie Metallsaiten. Da stülpte er den Hut auf und rannte in einen Biergarten am Bahnhof. Und saß dort, bis der letzte Gast gegangen war. Dann wanderte er noch eine Weile einher. Er wollte von Schlachtensee fortziehen. Verwarf den Plan aber gleich wieder. Das konnte auffallen. Auch mußte er Mutter Ebeling noch ein wenig unter Kontrolle halten.

Schließlich zwang er seine Schritte der Villa zu. Auf der Treppe fiel ihm ein, daß er ins Schauhaus hatte gehen wollen. »Morgen«, dachte er. »Für heute war es genug.« Mit scheuen Blicken trat er in die mondweiße Stube. Er traute sich nicht, im Nebenzimmer zu schlafen, aus Furcht vor Frau Ebelings Argwohn. Schnell entkleidete er sich und sprang ins Bett. Er hatte nicht den Mut, die Lampe zu löschen.

Furcht, wie in den allen Tagen, da er als kleiner Junge in dunkler Nacht erwachte und der Sturm ans Fenster pochte. Da tanzten skalpschwingende Indianerhorden um sein Bett ihren blutigen Kriegstanz, und »Wilson, der bleiche Pirat der schwarzen See«, stand lauernden Blickes hinter dem Kleiderschrank. Und Ewald, der kleine, kroch zähneklappernd unter die bergende Bettdecke. So war ihm heute. Steif und regungslos lag er auf dem Rücken.

Plötzlich fuhr er mit einem Ruck in die Höhe und blies die Lampe aus.

»Schlafen«, flüsterte er vor sich hin, »es sind Kriegszeiten. Morgen ist ein neuer Tag des Kampfes. Und ich habe leben wollen.«


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