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Die nächsten Tage ging Hoff wieder einher, stolz und lächelnd wie in der Zeit vor seiner Bekanntschaft mit Susanne Neubert. Die Erinnerung an sie, die sehnende, verlangende, quälende Erinnerung, war erloschen. Er traf Esther, so oft es ihre Tätigkeit im Verein gestattete, und arbeitete an seinem Buche.
Häufig kam er auch zu Gast in die Frobenstraße und schwärmte mit der Mutter und Herta. Zwar erklärte er ihre Anschauung, Esther habe ihm eine Liebeserklärung gemacht, für platten Unsinn. Sie habe ohne jede persönliche Beziehung gesprochen. Doch die Frauen wußten es besser. Er mochte ja ein großer Psychologe sein, hier war er blind, übrigens eine bekannte Folgeerscheinung der Liebe. Nein, das war sicher: es hing jetzt nur noch von ihm ab. Er brauchte nur Ja zu sagen, und die Not entschwand auf Nimmerwiedersehen. Dann lachte er und predigte Geduld. Und inzwischen plante und versprach er wieder wie ehedem. Baute an allen schönen Stellen des Wannsees Villen für Herta. Und die Mutter mußte bei ihm wohnen. Auch irgendwo draußen.
Und dann gab es einen lebhaften Streit. Denn Herta wollte durchaus einen Mercedes-Wagen haben, Hoff aber war mehr für einen Chrysler. Kurz, sie hatten so ihre Zukunftssorgen.
Und auch Lisbeth lebte auf. Zuweilen kam an Sonntagabenden ihr Bildhauer; saß still und bedrückt bei den arbeitenden Frauen und schwieg. Nur dann und wann huschte ein schüchterner Blick heimlich zwischen ihm und Lisbeth einher. Er fühlte sich hier nicht recht am Platze. Er wußte, Herta und die Mutter sahen in ihm keine »Partie«. Und dann lastete die Erfolglosigkeit niederbeugend auf seinen nicht gerade starken Schultern.
Aber an diesem Sonntage flüsterte Lisbeth ihm beim Abschied draußen im Hausflur zu, daß jetzt etwas mit Ewald im Gange sei und das Glück vor der Tür stehe.
Eines Tages ertappte sich Hoff zu seinem Staunen in der Neuen Winterfeldtstraße. Er war an ihrem Hause vorübergegangen, ohne es zu merken. Ohne auch nur eine Sekunde an sie zu denken. Gottlob, die Vergangenheit lag im Grabe!
Doch am Abend, als er am offenen Fenster stand und in den hellen Sommerhimmel blickte und die Nacht auf dem See flüsterte und irgendwo in der Nachbarschaft ein Lied gesungen wurde und die Grillen zirpten, trug der Wind die Sehnsucht zum Fenster herein. Jäh klaffte wieder die Wunde.
Und alles begann wieder wie ehedem. Es packte ihn mit einer Heftigkeit, die ihm das Gehirn umwälzte und zerrieb. Und er irrte wieder durch die Nacht und stand wieder an der Ecke und starrte auf die toten Fenster.
Und wieder schlotterte er bleich und gebeugt einher. Und jetzt war Herta ihrer Sache ganz sicher. Es war Sehnsucht nach Esther, die zur Hochzeit einer Freundin gereist war. Das war sonnenklar. Damals, als es mit dieser Liebe anfing, war es doch ebenso gewesen. Und als dann Esther ihre Liebe verriet, lebte er auf. Oh, er hatte viele kernige Späße zu ertragen, der arme Ritter Toggenburg. Und er ertrug sie mit angstverzerrter Seele.
Eines Tages verlor er die Herrschaft über sich. In seinem Gehirn war alles schwarz und öde. Nur das Verlangen nach Susanne lohte darin wie eine sturmgepeitschte Fackel. Er fühlte, daß es heller Wahnsinn war. Und doch ging er. Automatisch ohne lebendigen Willen, setzte er die Füße vor sich hin. Wie sein eigener Schatten wandelte er die Neue Winterfeldtstraße entlang. Ohne klares Bewußtsein schritt er die Stufen hinauf. Eine Treppe – zwei Treppen. Ohne Verständnis las er auf einem kleinen Blechschild: »Neubert«. Und plötzlich hatte irgendeine Macht in ihm die Klingel gezogen.
Da kam er zur Besinnung. Der schrille Ton der Glocke zerriß jäh die Nebel in seinem Hirn. Einen Augenblick schoß es ihm durch den Kopf, daß er noch davonstürzen könne. Dann kamen Schritte den Korridor entlang und bannten ihn. Der Atem setzte ans. Er vermochte kein Glied zu rühren. Das Schloß knatterte. Die Tür öffnete sich.
Vor ihm stand eine kleine, bleiche Frau mit ergrautem rötlichblondem Haar. Sie blickte aus ängstlichen Augen zu ihm auf. An Stirn und Nase erkannte er sofort die Mutter. Er wollte sprechen, doch die Kehle war wund. Nach mehreren Versuchen erst bekam seine Stimme Klang.
»Hoff heiße ich«, flüsterte er, »Assessor Hoff.« Die Augen der Frau wurden starr. Dann sagte sie, »Ich kenne Sie.« Und indem sie Raum gab: »Bitte, Herr Assessor!«
Einen Augenblick später saß er in einem tiefen Sessel ihr gegenüber. Er fühlte die Augen der Frau fragend auf sich gerichtet und fand keine Worte. Nicht ein Wort, das er hätte sagen können, fiel ihm ein.
Endlich begann Frau Neubert: »Ja, Herr Assessor –« und brach wieder ab. Er blickte sie hilflos an.
»Ich komme – –«, stammelte er, »ich könnte es – ist Suse nicht zu Hause?«
Frau Neubert schüttelte den Kopf.
»Nein, Herr Assessor, meine Tochter ist ausgegangen.«
Dann war wieder eine lähmende Pause. Hoff hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Er fühlte, er müsse jetzt gehen oder etwas sagen. Aber er blickte nur immer gerade vor sich hin, an der Frau vorbei. Wieder begann Frau Neubert: »Herr Assessor, ich begreife, was Sie hergeführt hat. Aber es geht doch nicht! Mein Gott, es geht doch nicht! Sie müssen es doch einsehen. Das Kind leidet auch so entsetzlich. Meine Tochter hat Ihnen doch alles gesagt. Wir leben von meiner Witwenpension. Es tut mir so furchtbar weh, daß ich dem Kinde nicht helfen kann. Aber es hilft doch nichts. Es hilft doch zu nichts! Wie mir meine Tochter sagte, haben Sie Verpflichtungen. Ich bitte Sie, Herr Assessor, gehen Sie dem Kind mit gutem Beispiel voran. Ich bitte Sie, bei Ihrer Ritterlichkeit gegen eine einsame alte Frau, die nichts auf der weiten Welt hat als das Glück dieses Kindes.«
Hoff blickte ins Leere. »Ja, ja«, sagte er mit schwacher Stimme und erhob sich mühsam.
»Ich bitte um Entschuldigung, gnädige Frau!«
Und dann ging er hinaus und war auf dem Bahnhofe und saß im Abteil zwei Damen gegenüber, von denen er die jüngere sehr schön fand. Sehr schön. Besonders die zusammengewachsenen Augenbrauen schienen ihm reizend pikant. Und dann kauerte er zu Hause an seinem Fenster und sah die Sonne in den See verbluten. Und hörte jedes Geräusch und wußte von alledem nichts. Und als eben der letzte Lichtschimmer im Westen verlöschen wollte, kam ein Gespenst. Da stand Susanne Neubert plötzlich am Gartentor und blickte sehr bleich zu ihm herauf Und ein zages Lächeln zuckte um ihren Mund. Er fühlte, wie das Herz aufhörte zu schlagen, und die Haare sich steif auf seinem Schädel aufrichteten. Die Glieder hingen tot und bleiern an ihm, sein Körper bohrte sich in den Stuhl. Er stierte auf das bleiche, lächelnde Gespenst. Da hob das Gespenst den rechten Arm und rief: »Ewald, erkennst du mich nicht?«
Wie ein Kolben fuhr Hoff senkrecht in die Höhe.
Mit Eisenklammern umkrallten seine Fäuste das Fensterkreuz. Er schrie: »Suse!«
Doch kein Laut kam aus seiner Kehle.
Da rief sie unten wieder: »Ewald, ich bin's doch!« Mit einem Satz nahm er zehn Stufen, riß das Haustor auf und war bei ihr.
»Ja – Suse – um Himmels willen, wo kommst du her?« ächzte er.
»Du warst bei uns«, stieß sie hervor, »ist irgend etwas geschehen?«
»Nein – ich wollte dich nur sehen. Ich ertrug es nicht mehr.«
»Mutter hat es mir gesagt. Sie wollte es mir erst verheimlichen. Dann sprach sie aber davon. Ich soll fort, mit ihr in die Schweiz. Morgen schon.«
»Wie«, fuhr er auf, »fort?«.
Sie nickte. »Es ist auch das beste. Hier kann ich es nicht. Hier fehlt mir die Kraft.«
»Suse – du willst –!«
Sie senkte traurig den Kopf, »Es ist der einzige Weg, Liebster. Komm, wir wollen vernünftig darüber sprechen! Meine Mutter weiß, daß ich hier bin, Abschied nehmen«, und mit wehem Lächeln fügte sie bei: »den letzten diesmal.«
Sie gingen am See entlang.
»Aber, Suse, Kind«, flehte er, »du kannst doch nicht fortwollen. Das ist nicht dein Ernst. Das ertrag ich nicht. Diese letzten Tage waren kein Leben mehr. Ich stand oft hart am Abgrund. Bleib hier, bleib wenigstens in Berlin. Wir wollen Kraft haben. Wir wollen uns meiden. Nur geh nicht fort. Dann läuft man in die Irre und weiß: du findest sie nicht, du siehst sie nicht, sie ist tausend Meilen fort. Wenn ich dich auch so nicht treffe, es lebt doch die Hoffnung. Die Möglichkeit atmet. Aber wenn du fortgehst – dann ist Leere – dann ist Wahnsinn – dann ist Tod.« – Sie schwieg erschüttert.
»Ich kann doch nicht anders«, weinte sie leise. Da zog er sie an sich.
»Hab' ich dich lieb! Wie hab' ich dich lieb!« stöhnte sie.
Ihre Körper schlossen sich enger zusammen in der Verzweiflung der Trennung. Die Zähne verbissen sich in den Lippen des andern; ihre Finger krallten sich ineinander; ihr Atem strömte heiß und keuchend zusammen.
Und zwischen den Zähnen stieß er hervor; »Bleib bei mir – bleib bei mir!«
Mit jähem Ruck bog sie den Oberkörper zurück und sah ihm in die Augen. Wie grimmige Todfeinde starrten sie sich ins Gesicht. Ihre Pupillen schimmerten weiß vor Grauen. Entsetzt fühlten sie das Schicksal mit eisigen Fittichen ihre Körper streifen.
»Bleib bei mir!« formten wortlos seine Lippen.
»Und immer bei dir bleiben?« flüsterte sie mit irrem Blick.
»Immer.«
»Und meine Mutter stirbt daran.«
Er beugte den Kopf.
»Meine Mutter stirbt daran!« ächzte sie und krampfte die Nägel in seine Arme.
Sie stemmte den Oberkörper noch weiter zurück, daß ihm die Sehnen der Arme, die sie hielten, fast sprangen. Jede Fiber ihres Körpers nahm bebend teil an dem tobenden Kampf in ihrer Brust. Die Augen flatterten in den Höhlen.
Da fuhr der Gedanke an Mutter und Schwestern wie eine Rakete zischend auf in seinem Gehirn. Blitzschnell durchleuchtete ihn die Erkenntnis, daß alle Bande zwischen ihm und jenen rissen, wenn ihre Liebe jetzt siegte.
Da taumelte sie nach vorn, sank an ihm zusammen und raunte: »Nimm mich – zu dir.«
Er hatte die Empfindung, daß ein Schwerthieb aus dem Dunkel auf ihn niederzucke. Er duckte sich willenlos.
Sie schmiegte sich an seine Seite, er legte den Arm um ihren Leib und führte sie seiner Wohnung zu. Wie eine Schlafwandlerin ging sie schwankend, lastenden Schrittes.
Vor der Villa zögerte er.
»Suse«, flüsterte er, »weißt du, was du tust?«
Da schlug sie die Augen auf, die nur schwarze Pupillen waren, und stieß hervor; »Ja – ich weiß es! Ich liebe dich! Du allein hast ein Recht auf mich. Alles andere schwindet. Und wenn dahinter der Tod steht – dir gehöre ich.«
Da rauschte ihre Größe wie ein Strom über ihn dahin und riß ihn fort von allen Ufern.
Mit lallendem Schrei hob er sie empor und trug sie hinein in das Haus und die Treppen hinauf in sein Zimmer.